Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Die Wirtschaft klagt über Fachkräftemangel:
Radikaler Anspruch auf Qualifikation zu niedrigem Preis
Seit die deutsche Wirtschaft nach zwei Krisenjahren wieder im Aufschwung ist, klagen ihre Vertreter über „Fachkräftemangel“, suchen „händeringend und verzweifelt“ nach diesen seltenen Exemplaren und verlangen „umgehend eine Gesamtstrategie zur Fachkräftesicherung“ (BDA).
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Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Die Wirtschaft klagt über
Fachkräftemangel:
Radikaler Anspruch auf Qualifikation zu
niedrigem Preis
1. Seit die deutsche Wirtschaft nach zwei Krisenjahren
wieder im Aufschwung ist, klagen ihre Vertreter über
Fachkräftemangel
, suchen händeringend und
verzweifelt
nach diesen seltenen Exemplaren und
verlangen umgehend eine Gesamtstrategie zur
Fachkräftesicherung
(BDA).
Woran Unternehmer leiden, wenn sie milliardenschwere
Verluste der deutschen Wirtschaft anführen –
Deutschland verzichtet dadurch jährlich auf rund 25
Mrd. Wertschöpfung, was rund 1 % Wachstum ausmache
(DIHT) –, die angeblich
auf einen erheblichen ‚Mismatch‘ zwischen angebotenen
und nachgefragten Qualifikationen am Arbeitsmarkt
(BDA-Fachkräftesicherung)
zurückzuführen seien, wird an den Äußerungen der
Bundesagentur für Arbeit deutlich, mit denen diese die
Beschwerde der Unternehmer über zu wenig Fachkräfte
dämpft: Im Juli kamen auf eine offene Stelle
rechnerisch 7,5 Arbeitslose. Von einem Engpass spricht
man, wenn diese Relation unter 3 sinkt.
(Der Spiegel, 46/2010) Die Behörde gibt
damit den Unternehmen soweit Recht, dass gesunde
Verhältnisse am Arbeitsmarkt nur dann herrschen, wenn
zwar nicht sieben, aber mindestens zwei von drei
Bewerbern arbeitslos bleiben, also ein Überangebot von
Arbeitsplatzsuchenden dafür sorgt, dass die Unternehmer
in aller Freiheit auswählen und bestimmen können, wen sie
anheuern. Denn wenn die Unternehmen in Wachstum
investieren, dann wollen sie nicht nur mehr
Arbeitskräfte, deren Kenntnisse und Fähigkeiten ihrem
Bedarf entsprechen; sie erwarten mehr und noch ganz
andere ‚Qualifikationen‘. Der Preis muss
stimmen, damit die Früchte des Aufschwungs in ihrer
Bilanz und nicht als Lohn bei der gefragten Fachkraft
ankommen. Die Arbeitsmarktexperten kennen das hohe
Anspruchsniveau der Unternehmer und wissen, dass es
keineswegs damit getan ist, was einer gelernt hat und
kann oder auch dazulernt: Mismatch nennen es die
Arbeitsmarktforscher, wenn ein Arbeitsloser keine der
angebotenen Stellen bekommt. Entweder er hat die falsche
Qualifikation oder gar keine, ist zu alt oder zu wenig
mobil oder ist aus anderen Gründen nicht geeignet.
Weiterbildung und teure Qualifizierungsmaßnahmen helfen
da allenfalls mittelfristig weiter
(ebd.). Die ‚Qualifikation‘ jung, mobil
und leistungsfähig wird verlangt, und die so
‚qualifizierten‘ Arbeitssuchenden sollen zu jedem
Zeitpunkt auf dem Arbeitsmarkt mit den gerade verlangten
Fertigkeiten den Unternehmen überreichlich zur freien
Verfügung stehen, damit sie entsprechend billig
einzukaufen und ohne lästige Einarbeitungszeiten flexibel
einsetzbar sind.
2. Den Arbeitsmarkt, der jetzt an ihren gehobenen
Ansprüchen so versagt, haben die Unternehmen allerdings
selbst hergestellt: Da stehen sich nicht zwei voneinander
unabhängige Größen gegenüber, sondern
auf diesem Markt bestimmen die Unternehmer Angebot
und Nachfrage. Wenn sie, um ihre Marktchancen
optimal nutzen zu können
, immerzu mit neuen
Dienstleistungen und Produkten sowie neuen
Arbeitsprozessen und Fertigungsverfahren
(BDA) ihren Konkurrenzkampf bestreiten,
dann entwerten sie selbst bisher nachgefragte
Qualifikationen, entlassen „Fachkräfte“, die für die
gewinnträchtigeren Fertigungsverfahren
nicht über
das entsprechende Know-how verfügen bzw. sorgen durch die
Einführung solcher Neuerungen
dafür, dass weniger
Arbeitskräfte als vorher gebraucht werden, und
verschlanken
im Übrigen laufend ihre
Belegschaften: Im ersten Halbjahr 2011 verloren
908 000 betrieblich Ausgebildete und rund 110 000
Akademiker ihre Arbeit.
(Spiegel-online 1.8.2011) Die von ihnen
unbrauchbar gemachten und eingesparten Fachkräfte
verkörpern dann die „angebotenen Qualifikationen“, die
ihrer Nachfrage auf dem ‚Arbeitsmarkt‘ in so unpassender
Weise gegenüber stehen. Und mit ihren Rationalisierungen
und ihrer Lohndrückerei auch in den höheren Abteilungen
der Berufshierarchie während der Krise haben die
Unternehmen auch das Niedriglohnniveau geschaffen, das
sie jetzt als selbstverständlichen Maßstab bei ihrer
Suche nach qualifizierten Arbeitskräften anlegen.
3. Dass sie jetzt für ihren Geschäftsaufschwung dank ihrer gestrigen Rentabilitätsfortschritte nicht frei genug auf das ihren Ansprüchen genügende Menschenmaterial zugreifen können, lasten sie natürlich nicht sich, sondern dem Staat an. Der hat – davon gehen sie selbstverständlich aus – für das Angebot zu sorgen, das ihren Bedürfnissen entspricht, versagt also dann, wenn das Angebot nicht stimmt, in seinem Dienst und hat gefälligst für Abhilfe zu sorgen. Da ist, dem unternehmerischen Bedarf entsprechend, einiges an ‚Qualifikationsmaßnahmen‘ verlangt:
Erstens, was das profitabel verwertbare Wissen und
Können betrifft, auf das Unternehmen ein Anrecht
haben. Schwere Versäumnisse bei der Ausbildung
(BDA) stellen sie fest, die
schnellstens nach Maßgabe der unternehmerischen
Bedürfnisse ausgebügelt werden müssen. Schon im zarten
Kindesalter sollen die Kleinen mit frühkindlicher
Erziehung
auf die richtigen Berufe orientiert werden,
mehr Studenten muss es geben, vor allem in den
MINT-Fächern, was aber nur Sinn macht, wenn sie schneller
fertig sind als bisher – auch der von den Unternehmern
jüngst beantragte und eingerichtete Bachelor hat da noch
gravierende Mängel. So richtig betriebsorientiert
ist das vermittelte Wissen nämlich immer noch nicht.
Zweitens, was den Umfang des menschlichen Reservoirs
betrifft, auf das Unternehmen ein Anrecht haben. Da kommt
die sozialstaatliche Betreuung der arbeitslos
Gemachten kritisch in den Blick. Da die Herstellung eines
frei auszuschöpfenden Arbeitskräftereservoirs eine
gewisse Zeit in Anspruch nimmt, ist die Nutzung des
vorhandenen um so wichtiger. Hier besteht die Aufgabe des
Staats vor allem darin, Fehlanreize für das
Fernbleiben vom Arbeitsmarkt
(BDA) aus dem Weg zu räumen. So erscheint
den Unternehmensrepräsentanten, die die ganze Republik
mit ihren sozialstaatlichen Einrichtungen als „Potenzial“
für das Bereicherungsinteresse ihrer Mitglieder ins
Visier nehmen, Deutschland als ein einziges Dorado für
Müßiggänger. Da sind Frauen besonders privilegiert, weil
sie mit Elterngeld sage und schreibe zwei Jahre zu Hause
bleiben können – die Zeit gehört sich halbiert und
außerdem jegliche Unterstützung für den Anachronismus von
Alleinverdiener-Ehen
(Ehegattensplitting, beitragsfreie Versicherung,
Witwenrente …) aus der Welt geschafft. Frauen
dürfen nicht umhin kommen, sich um Arbeit zu bewerben,
und Alte müssen daran gehindert werden, sie zu früh zu
quittieren: Konsequente Durchsetzung der Rente mit
67
. Außerdem sollen ältere Arbeitslose schon nach
einem Jahr von Alg II bedroht, also zur Annahme jeglicher
Arbeit zu jeglichem Lohn gezwungen werden – falls man sie
braucht; Teilzeitarbeit muss unattraktiver gemacht
werden. Nicht zu vergessen auch die Alg-II-Empfänger, die
man von den 1-Euro-Jobs als ‚bequemem‘ Zuverdienst zum
Existenzminimum befreien muss, damit sie sich
notgedrungen dem ‚ordentlichen Arbeitsmarkt‘ zur
Verfügung stellen; usw. usf. Kurz: Alle Regelungen, die
der Staat für die Erwerbstätigen erlassen hat, gehören
auf den Prüfstand gestellt und abgeschafft, so sie den
Durchgriff der Unternehmer auf das ihnen zustehende
Reservoir an potentiellen „Fachkräften“ erschweren, bei
Arbeitslosen ist staatlich organisierte Not das Mittel,
Unternehmen die ihnen zustehende freie Verfügung über das
passende Menschenmaterial zu sichern.
Drittens gehört dazu dann auch die Erleichterung des
Zugriffs auf ausländische Fachkräfte, von denen
es bekanntlich viele gibt, auf deren gute
Ausbildung
man nicht erst noch warten muss und bei
denen auch der Preis stimmt. Seit Neuestem sorgen die mit
deutscher „Wettbewerbsfähigkeit“ erledigten Konkurrenten
in Griechenland, Portugal und Spanien dafür, dass viele
junge Leute in ihrem Heimatland ohne berufliche
Perspektive sind; diese Not lässt sich für hiesige
Unternehmen produktiv machen – wenn nur der Staat für die
entsprechende Willkommenskultur
sorgt. Das Gleiche
gilt für Ausländer aus Nicht-EU-Ländern; hier kommt es
vor allem darauf an, dass der Staat das von ihm
festgelegte Mindesteinkommen von 64 000 Euro absenkt.
Schließlich wollen die Unternehmen bestimmen, wem sie wie
viel Geld für welche Leistung zahlen, und wissen selbst
am besten, für wie wenig eine taugliche Fachkraft von
auswärts zu haben ist; also darf die Belebung des
Arbeitsmarktes durch ausländische Arbeitskräfte nicht
durch eine unerträglich hohe Lohnuntergrenze behindert
werden.
So ist viel zu tun in Deutschland, damit die Unternehmen in aller gebotenen Freiheit ihren „Fachkräftebedarf“ befriedigen können.