Die EU beschließt im Frühsommer die Reform einer großen Errungenschaft für ihre Bürger: Der freie Verkehr von Dienstleistungen in der EU wird endlich gerecht, üble Ausbeutung und Sozialdumping beendet, der gewerkschaftliche Traum vom ‚gleichen Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort‘ real, zumindest außerhalb des Transportsektors. In den Worten des französischen Präsidenten Macron: „ein Europa, das seine Bürger besser schützt“. Fragt sich nur: Wovor, warum und wie?
Auf der Grundlage langjähriger sozialpolitischer
Umbauarbeiten am deutschen Standort von Seiten des
Gesetzgebers haben Deutschlands Unternehmen derzeit an die 25
Prozent ihrer Belegschaften widerstandslos im Niedriglohn
verstaut. Bekanntlich reicht da oft das Verdiente nicht mehr
zum Leben, was zahlreiche Betroffene zur Inanspruchnahme der
staatlichen Grundsicherung nötigt.
„In den kommenden Tagen will Arbeitsministerin Nahles ihren
Gesetzentwurf zum Mindestlohn den Kabinettskollegen vorlegen.
Eine Lohnuntergrenze für arbeitende Jugendliche soll es darin
nicht geben – Nahles fürchtet einen falschen Anreiz und will
Jugendliche bis zum 18. Lebensjahr vom geplanten gesetzlichen
Mindestlohn von 8,50 Euro die Stunde ausnehmen. ‚Wir müssen
verhindern, dass junge Menschen lieber einen besser bezahlten
Aushilfsjob annehmen, statt eine Ausbildung anzufangen‘,
sagte die SPD-Ministerin der Bild am Sonntag...
Mit einem gesetzlichen, flächendeckenden und allgemeinen Mindestlohn von 8,50 Euro wollen die neuen Koalitionsparteien die von ihnen wahrgenommenen Fehlentwicklungen auf dem Arbeitsmarkt korrigieren. In diese Diagnose fasst die aktuelle Regierung die Bestandsaufnahmen der einschlägigen staatlichen Verwaltungsinstanzen, dass es einem zunehmenden Teil des deutschen Arbeitsvolkes unmöglich wird, von seiner Arbeit zu leben.
„Der Hartz-IV-Artikel im Gegenstandpunkt (2-10, SS 5-10) enthält eine Übertreibung... “
Du wirfst uns Übertreibung vor – und steigst selbst mit Übertreibungen ein: In dem Artikel steht nicht geschrieben, dass die Arbeitslosen kein Problem mehr für die Sozialpolitik seien; und die These, dass eine Neuauflage des Kombilohns die Ideallösung sei, die der Staat endlich gefunden habe, liest du in den Artikel hinein, um sie zu verwerfen; es steht nicht da...
Zum Jahrestag der Hartz-IV-Gesetzgebung zieht die Nation Bilanz – und die fällt nicht eben überzeugend aus: Angeregt durch das Verfassungsgerichts-Urteil vom 9.2.10, das Teile der Regelungen verwirft, melden Politik und Öffentlichkeit allenthalben Verbesserungsbedarf an: zu viele rechtliche Einsprüche, zu kompliziert, zu lasch, keiner blickt mehr durch, zu teuer, zu ineffizient, unwürdig usw. usf.
Seit Spätherbst kommt die Krise in der „Realwirtschaft“ an, brechen die Verkaufsmärkte der Auto-, der Werkzeugmaschinen-, eigentlich aller Industrien weg und die Auslastung der Fabriken geht zurück. Die Bundesregierung, die die Banken rettet, rettet auch Arbeitsplätze und hat dafür das passende Instrument parat: Arbeitsminister Scholz verlängert die staatliche Erlaubnis, Kurzarbeitergeld zu beziehen, von bisher 6 auf 18 Monate.
Es gibt wieder eine höchst offiziell anerkannte ‚soziale Frage‘ in diesem unserem Lande. Da stellen sich die Politiker aller Parteien hin und debattieren vehement, ob sie ihre Lieblingsbürger, die Herren Arbeitgeber, nicht zwingen müssen und sollen, zumindest gewissen Arbeitnehmern mindestens soviel zu zahlen, dass sie vom Lohn leben können. Die können das nämlich massenhaft nicht (mehr). Und zwar deshalb, weil die regierenden Volksvertreter und „die Wirtschaft“ mit vereinten Kräften dafür gesorgt haben. Auf dass der deutsche Kapitalstandort wächst und gedeiht.
Kein Tag, an dem nicht öffentlich über den Fortgang des nationalen ‚Reformprogramms‘, die erledigten und noch zu erledigenden Posten kritisch berichtet und über die konsequente Fortsetzung diskutiert würde. Inzwischen ist bei dieser Daueragenda die Frage, ob, und wenn ja, wo und wie die Politik im Verein mit den Sozialpartnern gewisse Grenzen in Sachen Niedriglohn einziehen sollte, zum politischen Streitgegenstand und öffentlichen Dauerthema gediehen. Der Arbeitsminister macht sich generell für die Notwendigkeit von Mindestlöhnen stark.
Die Rede war vor zwei Jahren bei der Hartz-IV-Reform von der „tiefgreifendsten Sozialreform der letzten 30 Jahre“. Und gewürdigt wurde so – mehrheitlich anerkennend, versteht sich – eine Reform, mit der sich der deutsche Sozialstaat zu einer in der Tat ziemlich fundamentalistischen Wende im Umgang mit seiner arbeitslosen Klientel entschlossen hat. Mit seiner Reform hat er zwar nicht gleich die Armut neu erfunden – die war immer schon und ist nach wie vor seine kapitalistische Grundlage –, aber immerhin einen neuen Typus von Armut in seiner Gesellschaft geschaffen.