Reform der Hartz-IV-Reform, soziokulturelles Existenzminimum, Mindestlohn, Kombilohn, Initiative 50plus
Ein sozialpolitisches Dauerexperiment zur Ermittlung der notwendigen Reproduktionskosten

Die Rede war vor zwei Jahren bei der Hartz-IV-Reform von der „tiefgreifendsten Sozialreform der letzten 30 Jahre“. Und gewürdigt wurde so – mehrheitlich anerkennend, versteht sich – eine Reform, mit der sich der deutsche Sozialstaat zu einer in der Tat ziemlich fundamentalistischen Wende im Umgang mit seiner arbeitslosen Klientel entschlossen hat. Mit seiner Reform hat er zwar nicht gleich die Armut neu erfunden – die war immer schon und ist nach wie vor seine kapitalistische Grundlage –, aber immerhin einen neuen Typus von Armut in seiner Gesellschaft geschaffen.

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Reform der Hartz-IV-Reform, soziokulturelles Existenzminimum, Mindestlohn, Kombilohn, Initiative 50plus
Ein sozialpolitisches Dauerexperiment zur Ermittlung der notwendigen Reproduktionskosten

Es ist gerade mal zwei Jahre her, da hat die damals noch rot-grüne Regierung eine Sozialreform auf den Weg gebracht, der die notorisch an Reformstaus leidende deutsche Öffentlichkeit einmal nicht gleich populistisch begründete Halbherzigkeit bei der Umsetzung der zur Standortsanierung fälligen Maßnahmen nachsagen wollte. Die Rede war damals von der tiefgreifendsten Sozialreform der letzten 30 Jahre. Und gewürdigt wurde so – mehrheitlich anerkennend, versteht sich – eine Reform, mit der sich der deutsche Sozialstaat zu einer in der Tat ziemlich fundamentalistischen Wende im Umgang mit seiner arbeitslosen Klientel entschlossen hat. Mit seiner Reform hat er zwar nicht gleich die Armut neu erfunden – die war immer schon und ist nach wie vor seine kapitalistische Grundlage –, aber immerhin einen neuen Typus von Armut in seiner Gesellschaft geschaffen; und zwar durch die Inkraftsetzung der folgenden paar Maßnahmen:

  • Wer seine Arbeit verloren und daher das Pech hat, auf staatliche Unterstützung angewiesen zu sein, verliert den neuen Gesetzen zufolge bereits nach 12 Monaten (bei über 55-Jährigen: nach 18 Monaten) jeden durch Einzahlen von Versicherungsbeiträgen erworbenen Anspruch auf so etwas wie Lohnersatzleistungen, d.h auf eine Unterstützung, die sich wenigstens irgendwie noch, wenn auch prozentual immer weiter herabgestuft, an der Höhe des zuletzt verdienten Lohns orientiert hat. Er wird finanziell den Sozialhilfeempfängern gleichgestellt, bekommt in Gestalt des sog. Arbeitslosengeldes II den für diese zuständigen Regelsatz. Dieser Regelsatz bemisst sich an einem staatlich definierten Existenzminimum; derzeit sind das 345 Euro, plus gewisse Zuschüsse für Miet- und Heizkosten. Und auch diese finanziellen Zuwendungen bekommt er nur, wenn nach den dafür maßgeblichen staatlichen Richtlinien erwiesenermaßen Bedürftigkeit vorliegt, d.h. erst dann, wenn seine Rücklagen ziemlich vollständig aufgebraucht sind und auch kein Ehe- oder eheähnlicher Partner greifbar ist, der einspringen könnte, usw.
  • Außerdem wird das so um die bisherigen Empfänger von Arbeitslosenhilfe vergrößerte Heer der Fürsorgeempfänger – zusammengenommen also die vom Kapital endgültig ausgemusterten, regulär nicht mehr vermittelbaren und daher absehbarerweise dauerhaft auf staatliche Unterstützung angewiesenen Bestandteile der lohnabhängigen Bevölkerung – insgesamt nach dem Kriterium ‚Arbeitsfähigkeit‘ neu durchgemustert, und wer danach als arbeitsfähiger Hilfsbedürftiger bzw. erwerbsfähiger Erwerbsloser eingestuft wird, darf sich der umfassenden Betreuung von Seiten der Arbeitsbehörde gewiss sein. Die tut dann nämlich alles dafür – fördert und fordert ihn –, um ihn in Arbeit zu bringen. Dass die Aussicht auf einen Arbeitsplatz für die Betreffenden in der Regel gar nicht besteht, heißt für sie nicht, dass sie in Ruhe gelassen werden. Der Sozialstaat macht es ihnen regelrecht zum Beruf, alle Möglichkeiten zur Beendigung oder Verringerung ihrer Hilfsbedürftigkeit auszuschöpfen.[1]

Die Bundesanstalt für Arbeit, von der sie ihr steuerfinanziertes Arbeitslosengeld ausbezahlt bekommen, übernimmt die Regie über sie, unterwirft sie einem rigiden Regime: Sie haben sich bereit zu halten, behördliche Auflagen zu erfüllen, Qualifizierungskurse zu absolvieren, immer wieder ihre Bemühungen um eine Beschäftigung unter Beweis zu stellen und sich für Arbeitsdienste verschiedenster Art zur Verfügung zu stellen. Ihre Arbeitskraft wird zum Billigangebot für Unternehmer gemacht, sie selber werden allein schon durch die Schäbigkeit der staatlichen Unterstützung und durch die festgesetzten Kriterien ihrer Auszahlung dazu genötigt, jede noch so schlecht bezahlte Gelegenheit zum Gelderwerb wahrzunehmen. Das Kriterium der Zumutbarkeit spielt für sie endgültig keine Rolle mehr. Sie haben grundsätzlich jeden ihnen angebotenen Job anzunehmen, müssen sich auch für gemeinnützige Dienste heranziehen lassen – als Bedingung für die staatlichen Geldzuwendungen und mit dem unübersehbaren Ziel, diese überflüssig zu machen. Als lohnsubventionierte Leiharbeiter, Mini- oder 1-Euro-Jobber dürfen sie so – wenn sie nach allen kapitalistischen Maßstäben schon sonst zu nichts nütze sind – mit ihrer weitgehend unbezahlten Arbeit bzw. mit dem verdienten Geld, das ihnen auf ihren Regelsatz angerechnet wird, ihren Beitrag dazu liefern, dass sich für den Sozialstaat die Kosten ihres Unterhalts verringern oder er sonstige Sozialkosten einsparen kann; oder sie lassen es an Bereitwilligkeit dazu fehlen, dann sorgen sie damit dafür, dass sich die Rechtsgründe gegen sie akkumulieren, mit denen die Behörde ihnen portionsweise die finanzielle Unterstützung verweigern kann.

Das Inkrafttreten der Hartz-Gesetze war seinerzeit begleitet von gewerkschaftlichen und sozialfürsorglichen Protesten dagegen, dass der Staat in großem Stil und bislang unbekanntem Ausmaß für richtige Armut im Land sorge: Armut per Gesetz! hieß die Parole. Empörung gab es bis in die Reihen christlich-sozialethisch inspirierter Politiker hinein, von denen einige der Auffassung waren, dass man Leute, die ihr Leben lang gearbeitet haben, so nicht behandeln könne, dass es eine Schande sei, wenn der Staat denen ihre wohlverdiente bürgerliche Existenz raube.

Heute – Hartz IV ist in Kraft, die Arbeitslosen werden entsprechend traktiert und es wird erste Bilanz gezogen – gilt ein ganz anderer als Betroffener der Reform und von Verarmung bedrohtes Opfer: der Staat, den die Reform teuer zu stehen komme. Und es wird gefordert, dass bei der viel zu halbherzig angepackten Reform gründlich nachgearbeitet werden müsse, damit uns die Hartz-IV-Empfänger nicht die Haare vom Kopf fressen.

Die Reform der Hartz-IV-Reform
Die offizielle Bilanz

„Was als Programm gedacht war, das Milliarden sparen sollte, entpuppt sich als die teuerste Sozialreform der letzten Jahre … Tatsächlich gibt der Staat in diesem Jahr doppelt so viel Geld für Arbeitslosengeld II aus, wie zu Beginn der Reform erwartet worden war.“ [2]

Kein Zweifel: Die Leute sind ärmer gemacht worden, der Staat hat an ihnen gespart; nebenbei erfährt man ja auch, dass die Bundesanstalt für Arbeit (BA) bei gleichzeitig 5 Millionen Arbeitslosen laufend beachtliche Überschüsse macht – Während bei Hartz IV die Ausgaben explodieren, gilt Gleiches bei der BA für die Überschüsse. Die Betreffenden werden auch um einiges härter herangenommen, zu nicht oder kaum bezahlten Arbeitsleistungen genötigt, als billige Dienstleister den Kommunen zur Verfügung gestellt, zur Senkung von Personalkosten in den Betrieben der Nation eingesetzt – und mit und neben all dem auch noch nach Strich und Faden schikaniert. Aber die daran geknüpften Erwartungen haben sich nicht erfüllt: Es hat keine revolutionäre Wende an der Beschäftigungsfront gegeben und es ist demzufolge auch keine Entlastung der Staatskasse eingetreten. Der Staat sitzt also weiterhin auf den Kosten für den Unterhalt einer kapitalistisch nutzlosen Mannschaft – trotz seiner Bemühungen, diese unproduktive Last loszuwerden, sogar in wachsendem Umfang. Und dementsprechend auf das Wesentliche hinorientiert – nämlich auf das Problem, das der Staat mit den von ihm verwalteten mittellosen Existenzen hat –, machen sich Politik und Öffentlichkeit an die

Ursachenforschung

Warum Hartz IV so teuer wurde, titelt die FAZ und kommt in Übereinstimmung mit der sonstigen Presse, der in den verschiedenen Parteien versammelten politischen Kompetenz und allen möglichen wissenschaftlichen Experten zu dem Ergebnis, dass der Staat erstens den Hartz-IV-Empfängern zu viel zugestanden hat, und zweitens: dass man so der Arbeitslosigkeit natürlich nicht beikommen kann:

„Die Leistungen wurden … sehr viel üppiger als die frühere Sozialhilfe. Das senkt die Anreize, eine reguläre Stelle anzunehmen.“

Wenn die Langzeitarbeitslosen einfach nicht weniger werden wollen – weil, wie man nebenbei auch zu vermelden weiß, der Aufschwung kaum neue Jobs schafft –, und wenn von den Vielen, die zusätzlich zu denen durch staatliche Definition vom Fürsorgeempfänger zum arbeitsfähigen Erwerbslosen respektive erwerbsfähigen Arbeitslosen mit Anspruch auf Arbeitslosengeld II mutiert sind, die meisten immer noch arbeits- respektive erwerbslos sind,[3] dann ist für die Fachleute klar: Das liegt daran, dass der Sozialstaat wieder einmal viel zu großzügig war, was das Durchfüttern all dieser Figuren betrifft – sonst hätten die ja längst eine reguläre Stelle angenommen! Demzufolge sind also die Betreffenden nicht auf staatliche Unterstützung angewiesen, weil sie arbeitslos sind, sondern umgekehrt: Sie sind arbeitslos, weil sie staatliche Unterstützung erhalten. So verkehrt sieht die Welt aus, wenn man nur stur an dem funktionellen Gesichtspunkt entlang denkt, den der Sozialstaat noch an jeden Euro knüpft, den er an einen Bedürftigen wegzahlt: Seine Unterhaltszahlungen haben nie einfach die Aufgabe, den Lebensunterhalt einer ansonsten mittellosen Person zu finanzieren, sie sollen immer zugleich als „Anreiz“ wirken, als Hebel, mit dem sich der Zahlungsempfänger dazu bewegen lässt, eine Beschäftigung aufzunehmen und dadurch die Unterhaltszahlungen an ihn überflüssig zu machen; entsprechend knapp muss nach dieser ‚Logik‘ die staatliche Unterstützung bemessen sein; und so gesehen ist sie eigentlich immer zu hoch, wenn und solange sie überhaupt noch jemand beantragt. Auch wenn sie soeben erst auf ein Niveau reduziert worden ist, das irgendwo in der Nähe des Sozialhilfesatzes liegt, jedenfalls daran Maß nimmt: Wenn die Arbeitslosen dem Staat dann immer noch auf der Tasche liegen, dann war – offensichtlich! – eben auch das noch zu üppig. Und es bestätigt sich ein Verdacht, den die sozialstaatlichen Armutsverwalter und ihre mitdenkende Gemeinde sowieso schon die ganze Zeit hegen: dass der Staat durch seine Zahlungen an die Arbeitslosen den Müßiggang befördert. Munter wird so getan, als würden Leute, die mit 345 Euro plus Heizungs- und Mietgeld auskommen müssen, eine freie Abwägung zwischen ihrer so definierten Lage und der Annahme einer regulären Stelle anstellen und sich aus Gründen der Bequemlichkeit gegen die Stelle entscheiden – und dabei wider besseres Wissen unterstellt, dass eine solche Stelle für sie natürlich jederzeit zu haben wäre, wenn sie nur wollen und sich mehr anstrengen würden.

Der banale Ausgangspunkt, dass es für sie keine kapitalistische Verwendung gibt, ist zwar jedem bekannt, zählt aber nicht. Es wird einfach nicht als Argument gelten gelassen, dass sie nach dem maßgeblichen Urteil der Wirtschaft und deren Maßstab von rentabler Arbeit überflüssig und nicht zu gebrauchen sind; und es will deswegen auch niemand einsehen, dass es von daher eigentlich ziemlich absurd ist, an sie die Forderung heranzutragen, sie möchten sich nützlich machen. Denn was heißt da schon absurd: Hier schlägt die Vernunft des Klassenstaates zu, der seine Sozialfälle keine Sekunde bzw. keinen Euro lang aus der Pflicht entlässt, sich ihr Leben per Lohnarbeit zu verdienen; sie vielmehr gerade dann, wenn diese Einkommensquelle für sie ihren Dienst versagt, weil sie keinen Arbeitgeber finden, der auf ihre Dienste wert legt, nachdrücklich eben darauf verpflichtet. Ihnen werden die Regeln der im bürgerlichen Gemeinwesen herrschenden Sittlichkeit vorbuchstabiert, derzufolge es erste Bürgerpflicht ist, sich seinen Unterhalt durch privaten Gelderwerb selbst zu verdienen. Dieser sittliche Imperativ ist auch der ganze Inhalt der öffentlichen Hetze, die ihnen entgegenschlägt – z.B. in der Form, dass die Damen und Herren von der Presse bei Sozialleistungen regelmäßig Kennzeichnungen wie üppig, Wohltaten und Fleischtöpfe für angebracht halten. Sie selbst würden sich selbstverständlich bedanken, wenn man ihre Ernährung auf Sozialhilfe-Niveau herunterfahren würde. Ebenso wie die vielen Schönen, Reichen und Mächtigen im Lande, die sich im Fernsehen ebenfalls mit der Auffassung zu Wort melden dürfen, dass man den Hartz-IV-Empfängern ihren üppigen Lebensstandard endlich einmal gründlich zusammenstreichen müsste.

Und genau da hat die Forschungsgruppe ‚Sozialkosten‘ den Kern des Problems – bzw. den eigentlichen Grund der Arbeitslosigkeit – ausgemacht: Die Betreffenden unternehmen gar keine Anstrengungen mehr, den absolut ungehörigen Zustand, auf Kosten des Staates zu leben, zu beenden; stattdessen hausen sie sich in ihrer unwürdigen Existenzweise ein. Wenn sie – notgedrungen, weil sie keine Arbeit finden, die sie ernährt – Techniken entwickeln, um mit der ihnen aufgezwungen Lage zurechtzukommen, fällt die ganze wohlanständige Gesellschaft über sie her und entblödet sich nicht, ihnen eben das zum Vorwurf zu machen: Sie richten sich ein! Ins Visier der Forschungsgruppe gelangen so z.B. gewisse Verhaltensänderungen, mit denen die sogenannten Bedarfsgemeinschaften auf die Hartz-Reform reagiert haben:

„Paare zogen auseinander, um die Anrechnung des Partnereinkommens zu verhindern. Junge Erwachsene zogen aus, um die Anrechnung des Elterneinkommens zu verhindern, und ließen sich vom Staat einen eigenen Hausstand finanzieren.“

Dergleichen wird selbstverständlich nicht kolportiert, um Mitleid zu erregen mit Leuten, die ihre Lebens-, Wohn- und Familienverhältnisse den Paragrafen und Durchführungsbestimmungen der Sozialgesetzgebung entsprechend einrichten, um, so gut es eben geht, den mit den neuesten Regierungsbeschlüssen ihnen ins Haus stehenden Verschlechterungen ihrer finanziellen Lage zu entkommen. Man darf empört sein, was sie alles veranstalten, um sich unberechtigterweise Unterhaltsleistungen zu erschleichen. Derselbe Vorwurf ereilt Leute, die durchaus den Regeln des Hartz-Regimes gemäß einen Job als Aushilfe angenommen haben und sich damit ein paar Euro im Monat zu ihrem Arbeitslosengeld hinzuverdienen. Vom sozialdemokratischen Vizekanzler müssen sich die sagen lassen:

„Es gebe offenbar Menschen, die sich mit dem Bezug von Arbeitslosengeld II plus diesem Zusatzverdienst gut eingerichtet hätten. Dies sei aber nicht beabsichtigt.“ [4]

Sie sollen gefälligst ein möglichst hohes Einkommen erzielen, wird ihnen von Müntefering aufgetragen, damit man ihnen von dem möglichst viel auf ihr Arbeitslosengeld anrechnen kann – und er weiß auch schon, wie man sie zur Erfüllung dieses Auftrags ‚anreizen‘ kann: Man muss ihnen nur von den geringen Zusatzverdiensten mehr wegnehmen. Sein Parteivorsitzender verallgemeinert den Befund kurze Zeit später dahingehend, dass Deutschland überhaupt ein Unterschichten-Problem hat, welches darin besteht, dass die unten Gestrandeten sich mit der Situation ab(finden). Sie haben sich materiell oft arrangiert und ebenso auch kulturell. [5]

Nach dem Motto: Auch wenn feststeht, dass aus euch nichts mehr wird, ist das noch lange kein Grund, sich nicht mehr strebend um Arbeit und Aufstieg zu bemühen, hält man den Opfern der Klassengesellschaft vor, sie lebten und praktizierten eine verkehrte, gänzlich unmoralische, gemeinwohlschädliche, also nicht zu duldende Lebenseinstellung. Bei der allfälligen Inspektion der Praktiken, mit denen sie sich mit einer immer wieder von neuem verschärften Rechtslage zu arrangieren versuchen, tun sich prompt wahre Abgründe von Unrecht auf:

„Die Bundesagentur für Arbeit hat bisher fast 60.000 Fälle von Leistungsmissbrauch im Zusammenhang mit Hartz IV entdeckt. Insgesamt seien 29,9 Millionen Euro zuviel an Arbeitslosengeld II sowie 8,8 Millionen zuviel an Kosten für Unterkunft und Heizung bezahlt worden.“ [6]

Pro arbeitslosen Sozialfall also ungefähr 7 Euro, pro Missbrauch sage und schreibe um die 650 Euro! Oder anders gerechnet: Von dem Geld, das sich die 60.000 Sozialfälle unrechtmäßig angeeignet haben, hätte man ja dem Chef der Deutschen Bank sein Gehalt gut und gerne ein Jahr lang bezahlen können! Auf alle Fälle kommt heraus, dass wir uns dieses gemeinschaftsschädigende Verhalten nicht mehr länger leisten können. Aber auch wenn die Betreffenden mit ihren Veranstaltungen dem Buchstaben des Gesetzes gar nicht zuwiderhandeln, sehen sich lauter ideelle Sozialkontrolleure dazu aufgerufen, Missbrauch und Sozialbetrug zu inkriminieren. Die Begutachter der Szene stehen alle auf dem Standpunkt und sind sich ganz sicher, dass hier, auf dem Feld der Sozialgesetze, etwas anders als sonst im Recht üblich, der Tatbestand des Missbrauchs nicht erst dort erfüllt ist, wo gegen das Recht verstoßen wird, sondern eigentlich immer schon dort, wo es in Anspruch genommen wird. Dementsprechend können sie auch dem Gesetzgeber nicht den Vorwurf ersparen, er habe Schlupflöcher geschaffen, die zum Missbrauch einladen. Wo es die Gesetzeslage gestattet, bei der zuständigen Behörde Ansprüche auf Unterhaltszahlungen geltend zu machen, da liegt nach ihrer Auffassung ein Versäumnis des Gesetzgebers vor: Er hat es unterlassen, durch wirksame rechtliche Vorkehrungen die Inanspruchnahme der gesetzlichen Leistungen auszuschließen. Und sie zeigen mit ihrer seltsam kreisförmigen Kritik an der Gesetzgebung, wie gut sie den Geist der Sozialgesetze verstanden haben: Wenn der Sozialstaat seine fünf bis sieben Millionen Untertanen, die es nicht schaffen, sich mit ihrer Einkommensquelle Lohnarbeit einen Lebensunterhalt zu verdienen, nicht einfach verhungern lässt, sondern ihnen so etwas wie eine existenzsichernde Mindestversorgung zugesteht, ermächtigt er die Betreffenden zwar erst einmal, ihn in Anspruch zu nehmen – und nur aufgrund dieser Ermächtigung können sie dem Staat überhaupt zur Last fallen! In der Ausgestaltung dieser Ermächtigung lässt er jedoch keine Zweifel aufkommen: Seine Sozialgesetze sind Zwangsmittel gegen diejenigen, die mit dieser Einkommensquelle nicht zurechtkommen, und diesem Maßstab entsprechend werden sie laufend beurteilt, reformiert und geschärft. Kein Geld für Nichtstun lautet dabei erklärtermaßen sein Standpunkt – den er zu dem Geld einnimmt, das er seinen arbeitslosen Massen zukommen lässt. Und dieser Widerspruch lässt ihn nicht ruhen. Kaum hat er deren Rechte definiert, ist ihm der Umgang, den sie in ihrem Sinne mit diesen Rechten pflegen, schon wieder ein Ärgernis, das es durch die nächsten Reformbemühungen aus der Welt zu schaffen gilt. Und mit der Problemdefinition, dass die Betreffenden sich mit ihrer Arbeitslosenexistenz abfinden und es sich auf Staatskosten bequem machen, steht fest, in welche Richtung die Gesetze fortgeschrieben werden müssen. Aus dieser Diagnose folgt genau eine praktische Konsequenz und eine sozialpolitische Maxime: Man muss die Arbeitslosen aus ihrem staatlich finanzierten Dasein raustreiben und kann ihnen ihr Leben gar nicht unerträglich genug machen.

Die Arbeitslosen sind aber nur die eine Hälfte des Problems, dem die Reformer der Hartz-Reform zu Leibe rücken wollen. Neben den beschäftigungslosen Antragstellern auf Arbeitslosengeld gibt es nämlich gar nicht wenige Arbeitslosengeldempfänger mit einer Beschäftigung, die zu der enorm wachsenden Zahl der Antragssteller beitragen. Sogar mehr als gedacht: Die Zahl der Geringverdiener (wurde) zu gering angesetzt, die ihr Einkommen mit Arbeitslosengeld II aufbessern. Sie beantragen staatliche Hilfe, weil ihr Einkommen zum Leben nicht ausreicht. Es gibt also – wird völlig nüchtern als Faktum berichtet – massenhaft Beschäftigungsverhältnisse, die ein Einkommen abwerfen, das unterhalb des staatlicherseits zugestandenen Existenzminimums liegt. Das liegt einerseits am Umgang des Kapitals mit dem Kostenfaktor Arbeit, der auch niemandem ein Rätsel ist. Lohnkosten ersparen sich die Unternehmen nicht nur mit der Ausdünnung ihrer Belegschaften. Sie betreiben, wenn sie durch keine gewerkschaftliche Gegenwehr daran gehindert werden, außerdem auch noch fortgesetzte Lohndrückerei. Und mit der haben sie es mittlerweile eben so weit gebracht, dass reihenweise Löhne unterhalb des von Staats wegen garantierten Existenzminimums gezahlt werden. Und ist ein Anspruch darauf erst einmal gesetzlich festgeschrieben, dann wirkt das wie ein Kombilohn: Der Staat stockt den Lohn auf, der zu gering ist, um damit ein Leben zu bestreiten – zumal Unternehmer noch allemal so findig sind, dass sie die Existenz eines sozialpolitisch gesicherten Existenzminimums als Gelegenheit für sich begreifen, ihre Arbeitskosten auf Kosten des Staates unter dasselbe zu senken: Zudem kann es für Unternehmer attraktiv sein, sich die Regelung zunutze zu machen… die Sozialkassen ruiniert das weiter; illegal ist es nicht. Hinzukommt, dass der Staat selber in großem Stil für die Vermehrung der prekären Beschäftigungsverhältnisse in seiner Gesellschaft gesorgt hat. Dass inzwischen auch Freiberufler und andere Selbstständige zu denen zählen, die sich niedrige Einkünfte vom Staat aufbessern lassen, ist ja nicht zuletzt das Ergebnis der staatlichen Vermittlungsbemühungen. Lohnsubventionierung, Ich-AGs, Mini-Jobs etc. – das alles sind ja gerade die arbeitsmarktpolitischen Instrumente, mit denen der Sozialstaat seine Klientel in Arbeit bringen wollte und will.

Im Zuge der Ursachenforschung erfährt man also erst einmal, was das für soziale Verhältnisse sind, deren Betreuung und Verwaltung dem Sozialstaat nun schon wieder zu teuer sind: Auf der Grundlage des lohnkostensenkenden Umgangs der Unternehmer mit ihren Belegschaften und eben auch unter tatkräftiger Mitwirkung des Sozialstaates, der die Opfer davon verwaltet, ist der deutsche Arbeitsmarkt in wachsendem Umfang mit working poor bestückt, mit Leuten, die für einen Lohn arbeiten, von dem sich ein Arbeiterhaushalt nicht mehr bezahlen lässt, so dass die Betreffenden auf staatliche Unterstützung angewiesen sind. Und was den beschäftigungslosen Anteil der auf Lohnarbeit abonnierten Klasse anbelangt, so wird der umgekehrt zunehmend in einen Zustand versetzt, der mit verschiedensten Formen zwangsweiser Beschäftigung einhergeht; die Betreffenden werden in einen zweiten und dritten Arbeitsmarkt reinbugsiert, in Beschäftigungsverhältnissen untergebracht, die sowieso nicht mehr darauf berechnet sind, irgendjemanden zu ernähren.

Dass die Betreuung dieser sozialen Verhältnisse dem Staat Kosten verursacht, wird anschließend dann denen zur Last gelegt, die zusehen dürfen, wie sie mit ihnen zurechtkommen: Aufstocker heißen bezeichnenderweise all diejenigen, die beim Staat Unterstützung beantragen, weil sie mit ihrer Arbeit weniger als das staatlich garantierte Existenzminimum verdienen – und sich allein damit schon wieder des Missbrauchs staatlicher Sozialleistungen schuldig machen und bei der hochanständigen Gesellschaft massive Zweifel an ihrer Wohlanständigkeit wecken. Auch wenn das juristisch in Ordnung geht: So soll die Sache von Staats wegen eben schon wieder gar nicht gemeint sein, dass dieses Minimum einfach denen zu gewähren ist und zusteht, die wegen Unbrauchbarkeit bzw. Unergiebigkeit ihrer Einkommensquelle darauf angewiesen sind. Wer eine Arbeit hat, und sei sie auch noch so schlecht bezahlt, kriegt zu hören, dass er nicht zu den wirklich Bedürftigen gehört, die natürlich ein Anrecht auf staatliche Zuschüsse haben – schließlich darf er sich zu den Glücklichen zählen, die einen Arbeitsplatz besitzen! Irgendwie hat es zwar damals bei der Einführung der Hartz-Gesetze schon auch zum Versprechen der Reformer gehört, dass Leute, die mittels der neuen und ziemlich gewagten ‚arbeitsmarktpolitischen Instrumente‘ in Arbeit gebracht werden, wenigstens die Sicherheit haben, dass der Staat ihnen das Existenznotwendige garantiert. Aber dass sie, wenn sie dann in Arbeit sind, entsprechende Zuzahlungen vom Staat verlangen können, das gehört sich nicht. Das wird heute als ein Konstruktionsfehler der Hartz-Reform dingfest gemacht:

„Die Leistungsausweitung führte auch dazu, dass mehr Personen als bedürftig gelten und Anspruch auf ergänzendes Arbeitslosengeld II haben als bisher.“

Oder aber gleich auch schon wieder als Charakterfehler derjenigen, die Sozialhilfe beantragen, obwohl sie doch einen Job haben. Zur möglichst drastischen und allgemeine Empörung hervorrufenden Darstellung ihres charakterlichen Defekts werden wahrhaft unglaubliche Fälle zurechtkonstruiert und in die Zirkulation geworfen, in denen arbeitsscheue Elemente ohne jede Not erfolgreich die Großzügigkeit des Sozialstaats ausgenützt haben sollen:

„Es dürfe nicht sein, dass Leute freiwillig weniger arbeiten und sich dann die Lohneinbußen vom Staat zurückholten.“ [7]

Und darin, dass mit der moralischen Einstellung derjenigen, die sich als staatlich betreuter Sozialfall durchs Leben schlagen, ganz grundsätzlich etwas nicht stimmt, entdecken die Ursachenforscher zielsicher die eigentlichen Gründe dafür, dass die Reform für den Staat so unglaublich kostenträchtig geworden ist:

„Die Scham vieler Betroffener (sei) gesunken“ … „Nachdem die frühere Sozialhilfe – die ‚Stütze‘ – in Arbeitslosengeld II umbenannt wurde, schämten sich viele Betroffenen nicht mehr, Leistungen zu beantragen.“

Die Tour, mit der die Hartz-Reformer ihre Bemühungen, den Kostgängern des Staates Beine zu machen und ihre Unterhaltskosten zu verbilligen, als Dienst an den Betroffenen propagiert haben, müssen die irgendwie missverstanden haben: Da holt man die Hilfsbedürftigen aus dem sozialen Abseits heraus, in dem ihnen die Verachtung der ehrenwerten Gesellschaft entgegenschlägt, gibt ihnen Gelegenheit, ihre Stütze durch einen nützlichen Dienst an der Allgemeinheit zu rechtfertigen, und die werfen daraufhin prompt jedes sittliche Empfinden über Bord – sittlich intakt ist nämlich immer noch der, der den Gang zum Sozialamt scheut, weil er sich seiner Armut schämt und sich ein Gewissen daraus macht, dass er als nutzlose Existenz dem Staat zur Last fällt. So war das viel gelobte Ende der Stigmatisierung nicht gemeint, dass die Hartz-Leute ohne jenes gesunde Schamgefühl zugreifen und sich vom Staat holen, was ihnen von Rechts wegen zusteht! Die Nr. 3 aus dem Führungstrio der SPD, Peter Struck, erkennt in der Schamlosigkeit der Unterhaltsempfänger die große soziale Herausforderung unserer Zeit und die passende Gelegenheit, das Profil seiner Partei entsprechend zu schärfen:

„Das Menschenbild, das wir hatten, war vielleicht zu positiv. Es war zu optimistisch anzunehmen, dass Menschen das System nur in Anspruch nehmen, wenn sie es wirklich brauchen.“ [8]

Und auch da liegen die praktischen Konsequenzen auf der Hand, die aus der Diagnose folgen: Es gilt auch in Bezug auf die Aufstocker rigoros den Imperativ durchzusetzen, dass sich die Betreffenden von Lohnarbeit und sonst nichts zu ernähren haben; was in ihrem Fall heißt: von dem, was ihre Arbeit an Lohn jeweils hergibt. Entsprechend sehen die

Gegenmaßnahmen

aus, mit denen die Regierung in die nächste Runde Sozialreformen geht. Wirklich sensationell, was einer Regierung und ihren Experten heute so alles als Antwort auf die großen sozialen Fragen und zur Lösung des Arbeitslosenproblems einfällt, das ja nach wie vor unbestritten die wichtigste Aufgabe unserer Zeit ist!

Wir brauchen

„Schärfere Kontrollen“,

einen Außendienst, der prüft, ob Hilfe-Empfänger wirklich bedürftig sind, mehr Telefonkontrollen, einen erleichterten Datenaustausch, damit Anfragen bei Finanzbehörden über ausländische Konten und Aktiendepots möglich werden und Daten der Meldeämter und des Kraftfahrzeug-Bundesamtes eingeholt werden können. Den Kontrolleuren muss dringend das Leben erleichtert werden: Künftig wird eine Lebensgemeinschaft und damit Unterhaltspflicht vermutet, wenn Menschen seit mindestens einem Jahr zusammenleben, eine Haushalts- und Wirtschaftsgemeinschaft bilden, gemeinsame Kinder haben oder gemeinsame Angehörige versorgen.Bestreiten Betroffene, eine solche Gemeinschaft zu bilden, müssen sie Beweise liefern. Bislang lag die Beweislast beim Staat. Andererseits muss das Personal der Arbeitsbehörde selber noch viel mehr darauf verpflichtet werden, dass es sich bei der Durchsetzung und Auslegung der Vorschriften einzig und allein an den Maßstab der Effizienz hält, in der Ausübung seines – rein menschlich betrachtet – dann doch zunehmend brutalen Berufs also auch kein verkehrtes Mitgefühl mit den Betroffenen mehr kennt.

Des Weiteren braucht es

„Härtere Sanktionen“

Wer zumutbare Arbeit ablehnt, dem werden Hilfen gekürzt oder gestrichen. Vorgesehen ist, arbeitsunwilligen Erwerbslosen, die angebotene Stellen ausschlagen, bereits nach dreimaliger (bisher: viermaliger) Pflichtverletzung die Leistungen komplett zu streichen; vorher werden die Leistungen jeweils um 30% gekürzt. Die demokratischen Parteien überbieten sich in ihrer Konkurrenz regelrecht mit immer neuen und noch härteren Vorschlägen; z.B. dem, nicht nur den Regelsatz, sondern auch die Unterkunfts- und Heizkosten zu kürzen. Oder: Jungen Arbeitslosen unter 25 werden finanzielle Leistungen bereits bei der ersten Ablehnung sechs Wochen lang gestrichen und durch Sachleistungen ersetzt.

Nie verkehrt sind außerdem

Größere Schikanen,

denn was macht man, wenn es Arbeit, die die Antragsteller ablehnen könnten, gar nicht gibt? Genau: Wer Antrag auf Arbeitslosengeld stellt, soll unverzüglich einen Job oder eine Qualifikation angeboten bekommen. Damit soll die Arbeitsbereitschaft der Betroffenen überprüft werden. Ihre Arbeitsbereitschaft müssen diese Leute also auch dann unter Beweis stellen, wenn sie himmelweit davon entfernt sind, dass ihre Arbeitskraft jemals wieder für irgendeinen nützlichen Dienst nachgefragt wird, sie gar nicht mehr in die Verlegenheit kommen, mit ihrer Arbeit einen Beitrag zum Wirtschaftswachstum liefern zu können, und auch als billige Dienstleister im kommunalen Bereich nicht mehr gefragt sind. Um auszutesten, ob sie wirklich bereit sind, alles zu erledigen, was man ihnen anschafft, sollen sie gewisse Tätigkeiten absolvieren, die man ihnen aufträgt – z.B. pro Woche fünf Bewerbungen an fiktive Arbeitgeber schreiben; fiktiv, weil ein wirklicher Arbeitgeber für sie ja weit und breit nicht in Sicht ist. Da kriegt ‚Beschäftigung‘ einen ganz neuen Sinn! Bei Fehlen dieser Bereitschaft kann man ihnen dann Unterhaltszahlungen verweigern. Womöglich lässt sich auch der eine oder andere so von der Antragsstellung abschrecken.

Nicht zu verachten sind in dem Zusammenhang auch

Kleinlichste Bestimmungen

Ca. 50 Änderungen sind an den gesetzlichen Bestimmungen vorgenommen worden, darunter u.a. die folgenden: Erwerbslose, die Sprachförderungsangebote ablehnen, sollen ein halbes Jahr keine Leistungen erhalten. Zudem sollen Arbeitslose keinen Urlaub anmelden dürfen und verstärkt zu amtsärztlichen Untersuchungen verpflichtet werden können. Außerdem soll sichergestellt werden, dass sie telefonisch über Arbeitsangebote informiert werden können, bisher reicht eine schriftliche Benachrichtigung aus. Man kann aber z.B. auch von Amts wegen die Frage aufwerfen und von Sozialgerichten klären lassen, ob all die beantragten Extraleistungen wirklich notwendig sind, ob z.B. die Kosten für eine bestimmte Diabetes-Diät oder die Behandlung der Hautkrankheit Neurodermitis nicht auch die Betroffenen selber übernehmen können usf.

Unverzichtbar sind freilich auch

Großzügige Streichungen

Die Diskussion darüber, ob man nicht die Hinzuverdienstregelungen für Leistungsempfänger wieder rückgängig machen und den Ein-Euro-Jobbern den Zusatzverdienst streichen soll, ist längst eröffnet. Oder aber wir streichen ihnen umgekehrt die Hauptsumme zusammen und befinden es für nützlicher, sie dafür noch mehr dazuverdienen zu lassen:

„Man muss das Arbeitslosengeld II signifikant senken und die Hinzuverdienstmöglichkeiten nochmals erhöhen, so dass der arbeitende Empfänger wesentlich besser dasteht als der nicht arbeitende.“ [9]

Derlei politische Visionen wollen selbstverständlich nie einfach nur mehr oder minder grobe Vorschläge dafür sein, wie man an den auf staatliche Hilfe angewiesenen Figuren noch mehr einsparen kann, versprechen sie doch stets eine damit verbundene und mit ganz viel Sachkunde begründbare höhere Funktionalität und Wirksamkeit im Hinblick auf mehr Beschäftigung.

Zu ihrer Umsetzung braucht es deswegen natürlich

Fein justierte Konzepte

Während bislang ein Alg-II-Empfänger von dem, was er mit einem Job zusätzlich verdient, die ersten 100 Euro pro Monat behalten darf und für jeden weiteren Euro sein Arbeitslosengeld um 80 Cent gekürzt bekommt, heißt es jetzt:

„Künftig sollen nur die ersten 40 zusätzlich verdienten Euro komplett bei den Langzeitarbeitslosen bleiben. Die nächsten 200 Euro werden vollständig beim Arbeitslosengeld II angerechnet… Von jedem dann noch zusätzlich verdienten Euro darf der Arbeitslose 50 Cent behalten.“ [10]

Damit sollen anscheinend die Langzeitarbeitslosen in dem ihrer freien Arbeitsplatzwahl zugrunde liegenden Kalkül dahingehend beeinflusst werden, dass sie von Jobs, die nur geringe Verdienstmöglichkeiten über 40 Euro bieten, fürderhin die Hände lassen und sich stattdessen eher um Stellen bemühen, mit denen sich erheblich mehr verdienen lässt als die 200 Euro, die erst einmal der Staat abkassiert. Die Absicht ist so weit klar: Die Maßnahme soll bewirken, dass die Betreffenden durch mehr eigenen Gelderwerb noch mehr als bisher zur Entlastung des Staates von ihren Unterhaltskosten beitragen. Entsprechend wird auf ihren Willen eingewirkt. Und das wird schon nicht wirkungslos bleiben. Gleichgültig kann es denen ja nicht sein, wenn der Staat ihnen in ihr schmales Budget hineinregiert. Nur: Die beabsichtigte Wirkung – sie sollen mehr arbeiten und Geld verdienen – liegt gar nicht in ihrer Macht. Der Hebel wird – wie immer bei den Sozialreformen – an der abhängigen Variablen des Geschäfts angesetzt. Die soll den Staat der Sorgen entheben, die er hat, weil das auf seinem Standort stattfindende Geschäft einen stattlichen und wachsenden Prozentsatz seiner Bevölkerung für überflüssig erklärt und nicht brauchen kann. Das ist überhaupt der schlechte Witz an jeder Expertendiskussion, in der nachher, angesichts enttäuschter Erwartungen, wieder jeder weiß, was am staatlichen Umgang mit den Arbeitslosen verkehrt war und wie an ihm herumreformiert werden muss, damit wir das Arbeitslosenproblem besser in den Griff kriegen. In besagter Diskussion behaupten die Experten glatt zu wissen, was ein von ihnen favorisiertes Konzept im Hinblick auf den Arbeitsmarkt „bewirkt“ und welches andere Modell als „wirkungslos und teuer“ abzulehnen ist. Und sie geben sogar vor, die Wirkung ihres jeweiligen Vorschlages in so und so viel zusätzlichen Arbeitsplätzen bzw. in so und so viel Ersparnis an Sozialkosten beziffern zu können. Lächerlich machen sich diese wissenschaftlichen Ratgeber und Berufungsinstanzen der Politik damit bloß deswegen nie, weil sie – zusätzliche Arbeitsplätze hin, Massenarbeitslosigkeit her – mit ihren Vorschlägen zur Beschränkung der nutzlosen Massen marktwirtschaftlich und sozialhaushälterisch gedacht erst einmal immer richtig liegen.

Bei alledem muss erkennbar sein und bleiben, dass es

Sozial gerechte Lösungen

sind, wofür man z.B. als christlicher Sozialreformer in der eigenen Partei kämpft, um der ein soziales Profil zu verschaffen. Für dieses öffentlich gemachte und ohne Schaden für dasselbe öffentlich beredete Anliegen muss man aus der Gesamtheit der Betroffenheiten, die die von der eigenen Partei geführte Koalitionsregierung in Fortsetzung der alten mit ihren Sozialreformen stiftet, gezielt eine auswählen, die geeignet ist, als Gerechtigkeitslücke wahrgenommen zu werden, und sich als derjenige ins Gespräch bringen, der sie ausbügelt. Man lanciert also z.B. den Vorschlag, die

„Bezugsdauer des Arbeitslosengelds I für diejenigen zu verlängern, die viele Jahre Beiträge in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben“[11],

spricht damit – übrigens ganz im Sinne der Moral der Sozialreform, dass Nichtstun nicht auch noch belohnt werden darf – das Publikum in seinem Gerechtigkeitsempfinden an und macht sich für entsprechende Korrekturen stark. Die betreffen weniger die materielle Lage, in die man die Betroffenen stürzt – bezogen darauf wäre der Vorschlag, die Frist, nach der ihnen der endgültige Absturz auf Sozialhilfeniveau blüht, um sechs Monate zu verlängern, ja von vornherein einfach nur lächerlich. Bestenfalls geht es darum, den Betreffenden eine gewisse Anerkennung dafür zuteil werden zu lassen, dass sie ein Leben lang brav in die Sozialkassen eingezahlt haben. Und ob die überhaupt einen materiellen Gehalt bekommt oder nicht dann doch mehr im Bereich des Ideellen bleibt, entscheidet sich an ganz anderen Dingen. Der Vorschlag will ja auch noch dreißigmal durchgerechnet und entsprechend modifiziert werden, damit er sich unter Kostengesichtspunkten nicht gleich blamiert. Außerdem will geprüft sein, ob ein solcher Vorstoß ins Kalkül der eigenen Partei hineinpasst – schließlich sind da noch andere unterwegs, die in ihr und für sie um ihre Position ringen – und ob die mitregierende SPD mit ihm in Schwierigkeiten gebracht werden kann oder die Angelegenheit am Ende nicht doch auf die eigene Partei zurückfällt. Auf jeden Fall sorgt so ein Vorstoß dafür, dass die Nation wieder für mindestens eine Woche damit befasst ist. Die Wortmeldungen der Parteien und deren öffentliche Kommentierung fassen sich in der Schlagzeile zusammen: SPD und Union streiten um soziale Vorreiterrolle. Die SPD ist naturgemäß empört darüber, dass man ihr die streitig machen will, und beansprucht sie, indem sie sie ihrem Koalitionspartner ihrerseits streitig macht – mit dem schönen Argument, dass die sozialen Wohltaten, die der ins Gespräch gebracht hat, gar nicht finanzierbar seien, sein Vorstoß also reiner Sozialpopulismus sei. Etwas gespenstisch ist das schon, schließlich ist das die Begleitmusik für das sozialstaatliche Verelendungsprogramm, das die beiden Parteien gerade ins Werk setzen.

***

Aber zurück zur Sache. Es ist schon bemerkenswert: Da legt der deutsche Sozialstaat den Lebensstandard der vom Kapital nicht mehr gebrauchten Bestandteile seines Proletariats auf ein Existenzminimum fest – behauptet von dem, dass es daran Maß nimmt, was der Mensch unbedingt zum Leben braucht – und dann befindet er diesen Lebensstandard bei der nächsten Gelegenheit für zu hoch und drückt ihn herunter. Dazu ein paar sachdienliche Anmerkungen,

Das sogenannte soziokulturelle Existenzminimum

betreffend, das als Bemessungsgrundlage für die Arbeitslosengeld-II-Zahlungen immerhin von einiger Bedeutung ist.

Der Sozialstaat behauptet von sich, er würde den Grundbedarf derjenigen seiner Bürger sichern, die an der Aufgabe scheitern, sich ihren Lebensunterhalt selber zu verdienen; der Anspruch auf Grundsicherung ist sogar grundgesetzlich verbürgt; und der Staat macht sich ja auch tatsächlich zuständig für den Unterhalt der wachsenden Zahl mittelloser Existenzen, die sich neben all dem kapitalistischen Reichtum auf seinem Standort akkumulieren, und organisiert ihn herbei.

Ausgangspunkt seiner diesbezüglichen Bemühungen ist allemal, dass die Lohnarbeit als Lebensmittel nichts taugt. Sie werden fällig, weil per Lohnarbeit nicht einmal die Reproduktion derer gesichert ist, die auf sie als Einkommensquelle verwiesen sind. Die Betreffenden sind am Ende einer sozialpolitisch betreuten Karriere nach unten angelangt, sie sind arbeits- und damit einkommenslos; nicht vorübergehend, sondern schon länger und absehbarerweise auf Dauer; per staatlichem Beschluss wurde die Galgenfrist, in der die Arbeitslosenversicherung noch zahlt, immer kürzer; Rücklagen, soweit sie überhaupt vorhanden waren, sind aufgebraucht, so dass sie schließlich ohne alle Mittel dastehen und sich und ihre Familie aus eigener Kraft nicht einmal mehr erhalten können. Der Staat rechnet es sich hoch an, dass er an dieser Stelle einschreitet und sich der Reproduktion dieser Figuren annimmt (dieselben, die ihn dafür gar nicht genug loben können, halten diese seine soziale Ader im nächsten Moment freilich auch schon wieder für seinen größten Fehler). Auch wenn diese Hilfsbedürftigen aus ökonomischer Sicht nichts Erhaltenswertes zu bieten haben, auf ihre Arbeitskraft aktuell und auch künftig niemand mehr Wert legt, der Staat daher auch immer weniger Gründe hat und sieht, sie als Bestandteil einer ohnehin schon viel zu großen Reservearmee in Schuss zu halten, gibt es dafür offenkundig immer noch genügend ordnungspolitische Gründe: Die verarmten Massen sollen ihre staatsbürgerliche Fasson behalten, nicht als Pöbel unangenehm auffallen, in seinem ansonsten ja wunderbar funktionierenden Gemeinwesen nicht störend in Erscheinung treten – also kurzum: ihm keine Probleme bereiten.

Dafür spendiert er ihnen als soziales Wesen neben einem ziemlich gigantischen Verwaltungsapparat, der sie fest im Griff hat und behält, eine Reproduktion im rohen Sinne des Wortes. Ein Reich der Freiheit ist für die Betreffenden erklärtermaßen nicht drin, nur der für die Existenz absolut notwendige Bedarf soll bei der Bemessung der staatlichen Unterstützung Berücksichtigung finden – und wie bestimmt der Staat das Notwendige?

„Der Regelsatz für erwerbsfähige Langzeitarbeitslose – die frühere ‚Stütze‘ – wird seit 1989 nicht mehr nach einem politisch gesetzten Warenkorb der notwendigen Ausgaben bemessen, sondern errechnet sich aus den tatsächlichen Ausgaben Alleinstehender in der untersten Einkommensgruppe. Mit der Festlegung eines Warenkorbes seien zuviele persönliche Wertungen verbunden gewesen… Das so definierte soziokulturelle Existenzminimum entspricht den Ausgaben des ärmsten Fünftels der nach ihren Nettoeinkommen geordneten Einpersonenhaushalte, bereinigt um die Sozialhilfeempfänger.“ [12]

Der notwendige Bedarf, das, was ein Mensch unbedingt zum Leben braucht, ist demnach eine extrem flexible Größe; notwendig in dem Sinn ist da gar nichts. Er verdankt sich ganz und gar der politischen Setzung, nämlich einer politischen Entscheidung darüber, was und vor allem wieviel als Notwendigkeit der Existenzsicherung von Staats wegen anerkannt und damit den Betreffenden als ihr Lebensstandard zugestanden wird. Das war zu Zeiten des berühmten Warenkorbes so, als darüber gestritten worden ist, ob in den Korb auch Zigaretten hinein- oder die monatliche Kinokarte unbedingt heraus gehört. Und es ist heute allen Widerrufen und Hinweisen auf ‚objektive‘ Verfahren zum Trotz immer noch so. Schließlich verdankt es sich auch einer politischen Entscheidung, den notwendigen Bedarf am Ergebnis einer empirischen Untersuchung darüber zu bemessen, was die im Niedriglohnsektor beschäftigte Bevölkerung selber in ihren Warenkorb tut, was man sich in diesen Kreisen als Verbraucher so durchschnittlich leistet. Maß nimmt der Staat so an den Lohnzahlungen der Unternehmer, in deren Kalkulation mit Lohn und Leistung die Anforderung, dass der Lohn den Mann ernähren muss, der für ihn arbeitet, überhaupt kein zu berücksichtigender Gesichtspunkt ist – zumindest dann nicht, wenn ihnen die Rücksichtnahme auf diesen Gesichtspunkt niemand aufnötigt; genauer gesagt nimmt er Maß an dem Lohn-Budget, mit dem die am schlechtesten bezahlten Beschäftigten auskommen müssen, die erst recht niemand gefragt hat, was sie zum Leben brauchen. Danach soll – das ist die erste Bestimmung des staatlich gesetzten Existenzminimums – auch denen, die nicht arbeiten, eine Reproduktion auf niedrigstem Niveau zugestanden sein; angesiedelt irgendwo am untersten Lohnniveau, mit dem die arbeitende Bevölkerung zurechtkommen muss – obwohl sie gar nicht arbeiten, also ihren Lebensunterhalt im doppelten Sinne des Wortes gar nicht verdient haben. Deswegen folgt dieser ersten auch gleich eine zweite Bestimmung: Weil sie nicht arbeiten, müssen sie mit noch weniger auskommen:

„Um das Lohnabstandsgebot zwischen Erwerbstätigen und Transferbeziehern zu wahren, werden die tatsächlichen Ausgaben der Haushalte in 12 Gütergruppen – und 48 nicht veröffentlichten Einzelpositionen – nicht immer zu 100%, sondern oft nur zu geringeren Anteilen berücksichtigt.“

Der staatliche Gerechtigkeitssinn gebietet einen Abstand zu dem, was der Staat selber mit seinem Verfahren als Mindestbedarf jeweils ermittelt; und sachgerecht ist das, was dieser Gerechtigkeitssinn gebietet und was als Dienst an den Beschäftigten ausgedrückt wird – die Schlechterstellung der Nichtbeschäftigten –, allemal: Schließlich können die Transferbezieher gar nicht nachdrücklich genug darauf hingewiesen werden, dass sie sich um ihren Lebensunterhalt selber zu kümmern haben.

So bemisst sich das staatliche Existenzminimum, das es nur gibt, weil durch die Lohnzahlungen der Unternehmer weder die Reproduktion der ihnen zu Diensten stehenden Klasse insgesamt noch die ihrer eigenen ‚Mitarbeiter‘ gesichert ist, in doppelter Weise am untersten Lohnniveau – aber auch das ist, wie sich gleich zeigen wird, nur kapitalistisch sachgerecht. Wenn nämlich die Unternehmer im Zuge ihrer laufenden Bemühungen um die Einsparung von Lohnkosten – durch Rationalisierungen und Entlassungen, durch Leistungssteigerungen und Lohndrückereien aller Art… – das Lohnniveau erfolgreich unter das staatlich festgesetzte Existenzminimum drücken, dann bringen sie damit den Staat in Zugzwang – und das ist der systemimmanente Grund für den Fanatismus, mit dem heute wieder einmal ausgerechnet auf die armseligsten Figuren in der Republik, die Hartz-IV-Empfänger, eingeprügelt wird: Erstens wird der Staat dann verstärkt in Anspruch genommen, es kommen zusätzliche Belastungen auf seinen Haushalt zu – in dem Zusammenhang wird z.B. gemeldet, dass bei Hartz IV Einsparungen von 4 bis 5 Milliarden Euro nötig (sind), wenn der Bund nicht abermals gegen die Verschuldungsgrenze des Grundgesetzes verstoßen will.[13]

Das, was der Staat seinen Hilfsbedürftigen als das Existenznotwendige zugesteht, ist am Ende also auch noch ein Derivat von Dingen wie einem Verschuldungskriterium, auf das sich Deutschland im Rahmen seines Europrojekts festgelegt hat. Zweitens wird das Abstandsgebot verletzt. Und aus beidem folgt nur eines: Das staatlich garantierte Reproduktionsniveau muss gesenkt werden. Der Staat sieht sich herausgefordert, seine von Lohnarbeit abhängige Klasse zu verarmen, weil das Kapital sie verarmt!

In weiser Voraussicht hat der Gesetzgeber diesen ‚Mechanismus‘ in die Konstruktion des Existenzminimums gleich mit eingebaut:

„Das soziokulturelle Existenzminimum … wird vom Statistischen Bundesamt alle fünf Jahre, zuletzt 2003, in der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe ermittelt.“

Wenn also herauskommt, dass die Löhne im untersten Lohnsektor gesunken sind, dann verlangt die gesetzliche Regelung, dass dann auch das Existenzminimum nach unten korrigiert werden muss. Und siehe da: Noch bevor es 2008 wieder einmal soweit ist, rennen Politiker und Unternehmerverbände, Experten und Vertreter der Öffentlichkeit dem Arbeitsminister schon die Bude ein, damit der für die notwendige Korrektur keine Zeit verstreichen lässt:

„Die Regelsätze für das Arbeitslosengeld II sind vermutlich zu hoch angesetzt. Darauf deuten nach Aussagen von Fachleuten die Ergebnisse der jüngsten Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) hin.“
„Politiker und Verbände forderten von Arbeitsminister Müntefering möglichst schnell die Neuberechnung des soziokulturellen Existenzminimums vorzulegen, die womöglich auf eine Senkung hinauslaufen könne. Aus verfassungsrechtlicher Sicht spricht nichts gegen eine Senkung des Regelsatzes… Dies wäre unter Anreizgesichtspunkten auch sinnvoll, um die Beschäftigung im Niedriglohnbereich zu erhöhen.“

***

Die Lohnsenkerei geht so ihren kapitalistischen Gang, der Staat passt seine sozialpolitische Abteilung immer wieder an deren Ergebnisse an – bis sich in der Politik die Stimmen mehren, dass es mit solchen Löhnen nicht weitergeht. Dann wird der Ruf nach einem staatlich fixierten

Mindestlohn

laut, und mit ihm hebt auch sogleich eine Mindestlohndebatte an. Arbeitsminister Müntefering:

„Wer seinen Job richtig macht, muss auch so viel Geld bekommen, dass er seine Familie davon ernähren kann.“ [14]

Nach einigem Hin und Her in der Koalitionsregierung erklärt sich sogar die Kanzlerin persönlich in einem Spiegel-Gespräch für zuständig:

„Wir dürfen nicht zulassen, dass in Deutschland Jobs für 50 Cent Stundenlohn angeboten werden und den Rest regelt der Steuerzahler.“ [15]

Merkel und all die anderen Politiker, denen allem Anschein nach zur Abwechslung einmal die niedrigen Löhne Sorgen bereiten, die Unternehmer in Deutschland bezahlen, lassen keinen Zweifel aufkommen, um wessen Schutz es ihnen zu tun ist, wenn sie die Frage aufwerfen:

„Brauchen wir in Deutschland einen Mindestlohn? Denn natürlich wäre es nicht hinnehmbar, wenn Tariflöhne beliebig sinken.“

Den Staat mit seinem Haushalt – vulgo: den Steuerzahler – haben sie als den Betroffenen im Auge; um dessen Wohl bzw. Solidität sind sie besorgt, wenn sie Löhne problematisieren, von denen niemand leben kann. Sie denken laut darüber nach, ob es nicht einer per Gesetz verordneten Bremse beim Lohnsenken bedarf, damit nicht auf der Grundlage von Löhnen, die den staatlich nun einmal zugestandenen Reproduktionsbedarf immer weniger hergeben, der Staat immer mehr in die Rolle des Finanziers der Reproduktion seiner lohnarbeitenden Klasse hineinrutscht. Wenn die Sachwalter des Staates einen Mindestlohn ins Gespräch bringen, verdankt sich dies also dem Standpunkt, dass der elementare Lebensunterhalt der lohnarbeitenden Bevölkerung – im Prinzip zumindest – durch die Lohnzahlungen der Unternehmer gesichert sein sollte. Ihre Sorge gilt einer Funktion, die der Staat mit dem Lohnarbeitsverhältnis verbindet, weil ihm an ihr gelegen ist. An der auf seinem Standort verrichteten rentablen Arbeit, durch die erstens der in Geld bezifferte Reichtum der Nation vermehrt wird, über die zweitens auch die lohnarbeitende Bevölkerung Geldeinkommen erzielt, von denen er sich in der Form von Steuern und Sozialabgaben bedienen kann, hängt drittens noch ein Kollateralnutzen: Die Reproduktion der Massen, die mit ihrer Arbeit all diese Dienste erbringen und die ihm als größter Teil seines Staatsvolkes ja auch sonst noch zu Diensten stehen sollen, ist selber eine Funktion, die der Staat durch die kapitalistische Beschäftigung erbracht sehen will. Und wenn die von den Unternehmern im Land in Frage gestellt wird, winkt man selbst als regierender Politiker schon mal mit einem Mindestlohn.

Kaum aber wird der Ruf danach laut, geht in den Unternehmerverbänden und in den Kreisen, die sich ‚der Wirtschaft‘ verbunden sehen, ein unglaubliches Gezeter los. Es braucht bloß das böse Wort ‚Mindestlohn‘ zu fallen, schon stellen die Unternehmer des Landes klar, dass jede irgendwie geartete Verpflichtung auf die Zahlung existenzsichernder Löhne einen Anschlag auf ihr freies Unternehmertum darstellt; der Gesichtspunkt der Reproduktion ihres Menschenmaterials geht sie nichts an. Und aus Gründen der ehernen Sachgesetze der Wirtschaft darf er sie auch nichts angehen. Jedem, der auch nur entfernt mit den Dogmen der Volkswirtschaftslehre vertraut ist, also jemals irgendetwas von Angebot und Nachfrage hat läuten hören, muss sofort einleuchten, dass grundsätzlich jeder Mindestlohn Arbeitsplätze vernichtet; gerade im Niedriglohnsektor, wo doch die Menschen sowieso schon ihr Päckchen zu tragen haben – Arbeitgeberpräsident Hundt jedenfalls kennt deren Probleme ganz genau und will nicht, dass die auch noch um ihren Arbeitsplatz fürchten müssen:

„Derzeit verdienten 3,4 Millionen Vollzeitarbeitskräfte weniger als 1500 Euro, 2,6 Millionen Arbeitnehmer weniger als 1300 Euro und 1,3 Millionen Menschen weniger als 1000 Euro. Dies entspreche etwa einem Stundenlohn von 6,10 Euro. Bei Einführung eines Mindestlohns wären viele dieser Arbeitsplätze akut gefährdet.“ [16]

Auf den Einfall, die unter den politischerseits ins Spiel gebrachten Mindestgrenzen für eine anständige Bezahlung liegenden Billiglöhne, zu denen massenhaft Leute beschäftigt werden, zum Argument gegen die Einführung einer solchen Mindestgrenze zu machen, muss man auch erst einmal kommen! Vielleicht muss es dem Arbeitgebervorsitzenden ja irgendwer mal sagen, dass es einen Mindestlohn gibt, damit er und seine Standesbrüder niemanden mehr zu solchen Löhnen beschäftigen, d.h. für sich und den Geschäftserfolg ihrer Firma arbeiten lassen. Jeder Forderung nach existenzsichernden Löhnen wird von Unternehmerseite damit begegnet, dass solche Löhne die Existenz von ganz vielen gefährden, die von dem Lohn, den sie an ihrem schlecht bezahlten Arbeitsplatz verdienen, leben müssen. Es wird auf der Unvereinbarkeit von rentabler Benutzung und Reproduktion der Beschäftigten bestanden, dergestalt der kapitalistischen Wirtschaft – von ihren Betreibern! – im buchstäblichen Wortsinn ein Armutszeugnis ausgestellt, wie es linke Verelendungstheoretiker nicht schlagender machen könnten – und damit für die Erfordernisse des kapitalistischen Geschäfts argumentiert.

Aber der Witz ist: Damit kommen die Unternehmer durch. Sie kriegen weitgehend Recht mit ihrem Gezeter, jedenfalls ist die Einführung eines Mindestlohnes hierzulande auch politisch höchst umstritten und zwar deswegen, weil dem, was aus der Sicht des Staates – s.o. – durchaus für diese Maßnahme sprechen würde, vor allem eines entgegensteht: dass sie nicht wirtschaftsverträglich ist. Kaum im Gespräch, sind auf Seiten der politischen Standortverwalter massive Bedenken unterwegs, ob ein solcher Mindestlohn nicht ein Wachstumshemmnis und ein massiver Konkurrenznachteil für die deutsche Wirtschaft wäre:

„Ein Mindestlohn dürfe nicht dazu führen, dass die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Arbeitsplätze leidet und wir am Ende noch mehr Beschäftigung verlieren“[17],

meint ein Sprecher der Union, und damit ist für ihn und seine Fraktion das Thema Mindestlohn fürs erste und bis auf weiteres vom Tisch. In der SPD und anderswo besteht man indessen weiterhin darauf: Wir brauchen existenzsichernde Löhne, aber nur, um damit die Debatte darüber zu eröffnen, wie hoch diese Löhne sein dürfen. Und wer sich diese Frage stellt, für den sind irgendwelche Existenznotwendigkeiten der Beschäftigten bereits die hinterletzten Notwendigkeiten, die zu berücksichtigen sind. Bei und vor deren Sicherstellung muss nämlich zu vor allem schon wieder die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft gesichert sein. Ein beratender Experte aus dem Finanzministerium z.B. wirft in einem Beitrag in der Süddeutschen Zeitung die Frage auf: Welcher Mindestlohn ist vertretbar?[18]

Und er präzisiert seine Frage auch sogleich dahingehend: Welchen Mindestlohn kann sich dieses Land angesichts der Lohnkonkurrenz aus Osteuropa und Fernost leisten?

Soviel ist ihm also klar und dafür ist er auch noch, dass erstens sein Land in der globalen Konkurrenz erfolgreich bestehen und Punkte machen will; und zweitens der Lohn in dieser Konkurrenz als Mittel in Anschlag gebracht wird. Und von diesen Prämissen ausgehend, fragt er sich: Was heißt das jetzt für den Mindestlohn? Völlig geradlinig und ergebnisoffen denkt der Mann weiter: Ja, wenn der Lohn Konkurrenzmittel ist, dann ist man gut beraten, den Mindestlohn an dem Lohnniveau zu orientieren, das in denjenigen Ländern herrscht, mit denen Deutschland in direkter Lohnkonkurrenz steht. Also z.B. an dem chinesischen Lohnniveau, das er bei 1,10 Euro die Stunde zu beziffern weiß. Ihm fällt gar nicht mehr auf, dass er sich mit seinem Beitrag in eine Mindestlohn-Debatte einmischt, die ihren Ausgangspunkt darin hat, dass die Löhne in Deutschland bedenklich unter das Existenznotwendige absinken und selbst der Staat damit ein Problem hat. In seinen Überlegungen voll und ganz auf den Gesichtspunkt fokussiert, dass der Lohn als Konkurrenzmittel taugen muss, bringt er eine Höchstgrenze für einen Mindestlohn ins Gespräch, die weit unter den niedrigsten Löhnen liegt, die in Deutschland gezahlt werden. Beruhigenderweise kennt er noch ein zweites Argument, mit dem sich begründen lässt, dass es so schlimm dann doch nicht zu kommen braucht:

„Im internationalen Wettbewerb sind weniger die Lohnkosten pro Zeiteinheit entscheidend als vielmehr die Lohnstückkosten und die Produktivität.“ Und glücklicherweise „liegt die Produktivität in Deutschland immer noch weltweit mit an der Spitze … Diese hohe Produktivität … rechtfertigt auch einen relativ hohen Mindestlohn.“

Dem Standpunkt verpflichtet, dass Deutschland im internationalen Wettbewerb zu den Gewinnern zählen muss, fällt ihm ein, dass in diesem Wettbewerb nicht nur die absolute Lohnhöhe zählt, sondern auch und vor allem die Rationalisierungserfolge, mit denen die jeweilige nationale Unternehmerschaft ihre Lohnstückkosten senken und zur Waffe in der globalen Konkurrenz machen konnte. Und vor dem Hintergrund, dass deutsche Unternehmer beim Ausdünnen ihrer Belegschaften bei gleichzeitiger Steigerung ihrer Produktion Spitze sind, hält er einen höheren Mindestlohn für zumutbar. Drittens – so nach dem Motto: war da nicht noch was? – fällt ihm ein:

„Zu guter Letzt muss man anerkennen, dass der Mindestlohn … demjenigen, der einer regulären Arbeit nachgeht, einen Lebensstandard sichern (soll), der in diesem Land als menschenwürdig angesehen wird.“

Zu guter Letzt – genau! Die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft ist ein so durchschlagendes Argument in der Mindestlohndebatte, dass derzeit so recht niemand mehr in Sicht ist, der für die Einführung eines einheitlichen gesetzlichen Mindestlohns plädieren würde; Kanzlerin Merkel hat diesem Projekt auf einer Unternehmertagung mittlerweile höchstoffiziell unter dem Beifall der anwesenden Arbeitgeber eine Abfuhr erteilt: Es wird keinen flächendeckenden, einheitlichen Mindestlohn geben.[19]

Dafür mehren sich die Stimmen in der Koalition, die sich – mit demselben standortpolitischen Argument – für differenzierte branchenbezogene Regelungen stark machen. Dass branchenspezifische Mindestlöhne als Instrument gegen zuwandernde Billigkonkurrenz aus Osteuropa[20] einen Sinn machen könnten, können sich beide Koalitionspartner gut vorstellen. Mit dem Ausgangspunkt der Debatte hat dies zwar nichts mehr zu tun, aber zum Schutz deutscher Geschäftsinteressen könnten in verschiedenen Geschäftssphären und unter Berücksichtigung der dort herrschenden Konkurrenzbedingungen demnächst Mindestlöhne eingeführt werden. Etwa im Gewerbe der Gebäudereiniger, wo Anbieter aus den osteuropäischen Ländern zum Teil nur drei oder vier Euro Stundenlohn zahlten.[21]

Und unter Verweis auf gewisse bevorstehende Änderungen im europäischen Arbeitsrecht wird denn auch die Dringlichkeit entsprechender Änderungen im deutschen Arbeitsrecht begründet. SPD-Präsidiumsmitglied Andrea Nahles:

„Es sei davon auszugehen, dass Bürger aus dem europäischen Ausland binnen drei Jahren ihre Arbeitskraft in Deutschland ungehindert anbieten können. ‚Für diesen Fall sind die Hausaufgaben noch nicht gemacht. Deshalb sollten wir zumindest gemeinsame Mindestlöhne vereinbart haben.‘“ [22]

***

Ein anderes Konzept, mit dem die Regierung das auf ihrem Standort beheimatete Kapital dafür gewinnen will, den Lebensunterhalt der ihm zu Diensten stehenden Klasse wieder vermehrt durch seine Lohnzahlungen zu finanzieren, hat von vornherein mehr den Charakter eines Angebots an die nationale Unternehmerschaft. Und wird von dieser deswegen auch gleich viel freundlicher aufgenommen.

Das Kombilohn-Modell

Die Grundidee: Angesichts der Millionen Erwerbslosen und Geringverdiener, für deren Unterhalt er aufkommen muss – vor allem im Hinblick auf die Problemgruppen unter ihnen: die Langzeitarbeitslosen, die ausgedienten Kräfte über 50, die niemand mehr einstellen will, die aber demnächst noch bis 67 arbeiten sollen, sowie die vielen unqualifizierten Jungen, denen jegliche Berufserfahrung fehlt… –, beugt sich der Staat der Einsicht, dass sich ein Lohn, von dem sich leben lässt, mit Arbeit, die sich rentieren muss, nicht verdienen lässt, und wendet diese Einsicht in seinem Interesse an mehr kapitalistischer Benutzung der ihm zur Last fallenden Menschenmassen konstruktiv an: Er macht sich zum Organisator einer funktionellen Trennung zwischen dem Lohn als betriebliche Kost für Arbeit – als solche muss er so niedrig sein, dass sich die Arbeit für einen Arbeitgeber lohnt – und dem Lohn als Einkommen des Beschäftigten – als solches muss er wenigstens so hoch sein, dass sich mit ihm die elementaren Reproduktionsnotwendigkeiten finanzieren lassen. Damit der Lohn diese seine beiden gegensätzlichen Funktionen erfüllen kann, macht sich der Staat einerseits aktiv an der Senkung des Preises für Arbeit auf ein Niveau zu schaffen, auf dem sich die Beschäftigung von größeren Teilen der vielen Beschäftigungslosen wieder rentieren könnte. Weil auf dem Lohnniveau für den Beschäftigten dann endgültig keine Reproduktion mehr drin ist, sorgt der Staat andererseits mit seinen Haushaltsmitteln dafür, dass die Einkommen der Beschäftigten soweit aufgestockt werden, dass sie seinen Vorstellungen von existenzsichernden Löhnen ungefähr entsprechen. Die Pläne der Koalition gehen offenbar in die Richtung, bei Neueinstellung von jugendlichen Arbeitslosen unter 25 oder Langzeitarbeitslosen über 50 Jahren für einen begrenzten Zeitraum einen Lohnzuschuss von 40% zu gewähren, der dem Arbeitgeber die Lohnkosten entsprechend verringert. Laut FAZ sollen die Zuschüsse auf Monatseinkommen von bis zu 1600 Euro für Ältere und 1300 Euro für Jüngere begrenzt werden; sie sind also bei 640 Euro und 520 Euro gedeckelt.[23] Der Arbeitgeber kriegt demzufolge eine Vollzeitarbeitskraft zum Preis von 960 bzw. 780 Euro.

Die schlichte Berechnung des Staates dabei: Die Lohnsubventionierung kostet ihn weniger als das Arbeitslosengeld, das er sonst zahlen müsste. Besonderer Anteilnahme erfreuen sich unter diesem Gesichtspunkt daher insbesondere die Vielen, die mit 50 oder bald darüber von ihrem Betrieb für nicht mehr leistungsfähig genug befunden werden und, außer Brot gesetzt, danach erst einmal für ein bis zwei Jahre die Chance haben, das höhere Arbeitslosengeld I zu kassieren. Gemäß einer speziell auf sie zugeschnittenen und von Arbeitsminister Müntefering persönlich auf den Weg gebrachten Initiative 50 plus sollen sie nach dem Willen der Regierung offenbar für die fragliche Zeit, in der sie vom Staat noch mehr Geld zu erwarten haben, mittels eines maximal auf zwei Jahre befristeten Zuschusses in schlecht bezahlten Beschäftigungsverhältnissen irgendwie zwischengelagert werden. Danach hat sich das Problem ja erledigt, wie die Süddeutsche Zeitung sachkundig erläutert:

„Im dritten Jahr läuft die Unterstützung dann aus. Zu dieser Zeit würde der Betroffene aber auch schon längst nicht mehr das höhere Arbeitslosengeld I bekommen, falls er noch erwerbslos wäre, sondern das niedrigere Arbeitslosengeld II in Höhe von 345 Euro.“ [24]

Die kapitalistische Benutzung der lohnsubventionierten Mannschaft, so sie auf diesem Wege denn zustande kommt, rentiert sich erst einmal für die Unternehmer, die sich mit Lohnzahlungen, die einen Bruchteil des bisherigen Lohnes ausmachen, die Verfügung über eine ganze Arbeitskraft sichern; mit Steuern und Sozialabgaben belastbare Geldeinkommen auf Seiten der Beschäftigten stiftet sie nicht; der Staat muss sogar noch Geld drauflegen, damit die Beschäftigung zustande kommt.[25]

Der anvisierte Nutzen für ihn liegt in der Verringerung einer Belastung. Aber wie dem auch sei: Lohnzuschüsse dieser Art sind für ihn auf jeden Fall besser begründet als die, mit denen bloß einem Aufstocker das Einkommen aufgebessert wird. Hier geht es ja auch um echte Lohnsubventionen, d.h. um eine Subventionierung der unternehmerischen Kosten für Arbeit, damit perspektivisch auch um mehr Beschäftigung im Lande – und nicht um eine bloß kostspielige Subventionierung von Unterhaltskosten.

Derlei Kombilohn-Modelle sollen nach dem Willen der Regierung einerseits flächendeckend greifen:

„Die Einführung eines Kombilohns könnte nach Ansicht von Koalitionspolitikern und Wirtschaftsexperten mehr als zwei Millionen Arbeitslose in Beschäftigung bringen. Etwa die Hälfte der 4,5 Millionen Arbeitslosen könnten durch eine derartige Lohnsubvention wieder eine Arbeit bekommen, sagte der sächsische Ministerpräsident Milbradt (CDU).“ [26]

Andererseits sollen Kombilöhne nicht zur Regel werden, weil die reguläre Beschäftigung schon noch ihre diversen positiven Beiträge zu den Staatsfinanzen leisten soll. Und da scheint ein gewisser Haken zu liegen. Jedenfalls gehen die Befürchtungen der Konzeptschmiede dahin, dass sich die Beschäftigung lohnsubventionierter Arbeitsloser für die Unternehmer viel zu gut rechnen könnte, dass sich ihre Einstellung für sie mehr rentieren könnte als der Einsatz ihrer angestammten Dienstkräfte, und der Staat am Ende doch auf noch mehr sozialen Unkosten sitzen bleibt:

„In der SPD wird befürchtet, dass die Unternehmer reguläre Jobs aufspalten und durch staatlich bezuschusste Niedriglohn-Stellen ersetzen. Müntefering will deshalb in der Arbeitsgruppe auch über einen Mindestlohn reden.“ [27]

Auch Kanzlerin Merkel sieht sich gehalten, den Herren der Wirtschaft gegenüber klarzustellen, wie die Sache nicht gemeint ist:

„Wir wollen schließlich Arbeitsplätze schaffen und keinen Selbstbedienungsladen für findige Unternehmer.“

Dass der Staat davor geschützt werden muss, dass durch die Einführung so eines Kombilohn-Modells vermehrt soziale Unkosten auf ihn zukommen, ist anerkannter- und unbestrittenermaßen der ultimative Grund dafür, dass es eventuell doch noch einen – selbstverständlich speziell auf dieses Problem hinkonstruierten – Mindestlohn braucht. Jedenfalls arbeiten sich die Koalitionspartner in der Frage ‚Kombi- oder/und Mindestlohn‘ von ihren wie immer völlig konträren Standpunkten aus da auf eine gemeinsame Position zu. Während die Union weiterhin darauf besteht: Erst auf Basis eines Kombilohnmodells stelle sich die Frage, ob ein Mindestlohn als Ergänzung sinnvoll sei[28], hat die SPD schon immer gesagt, dass es einen Kombilohn nicht ohne Mindestlohn geben wird.[29]

Nachträge

1. Über die Rolle der Gewerkschaft in diesem sozialpolitischen Dauerexperiment braucht man nicht viele Worte zu machen. Von Anstrengungen zur Gegenwehr ist nichts bekannt geworden. Symptomatisch für den Stand ihrer Bemühungen, die Interessen ihrer Mitglieder zu vertreten, sind ihre Einmischungen in Sachen gesetzlicher Mindestlohn. Wenn der Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes zu Protokoll gibt: Wir brauchen endlich Mindestlöhne von mindestens 7,50 Euro die Stunde[30], und damit eine Mindestlohngrenze ins Gespräch bringt, die immer noch unter dem Armutslohn von 1442 Euro (liegt), der als Hälfte des durchschnittlichen Bruttolohnes definiert sei[31], wie die gewerkschaftlichen Befürworter einer solchen Lohnmindestgrenze betonen, dann gesteht er damit ja ein, wie weit es die deutschen Gewerkschaften in Sachen Interessenvertretung gebracht haben: Mit und ohne ihre Zustimmung, innerhalb und außerhalb tariflicher Regelungen zahlen die Unternehmer im Lande für reguläre Anstellungen munter Löhne, die unterhalb der offiziellen Armutsgrenze liegen –, und die von ihm vertretenen Gewerkschaften hält er noch nicht einmal für zuständig, diesen Zustand zu korrigieren oder wenigstens einzudämmen. Das soll der Staat machen. Mit seiner Forderung geht DGB-Chef Sommer anderen Gewerkschaftsführern allerdings noch zu weit, z.B. dem Vorsitzenden der IG Bergbau, Chemie und Energie, Hubertus Schmoldt, der sich das Argument hat einleuchten lassen, dass ein solcher Mindestlohn die Arbeitsplätze mit den beschissensten Löhnen gefährden würde:

„Wer glaubt, dass man den Unternehmern einfach einen Mindestlohn vorschreiben kann, ohne dass das Angebot an einfachen Arbeitsplätzen sinkt, der hat die Probleme am deutschen Arbeitsmarkt nicht verstanden.“ [32]

Der IG-Chemie-Chef hat diese Probleme hingegen genau verstanden und will sie offenbar lieber in gewohnter und bewährter Manier im Einvernehmen mit den Unternehmern regeln. Die Aufgabe seiner Gewerkschaft sieht er darin, verantwortungsvoll und mit Rücksicht darauf, dass die Arbeitsplätze, die seine Leute dringend brauchen, für die Unternehmer rentabel sein und bleiben müssen, die passenden Niedriglöhne zu vereinbaren. Mit dieser ihm vertrauten Rolle seiner Gewerkschaft scheint er ganz zufrieden zu sein. Deswegen tut er kund:

„Ich lehne einen einheitlichen Mindestlohn ab, weil damit die Tarifautonomie ausgehebelt würde.“
Stattdessen plädiert er für „branchenbezogene Regelungen“, weil sich „auf diesem Weg leichter eine Untergrenze beim Lohn einziehen (lasse), ohne dass einfache Arbeitsplätze für die Unternehmen in großer Zahl unrentabel würden. Dazu sollten wir in erster Linie das Instrument der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen nutzen… Damit könnten laut Gesetz etwa die untersten Tarifgruppen auch für solche Unternehmen vorgeschrieben werden, die eigentlich nicht tarifgebunden sind.“

Es ist nämlich so, dass immer mehr Unternehmer die mit den Gewerkschaften ausgehandelten Tarifverträge schlichtweg ignorieren oder sich den aus ihnen ergebenden Verpflichtungen durch Austritt aus dem Unternehmerverband entziehen, weil sie es sowieso nicht mehr für nötig erachten, sich mit der Gewerkschaft überhaupt noch ins Benehmen zu setzen. Da wäre es natürlich schön, wenn die Staatsgewalt etwas für die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen tun könnte, die die Gewerkschaft selber nicht mehr durchsetzen kann. Ungefähr da trifft sich der IG-Chemie-Chef dann auch wieder mit dem DGB-Chef:

„DGB-Chef Michael Sommer erklärte, der Niedriglohnsektor solle eingedämmt und sortiert werden. Dort, wo die Tarifautomatik funktioniere, habe der Gesetzgeber nichts zu suchen. Dort, wo sie nicht funktioniere, seien gesetzliche Rahmenbedingungen nötig.“ [33]

2. Der Lohn ist der Gegenstand zweier gegensätzlicher gesellschaftlicher Interessen. Was ein Betrieb für die Arbeitskräfte bezahlen muss, die er für seine Gewinnproduktion zum Einsatz bringt, und wie sehr er sie verausgaben darf, wie viel die umgekehrt zum Leben haben und wie lange und zu welchen Bedingungen sie dafür ihrem Arbeitgeber zur Verfügung zu stehen haben, entscheidet sich in einer immer wieder von neuem anstehenden Auseinandersetzung, in der Interesse gegen Interesse steht. Was herauskommt, wenn die eine Seite ihr Interesse nicht mehr zur Geltung bringt, sieht man heute.

Dann hat die andere Seite freie Hand. Das Kapital ist entfesselt, es kennt von sich aus sowieso keine Rücksichten auf die Reproduktionsnotwendigkeiten seines Ausbeutungsmaterials: Die Unternehmen gehen dazu über, ihren Belegschaften das Lohnniveau und die Leistungsanforderungen zu diktieren, die sie zur Erzielung des von ihnen anvisierten Geschäftsergebnisses brauchen bzw. erfüllt sehen wollen; sie machen die Weiterbeschäftigung in ihren Betrieben regelmäßig davon abhängig, dass die Beschäftigten unbezahlte Mehrarbeit und massiven Lohnverzicht akzeptieren, und sie sorgen mit der Effektivierung ihrer Belegschaften dafür, dass immer wieder größere Teile derselben überflüssig werden und für sie damit Lohnkosten in großem Umfang wegfallen – trotz wachsender Gewinne, wie es so schön heißt.

Und der Staat? Der hält dies alles aus standortpolitischen Gründen erst einmal für unbedingt geboten und unterstützt seine Unternehmer in ihrem Kampf um „internationale Wettbewerbsfähigkeit“. Zweitens passt er seine Sozialsysteme an die sinkende Lohnsumme an, die seine nationale Unternehmerschaft bezahlt und reduziert dabei das, was Marx das historische und moralische Element des Werts der Ware Arbeitskraft genannt hat, auf das, was er für nötig erachtet. Er definiert das zur Reproduktion Notwendige nach seinen – staatshaushälterischen, euroimperialistischen, standortpolitischen, staatsmoralischen, ordnungspolitischen etc. – Gesichtspunkten, und was bei deren Abwägung herauskommt, gesteht er seinen ansonsten mehr oder minder mittellosen Untertanen als deren notwendigen Bedarf zu.

[1] Zweites Buch des Sozialgesetzbuches, Paragraf 2

[2] Dieses und die folgenden Zitate – sofern nicht anders angegeben – aus der FAZ vom 1.6.06 und der SZ vom 12.5.06

[3] Was sie anbelangt, weiß man heute rückblickend, dass Erwerbsfähigkeit zu großzügig definiert wurde. Die großartige Idee, erwerbsfähige Arbeitslose in Arbeit zu bringen, hat sich nämlich in einer Hinsicht zumindest doch als voller Erfolg erwiesen: Zunutze gemacht haben sich die entsprechende Regelung in größerem Umfang die Kommunen, die die Gelegenheit ergriffen haben, die ihnen auf der Tasche liegenden Fürsorgeempfänger an die Bundesanstalt für Arbeit loszuwerden: So konnten die Sozialämter fast ihre gesamte Klientel der Bundesagentur für Arbeit (BA) überstellen.

[4] Müntefering laut SZ vom 6.10.06

[5] Kurt Beck laut RP Online 13.10.06

[6] FAZ, 21.6.06

[7] SZ, 2.6.06

[8] Peter Struck gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 25.6.06

[9] Wolfgang Franz, Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und Präsident des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung, FAZ 5.1.06

[10] SZ, 6.10.06

[11] Financial Times Deutschland, 4.11.06

[12] Die folgenden Zitate aus Frankfurter Rundschau 13.3.06

[13] FAZ, 29.5.06

[14] Reuters/AP/DPA; 9.2.06

[15] Spiegel 2/06

[16] Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt 23.2.06

[17] Handelsblatt 24./25./26.2.06

[18] Wolfram F.Richter, Professor für Öffentliche Finanzen an der Universität Dortmund und Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Bundesfinanzministeriums in der SZ vom 6.3.06

[19] Financial Times Deutschland, 7.11.06

[20] SZ 4.4.06

[21] Staatssekretär Würmeling (CSU) aus dem Bundeswirtschaftsministerium, Reuters / AP / DPA 9.2.06

[22] Nahles laut AP, 19.9.06

[23] FAZ 10.5.06

[24] SZ vom 20.7.06

[25] Unter Ökonomen wird eine Lohnsubvention deswegen auch als negative Steuer bezeichnet.

[26] SZ, 2.1.06

[27] SZ 3.1.06

[28] HB 24./25.26.2.06

[29] Nahles, AP 19.9.06

[30] DGB-Chef Sommer laut Handelsblatt vom 7.10.06

[31] FAZ 7.3.06

[32] Handelsblatt, 24./25./26.2.06

[33] stern.de 19.9.06