Der deutschen Nation Marke BRD gelang es 1990, sich das Staatsgebiet der ehemaligen DDR samt sämtlichem lebendigen und sonstigen Inventar unter den Nagel zu reißen, also ein veritables Kriegsergebnis ohne Krieg zugestanden zu bekommen und durch diesen Zugewinn ihre Machtbasis schlagartig um ein Drittel zu vergrößern. Klar, dass diese Nation am 30. Jahrestag dieses Coups Grund zum Feiern hat.
Zu den Feierlichkeiten zum 25. Jahrestag des Mauerfalls
beschenkt die Bild-Zeitung
das deutsche Volk mit einer Gratisausgabe in der
Auflagenstärke von 42 Millionen. Von allem, was sonst den
redaktionellen Alltag bestimmt, nimmt das Blatt demonstrativ
Abstand: ob Rentengerechtigkeit, Eurokrise, Gefahren für die
innere Sicherheit oder auch das Liebesleben der Prominenz und
die Erfolge des deutschen Sports – für einen Tag spielt das
alles keine Rolle.
Na ja, wenigstens diesmal nicht die alte Leier vom heroischen Volk, das mit seiner Freiheitsliebe die Mauer zu Fall gebracht und damit quasi eine ganze Weltordnung umgeworfen hätte! Zum Zwanzigjährigen bekommen drei Herrscher mitten in Berlin ein Denkmal spendiert. Ein schöner Zug vom Axel-Springer-Verlag, zumal die drei „Väter der Einheit“ Kohl, Bush und Gorbi ihr bronzenes Konterfei noch höchstselbst bewundern dürfen.
Ein Mitarbeiter einer eigens dafür eingerichteten Behörde findet „zufällig“ eine Akte, die den Westberliner Polizisten, der vor 42 Jahren den Studenten Benno Ohnesorg bei einer Demonstration der linken Studentenbewegung gegen den Schah von Persien erschoss, als Stasi-Agenten entlarvt. Prompt geht ein Aufschrei durch den deutschen Blätterwald: Sensationelle Enthüllung!
Das mögen die Journalisten, darauf stürzen sie sich mit größter Begeisterung. Neue Fakten tauchen auf, da fühlen sie sich animiert, sie als Beweismittel für ihre Interpretation des Zeitgeschehens zu nehmen.
Anfang März geht ein Gespenst um in Deutschland: die Öffentlichkeit wittert den Vorabend zur Diktatur des Proletariats. Der Spiegel titelt mit einer Abwandlung der im Realsozialismus beliebten Ahnenreihe der Büsten von Marx, Lenin zu Lafontaine und Beck. Es droht die Vertreibung aus dem Paradies. In der Anzeigenwerbung für n-tv verführt die Eva Gysi den Adam Beck mit einem roten Apfel zur Erbsünde. Aber das ist noch alles matt gegen den Hauptschlager „Lügilanti!“: der „Wahlbetrug“ der hessischen SPD. Den brauchen sich die Hessen doch wohl wirklich nicht bieten lassen.
Die Nachrufe auf Boris Jelzin gelten einem Staatsmann, der das Staatswesen, in dem er an die Macht gekommen war, so gründlich reformiert hat, dass es hinterher nicht mehr vorhanden war. So einer heißt „Radikalreformer“. Die herzlichsten Komplimente für diese außergewöhnliche Leistung stammen begreiflicherweise aus dem freien Westen. Einem Mann, der den Nato-Häuptlingen den Sieg im Kalten Krieg einfach geschenkt, der ihnen jeden Kriegsaufwand erspart hat, indem er die Weltmacht von oben herab zersägt hat, dem muss man ganz einfach Größe hinterhersagen.
Konkret zieht ihre Schlüsse aus dem 11. September. Sie beerdigt ihren Antiimperialismus, sieht sich in ihrem Hass auf das deutsche Deutschland bestätigt und den Staat der Juden über jede Kritik erhaben. Ihr sachfremdes Urteil bereitet ihr dann einige bezeichnende Nöte: Es ist gar nicht so leicht, überall den bösen Deutschen und den guten Juden zu finden. Mit absurden Konsequenzen, wenn man die Suche nicht aufgeben will.
Angesichts einer Naturkatastrophe interessiert sich die deutsche Öffentlichkeit für Venezuela; in ihrer ideellen Verantwortung für die weltweite Geltung von Demokratie bestätigen sich die Schreiber ihren von vornherein feststehenden Verdacht: Präsidenten Chavez agiere „diktatorisch“, weil er das Elend seiner Massen für – das ansonsten erzdemokratische – Machtanliegen nutze, sich „als Retter der Nation“ zu präsentieren. Der Sache nach bestreiten sie Chavez das Recht, die Krise nach eigenen nationalen Kalkulationen zu „managen“.
Die PDS wird strikt aus dem Lager der herrschenden Demokraten ausgegrenzt. Für die Partei kein Anlass, sich mit Sinn und Funktionsweise der Toleranz in einer Demokratie auseinander zu setzen, sondern für einen „offenen Brief“. 6 vergangenheitsbewältigende Bekenntnisse der Partei zur bundesdeutschen marktwirtschaftlichen Nation, die einem die Socken ausziehn.