Nach dem Studium der meisten eurer Texte und
Vortragsmitschnitte zum Thema „Staat(lichkeit)“ habe ich
festgestellt, dass bei mir beharrlich zwei Fragen übrig
bleiben, die ich mir nicht beantworten kann.
Seit die deutsche Wirtschaft nach zwei Krisenjahren wieder im Aufschwung ist, klagen ihre Vertreter über „Fachkräftemangel“, suchen „händeringend und verzweifelt“ nach diesen seltenen Exemplaren und verlangen „umgehend eine Gesamtstrategie zur Fachkräftesicherung“ (BDA).
Seit einigen Jahren wächst bei den Regierenden in den USA die Unzufriedenheit damit, dass sich auf ihrem Territorium Millionen von Leuten aufhalten – manche schon seit Jahren oder Jahrzehnten – , die dies von Rechts wegen gar nicht dürfen. In letzter Zeit ist die politische Debatte darum, wie mit diesem Bevölkerungsteil zu verfahren sei, zu einem nationalen Grundsatzstreit eskaliert. Unmittelbarer Anlass ist ein Gesetz des Bundesstaates Arizona, mit dem dessen Regierung der in ihren Augen unhaltbaren Überflutung Arizonas mit Immigranten Herr werden will.
Die nationale Bilanz im diesjährigen Berufsbildungsbericht zur Lage der auszubildenden Jugend fällt zwiespältig aus. Einerseits beklagen die Zuständigen in den Ämtern ein seit Jahren sinkendes und zu geringes Ausbildungsangebot durch die Unternehmen, diese bemängeln jetzt andererseits eine zu geringe Zahl von Bewerbern. Gleichzeitig wird ein Deckungsgrad von 101,8 % bilanziert (Berufsbildungsbericht (BBB) 2010, von der Bundesregierung verabschiedet am 28.4.10).
Die Rede war vor zwei Jahren bei der Hartz-IV-Reform von der „tiefgreifendsten Sozialreform der letzten 30 Jahre“. Und gewürdigt wurde so – mehrheitlich anerkennend, versteht sich – eine Reform, mit der sich der deutsche Sozialstaat zu einer in der Tat ziemlich fundamentalistischen Wende im Umgang mit seiner arbeitslosen Klientel entschlossen hat. Mit seiner Reform hat er zwar nicht gleich die Armut neu erfunden – die war immer schon und ist nach wie vor seine kapitalistische Grundlage –, aber immerhin einen neuen Typus von Armut in seiner Gesellschaft geschaffen.
Vor kaum einem halben Jahr wurde das Nachbarland von der Randale der ebenso überflüssigen wie abgeschriebenen Jugend aus den Vorstadtslums erschüttert; jetzt vom Protest der gut ausgebildeten Berufsanfänger von morgen. Oberschüler und Studenten organisieren über elf Wochen Massendemonstrationen in allen größeren Städten, verweigern nicht nur selbst das Studieren, sondern legen die Stätten der Lehre gleich komplett lahm, um eine Arbeitsmarktreform der Regierung Villepin zu Fall zu bringen.
200 Jahre kapitalistische Erfolgsgeschichte haben die USA nicht nur zur reichsten und mächtigsten Nation der Welt gemacht; zugleich fehlen einer stets wachsenden Anzahl amerikanischer Bürger elementare Notwendigkeiten des Lebens – vom bezahlbaren Dach über dem Kopf bis hin zur Absicherung gegen die Kosten von Krankheit und Alter. Und der maßgebliche Sachwalter der Nation bekennt sich offen zu dieser Sachlage: Er erklärt die Sicherstellung solcher Lebensnotwendigkeiten zum idealen Ziel staatlicher Politik, dem sich nur mit „Mut“ und viel „Idealismus“ allenfalls genähert werden kann.
Großbritannien hat sich sogar der äußerst bescheidenen europäischen Sozialcharta verweigert und besteht darauf, sich in seiner nationalen Selbstbehauptung durch keinerlei europäische Pflichten in Bezug auf Arbeitsbedingungen und Arbeiterrechte behindern zu lassen. Genauso entschieden wie damals die „europaskeptische“ Thatcher verteidigt heute ein „proeuropäischer“ Blair das britische „opt-out“ gegen Brüssel. Auch er betrachtet die rücksichtslose Behandlung des Arbeitsvolks als einen nationalen Vorteil und Vorsprung, den er sich nicht nehmen lässt.
Der Grund der so genannten demographischen Krise Russlands besteht darin, dass es die sowjetischen, später russischen Führer mit ihrem Beschluss, alles, was sie für die Erfolgsmethode des Westens hielten, zu kopieren und darüber die Herrschaft des Privateigentums einzuführen, soweit gebracht haben, ihre bisherige Produktionsweise schlichtweg zu ruinieren und damit ihren Volksmassen die Existenzgrundlage zu entziehen.
Seitdem Italien in den Kreis der Euro-Nationen aufgenommen ist, kämpft es um seinen Stand in diesem, indem es sich anstrengt, die Euros zu verdienen, die es per Kreditaufnahme für sich in Anspruch nimmt. Diesem obersten polit-ökonomischen Ziel unterwirft es in immer neuen Reformrunden seinen Standort.