Keine Woche vergeht, ohne dass irgendwo Menschenrechtsverletzung anklagt werden. Gegenstand der Anklagen sind Gemeinheiten, die eine Herrschaft sich gegen ihre Untertanen herausnimmt. Ins Feld geführt werden aber nicht geschädigte Interessen, sondern ein verletztes allerhöchstes Recht, das Herrschaft verpflichte, damit aber auch rechtfertige – oder bei Missachtung delegitimiere. Angeklagt werden in der Regel Politiker anderswo, auswärtige Regierungen und „selbsternannte“ Machthaber.
Die Letzte Generation hat mit ihren diversen Störaktionen etwas erreicht, was sich hierzulande überhaupt nicht von selbst versteht: Sie hat Aufmerksamkeit erfahren, eine öffentliche Befassung mit ihr und ihrem Anliegen – bis hinein in die deutschen Leitmedien und sogar durch einige Parteifunktionäre von Rang und Namen.
Hat die Letzte Generation recht, wenn sie auf die Klimakatastrophe hinweist, auf deren dramatische Konsequenzen und die Dringlichkeit ihrer Bekämpfung? Hat sie recht damit, dass die Regierung nicht entsprechend handelt; dass der ganze unter „Klimapolitik“ laufende Umbau der Wirtschaft nicht geeignet ist, das Überschreiten von Kipppunkten zu verhindern; dass die Regierung vielmehr mit ihrer Förderung des nationalen Geschäftswachstums laufend zur Zerstörung der globalen materiellen Lebensgrundlagen ihren gewichtigen Teil beiträgt?
Die nationale Protestkultur ist in 16 Merkeljahren an verschiedenen Stellen aufgeblüht, teils wieder dahingewelkt, teils zum festen Bestandteil des lebendigen demokratischen Meinungspluralismus geworden – freiheitlicher Geist in Aktion.
Bei seinem Kampf um die Volksgesundheit in Pandemiezeiten trifft der bundesdeutsche Staat auf eine neue Art Gegnerschaft. Der Verfassungsschutz diagnostiziert einen neuen, „den Staat delegitimierenden Extremismus“, der natürlich nicht geduldet werden kann, weil die Staatsmacht schließlich ein Recht darauf hat, von den Bürgern als legitime Herrschaft anerkannt zu werden. Die andere Seite sieht sich ebenfalls im Recht, wenn sie gegen „Freiheitsberaubung“ und „Corona-Diktatur“ aufsteht.
Die etablierte rassistische Sittlichkeit, die in polizeiliche und private Brutalität ausartet, hat ihren Ausgangspunkt und ihren Antrieb weder in einer biologischen Rassentheorie noch im moralischen Unvermögen, den Wert schwarzen Lebens zu erkennen, sondern in der politischen Moral, die Trump auf so ehrlich ergriffene Art zelebriert: in der Liebe zur amerikanischen Ordnung, zu der freien und gleichen Konkurrenzgesellschaft, die sie ordnet, und zum Volk, das diese Ordnung als seinen ‚way of life‘ lebt und liebt.
Besorgt registriert man in der Republik sich häufende Zusammenrottungen rechtschaffener Bürger zu „Hygiene-Demonstrationen“, auf denen sie gegen obrigkeitliche Bevormundung, Entmündigung und Schlimmeres protestieren: Allen volksaufklärerischen Bemühungen von Medizinern, Ministern und Moderatoren zum Trotz, die ihr Bestes geben zur Klarstellung der aktuellen Gefährdungslage, fasst sich für sie alles, womit der Staat gegen die Durchseuchung seines Volkes Vorkehrungen zu treffen sucht, in Varianten von Freiheitsberaubung zusammen.
Laut einhelliger Meinung der Presse war 2019 ein Jahr des Aufruhrs, in dem in außergewöhnlich vielen Ländern außergewöhnlich viele Menschen ihre Empörung und Unzufriedenheit zum Teil auch außergewöhnlich lautstark und radikal auf die Straße getragen haben.
Seit November letzten Jahres fordern überall in Frankreich Bürger in gelben Warnwesten beharrlich, nämlich Samstag für Samstag, und ziemlich militant die öffentliche Ordnung heraus. Sie blockieren Verkehrskreisel, zerstören massenhaft Radarfallen, legen halb Paris lahm, und einige von ihnen demolieren das Nationalheiligtum Arc de Triomphe. Aktiv nehmen an der „größten Bewegung seit der Studentenrevolte vom Mai 1968“ bis zu einer Viertelmillion Franzosen teil; die große passive Mehrheit zeigt Sympathie und Verständnis für den Protest.
Im Juni des Jahres versammeln sich in Hamburg die für den Weltlauf Zuständigen als „G20“, um den prekären Stand ihres Kooperationswillens zu ergründen, zu definieren und per Kommuniqué als „Stand des Vertrauens“ zwischen sich festzuhalten. Die deutsche Regierung präsentiert sich als Gastgeber der erlauchten Versammlung; wie gut sie dieses Amt wahrnimmt, soll die gesamte Nation, am besten die ganze Weltöffentlichkeit mitbekommen und angemessen würdigen.