Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Kurras, der Polizist, der Benno Ohnesorg erschoss, als Stasi-Mann enttarnt
Die Geschichte der 68er wird neu geschrieben – Stasi! Moskau! Mao! RAF!
Ein Mitarbeiter einer eigens dafür eingerichteten Behörde findet „zufällig“ eine Akte, die den Westberliner Polizisten, der vor 42 Jahren den Studenten Benno Ohnesorg bei einer Demonstration der linken Studentenbewegung gegen den Schah von Persien erschoss, als Stasi-Agenten entlarvt. Prompt geht ein Aufschrei durch den deutschen Blätterwald: Sensationelle Enthüllung! Das mögen die Journalisten, darauf stürzen sie sich mit größter Begeisterung. Neue Fakten tauchen auf, da fühlen sie sich animiert, sie als Beweismittel für ihre Interpretation des Zeitgeschehens zu nehmen. Und dann auch noch ein Faktum, das optimal zur 60-Jahre-Grundgesetz-Feier in der Republik passt: Hurra, Kurras alias Otto Bohl war ein DDR-Spitzel!
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Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Gliederung
- 1. Die Erledigung des studentischen Protests im Rückblick
- 2. Das falsche Bild der BRD – ein Werk der Stasi
- 3. Der Fall Kurras bringt es an den Tag: Die Linken waren selbst Zersetzer
- 4. Die Proteste der 68er waren legitim und nützlich – für unseren Patriotismus von heute
- 5. Eine Nation, die sich verändern lässt, braucht nicht verändert zu werden.
- 6. Ein Tribunal im Hause Springer verspricht radikale Selbstkritik: Wir sind die Mitte der Gesellschaft und hatten immer schon recht!
Kurras, der Polizist, der Benno
Ohnesorg erschoss, als Stasi-Mann enttarnt:
Die
Geschichte der 68er wird neu geschrieben – Stasi! Moskau!
Mao! RAF!
Ein Mitarbeiter einer eigens dafür eingerichteten Behörde findet „zufällig“ eine Akte, die den Westberliner Polizisten, der vor 42 Jahren den Studenten Benno Ohnesorg bei einer Demonstration der linken Studentenbewegung gegen den Schah von Persien erschoss, als Stasi-Agenten entlarvt. Prompt geht ein Aufschrei durch den deutschen Blätterwald: Sensationelle Enthüllung!
Das mögen die Journalisten, darauf stürzen sie sich mit größter Begeisterung. Neue Fakten tauchen auf, da fühlen sie sich animiert, sie als Beweismittel für ihre Interpretation des Zeitgeschehens zu nehmen. Und dann auch noch ein Faktum, das optimal zur 60-Jahre-Grundgesetz-Feier in der Republik passt: Hurra, Kurras alias Otto Bohl war ein DDR-Spitzel!
1. Die Erledigung des studentischen Protests im Rückblick
„Müssen die Linken jetzt nicht umdenken, müsste die Geschichte der westdeutschen Linken jetzt womöglich umgeschrieben werden? Stehen die Beweggründe des damaligen Protests, die Legitimation der ganzen 68er-Bewegung jetzt in Frage?“ (SZ, Spiegel, usw.)
Hätten sie damals gewusst, dass Kurras ein Stasi-Mann war
– ja dann, so soll der Leser denken, dann hätten sich nur
Leute mit ausgeprägter Fähigkeit zum Selbstbetrug
(Lorenz Jaeger, FAZ, 22.5.)
so radikal gegen die Bundesrepublik Deutschland wenden
können. Die Kritik, die die Studenten seinerzeit hatten,
gilt jedenfalls nicht als „Beweggrund“ für diesen in der
Geschichte der BRD einzigen Aufruhr von zahlenmäßig
bemerkenswerter Größenordnung. Als wäre all das, wogegen
sie protestierten – gegen den Muff aus Tausend Jahren
unter den Talaren
verbeamteter Ex-Nazis, gegen die
biedere Adenauer-Republik mit ihren Formaltugenden, gegen
das parteiliche Denken einer Wissenschaft, die fürs
Kapital nur schafft
, gegen den Schah von Persien, der
als Diktator und Vasall der Amis galt, gegen die
Springerpresse, die diesen Folterknecht zum Märchenkönig
stilisierte und das Volk „verdummte“, statt es objektiv
zu informieren, gegen den Imperialismus, den
Vietnamkrieg, die Wiederbewaffnung und die
Notstandsgesetze –, als wären all diese bekannten
Beweggründe des Protestes nichts ohne die Empörung, die
der tödliche Schuss auf einen demonstrierenden
Kommilitonen auslöste. Journalisten vom selben Typus wie
die, die damals dem Abräumen jeder Studenten-Demo durch
die gesamte Westberliner Polizei und mit Einverständnis
des Berliner Bürgermeisters Beifall gezollt haben, legen
großen Wert darauf, die gesamte Studentenbewegung auf ein
Schlüsseldatum
einzudampfen, nämlich auf die
gewaltsam aufgelöste Schahdemo am 2. Juni 1967. Und die
Verantwortung für dieses Ereignis lasten sie allein der
Person des Todesschützen an, der in der Masse
rebellierender Linker gleichsam unter Freunden und
Genossen war
, die ihn für einen typischen Vertreter
des autoritären Staates
gehalten haben, doch
Kurras war Kommunist
(Stefan
Aust, FAZ) – gerade so, als hätte der verkappte
DDR-Agent Kurras damals erst eine ganze Demo in
Eigenverantwortung aufgelöst, hinterher Ohnesorg
erschossen und sich dann aufgrund seiner eigenen
Zeugenaussagen selbst freigesprochen. Der Ertrag dieser
verfremdenden Aufbereitung der Geschichte der
Studentenbewegung besteht darin, dass Leute, die damals
wie heute Nestbeschmutzer
nicht leiden können, mit
dem Zeigefinger auf einen alten Aktendeckel deuten,
Stasi
und Mielke
schreien und verlangen,
dass die Alt-68er nachträglich Abbitte leisten für die
Sünde, unberechtigt Kritik geübt zu haben. Ohne sich der
Mühe zu unterziehen, auch nur eines ihrer
ideologischen
Gedankengebäude zurückzuweisen, kann
man den ehemaligen Aktivisten der Studentenbewegung
aufgrund dieser bedeutungsvollen Enthüllungen jetzt
vorrechnen, sie hätten sich zum Trottel der
DDR-Manipulation machen lassen.
„Der Mann also, der mit seinen tödlichen Schüssen auf Benno Ohnesorg eine bis dahin in der Bundesrepublik unvorstellbare Gewaltspirale in Bewegung gesetzt hat, war nicht eine „Charaktermaske“ des ‚Präfaschismus‘, sondern ein DDR-Sozialist mit SED-Parteibuch.“ (Jochen Staadt , DDR-Kenner, FAZ, 24.5.)
Wenn – so die Logik – die Initialzündung der
studentischen Protestbewegung
, das Todesopfer, das
die studentische Empörung rechtfertigte, das Werk eines
DDR-Agenten war, dann muss die alte Adenauer-BRD vom
Vorwurf des „Präfaschismus“ freigesprochen werden, der
ebenso wenig Berechtigung hatte wie der Vorwurf an die
Adresse des Springer-Verlags, die Bildzeitung habe beim
Tode Ohnesorgs „mitgeschossen“. Vielmehr war es genau
betrachtet exakt so, wie ‚Bild‘ damals schon behauptet
hat: Linker Terror war schuld am Tod des Studenten, also
die auf Ohnesorg = Kurras zusammengeschrumpfte Bewegung
in Wirklichkeit der DDR anzulasten.
Aber nicht nur ihr Ausgangspunkt, sondern auch ihr
Fortgang desavouiert die Studentenbewegung im Nachhinein.
Sie setzte eine unvorstellbare Gewaltspirale in
Bewegung
. Sie bereitete allen möglichen Radikalen und
ihrem Zersetzungswerk von den K-Gruppen bis zur RAF und
der Bewegung 2. Juni den Boden. Wenn man bedenkt, dass so
etwas nur im Interesse des Feindes liegen kann, kamen die
Hetzblätter des Springer- Verlags damals mit der bei
ihnen beheimateten wunderbaren Intuition der Wahrheit
näher als sie glaubten, wenn sie die Studenten als
fünfte Kolonne Moskaus
titulierten.
2. Das falsche Bild der BRD – ein Werk der Stasi
Aber es geht noch weiter: Die Bundesrepublik im Visier
der Stasi – verraten, unterwandert, destabilisiert
(Bild). Die Enttarnung des
alten Kurras als Stasi-Informant bringt es an den Tag:
Alles, was der Republik jemals innere Probleme verschafft
hat, geht im Grunde auf das Konto der Stasi und der
ehemaligen DDR. Ist wirklich vor 20 Jahren die DDR,
jener Satelliten- und Vasallenstaat des Ostblocks, der
Bundesrepublik Deutschland beigetreten? Oder war es
vielleicht umgekehrt? Wer war vor der Wende eigentlich
der Satellit?
(Reinhard Müller
unter dem Titel „Krake Stasi“, FAZ, 26.5.), fragt
die FAZ allen Ernstes, denn:
„Die Angelegenheit Kurras belegt nämlich erneut, wie falsch alle beschwichtigenden Hinweise auf den für die westdeutsche Innenpolitik doch eigentlich zu vernachlässigenden Faktor Stasi liegen. Zwischen dem Beginn der Studentenrevolte 1967 und dem Herbst 1977 trug der Staatssicherheitsdienst der DDR mehrfach zu dramatischen Veränderungen im politischen Geschehen der Bonner Republik bei. (Jochen Staadt , FAZ, 24.5.)
Ob die Stasi den Tod Ohnesorgs wollte oder nicht, ob sie
davon profitierte oder nicht, ist im Grunde egal – die
Bedrohung, die von ihr ausging, war viel umfassender.
Erhebliche Teile der BRD-Nachkriegsgeschichte – man fragt
sich schon, was an der BRD überhaupt noch
verteidigenswert sein soll – müssen unter der Rubrik
„Stasimachenschaften“ verbucht werden: das Zerrbild
von der alten, kriegslüsternen Bundesrepublik
, die
Rufmordkampagne
gegen den ehemaligen
Bundespräsidenten Heinrich Lübke, die Bestechung von
bestechlichen CDU-Abgeordneten beim Misstrauensvotum
gegen Willy Brandt, und die Enttarnung von
Kanzleramtschef Guillaume, die zu Brandts Rücktritt
geführt hatte. Alles was jemals gestört hat, Brandts
Verbleiben im Amt wie seine spätere Absetzung bis hin zur
RAF und zum schwarzen Herbst 1977: Das war alles das Werk
von Stasi-Spionen.
Die waren also Zersetzer, üble Charaktere, die
eingeschleust wurden, um im Westen Zwietracht zu säen und
bösartige und dumme Wirrköpfe
an der FU Berlin
dazu zu bringen, den roten Terror
aus der DDR in
die freie BRD zu tragen. Typen wie Kurras eben. Um das zu
veranschaulichen, wird der Rentner zu Hause gestellt und
vor die Kamera gezerrt: Dieser alte, seine Rente
versaufende Mann, war ein Stasi-Mann.
(Bild).
Ein Greis mit schütterem Haar
, mit
Gehhilfe
, der öftersmal im Keller trinkt, bis er
sich übergeben muss
(Spiegel).
Ein schießwütiger Waffennarr, der alles tat, um an Geld
für seine Munition zu kommen, der dafür sogar Verräter
verriet. So sind sie, die DDR-Agenten: Gleichzeitig
charakterlos und dann auch wieder Überzeugungstäter mit
SED-Parteibuch.
Natürlich wissen diese Journalisten schon, dass es in Wahrheit anders war. Einige schreiben sogar hin, wie es war:
„Meinungsbildend wollte Bild schon immer sein und ganz besonders dann, wenn es um den Kommunismus ging und alles, was sich als links verteufeln ließ ...Während der orientalische Potentat ... in der Deutschen Oper einer Aufführung der „Zauberflöte“ beiwohnte, räumte die Polizei den Platz vor der Oper und jagte die Demonstranten in die Nebenstraßen und knüppelte auf alles, was sich bewegte. ... Aber für die Leser der Bild-Zeitung war es nicht die Polizei, die den Terror ausübte. Bild meinte auch nicht den Kriminalobermeister Karl-Heinz Kurras, der ohne Vorwarnung den unbewaffneten Romanistikstudenten Benno Ohnesorg durch einen Schuss in den Hinterkopf tötete, sondern die dummen Studenten, die ... sich den Ordnungsrufen ... nicht fügen wollten ... Stasi hin oder her ... ein junger Mann (musste) sterben ..., weil er das demokratische Recht wahrnahm, gegen einen Schah zu demonstrieren, der zu Hause foltern ließ und dafür in Berlin von den Spitzen der Gesellschaft hofiert wurde. Der heute 81-jährige Karl-Heinz Kurras ging straffrei aus und verblieb im Staatsdienst.“ (Willi Winkler, SZ 23./24.5.)
Doch solche Stellungnahmen sind die Ausnahme, und die Zurückweisung dieser Sicht der Dinge aus derselben Redaktion lässt nicht lange auf sich warten.
3. Der Fall Kurras bringt es an den Tag: Die Linken waren selbst Zersetzer
„Wahrscheinlich war es tatsächlich ein Zufall, dass ausgerechnet ein DDR-Agent im Westberliner Polizeizivil einen jungen Linken erschoss, und dadurch zu einer erheblichen Eskalation der politischen Situation im Westen beitrug. Wenn es so war, was nicht sicher ist, ist es trotzdem einer jener Zufälle, über die man sehr ausführlich reden muss, damit sie eben keinen Anlass bieten zu Verschwörungstheorien.“ (Kurt Kister, SZ, 26.5.)
Ob Kurras Ohnesorg zufällig oder absichtlich erschoss, ob
im Auftrag der Stasi oder in vorauseilendem Gehorsam, ist
für Kister nicht so entscheidend, aber der Fund seiner
Stasiakte passt ihm gut um klarzustellen, dass die Linken
nicht einfach manipulierte Blödel der DDR waren. Das wäre
ihm als Hetze gegen sie wohl zu oberflächlich. Sicher,
Kurras und DDR sind schon gewichtige Argumente: Zu
diesem ausführlichen Reden gehört einerseits das
Verhältnis der westdeutschen Protestbewegung zur DDR
sowie zur dort praktizierten Stasi-Variante des
Sozialismus.
Aber man muss doch festhalten, dass die
Linken auch ganz ohne den Verbrecherstaat extrem
zweifelhafte Kreaturen waren:
„Andererseits ist aber auch eine offensive Analyse jener vielen Spielarten von ‚Linkssein‘ nötig, denen etliche Menschen zwischen Hamburg und Freiburg damals anhingen. Von einer aktiven Minderheit unter den 68ern und ihren Erben wurden die abstrusesten Gedankengebäude vertreten. Sie reichten von der unter gewissen Umständen zu rechtfertigenden revolutionären Gewalt im Inneren bis hin zur Wertschätzung des albanischen oder doch eher des chinesischen Kommunismus.“
Das ist seine „offensive Analyse“, die – „schon um
falschen Verschwörungstheorien vorzubeugen“ –
den eigenständigen Beitrag der Linken zur Unterwanderung
durch die Systemalternative hervorhebt und den Lesern die
Augen für die Zusammenarbeit der Linken mit Feindstaaten
öffnet. Sie waren entweder für die DDR, oder, was nach
Kisters Logik damit gleichbedeutend ist, für die Stasi
oder hingen gleichermaßen üblen Spielarten des
„Linksseins“ an. Sie sympathisierten mit Albanien – man
denke nur, diesem selbst im Vergleich zu anderen
ehemaligen Ostblockländern ziemlich verkommenen kleinen
Balkanland die Stange zu halten! Oder, nicht minder
absurd, mit China und seinem Maoismus, dieser Staat
gewordenen Mischung aus Kulturzerstörung und willenlosen
blauen Ameisen. So oder so jedenfalls schlugen sie sich
zum Lager der Feinde Deutschlands, und wer so etwas tut,
wird dafür wohl ein „Gedankengebäude“ gehabt haben, doch
weil das einfach nur abstrus
sein kann, für seine
Opposition keinesfalls einen auch nur irgendwie
nachvollziehbaren Grund.
4. Die Proteste der 68er waren legitim und nützlich – für unseren Patriotismus von heute
Die derart zu absurd-grundlosen Gegnern der feinen BRD erklärten Linken sehen sich durch die neue Faktenlage zu einer Stellungnahme herausgefordert, die den Beitrag der 68er zum Werdegang der Nation würdigt. So der Ex-KBWler Gerd Koenen:
„Wenn ich mit mir selbst beginne, dann mischen sich Beschämung und Zorn. Beschämung, weil ich unter den allzu Bereitwilligen war, die die Schüsse beim Schah-Besuch als Ausdruck einer folgerichtigen Entwicklung zum faschistoiden Notstands-Staat (leichthin auch schon NS-Staat genannt) gesehen haben. Alles, was in meinem langen ‚roten Jahrzehnt‘ danach kam, habe ich selbst zu verantworten.“
Den Vorwurf, absolut unbegründet und daher auch ganz und
gar unberechtigt opponiert zu haben, zieht er sich an und
schämt sich öffentlich dafür, so lange im verkehrten
Lager gewesen zu sein. Nur eben das, worauf die
demokratische Öffentlichkeit die ganze ‚Bewegung‘
herunterbringt, auf ‚Kurras und die Folgen‘ – das lässt
der Geläuterte sich nicht nehmen. Alle wirklichen
Radikalisierungen und ideologischen Verfestigungen
kamen auch für ihn erst nach dem 2. Juni 67, gehen auf
das Konto der Westberliner Polizei und Justiz und vor
allem auch auf das der Medien, allen voran der
Bild-Zeitung, die dafür sorgten, dass Kurras in einer
Nebelwand von aggressiven Schuldzuweisungen an die
Adresse der Demonstrierenden untertauchen
konnte. Und
wer so artig für seine linke Vergangenheit Buße tut, kann
selbige schon auch von anderen verlangen, die gleichfalls
Dreck am Stecken haben, denn Verfehlungen gab es auf
beiden Seiten:
„Aber hat irgendjemand sonst von denen, die an dieser frontalen Kollision verbal oder praktisch mitgewirkt haben, irgendeine Verantwortung übernommen? Die Selbstkritik, das darf ich sagen, ist eine einseitige Angelegenheit von selbstreflexiven Ex-Linken geblieben.“ (Gerd Koenen, SZ, 27.5.)
Nur wer zu „Selbstreflexion“ bereit ist, kann auch die
Deutungshoheit über die deutsche Geschichte beanspruchen.
Gerade weil es da praktisch nichts mehr zu erledigen
gibt, die Systemalternative kampflos abgetreten ist und
sie selbst heute auch keinen Grund für Kritik kennen,
stürzen sich Intellektuelle im Feuilleton mit umso
größerer Begeisterung auf die reichlich abgehobene
Fragestellung: Durfte damals Kritik geäußert werden? Und
da meinen einige schon: Ja, sie durfte, denn sie war
damals nötig. Sie war berechtigt, weil damals die
Vertreter der Exekutive friedliche Demos gewaltsam
auflösen ließen und einen Todesschützen, den sie für
einen der ihren hielten, deckten. Die Schreibtischtäter
der Springerpresse, die mit ihrem marktbeherrschenden
Aufwiegeljournalismus
eine permanente Verhetzung
der Studenten
(Theo Sommer,
Zeit, Nr. 25) betrieben, sind an der damaligen
„Enteignet Springer!“ – Kampagne auch mit schuld. Sie
haben die Unruhen eskaliert und sind die Selbstkritik bis
heute schuldig geblieben, die sie nach ihrem
grundsätzlichen Versagen als Meinungsmacher allenfalls
rehabilitieren könnte.
Auch Heribert Prantl von der SZ hält die
Radikalisierung der Szene
für das Interessanteste
an der Studentenbewegung. Auch ihm geht es um die
Deutungshoheit nicht über irgendeinen Tag. Es geht um die
Deutungshoheit über die ganze Studentenbewegung, die in
Deutschland eigentlich 67er, nicht 68er Bewegung heißen
müsste. Dieser Tag ist ihr Alpha
. Seine
Deutungshoheit
nimmt er auf eine recht eigenartige
Weise wahr: Er würdigt den von der Politik und der
Exekutive befohlenen Umgang mit dem Protest juristisch
und konstatiert den Tatbestand eines doppelten Exzesses:
„Der 2. Juni 1967 steht für einen Putativnotwehrexzess des Staates ... Der Notwehrexzess bestand nicht erst in diesem Todesschuss, sondern schon in der Taktik der Berliner Polizeiführung und in der von ihr geförderten und geforderten Knüppelsucht der Polizisten. Die Erschießung des Studenten Ohnesorg war ein Exzess in diesem Exzess.“
Verständnisvoll für die Nöte der damaligen Instanzen,
bescheinigt er der Politik mildernde Umstände: Kalter
Krieg, harte Zeiten zusammen mit der Agitation der
Springerpresse
, die die Studenten zu
apokalyptischen Reitern
hochstilisierte, erzeugten
bei dem noch jungen, aber schon satt gewordenen
Staat
eine gefühlte Notwehrsituation und waren
insofern mitverantwortlich für die Ereignisse am 2. Juni
1967. Die Justiz damals war Teil der staatlichen
Putativnotwehrfront, sie war Mitkämpferin im Kalten
Krieg. Die Grundrechte standen unter
Weltanschauungsvorbehalt.
Aber auch unter diesen
mildernden Umständen müssen sich Polizei und Justiz von
ihm vorrechnen lassen, unter dem Vorwand angeblicher
Interessen
, die anscheinend nicht als die wirklichen
bei ihm durchgehen, deutlich übers Ziel hinausgeschossen
zu sein. Die Parteilichkeit der Justiz
damals hält
er schon für sehr bedenklich, aber: Das hat sich
grundlegend geändert – die Justiz lässt sich nicht mehr
so einfach einspannen für angebliche staatliche
Sicherheitsinteressen; das Bundesverfassungsgericht bürgt
dafür. Diese Sensibilität der dritten Gewalt gehört zu
den wichtigen Ergebnissen der Glaubenskämpfe von 1967 ff.
Wem das Hauptverdienst an dieser Entwicklung zusteht, ist
nicht wichtig. Wichtig ist, dass sie anhält.
(Heribert Prantl, SZ, 29.5.)
Was sich tatsächlich geändert hat, der Standpunkt der
Justiz oder die Zeiten eines Kalten Krieges und deswegen
staatliche Sicherheitsinteressen rückblickend nur
angebliche
waren, kann der Mann getrost offen
lassen. Wichtig ist ihm nur, dass seine Begeisterung über
das Rechtsleben im Staat von heute anhält, und
dafür sagt er auch ein kleines Dankeschön an die
Adresse der Glaubenskrieger von unten.
5. Eine Nation, die sich verändern lässt, braucht nicht verändert zu werden.
So affirmativ sein Lob auch ausfällt, seinen Kollegen
Gustav Seibt wurmt es dennoch, dass die heutige BRD nicht
immer schon so fein gewesen sein soll wie heute. So
möchte er das nicht stehen lassen und hält ein paar Tage
später mit einem überzeugenden Tatsachenbeweis dagegen:
Die 68er sind einfach jetzt noch dran, sie stehen erst
kurz vor der Verrentung
, manche wurden sogar in
diesem Land Feuilletonchef und Außenminister
. Das
spricht weniger dafür, dass sie sich an das Land mit
seinen Radikalenerlassen und Karrierechancen angepasst
haben – dass sie das Land verändern konnten, spricht sehr
dafür, dass es grundsätzliche Veränderung gar nicht
brauchte, denn ein Land, das fähig ist, Kritikern
politische Karrieren zu eröffnen, hat Kritik nicht
verdient.
„So maßlos illiberal kann die einst wütend bekämpfte ‚Freiheitlich-demokratische Grundordnung‘ ja nicht gewesen sein, wenn sie den Versuch, sie mit jahrelangem Terror in die Verhärtung zu schießen, am Ende mit guten Karrierechancen für viele Opponenten beantwortete, die sie fortan verändern und prägen durften ... Ach schön war‘ s in der alten Bundesrepublik! Kein stahlhartes Gehäuse ummantelte uns da, sondern ein Gemeinwesen, das sich verändern ließ. Wenn wir da mal nicht einfach mehr Glück als Verstand hatten.“ (SZ, 4.6.)
In Personalunion haben Linke und Terroristen also nur den Zweck verfolgt, die Republik mit Gewalt zur Wesensveränderung zu zwingen, damit sie endlich zu dem schlimmen Bild passt, das sie sich von ihr machten. Und was macht diese Republik? Sie lässt sich in ihrer grundguten Toleranz einfach nicht irritieren, lässt den Terror nicht nur einfach an sich abprallen und eröffnet allen geläuterten Ex-Opponenten nicht nur Chancen ihrer privaten Karriere: Nein, sie lädt ihre Kritiker auch noch ausdrücklich zum Marsch durch die Institutionen und dazu ein, sich um die Verbesserung des Gemeinwesens verdient zu machen!
6. Ein Tribunal im Hause Springer verspricht radikale Selbstkritik: Wir sind die Mitte der Gesellschaft und hatten immer schon recht!
Die heutigen Vertreter des Springer-Verlags berufen in
vorbildlicher Selbstreflexivität für den Herbst 2009 ein
Springer-Tribunal im eigenen Haus ein. Mit einer Kampagne
gegen die alte Enteignet-Springer-Kampagne auftrumpfen
und so mit der damaligen Kritik am Springer-Verlag
aufräumen: Ein genialer Einfall, und noch genialer, wie
er als Beitrag zum lebendigen Pluralismus in der
Demokratie inszeniert wird. Der Chef des Verlags findet,
es sei an der Zeit, dass sich die uneinsichtigen
Protagonisten der 68er-Bewegung mal bei unserem Haus
entschuldigen.
Das Unrecht
, das dem und seinem
Hetzblatt widerfahren sei, besteht für ihn darin, dass
sich die 68er-Bewegung, wissentlich und unwissentlich,
zum Handlanger der SED
habe machen lassen, um den
Axel-Springer-Verlag als Feindbild und Fratze der freien
Presse zu positionieren.
(M.
Döpfner, Spiegel-online,
2.7.09) Also bittet er die Verbrecher von damals
zu einem kleinen Schauprozess, damit sie reumütig ihr
Vergehen bekennen können, die Bild-Zeitung je für etwas
anderes gehalten zu haben als das, was sie ohne Zweifel
ist: Glanzlicht einer freien Presse, das damals
wie heute mit seiner Auffassung absolut im Recht ist,
dass eine Republik wie diese über jede Kritik erhaben
ist. T. Schmid, damals bewegter Student, heute
Chefredakteur der ‚Welt‘, gibt gerne zu, dass unser
Haus und unsere Blätter seinerzeit journalistische Fehler
gemacht haben.
Zusammen mit seinen ehemaligen
Genossen möchte er die alten Gewissheiten und
Mythen
und den Gestus von Anklage und
Rechthaberei
über Bord werfen, um gemeinsam, die
damalige Zeit besser zu verstehen
, und wie die sich
verstanden gehört, erläutert er so:
„Es geht darum, die Motive für den Protest der Studenten ebenso zu verstehen wie den Zorn der Mehrheit der West-Berliner Bevölkerung darüber, dass die protestierenden Studenten die für sie wichtige Schutzmacht Amerika angriffen und herabsetzten. Ich selbst gehörte der Studentenbewegung an ... Ich bleibe dabei, dass etliches, was in Springer-Zeitungen damals stand, kein journalistisches Ruhmesblatt war. Darüber wird zu reden sein. Aber das ist nicht die ganze Wahrheit, auch darüber wird zu reden sein. Ich freue mich darauf, beim Springer-Tribunal im Herbst viele alte Weggefährten wieder zu treffen.“ (Thomas Schmid, Matthias Döpfner, schmid.welt.de, 2.7.09)
Souverän räumt der Vertreter des Springer-Verlags ein,
dass die Hasstiraden gegen Langhaarige, Schwule,
Emanzipierte und gegen „linke Krawallmacher“ kein
Ruhmesblatt
waren, ja, vielleicht hatten ein paar von
denen sogar verstehbare Motive
für ihren Protest
damals, schließlich war das Land nicht schon immer so
perfekt wie heute. Nur eines müssen sie bei so viel
Verständnis ihnen gegenüber dann auch verstehen
:
Den Hass der Westberliner, der ihnen entgegenschlug,
haben sie sich mit ihrem Antiamerikanismus gerechterweise
zugezogen. Im Ton mag man sich im Hause Springer da
manchmal vergriffen haben, als man dem gesunden deutschen
Volksempfinden Ausdruck verlieh. In der Sache jedoch war
es überhaupt kein Fehler, sondern im Gegenteil Pflicht
journalistischer Verantwortung, den Blick der Bürger
immer auf die Typen zu richten, die ihre geliebte
Heimatstadt an die Russen verspielen wollten. Damals wie
heute repräsentiert ‚Bild‘ die Mitte der Gesellschaft,
schreibt nur, was fürs Volk von wirklichem Interesse ist
und was es daher auch nur lesen will: Das dürfen sich die
alten Weggefährten
vom Konzernchef mit dem Hinweis
darauf sagen lassen, dass sie mit ihrer Kritik einfach
nur vaterlandslose Nestbeschmutzer waren – weil es
nämlich an einer BRD noch nie etwas zu kritisieren
gab. Und vom smarten Herrn Chefredakteur mit der
Konzession, dass ihre kritische Umtriebigkeit von damals
vielleicht sogar zu verstehen
ist – schließlich
ist aus der BRD das Deutschland geworden, an dem es
endgültig nichts mehr zu kritisieren gibt. Das
ist öffentliche Meinungsvielfalt, wie sie schöner gar
nicht sein kann.