„Die Welt in Aufruhr!“
Vom globalisierten Fehler des Rufs nach guter Herrschaft
Laut einhelliger Meinung der Presse war 2019 ein Jahr des Aufruhrs, in dem in außergewöhnlich vielen Ländern außergewöhnlich viele Menschen ihre Empörung und Unzufriedenheit zum Teil auch außergewöhnlich lautstark und radikal auf die Straße getragen haben. Offenbar haben die Menschen angesichts der Lebensbedingungen, denen sie in den jeweils landestypischen Ausprägungen der herrschenden Weltwirtschaftsordnung unterworfen sind und in denen häufig die elementarsten menschlichen Grundbedürfnisse auf der Strecke bleiben, weltweit haufenweise Gründe, sich gegen deren nationale Verwalter aufzulehnen. Ihre politische Gemeinsamkeit allerdings liegt in der Diagnose ihrer Misere, die in den beliebten Protestrufen – „Korruption!“, „Vetternwirtschaft!“, „soziale Ungerechtigkeit!“, „Untätigkeit!“ oder „Marionetten auswärtiger Interessen!“ – mittlerweile auch im entlegensten Andenhochland und auf den fernsten indopazifischen Inseln erschallt.
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Systematischer Katalog
„Die Welt in Aufruhr!“
Vom globalisierten Fehler des Rufs
nach guter Herrschaft
Laut einhelliger Meinung der Presse und ihrer
wissenschaftlichen, den Protest erforschenden
Berufungsinstanz war 2019 ein Jahr des Aufruhrs, in dem
in außergewöhnlich vielen Ländern außergewöhnlich viele
Menschen ihre Empörung und Unzufriedenheit zum Teil auch
außergewöhnlich lautstark und radikal auf die Straße
getragen haben. Über die Berichterstattung zu den
aktuellen Entwicklungen ganz nah am Protestgeschehen und
die kritischen Hintergrundanalysen der Protestursachen
hinaus wurde in der Öffentlichkeit die Frage gewälzt, ob
es nicht einen gemeinsamen Katalysator
oder
zumindest eine Verbindung
zwischen den Protesten
gäbe. Zu banal offenbar die Feststellung, dass die
Menschen angesichts der Lebensbedingungen, denen sie in
den jeweils landestypischen Ausprägungen der herrschenden
Weltwirtschaftsordnung unterworfen sind und in denen
häufig die elementarsten menschlichen Grundbedürfnisse
auf der Strecke bleiben, weltweit haufenweise
Gründe haben, sich gegen deren nationale
Verwalter aufzulehnen. Umso spannender dagegen die
Erkenntnis, dass die Welt des Internets und der sozialen
Medien zwar gar nicht mehr so neue, dafür aber
mittlerweile flächendeckend genutzte
Organisationsmöglichkeiten stiftet, um unter Umgehung
staatlicher Kontrollen und Repression Protest zu
organisieren und Unzufriedenheit zu mobilisieren. Ob die
Demo-Organisation via Smartphone die weltweit
Protestierenden damit gleich zu einer digitalen, sich
wechselseitig inspirierenden Protestkultur
zusammenschweißt, sei mal dahingestellt. Ihre
politische Gemeinsamkeit liegt in der Diagnose
ihrer Misere, die in den beliebten Protestrufen –
Korruption!
, Vetternwirtschaft!
, soziale
Ungerechtigkeit!
, Untätigkeit!
oder
Marionetten auswärtiger Interessen!
– mittlerweile
auch im entlegensten Andenhochland und auf den fernsten
indopazifischen Inseln erschallt.
Die Anlässe der Massenproteste sind disparat und entzünden sich mal an der geplanten Einführung einer Steuer auf WhatsApp-Nachrichten, mal an Erhöhungen von U-Bahn-Fahrpreisen oder der Kürzung von Treibstoffsubventionen, oder sie nehmen Anstoß an der rechtsstaatlichen Neufassung von Auslieferungsgesetzen wie im Falle der antichinesischen Proteste in Hongkong. Geeint sind die sozial Empörten mit den national Empörten, sowie diejenigen, die gegen anstehende staatliche Reformen protestieren, mit all jenen, die ihre Empörung über ausstehende Reformen auf die Straße treibt, in einem Punkt: Sie überführen ihre verschiedensten Nöte und Schädigungen in die gemeinsame Diagnose des Versagens ihrer jeweiligen Regierung. Darin entdecken die Demonstranten, wie vielfältig die geschädigten Interessen und Anlässe in den verschiedenen Ländern auch sein mögen, offenbar weltumspannend den Grund ihres Elends: Ihre jeweiligen staatlichen Machthaber vergeigen ihren eigentlichen gemeinwohldienlichen Auftrag. Sei es aus niederen Motiven der privaten Bereicherung, aus mangelnder Integrität oder aus fehlendem Behauptungswillen gegenüber volksfremden Interessen, das Führungspersonal bleibt seinem Volk den herrschaftlichen Dienst guten Regierens schuldig.
Wo ihnen die staatliche Herrschaft Lebensbedingungen zumutet, die zu ertragen sie nicht länger gewillt sind, fassen die Teilnehmer der Protestbewegungen ihre Existenzbedingungen und daraus resultierenden Nöte also als kumuliertes Resultat von Fehlern und Unterlassungen der aktuellen Führungsmannschaft (oder einer ganzen Historie fehlgeleiteter Politik). Ihre Diagnose, dass die Politik etwas nicht oder falsch gemacht habe, lebt von einem Ideal guter Herrschaft. Konsequenterweise scheiden sie dabei zwischen dem machthabenden Personal, das alle Empörung und Wut angesichts der ausgemachten persönlichen Unfähigkeit oder gar berechnenden Unwilligkeit, die Sache gut zu machen, auf sich zieht, und der Achtung vor den Ämtern, denen dieser so inhaltsleere wie eingebildete Auftrag einbeschrieben sei. Ein schöner Freispruch für die Herrschaft! Als würden der schlechte Charakter und die moralische Verkommenheit einer Person je mehr tangieren als ihr privates Umfeld, würde ihr Amt sie nicht mit der weitreichenden Macht und den Befugnissen des Regierens über Land und menschliches Inventar ausstatten; als wäre die Regierungstätigkeit, an der sich die Demonstranten stören, nicht über die Aufgaben und Notwendigkeiten des Amtes bestimmt; als wären die Freiheiten, die sich die Machthaber im Amt herausnehmen, nicht ein wesentlicher Bestandteil der Herrschaftsmacht, die das Amt ihnen verleiht; und als gehörte ein gehöriges Maß an Willkür nicht zu den Befugnissen des Staatsdienstes, den konkurrierende Politiker unbedingt leisten wollen. Mit dem Urteil der Pflichtvergessenheit ihrer Regierung bewältigen die Protestierenden den Widerspruch zwischen ihren Erfahrungen im alltäglichen Kampf um das Zurechtkommen in den herrschenden Verhältnissen, zwischen der Enttäuschung, die sich unweigerlich noch nach jedem Personalwechsel an der Staatsspitze beim vorübergehend von Hoffnung beseelten Fußvolk einstellt – und ihrem guten Glauben an die Politik. Selbstbewusst präsentieren sie sich lautstark als Betroffene und Opfer schlechter oder mangelnder Regierungstätigkeit und machen aus ihrer Abhängigkeit von staatlichen Entscheidungen einen Rechtsanspruch an die Regierung, als wäre Unterordnung unter die politische Gewalt ein gutes Argument dafür, von ihr Rücksichtnahme für die eigenen Interessen einzufordern. Aus diesem Rechtsbewusstsein gegen die amtierende Regierung speist sich die ganze Empörung, mit der der Protest ihr in aller Radikalität den Gehorsam verweigert. Sogar da, wo ganze Führungsriegen aus dem Amt gejagt werden, findet eine Kündigung des Herrschaftsverhältnisses nicht statt, viel eher ist die Forderung nach einem neuen „System“ präsent, in dem die Herrscher ihrem Volk nur Gutes tun.
An ambitionierten Machtanwärtern, die sich berufen
fühlen, diesen Ruf des gebeutelten Volkes nach besserer
Führung und vertrauenswürdigen Repräsentanten zu erhören
und sich an die Spitze des Protests zu stellen, mangelt
es in der Regel nicht. Sie profitieren von dem
Widerspruch zwischen Grund und Inhalt des Protests:
Entweder versichert die alte Mannschaft, sie habe
verstanden und gelobt Besserung, oder Konkurrenten um die
Posten der Macht, die die Proteste von unten als Chance
für ihre Machtambitionen begreifen, inszenieren sich als
neue Hoffnungsträger der Bewegung und versprechen mit den
Missständen der Vorgängerregierung aufzuräumen. [1] Der
authentische
, aus tiefster Unzufriedenheit
eigenmotivierte Protest, der spontan seiner Empörung Luft
verschafft, bezieht seine Stoßrichtung aus den Maßstäben
guten Regierens, denen sich die demokratische Herrschaft
selbst verschreibt und an denen sie sich von ihrem Volk
messen lässt. In aller Regel wird er von den Konkurrenten
um die Macht im Land gezielt von oben politisch
angeleitet, damit sich das Volk seine Unzufriedenheit
auch richtig verplausibilisiert, und entsprechend nach
Bedarf angestachelt und aufgehetzt. Außerdem bleiben
auswärtige Mächte, die sich für alle Gewaltaffären auf
dem Globus zuständig fühlen, nicht untätig, sich als
potente Paten des Protests aufzubauen, wenn er ihnen
gerade in den Kram passt. Dazu werden mehr oder weniger
offen Figuren aus der lokalen Opposition auserkoren oder
passende Anwärter exportiert, mit materiellen Mitteln des
Machtkampfs ausgestattet und dem Protest vorangestellt.
Insofern sind die Proteste weltweit Echokammern der
konkurrierenden Machtinteressen im Land und Produkt
auswärtiger Instrumentalisierung, die die Demonstranten
als Kronzeugen falscher Regierung und Speerspitze gegen
unliebsame staatliche Widersacher aufmarschieren lässt.
Sobald sich eine bessere Herrschaft
ans Werk
macht, erhalten alle Proteste von der neuen oder alten
politischen Führung dieselbe einsinnige Antwort: Als
Erstes und vor allem anderen gilt es zunächst
eine intakte Herrschaft wiederherzustellen. Die
staatlichen Adressaten des Protests sind die ersten, die
ihm sogleich die Notwendigkeit einer stabilen Ordnung
vorbuchstabieren und entsprechend auch die Unterordnung
all jener, die eben noch auf den Barrikaden waren,
gewaltsam durchsetzen. Damit ist auch praktisch
klargestellt, wem es nun gebührt, über den Inhalt der
wiederherzustellenden oder zu reformierenden Ordnung zu
entscheiden, und das ist noch nicht mal ungerecht
gegenüber einem Protest, dessen Ruf nach guter Herrschaft
jedweden konkreten Inhalt dem Wunsch subsumiert, oben und
unten möchten sich endlich entsprechen. Was sich nun in
den Ländern in Bezug auf die geltende Staatsräson
verändert, entscheidet die politische Führung, die mit
einem unangefochtenen Gewaltmonopol über die Gesellschaft
ihre Freiheit zur Machtausübung wiederherstellt, also
dazu, die Neuausrichtung der Nation mitsamt allen
politischen, ökonomischen und sozialen Notwendigkeiten zu
definieren. Was da an Inhalt am Ende so
rauskommt, ist dann auch meist wieder wenig revolutionär
und originell, sondern gehorcht den gängigen Prinzipien
und Anforderungen der privaten Geldwirtschaft in der
internationalen Standortkonkurrenz. Das unzufriedene Volk
wird wie eh und je auf seine Rolle als Manövriermasse
verpflichtet, und damit nicht nur darauf, die
Interessengegensätze und privaten Notlagen, die sich
daraus ergeben, auszuhalten, sondern darüber hinaus die
wiederhergestellte Ordnung als die Erfüllung seiner
Ansprüche zu begrüßen. So sind alle Protestierenden – wie
Nichtprotestierenden – im Land unter der neuen,
hoffnungstiftenden Regierung wieder auf die trostlose
Rolle des konstruktiven Aushaltens von
Abhängigkeitsverhältnissen abonniert. Es
ändert
sich also mal wieder nichts, wie auch, wenn es
gar
nicht angegriffen wird.
PS:
Die Menschheit hat ein Anrecht auf gute Herrschaft, da
sind sich die hiesigen Redaktionen einig, die das
paradoxe Ideal einer ihrem Volk dienstbaren Herrschaft
teilen und es zur Messlatte ihres kritischen Blicks in
die Welt erheben. So schlägt nicht nur den gesitteten
friedlichen Demonstranten, sondern je nachdem auch mal
den radikalen Aufständischen öffentliches Verständnis
entgegen. Wie viel Gewalt dem Protest gegen seine
schlechte Regierung erlaubt ist, ohne dass er sich dabei
in den Augen der hiesigen Presse selbst delegitimiert,
und ob bei ihr ein Halstuch vor der Nase und ein paar
Steine als berechtigte Notwehr gegen übertrieben harte
Polizeigewalt firmieren oder als Vermummung und
gefährliche Übergriffe auf das Leben von Polizisten, die
die regierungsamtliche Niederschlagung des Protests gut
begründen – diese Entscheidung der Presse folgt eben
nicht einfach der Militanz des Protests, sondern schlicht
ihrer Parteilichkeit gegenüber der jeweils von unten
angefeindeten Herrschaft. Zur Beurteilung derselben im
Namen guten Regierens hat die Presse ihren (bereits wohl
bekannten) Kriterienkatalog – Kampf gegen Korruption und
soziale Ungleichheit sowie Beachtung demokratischer
Verfahrensweisen –, der sich im Lichte bestehender
nationaler Parteilichkeiten und angesichts von Erfolg
versus Misserfolg staatlicher Herrschaftsausübung
beliebig zur Schuldfragenklärung und Feindbildpflege
auslegen lässt. Da wird dem hiesigen Publikum auch mal
vermittelt, dass in komplexen Lagen das Militär als
letzter Garant von Stabilität und Retter der Demokratie
genötigt ist, einen an der Macht klebenden Autokraten aus
dem Amt zu putschen, oder dass sich auch linke
Regierungen, die mit ihren sozialen Geschenken
die
Bevölkerung betören
, der Förderung sozialer
Ungerechtigkeit schuldig machen, weil sie im Dienste
ihres Machterhalts fällige Reformen verzögern und so das
Wohl der Nation, von dem alle abhängen, gefährden. So
sortiert sich die hiesige Presse die Welt in
Aufruhr
zurecht und findet im Dienste ihres
authentischen Berichts vor Ort auch problemlos in der
Masse der Demonstranten die passenden Belegexemplare mit
ihren individuellen Lebensschicksalen, die ihr Urteil
stützen. Nervosität macht sich in den Redaktionsstuben
breit, wenn angesichts von anhaltenden Protesten und der
verbreiteten Pechsträhne vieler Völker mit ihren
schlechten Regierungen ganze Regionen in eine Spirale
aus Gewalt und Chaos
abzugleiten drohen und das
Vertrauen der Menschen in die Institutionen
gefährdet ist. Dann darf sich auch die eigene, daheim auf
gutes Regieren abonnierte Herrschaft den fernen
Protestrufen nicht verschließen und einfach nur
zuschauen
, sondern ist aufgefordert, sich für
Stabilität und Ordnung vor Ort einzusetzen – so viel an
Unterstützung ist man seinem demokratischen Gewissen,
also der Menschheit, bei ihrem Ruf nach guter Herrschaft
schon schuldig.
[1] Dieser Mechanismus
ist etlichen Protestbewegungen gerade in den
Musterländern der demokratischen Volkserziehung und
Politisierung derart vertraut, dass sie die Abwehr
jeglicher Vereinnahmung seitens konkurrierender
Politiker und gesellschaftlicher Institutionen glatt
zum Ethos ihrer Bewegung selbst erklären, z.B. machen
die französischen Gelbwesten die negative Betroffenheit
von der aktuellen Politik zum Inbegriff ihrer Bewegung
und wollen dezidiert unpolitisch
eine gemeinsame
Heimat für die Empörten stiften und der
Regierungsmannschaft eine Absage erteilen – der
Mannschaft, nicht dem Regiertwerden!