Humanitär begleitet, rechtlich begutachtet, moralisch umstritten
Israels Gaza-Krieg – Herausforderung an die Mächte und die Moralisten der imperialistischen Welt
Israels Gaza-Krieg gegen den Staatsgründungsterrorismus der Hamas kommt voran. Also gehen immer mehr Lebensbedingungen der Bevölkerung und geht diese selbst immer mehr kaputt, weil sie von Israel mit diesem Krieg als Sumpf des Terrors definiert und behandelt wird. Immer mehr in Fahrt kommt parallel dazu das Gezerre um die Frage, welche der Grausamkeiten dieses Krieges notwendig sind – und welche eher überflüssig und Israel daher als Verstoß gegen die guten Sitten beim staatlichen Töten und Zerstören angelastet werden müssten. Vorläufiger Höhepunkt in diesem Zusammenhang ist der Vorwurf „Völkermord“, weil sich so etwas ja laut einschlägigen Gesetzestexten endgültig für niemanden gehört. An der offensichtlich für alle Beteiligten so erbaulichen Debatte darüber, ob Israels Gaza-Terrorvernichtungswerk noch im grünen Bereich völkerrechtlich erlaubter militärischer Gewalt stattfindet oder schon kriminell ist, beteiligt sich der GegenStandpunkt nicht. Er klärt stattdessen darüber auf, wie auch in diesem Krieg Zweck und Mittel zusammengehören; ferner über den imperialistischen Gehalt der Legalitätsbedenken und Mahnungen der Unterstützerstaaten sowie über Fehler und Leistung der öffentlichen wie privaten moralischen Stellungnahmen zum laufenden Krieg.
Aus der Zeitschrift
Teilen
Siehe auch
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Gliederung
- UNRWA und ihr Skandal: Von den aktuellen Tücken der traditionsreichen humanitären Betreuung der israelischen Dauerstaatsgründung gegen die Palästinenser
- Kriegshunger, Hungerhilfe und das Gezerre darum: Vom Irrsinn eines humanitär begleiteten Terrorismusvernichtungskrieges
- Vorwürfe gegen Israel wegen Unverhältnismäßigkeit und Völkermord: Vom interessierten Zynismus der rechtlichen Begutachtung der israelischen Terrorvernichtungsaktion
- Öffentliche Anteilnahme, Proteste und Gegenproteste im Westen: Vom Fehler der moralischen Parteinahme im laufenden Krieg
Humanitär begleitet, rechtlich begutachtet, moralisch umstritten
Israels Gaza-Krieg – Herausforderung an die Mächte und die Moralisten der imperialistischen Welt [1]
1. UNRWA und ihr Skandal: Von den aktuellen Tücken der traditionsreichen humanitären Betreuung der israelischen Dauerstaatsgründung gegen die Palästinenser
Irgendwann im Laufe des Krieges beschuldigt Israel die UNRWA, die wichtigste für die Betreuung palästinensischer Flüchtlinge zuständige UN-Unterorganisation habe in ihren Reihen ein paar – oder mehr als ein paar – bekennende Anhänger und sogar praktizierende Mitglieder der Hamas. Die umgehende Suspendierung des vom Vorwurf betroffenen Personals und die Ankündigung eingehender interner Ermittlungen durch die UNRWA schützen diese weder vor den immer massiveren Forderungen Israels, die Organisation als Ganze endlich einzustampfen, noch vor den prompt in die Praxis umgesetzten Drohungen der wichtigsten – westlichen – Geberländer, ihre Beiträge einzustellen. Die UNRWA ist empört und spricht von Sippenhaft und Vorverurteilung. Sie bekommt erwartungsgemäß Unterstützung vonseiten der mehr oder weniger offiziellen Palästinenservertreter, von den arabischen und nicht nur den arabischen Staaten sowie den Aktivisten anderer internationaler Hilfsorganisationen. Gestritten wird um den Grad der Involviertheit bzw. um die Notwendigkeit oder Unmöglichkeit der Trennung zwischen der Tätigkeit der UNRWA und dem Terror, gegen den sich Israel nach internationaler Mehrheitsmeinung zur Wehr setzen muss und darf. Diese Trennung ist angesichts der Sache, die da ‚on the ground‘ seit Jahrzehnten abläuft, notwendigerweise schwer zu haben.
a)
Die fortwährende israelische Politik der Verhinderung einer palästinensischen Staatsgründung hat den Gründungszweck der UNRWA verstetigt bzw. ihren Existenzgrund über die Jahrzehnte reproduziert. Gegönnt hatte sich die in der UNO versammelte Weltgemeinschaft diese exklusiv für die Betreuung der Palästinenser zuständige Organisation, weil ihr Plan zur Gründung eines jüdischen und eines arabisch-palästinensischen Staates im vormals britischen Mandatsgebiet Palästina – auch dieses war schon eine völkerrechtlich, nämlich per Völkerbund abgesegnete Einrichtung – erstens nur zur Hälfte aufgegangen war: Die Überführung des britisch-zionistisch-arabischen Streits um die Zukunft des Landstücks in eine schiedliche Doppelstaatsgründung hatte bei beiden staatsgründerisch aktiven Streitparteien nämlich den Willen zur kriegerischen Durchsetzung gegen die jeweils andere Seite nicht saturiert, sondern angestachelt; mit dem bekannten sehr einseitigen Ergebnis, dass der Staat Israel im Jahr 1948 nicht nur offiziell ausgerufen wurde, sondern sich tatsächlich als staatliche Entität westlich des Jordan etablieren konnte. Dies zweitens mit einer Gewalt, wie sie für Staatsgründungen typisch ist, was auf arabischer Seite nicht nur einen Staat verhindert, sondern hunderttausende Vertriebene produziert hat. Die sind entweder auf dem für den Palästina-Staat vorgesehenen Gebiet untergekommen oder haben sich – in mehreren Wellen – in die arabischen Staaten im Umland abgesetzt bzw. sind im Zuge diverser Auseinandersetzungen von einem in den anderen vertrieben worden. Überall und von allen einschlägigen Seiten werden sie seither nicht einfach als Flüchtlinge behandelt, sondern in dieser Eigenschaft als virtuelle Staatsbürger:des Staates Palästina eben, den es nicht gibt, aber geben soll. An ihnen halten die Vereinten Nationen durch die Praxis eines Abklatsches von sozialstaatlicher Betreuung – von der Ernährung über Gesundheits- und Schulwesen bis hin zu Berufsbildung und Förderung von Menschen mit einer Behinderung oder einer Startup-Idee – daran fest, dass ihr Beschluss von 1947 immer weiter gilt, dass also die Gründung des arabischen Staats Palästina nicht einfach ist, was sie ihrer politischen Natur nach ist: eine Gewaltfrage, die zwischen den miteinander unverträglichen Staatsgründungswillen bzw. deren Trägern vor Ort ausgetragen und entschieden wird, sondern allen Ernstes eine Frage übergeordneten Rechts.
Das ist zwar einerseits ein Idealismus, wie sich gerade an dem inzwischen über 75 Jahre alten „Nahostkonflikt“ studieren lässt: Staaten sind politische Gewaltsubjekte, deren erste und entscheidende ‚Eigenschaft‘ darin besteht, sich gegen ihresgleichen durchzusetzen, das von ihnen beanspruchte Territorium und die von ihnen als Volk beanspruchten Menschen sich zuzuordnen und die anderen Staaten vom Zugriff auf beide auszugrenzen, soweit die eigene Gewalt im Vergleich reicht. Nur auf dieser Basis setzen sich diese Subjekte mit ihresgleichen ins Benehmen, erkennen einander an und lancieren ihre Interessen aneinander unter Berücksichtigung des jeweils anderen Willens, setzen also das Recht, das sie allenfalls zwischen sich gelten lassen. Der in der UNO organisierte und stur auch auf das Verhältnis von Israel und den Palästinensern angewandte völkerrechtliche Idealismus dreht das Verhältnis um, indem er darauf besteht, dass die Ko-Existenz der einander aus der Verfügung über Land und Leute ausgrenzenden und beschränkenden Gewaltmonopolisten Ausfluss eines höheren Rechts zu sein hat und ist. Dieser Idealismus wird auch an den Palästinensern per Hilfe beim Flüchtlingsdasein vollstreckt: Ein paar Millionen auf israelisch besetztem Gebiet oder in arabischen Nachbarstaaten ansässige Nichtstaatsbürger werden in dieser negativen Eigenschaft zugleich als Basis eines zukünftigen Palästina behandelt und reproduziert, auf dessen irgendwann zu vollziehender Gründung die UNO auch vermittels ihrer UNRWA ad hominem als Rechtslage und damit auf sich als Instanz der entsprechenden Rechtsprechung beharrt. Sie besteht darauf, dass die palästinensische Staatsgründung ihre Sache ist, die sie sich von keiner noch so effektiven Verhinderung durch Israel abknöpfen lässt.
Andererseits ist an der Palästina-‚Frage‘ – per UN-Resolution einst offiziell aus der Taufe gehoben, seither immer mehr mit Rechtssprüchen unterschiedlicher Verbindlichkeit umzingelt und u.a. durch die UNRWA praktisch betreut – auch der imperialistische Realismus erkennbar, der in dem völkerrechtlichen Idealismus verklärt wird.
b)
Denn dass die Staaten als UNO beinhart an ihrer Rechtsprechung festhalten, obwohl die ‚Rechtswirklichkeit‘, d.h. die gewaltsam hergestellte Realität im Land „zwischen Fluss und Meer“ dieser Hohn spricht, heißt ja umgekehrt: Diese Staaten in ihrer Eigenschaft als eigennützige, gegeneinander oder auch in wechselnden Allianzen agierende Subjekte machen sich in ihrem Vorgehen nicht von ihren kollektiven Rechtssprüchen abhängig, sondern beziehen sich sehr berechnend auf diese – je nach dem Inhalt und der Reichweite ihrer Interessen und Ansprüche sowie der Machtfülle, mit der sie die verfolgen.
Der Bezugspunkt aller Berechnungen mit der UNRWA sind die Leistungen, die diese Organisation für diejenigen erbringt, die von ihnen mit ihrer Existenz abhängig sind. Für die menschlichen Adressaten ist die Tätigkeit der Organisation Überlebenshilfe: sei es dadurch, dass sie mit sachlichen Hilfen für diejenigen einspringt, die sich mangels Geldeinkommen Grundlegendes wie Nahrung oder Medizin nicht leisten können; sei es dadurch, dass sie im Rahmen ihrer Arbeit selber Einkommen bei ihrer palästinensischen Mitarbeiterschaft stiftet; sei es dadurch, dass sie durch Schul- und sonstige Bildungs- und andere Hilfsprojekte für Bedingungen der Möglichkeit sorgt, sich womöglich selbst irgendwann ein Einkommen im Rahmen und auf irgendeiner Stufe der insgesamt elenden palästinensischen Ökonomie zu verschaffen. Und dass so mancher Palästinenser auf der Basis einer sein Überleben sichernden Tätigkeit bei der UNRWA sich auf seine Weise für die „palästinensische Sache“ einsetzt, womöglich gar ein paar Gelegenheiten nutzt, die sich im Rahmen seines Jobs ergeben, sollte nicht verwundern. Zumal er sich damit ja als Teil einer zutiefst berechtigten größeren arabischen Sache wissen darf, vertreten von Subjekten, die ihre Sache mit und an den Palästinensern verfolgen.
Das sind zum einen die Organisationen des palästinensischen Staatsgründungswillens. Denen hilft die UNRWA ganz praktisch dabei, diejenigen materiell zu betreuen, die sie für den von ihnen angestrebten Staat als Volk vorsehen und in den besetzten Gebieten entweder als international anerkannte „Autonomiebehörde“ oder als nicht anerkannte, sondern verfemte Hamas ja tatsächlich auch schon regieren, soweit die Machtmittel reichen. Die reichen aber eben nicht sehr weit, und von daher sind sie in ihrem praktischen Status als Quasi-Staatskörperschaften darauf angewiesen, dass ihnen die UNRWA einen Teil der humanitären Lasten abnimmt. Von immer größerer Bedeutung ist das darum, weil Israel in der Westbank durch die fortgesetzte Landnahme, durch alle möglichen begleitenden Schikanen gegenüber der Bevölkerung und die finanzielle Ausblutung der von ihm offiziell so gerade noch anerkannten Autonomiebehörde jedwede Erwerbsmöglichkeit immer mehr ruiniert hat. Den Gazastreifen unter dem Regiment der Hamas hat es offiziell unter Quarantäne gestellt und dort für noch schlimmere Verheerungen an den sowieso elenden ökonomischen Verhältnissen gesorgt, sodass immer mehr der dortigen Bewohner offiziell auf Hilfen der UNRWA angewiesen sind und diese auch erhalten haben. Mit dieser praktischen Unterstützung sehen sich Hamas und die Palästinensische Autonomiebehörde, die einen Teil der Gewalt des noch nicht vorhandenen Staates auf einem Teil des für ihn vorgesehenen Territoriums vorwegnehmend ausüben, auch in ihrem politischen Rechtsanspruch auf ordentliche und endliche Gründung bestätigt, also logischerweise auch in ihrem Unrechtsbefund über die fortgesetzte Obstruktionspolitik Israels, den sie ihrem Volk und dessen Nachwuchs nahelegen und im Falle der Hamas auch selbst militant-kämpferisch praktizieren.
Wo die UNRWA im arabischen Umland lebende Flüchtlinge in ihren teils zu regelrechten Kleinstädten ausgewachsenen Lagern betreut, da hilft sie den betreffenden Staaten – Jordanien, Libanon, Syrien – dabei, mit der zum größten Teil toten wirtschaftlichen Last umzugehen, die die Palästinenser für sie und die von ihnen regierten Ökonomien darstellen. Auch diese Dienstleistung ist in den letzten Jahren immer wichtiger geworden, weil sich der Zustand dieser drei Länder, die noch ganz andere Flüchtlingspopulationen beherbergen, aus diversen Gründen extrem verschlechtert hat, sodass sich schon die eigene Bevölkerung zu größeren Teilen nicht in einem Erwerbsleben umtreibt, das sie ernährt und dem Staat als Steuerbasis dient. Zugleich bestätigt ihnen die UNO dadurch, dass sich die UNRWA um die Palästinenser kümmert, wie richtig sie damit liegen, diese auch gar nicht ins eigene Volk ‚integrieren‘ zu wollen: Auch nach Jahrzehnten und in der x-ten Generation ermöglichen sie denen keine Einbürgerung, sondern behandeln sie als den millionenfachen lebenden Berufungstitel für ihren politischen Einspruch gegen Israel, gegen das sie um ausschließende Ansprüche auf Territorium und demgemäß um die Bedingungen für einen Frieden kämpfen. Auf dieser Basis waren die bei ihnen untergekommenen Palästinenser und ihre jeweiligen politischen Fraktionen als Pool und Hebel für ihre Einmischung in innerpalästinensische Machtkämpfe ganz gut brauchbar und insofern Bruder-und-Schwester-mäßig willkommen und besungen und teilweise auch besoldet. Davon ist nicht mehr viel übrig – außer dem negativen Standpunkt, dass die Palästinenser nicht zum eigenen Volk gehören, tendenziell und akut eher stören; die Betreuungstätigkeit des Staatenkollektivs ist darum willkommen und wichtiger denn je.
Alle diese eher machtlosen oder mit politischer Macht gesegneten Interessenten an der Existenz und den Leistungen der UNRWA beziehen sich darauf, dass die großen internationalen Geber ihrerseits ein geldwertes Interesse an der fortgesetzten Tätigkeit der Organisation haben; auch das ist doppelter Natur. Zum einen und ganz grundsätzlich machen sich diese finanzschweren, politisch bedeutsamen Mächte eben die völkerrechtliche Beschluss- und Rechtslage zur nationalen Sache. Ihrem Status und Selbstverständnis als Mitglieder der Staatenelite sind sie es schuldig, ihre Macht in den Dienst des Völkerrechts, Abteilung Palästina, zu stellen, weil das gleichbedeutend mit dem betätigten Anspruch auf Mitdefinition und -bestimmung der wirklichen Machtkonstellation vor Ort ist. Zum anderen sind gerade sie als diese Mächte, die in den völkerrechtlichen Regeln bezüglich der Palästinenser ihr Zugriffs- und Ordnungsinteresse auf die Region verrechtet haben und anerkannt sehen wollen, eben auch praktisch daran interessiert, dass ‚ihre‘ Nahost-Region irgendwie kontrollierbar geordnet ist, gerade wenn die eine entscheidende Staatsfrage permanent ‚offenbleibt‘. Die Betreuung der über die Region verteilten palästinensischen Population durch die UNRWA trägt dazu bei, die gewaltträchtigen und gewaltsamen Gegensätze, die damit einhergehenden Momente von Massenverelendung und Staatszerfall in einem Rahmen zu halten, der aus der Warte von Weltmächten noch akzeptabel ist im Sinne ihres Zugriffs auf die und des Umgangs mit den Staaten der Region. Von denen hat z.B. Ägypten diplomatisch für den Fall einer Vertreibung der Gazawi auf den Sinai angedeutet, dass es sein Problem damit zu einem westlichen machen werde – in Form von neuen Flüchtlingswellen übers Mittelmeer, die es dann nicht mehr so effektiv verhindern könne wie bisher; Jordanien warnt vor seiner weiteren Staatszerrüttung, falls der Krieg nicht irgendwann endet und die Palästinenser danach einer wirklichen Eigenstaatlichkeit zugeführt werden; usw. Dass sie mit ihrer UNRWA zugleich einen Beitrag zu den ruinösen Auseinandersetzungen um die Palästinenser und ihre Staatsperspektive liefern, ist den so angesprochenen Mächten ganz sicher nie entgangen – entsprechend kritische Stimmen zu deren Finanzierung hat es in jedem westlichen Geberland mindestens in Gestalt proisraelischer Lobbyisten immer gegeben –, aber ihre Gesamtabwägung hat es letztlich immer angezeigt sein lassen, den Verein weiter zu bezahlen. Die Frage nach dessen Beziehungen zur Hamas und überhaupt zu dem palästinensischen Widerstand musste sich die UNRWA immer schon gefallen lassen, einfach automatisch war ihre Arbeit nie gesichert. Immer schon war die zeitliche Begrenzung ihres Mandats und die Notwendigkeit von dessen periodischer Erneuerung die Verlaufsform, die die Gebermächte ihrem Hin und Her zwischen Prinzipien- und Opportunitätsabwägungen gegeben haben. Und die haben mit dem ultimativ angelegten Schlag der Hamas und dem ebenfalls ultimativ gemeinten und betriebenen Gegenschlag Israels ein neues Datum bekommen.
Im Lichte des von ihnen im Prinzip gebilligten und fortgesetzt unterstützten israelischen Krieges, mit dem Israel seine Unverträglichkeit gegenüber jeder autonomen palästinensischen Regung eskaliert, bewerten die imperialistischen Paten und Ausstatter die nun ruchbar gewordene Verquickung ihrer UN-Organisation mit der auch von ihnen als eliminierungswürdig eingestuften Hamas als nicht hinnehmbar. Wie sehr es sich dabei um eine Neubewertung längst bekannter Fakten handelt – Israel legt jedenfalls Wert darauf, dass es selbst die UNRWA schon immer für einen Helfershelfer der Hamas gehalten und dahingehend auch seine westlichen Partner mit denunziatorischen Fakten versorgt hat – oder ob nun tatsächlich etwas ‚ans Tageslicht gekommen‘ ist, braucht nicht zu interessieren: Die Geber halten es für angemessen, der UN-Truppe vorübergehend das Geld zu streichen, und wie sehr es hier auf den politischen Standpunkt ankommt und wie wenig auf die längst bekannte, vorher unbekannte oder auch frei erfundene ‚Faktenlage‘, das machen die entscheidenden Subjekte auch im Weiteren hinlänglich klar. Sie eskalieren nun ihren Widerspruch im Verhältnis zu den Palästinensern: Einerseits wollen sie mit dem autonomen Staatsgründungswillen, den die Hamas militant gegen Israel praktiziert, definitiv nichts tun haben – den geben sie ja gerade zur Vernichtung durch Israels Armee frei. Aber das stempelt andererseits von ihrem Zuständigkeits- und Ordnungsstandpunkt aus die betroffenen palästinensischen Menschen umso mehr zu absolut Bedürftigen, denen in dieser Eigenschaft der bis dato und absehbarerweise auch demnächst noch bzw. wieder in der UNRWA organisierte Humanismus gilt, an dem die Gebermächte zugleich mitleidlos weiter festhalten. Den gleichen widersprüchlichen Doppelstandpunkt bekommt Israel umgekehrt zu spüren. Ihrem Verbündeten gestehen sie auch weiterhin nicht die Konsequenz zu, die der Staat der Juden seit langem fordert, nämlich die komplette, dauerhafte und ersatzlose Abwicklung der UNRWA. Insoweit bestehen sie auch gegenüber diesem Staat, den sie zugleich in seinem antipalästinensischen Anti-Terror-Krieg unterstützen, darauf, dass auch er nicht bestimmt, was im Heiligen Land das letztlich gültige Recht der Gewalt ist und was nicht. Dem Drängen Israels, die vor Jahrzehnten oder wann auch immer vertriebenen Palästinenser oder deren Nachkommen nicht mehr als Flüchtlinge und damit als lebenden Einspruch gegen die von Israel angestrebte Einstaatslösung zu behandeln, geben sie darum nicht nach, sondern behalten sich mit Verweis auf die weiteren Untersuchungen oder auch auf das Palästinenserelend, das irgendwie handhabbar bleiben soll, neue, nur von ihnen zu treffende Entscheidungen vor, die dann eben der Stand des Rechts sein werden.
Und darum stellen sich die im Verlauf der Angelegenheit zu registrierenden unterschiedlichen ‚Reaktionen‘ auch nicht einfach ein, sondern sind Produkt feiner Abwägungen, die sich alle aus dem Prinzip der politischen Handhabung des zielgerichtet großgeredeten ‚UNRWA-Skandals‘ ergeben. Die Vorgabe machen, wie es sich gehört, die USA mit ihrem sofortigen Geldentzug, der schon vom Umfang her die entscheidende Rolle spielt. Vom amerikanischen Standpunkt aus ist der ‚Skandal‘ eine auf jeden Fall auszunutzende Gelegenheit dafür, ausnahmsweise einmal nicht mit Geld, das man zahlt, sondern spart, die Israelis der vorbehaltlosen Solidarität Amerikas zu versichern und zugleich allen anderen Nationen vorzuführen, wie sich für Amerika das aktuelle Verhältnis von Antiterrorismus und Humanismus im Land von Milch und Honig buchstabiert. Das ist der entscheidende Bezugspunkt für alle anderen in der Sache relevanten Mächte: Wie viel demonstrative Differenz zu den USA traut man sich zu, wie viel ist man sich schuldig? Wie sehr will man Israels Standpunkt recht geben, dass sich jede internationale Bezugnahme an den israelischen Sicherheits-, Gefahren- und Terrorismusdefinitionen zu orientieren hat, wie sehr will man demonstrativ Israel in dieser Frage in die Schranken weisen? Wie sehr ist einem europäischen Staat die Sache ein bisschen demonstrative Absetzung innerhalb der EU vom radikal proisraelischen Kurs Baerbocks und von der Leyens wert? Usw. usf. Und das alles zusammen will noch gegengerechnet sein gegen die ja keinesfalls entfallenden ordnungspolitischen Nutzenerwägungen in Bezug auf die UNRWA. Was sich dann nach sorgfältiger nationaler Abwägung als praktisches Resultat ergibt, sind Varianten von Finanzierungsstreichung unter variablen Bedingungen und auf variable Zeiträume hin – verbunden mit Vorschlägen zu endgültigen oder temporären Alternativen zur UNRWA. Denn dass die eigentlich gerade jetzt viel mehr zu tun hat als normalerweise schon, ist allgemeiner Konsens unter diesen Mächten.
2. Kriegshunger, Hungerhilfe und das Gezerre darum: Vom Irrsinn eines humanitär begleiteten Terrorismusvernichtungskrieges
Der international gültige Standpunkt, dass den Palästinensern ein eigener Staat zusteht und darum die internationale Gemeinschaft diesen von Israel im Zustand der Staatenlosigkeit gehaltenen Leuten eine überbrückende Caritas schuldet, die diesen politischen Standpunkt humanitär bekräftigt, sieht sich angesichts des Gaza-Krieges in besonderer Weise herausgefordert.
a)
Mit der verkündeten Losung ‚Wir bekämpfen und eliminieren eine vor Ort eingehauste Terrortruppe‘ hat Israel sich zur Aufgabe gemacht, seinen palästinensischen Gegner nicht etwa in die Kapitulation zu treiben, sondern der Vernichtung zuzuführen. Es hat sich also das Recht ausgestellt, das Operationsgebiet dieses Gegners, den Gazastreifen, in Gänze als dessen infrastrukturellen Sumpf zu behandeln und auszutrocknen. Damit wendet Israel in aller Konsequenz die Logik einer anti-terror-polizeilichen Liquidierungsaktion auf einen Gegner an, der praktisch über den Status eines bloß grimmig-idealistischen Staatsgründungsvereins hinaus ist, weil er es innerhalb der letzten 20 Jahre zur Herrschaft über ein Stück Land und die darauf lebenden Leute gebracht hat, die darum eben auch abhängig von den quasistaatlichen Organisations- und Betreuungsleistungen der Hamas gemacht worden sind.
Das macht den Krieg zu dem bekannt desaströsen Unternehmen, denn mit der Bekämpfung der Hamas enthauptet Israel notwendigerweise jede Form, jedes Moment, jeden Ansatz der Organisation des Überlebens des Gazawi-Kollektivs, es macht sie zu einer Masse von rund 2,5 Millionen elendig um ihr Überleben kämpfenden Individuen und erklärt sich ausdrücklich für unzuständig, sich um sie in dieser Eigenschaft zu kümmern. Ganz in dem Sinne und im Rahmen dieser speziellen Kriegslogik wurde gleich zu Kriegsbeginn der Beschluss verkündet und vollzogen, jegliche Versorgung des Streifens mit allem Lebensnotwendigen zu unterbinden – mit Blick darauf, dass dies alles der Hamas in ihrem Kampf gegen Israel nützt oder nützen könnte, also rücksichtslos dagegen, dass dieses Landstück neben seiner Eigenschaft als Operationsbasis der Hamas auch noch der Lebensraum der Araber ist, die nun zu Zehntausenden sterben bzw. die radikale Vernichtung ihrer sachlichen Lebensgrundlagen zu erdulden haben. Als einzige Möglichkeit, dem Schicksal von massenhaften Kollateralschäden seiner gründlichen Terroristenjagd wirklich sicher zu entkommen, hat Israel den Massenexodus der Gazabewohner Richtung Sinai offiziell ins Spiel gebracht, begleitet von Angeboten bezüglich der Finanzierung an Ägypten.
Vom völkerrechtlich gebotenen, durch die Internationale anständiger Staatsgewalten vertretenen Standpunkt aus war und ist beides tabu: Massenhafte Vernichtung der Palästinenser in Gaza sollte und soll ebenso wenig sein wie Massenflucht aus dem Streifen – dafür, dass aus Letzterem nichts wird, sorgen insbesondere die praktischen Anstrengungen der ägyptischen Macht, die souverän über das Gebiet herrscht, das Israels Strategen in aller Freiheit als Auffangbecken für fliehende Gazawi ins Auge gefasst haben. Und darin wird Ägypten von allen anderen relevanten Mächten unterstützt, die eine territoriale Entsorgung der Palästinenser verhindern wollen, weil sie die damit verbundene Entsorgung der palästinensischen Staatsperspektive nicht wollen und / oder weil sie – wie v.a. europäische Mächte – eine Verschärfung ihres Flüchtlingsproblems befürchten, die ihnen Ägypten ja auch prompt in Aussicht gestellt hat. Die demnach weiter im Gazastreifen festzuhaltenden Palästinenser aber einfach nur der israelischen Rücksichtslosigkeit auszuliefern, kommt vom übergeordneten Standpunkt der zuständigen internationalen Instanzen gleichfalls nicht infrage. Und damit ist der Anspruch in der Welt, dass Israel seinen Krieg, der auf Eliminierung aller seiner bewaffnet aktiven Gegner und darüber hinaus auf die Vernichtung aller Bedingungen der Möglichkeit zukünftiger Gegnerschaft gerichtet ist, zwar führen darf, aber dabei zugleich auf die Zivilbevölkerung und deren Versorgung Rücksicht nehmen muss. Den israelischen Rechtstitel der Terrorbekämpfung legen sie daher genau andersherum aus, als Israel ihn meint, nämlich im Sinne einer einzuhaltenden Beschränkung, „bloß!“ die Hamas zu bekämpfen, die Zivilisten und die elementaren sachlichen Bedingungen ihres physischen Überlebens aber zu verschonen – soweit möglich. Diese gemessen am Kriegszweck Israels absurde Trennung und Beschränkung hat die militante Schutzmacht aller Juden beiihrem Vorgehen, das selbst manch abgebrühte Gemüter erstaunt, zu respektieren; jedenfalls hat sie zu demonstrieren, dass sie die nicht komplett ignoriert.
Und Israel ist – auf der Basis, dass Vertreibung einstweilen ein wirkliches Tabu bleibt – noch nicht einmal gänzlich abgeneigt, diesem Ansinnen stattzugeben. Von Opportunitätserwägungen das unmittelbare Kriegsgeschehen betreffend abgesehen [2] verbindet dieser Staat nämlich sein kompromissloses Durchsetzungs- und nun eben Vernichtungsansinnen gegen die Militanz der Hamas (und ihres volksmäßigen Anhangs) mit der Selbstsicherheit, dass die Praxis dieses höchsten Rechts, das er sich selbst zuspricht, vom Rest der Welt nicht nur hingenommen werden muss, sondern auch anerkannt werden kann, ja im Prinzip zu begrüßen ist.Er hält sich nämlich nach allen allgemein anerkannten Maßstäben für ein Vorbild in Sachen nicht nur extrem erfolgreicher, sondern auch absolut berechtigter Gewalt, die nicht nur dem jüdischen Volk seine Heimstatt erschließt und sichert, sondern auch einen zivilisatorischen Segen für den Rest der Welt darstellt: Negativ wird das dadurch herausgestrichen, dass Israel seine Gegner auch in diesem Krieg als die Feinde alles irdisch Anständigen in Szene setzt. Positiv hat das in der Floskel sein fertiges Sprachdenkmal gefunden, dass Israels bewaffnete Kräfte „die moralischste Armee der Welt“ (Netanyahu) sind, die zivile Opfer wirklich und ehrlich nur dann produziert, wenn die sich gar nicht vermeiden lassen und damit nicht Israel, sondern seinen terroristischen Gegnern aufs Unrechtskonto zu schreiben sind. Das ist die bzw. eine Art, in der Israel nicht nur defensiv akzeptiert, dass seine antipalästinensische Gewalt eine internationale Angelegenheit ist: Es verlangt offensiv von den anderen staatlichen Gewalten die politische Anerkennung seiner gewaltsam vorangetriebenen Staatsgründung, wenn es auf den Nachvollzug der moralischen Absolution für seinen Gewaltauftritt dringt, die es sich selbst erteilt. Damit ist aber auch klar, dass es seinen Krieg nicht von konzedierter oder verweigerter Anerkennung abhängig macht – und dieser Widerspruch heißt auf der Ebene der Moral, dass es sich kategorisch weigert, sich von anderen darüber belehren zu lassen, was die passende Anwendung des Maßstabs humanitärer Kriegsführung ist, den es gemäß dem Anspruch der Weltgemeinschaft erfüllen soll und den es vom eigenen Standpunkt aus per definitionem immer schon erfüllt.
b)
Sich um die Versorgung der von seinen Militärschlägen betroffenen Gazabewohner auch noch selber zu kümmern, will keines der weltpolitisch relevanten Subjekte Israel zumuten. Aber aus den Pflichten einer Kriegs- und Besatzungsmacht entlassen wollen sie das mehr oder weniger befreundete Israel auch nicht. Das ergibt in Kombination die Anforderung an den Humanismus der humanistischsten Armee der Welt, Anlieferung und Verteilung von Hilfsgütern durch andere zuzulassen. Diese Versorgungsaktivitäten – wo es geht, mit viel Presserummel begleitet – haben damit von Beginn an eine dreifache Bedeutung: Sie versorgen erstens in dem Maße, wie sie praktisch stattfinden, tatsächlich die Palästinenser; sie führen zweitens Israel vor, was eigentlich seine durch das Völkerrecht definierte Aufgabe als Kriegs- und Okkupationsmacht wäre; und sie entlasten drittens Israel von der praktischen Erfüllung ebendieser Pflichten und helfen ihm damit im Resultat bei der Wahrung und Wahrnehmung seiner Kriegsfreiheit.
Das bereitet das Feld für die Tätigkeit auswärtiger Helfer, in denen jeder, der dies will, das absurde Ideal eines so human wie möglich ablaufenden Krieges verkörpert sehen darf, um dann angesichts der Fakten ‚on the ground‘ entsprechend enttäuscht und über die entsprechenden Bilder schockiert zu sein: Bilder eines Schlachtfelds, auf dem zugleich Menschen nach Essbarem suchen; von Helfern, die Gefahr laufen, in israelischen Beschuss zu geraten; von Lieferungen, die zum Objekt von Plünderungen werden; von Massenschlägereien und -paniken an den Verteilpunkten, die teils nur mit Waffengewalt unter Kontrolle zu bringen sind, teils von der erst ausgelöst werden usw. usf.
Politisch ist das alles – zusammen mit den Bildern von Unterernährten und den begleitenden Warnungen vor einer erst so richtig katastrophalen Hungerkatastrophe – das Material für einen Streit um die Verantwortung für die Lage und deren Perspektiven. Den führt Israel mit den interessiert am Geschehen teilhabenden Mächten. Die mögen Israel aus ihren ganz eigenen – und mit Fortdauer des Krieges offensichtlich dringender werdenden – Gründen den Vorwurf nicht ersparen, dass es in der Frage der Kriegshungerkatastrophenverhinderung noch Spielraum zur Verbesserung hat.
Sicherlich ist diesen Mächten auch aus Gründen der Handhabbarkeit der ganzen Gewaltaffäre wirklich daran gelegen, „das Schlimmste“ zu verhindern – was einen Superlativ darstellt, der auslegungsfähig ist, was die betroffenen Leute anbelangt, in Bezug auf welche die ums Humanitäre bemühten Mächte die übliche Schmerztoleranz an den Tag legen. Sensibel aber sind sie, sobald sie zu der Wahrnehmung gelangen, dass dieser Staat keinen ihrer Einsprüche gelten lässt, vielmehr seinen Krieg auf Dauer stellt unter Inkaufnahme aller Konsequenzen für ihresgleichen und damit – dies vor allem – unter kompletter Missachtung ihrer Kompetenz zur Einmischung in den Waffengang, ihrer Zuständigkeit für dessen Regelung und Beendigung. Konsequent nehmen sie immer weiter das eine fürs andere, was zu den nächsten Absurditäten führt, die gebührend in Szene gesetzt werden: Mit Israel schachern sie weltöffentlich um die technischen Details der Zulassung und Abfertigung von Hilfslieferungen – und die deutsche Außenministerin lässt sich dabei filmen, wie sie kopfschüttelnd die logistischen Umständlichkeiten begutachtet, die die ansonsten doch so effektiven Israelis ewig nicht in den Griff bekommen. Als dann die Unzufriedenheit dieser Mächte mit Israels Vorgehen in der Sache wächst und sie den Übergang machen, die ihnen von Israel erteilte Abfuhr demonstrativ als Frechheit ihnen gegenüber zu nehmen, drücken sie auch dies streng lebensmitteltechnisch dadurch aus, dass sie seinen Luftkrieg um ihren eigenen ergänzen und die Hungernden und von einem unsicheren Ort zum anderen Flüchtenden nun auch noch mit Lebensmitteln bewerfen. Das schreibt das Verhältnis der o.g. drei Momente der Überlebenshilfe und die Reihenfolge ihrer Wichtigkeit fort und bringt es deutlich auf den Punkt: Die Luftversorgung nützt erstens in Bezug auf die sich entfaltende Hungerkatastrophe nach Auskunft der Experten nicht sehr viel, ist gefährlich für die Leute, heizt den Wucher im Rahmen der Kriegselendsökonomie weiter an usw.; zweitens aber ist es eine deutliche Demonstration der Unzufriedenheit mit der Versorgung, die Israel über die Landwege nicht genug gewährleistet; und drittens geben die interessierten auswärtigen Mächte ihrer Missbilligung gleich die Form, dass sie es vermehrt selbst übernehmen, die Versorgung zu leisten, die sie den Palästinensern als Recht zugestehen – natürlich nur soweit sie von Israel die Luftraumfreigaben bekommen. Mit dem begleitenden Gerede von der Gefahr, dass die „Hungerkatastrophe außer Kontrolle geraten“ könnte, lancieren die Kriegsbeaufsichtungsmächte noch zusätzlich ihren Eindruck, dass Israel tatsächlich schon ihrer Kontrolle entglitten ist.
Unter anderem der tödliche Beschuss einer auswärtigen Helfertruppe bietet eine passende Gelegenheit dafür, die Kritik an Israel wegen seines unrechtmäßig übertriebenen, seine Versorgungspflichten ignorierenden Gewaltgebrauchs zu verschärfen. Zwischenzeitlich lassen auch Israels feste Verbündete den Eindruck aufkommen, dass ihre „Geduld mit Israel erschöpft“ sei, womit sie zum Ausdruck bringen, dass sie sich als die zuständigen Instanzen für Gewalt in ihrer Welt und den Einbau auch des israelischen Krieges in ihre Weltordnung von Israel zunehmend düpiert sehen. Dem politischen Gehalt ihrer Empörung über tote Helfer, schleppende Güterabfertigung und dergleichen entsprechend stricken diese Staatsmächte die nächsten Maschen an das Quidproquo von politischer Kriegsbegleitung und Sorge um die Ernährungslage auf dem Schlachtfeld. Auch die dabei zu registrierenden Unterschiede ergeben sich ersichtlich nicht aus den jeweiligen Gegenständen und Anlässen, sondern aus dem politischen Standpunkt, der sie für sich benutzt. Und darum ist für alle Welt selbstverständlich, dass die Unzufriedenheit mit Israel über den Tod auswärtiger Bürger sich wieder einmal an den USA orientiert: Deren immer offener kritische Kommentierung des israelischen Anti-Terror-Krieges nehmen nun auch andere Staaten als Lizenz dafür, ihre unverbrüchliche Solidarität um dosierte, völkerrechtlich-humanistisch beglaubigte Vorbehalte zu ergänzen, also ihren politischen Widerspruch bedingter Konzession israelischer Unbedingtheit den Israelis zum Vorwurf zu machen.
Die wüsten Konsequenzen und die sich hinziehende Dauer des Krieges, gegen den sie als solchen nichts haben und der seine spezielle Härte der von Israel praktizierten Gleichsetzung von palästinensischen Staatsambitionen und eliminatorischem Terrorismus verdankt, werden zum Anlass genommen, dem Verbündeten die Frage nach einer ‚Exit-Strategie‘ vorzulegen. Das ist einerseits extrem konstruktiv, hält nämlich daran fest, dass Israel das ausgerufene Kriegsziel – die völlige Vernichtung der Hamas – verfolgen darf und vor dessen Erreichung den Krieg auch nicht zu beenden braucht. Und andererseits steckt in der freundschaftlich-ungeduldigen Aufforderung an Israel, über Pläne für ein Kriegsende und „den Tag danach“ nachzudenken, die Erinnerung an einen Anspruch, der von höchster Warte den Standpunkt bestreitet, mit dem Israel diesen Krieg führt: Denn damit ermahnen die westlichen Paten Israel nicht nur dazu, in seine Kriegskalkulationen die Rücksicht auf den Umstand einzubauen, dass sie sich zunehmend in moralische und wirkliche Unkosten verstrickt sehen, die ihnen unrecht sind; vor allem erinnern sie die antiterroristischen Kriegsherren daran, dass es eine auch von ihnen geteilte und vertretene international fixierte Rechtslage gibt, der zufolge Israel eine Koexistenz mit den Palästinensern nicht erspart bleibt, die auch heute noch mit dem Bild von der „Zweistaatenlösung“ ausgedrückt wird. Für deren Verwirklichung hat Israel – nicht nur mit dem laufenden Krieg – zwar jede ernsthafte Perspektive zerstört, aber eine irgendwie geartete ‚politische Lösung‘ mit den Palästinensern hat es sich damit nach dem Willen des Westens und eben auch seiner alles entscheidenden Führungsmacht nicht vom Halse geschafft. Diesen ‚Realismus‘ schuldet es nicht nur sich selbst und einem endlich ‚friedlichen Miteinander von Juden und Arabern‘, sondern ihnen als den letztinstanzlichen Richtern über ordnungsgemäße Kriegsgewalt.
Je länger der Krieg sich, genauer gesagt: Israel ihn hinzieht, desto lauter werden folgerichtig Vorwürfe in diesem Sinne: Israel nimmt sich das Recht auf eine Gewalt, die mit dem Recht, das alle Staaten für ihre kriegerische Gewaltentfaltung einzuhalten haben, nicht vereinbar ist.
3. Vorwürfe gegen Israel wegen Unverhältnismäßigkeit und Völkermord: Vom interessierten Zynismus der rechtlichen Begutachtung der israelischen Terrorvernichtungsaktion
a)
Die eine Sorte rechtlicher Kritik, die sich Israel mit zunehmender Kriegsdauer gefallen lassen muss, geht ganz grundsätzlich davon aus, dass der Krieg als solcher zutiefst berechtigt ist. Ein Widerspruch ist das nicht, weil sich die Staaten der Welt Krieg unter dem Vorbehalt, dass er Notwehr gegen illegitimen Angriffskrieg sein muss bzw. Beihilfe zu einer solchen, erlaubt haben. Was in Bezug auf Israel heißt, dass sein Krieg gegen die Hamas berechtigte Notwehr gegen den Angriff am 7. Oktober und alle Versuche einer Wiederholung ist. Das bedeutet aber nicht, dass diejenigen Staaten, die diesen Standpunkt vertreten, Israel einfach alles durchgehen lassen. Vielmehr machen sie das Prinzip der „Verhältnismäßigkeit“ geltend, an das sich Israel bei seiner erlaubten, dem Schutzanspruch seiner Bürger verpflichteten Kriegsaktion zu halten habe. Wenn von dieser Kategorie der Verhältnismäßigkeit oder Angemessenheit der Gewaltentfaltung in einem Krieg die Rede ist, wird in aller Regel nicht weiter thematisiert, im Verhältnis wozu bzw. welchem Kriterium angemessen die befohlenen und durchgeführten Tötungs- und Zerstörungsmaßnahmen zu sein haben. Zwar gibt es konkrete Regelungen für – fast – alle Kriegssituationen, aber für jede gibt es auch jeweils alternative Interpretationen, und das verwässert die Kategorie der Verhältnismäßigkeit nicht etwa, sondern bringt sie auf den Punkt: Wenn im vorliegenden Fall um die mögliche und nötige Verschonung von palästinensischen Zivilisten besorgte Israel-Bündnispartner und -Ausstatter davon sprechen, dass Israel unverhältnismäßig viele zivile Opfer in Kauf nehme, dann können sie damit schließlich weder die Zivilisten als Maßstab gemeint haben, denen der Krieg von der ersten Bombe an nicht ‚angemessen‘ war, noch den praktisch wirksamen Kriegszweck Israels. Zu dem setzen israelische Militärs schließlich ganz von selbst die von ihnen eingesetzten Mittel ins Verhältnis. Die Fehlanzeigen in Sachen Verhältnismäßigkeit sind vielmehr darauf gemünzt, welches Verhältnis zu ihren Nationen die so urteilenden Außenpolitiker von Israel verlangen. In Bezug darauf vermissen sie – wiederum mit verschiedenem Inhalt und in unterschiedlicher Dringlichkeit – den Respekt, den Israel ihnen als großen Mächten schuldet. Dafür verweisen sie regelmäßig darauf, dass sie es sind, die Israel die Freiheit sichern und die Mittel verschaffen, mit der für nötig gehaltenen Härte das Hamas-Vernichtungswerk anzugehen und zu einem erfolgreichen Ende zu bringen. Insbesondere die USA – bzw. die dort derzeit regierende Politikerabteilung – sehen sich inzwischen von Israel zur bedingungslosen Unterstützung eines Kriegs genötigt, der gewisse Bedingungen ihrer sonstigen Weltmachtentfaltung in der Region zu beeinträchtigen beginnt, die sie gleichwohl gewahrt sehen wollen, was insbesondere die Handhabbarkeit arabischer Verbündeter anbelangt. Die schwieriger werdenden imperialistischen Unterordnungs- und Instrumentalisierungsverhältnisse werfen sie Israel als die Unverhältnismäßigkeit seiner Kriegführung vor, finden dafür im Krieg genügend Anhaltspunkte und verlangen von Israel Demonstrationen seines guten Willens, die ungebrochene amerikanische Unterstützung dafür zu nutzen, einen realistischerweise erreichbaren Kriegszweck zu definieren, anzusteuern und so den Krieg in absehbarer Zeit auch zu beenden. Viel mehr als die akkumulierten Opfer- und Zerstörungsbilanzen sorgt dabei die von Israel praktizierte und offiziell betonte Verweigerung, Konzessionen überhaupt einzugehen, für die zunehmende Dringlichkeit des amerikanischen Anliegens, den Verbündeten in seinem Krieg einzuhegen – den Amerika in letzter Instanz wie jeden anderen Krieg daran misst, ob es in ihm einen Beitrag zu seiner Ordnung oder mehr eine Störung entdeckt. Im Resultat, und soweit die amtierende US-Regierung sich gegen die noch viel radikalere proisraelische Legislative daheim durchsetzen kann, üben die USA seither eine diesem Standpunkt sehr angemessene praktische Kritik: Untersuchungen wegen irgendeines Anfangsverdachts werden eingeleitet und Bombenteile werden nicht geliefert, und zwar – im Prinzip soll Israel ja gewinnen – einstweilen nur solche Teile, ohne die die fraglichen Bomben trotzdem fliegen bzw. fallen, wenn auch nicht ganz so zielgenau, was israelische Politiker der Biden-Administration auch prompt als humanitäres Problem zurückreichen. So geben alle Seiten zu Protokoll, dass, wenn im Krieg um ‚Verhältnismäßigkeit‘ gestritten wird, die Anerkennung auswärtiger Zuständigkeit für den Krieg gemeint ist, die von der einen Seite verlangt und von der anderen dosiert, aber zielgerichtet zurückgewiesen wird.
b)
Von ganz anderer Schärfe ist der Vorwurf „Völkermord“, den Südafrika erhebt und mit dem es vor den Internationalen Gerichtshof gezogen ist. Denn der ist gemäß der „Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes“ von 1948 die dafür zuständige Instanz, den Disput zwischen Südafrika und Israel bezüglich Genozid zu klären, der in ebendieser Konvention in den Katalog der Großtaten eingeführt wurde, die sich Staaten verbieten, also offenbar einander zutrauen. Laut Konventionstext ist Genozid durch die Absicht gekennzeichnet, auf direkte oder indirekte Weise „eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“, und gilt als „Verbrechen der Verbrechen“ bzw. „schwerstes Verbrechen gegen das Völkerrecht“.
Erlassen haben moderne bürgerliche Nationen dieses Verbot unter dem Eindruck dessen, dass es eine moderne bürgerliche Nation kurz vorher zu einem Höhepunkt bei dem groß angelegten Unterfangen gebracht hat, tatsächlich die menschliche Basis derjenigen Staaten auszurotten, deren Territorium sie sich als „Lebensraum“ zuzuschlagen trachtete, sowie, vor allem, einen Menschenschlag – die Juden Europas – zu eliminieren. Das „Volk“, auf welches das faschistische Ausrottungsprogramm dabei abzielte, stellte nicht die Basis eines eigenen Staats dar, war noch nicht einmal eine als solche irgendwie einheitlich wahrnehmbare, von anderen Volksteilen unterscheidbare „Gruppe“, sondern ein dem faschistischen Programm der Rettung der deutschen Nation entspringendes Konstrukt: Der faschistische Antikommunismus hatte es auf die Ausrottung aller sozialistischen Umtriebe abgesehen, die die Volkseinheit untergruben – gemäß seiner volksfreundlichen Logik also auf die Funktionäre der Bewegung, die offensichtlich das an und für sich gute deutsche Arbeitervolk zu solchen Umtrieben verführten; der reaktionäre Antikapitalismus der Faschisten zielte darauf ab, die Nation von der von ihnen wahrgenommenen Knechtung durch das Finanzkapital zu befreien – also von den offensichtlich vorhandenen Agenten einer kapitalistischen Bereicherung, die die Macht der Nation nicht stärkten, sondern untergruben. Den Feind seines Volkes machte Hitler in einem Kryptovolk aus, auf das er diese beiden Seiten seiner zutiefst moralischen Kritik am Zustand der Nation projizierte und das er unter Rückgriff auf entsprechende Traditionen des aufgeklärten Abendlandes mit ‚den Juden‘ identifizierte – die ließ er per gesetzliche Rassenlehre ausfindig machen, um sie zu vernichten. So etwas sollte es „nie wieder!“ geben, also ab sofort als Fall des eigens neu geschaffenen Straftatbestands des Genozids verboten und sogar verhindert werden.
Womit sich dieses Rechtswerk befasst, ist laut Artikel I ein Vorgehen gegen eine „Gruppe“ von Menschen wegen ihrer „nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen“ Gruppenidentität. Ob diese Gruppe ordentliches Staatsvolk eines Staats ist und von einem anderen Staat im Zuge eines Krieges als diese „Gruppe“ zum Opfer gemacht wird, [3] ob sie anerkanntermaßen dem Staat als Volksteil angehört, der gegen sie vorgeht, ja ob überhaupt reguläre staatliche Gewalthaber oder nichtstaatliche Akteure zu Werke gehen, [4] interessiert in diesem Zusammenhang ausdrücklich nicht. Und in einem eigenen Absatz wird dem Verbrechen des Völkermords ausdrücklich bestritten, überhaupt politischer Natur, also legitimer Gegenstand unterschiedlicher politischer Abwägungen zu sein, sodass kein Staat für Missetäter, die dieses Verbrechens schuldig sind, die Auslieferung verweigern darf. [5] Niemand darf, was die Konvention verbietet – und umgekehrt: Jeder Staat muss alles in seiner Macht Stehende tun, um dieses Verbot auch durchzusetzen. [6]
Letzteres ist ein deutlicher Hinweis, worauf die vorgenannten Abstraktionen zielen: Es sind die Staaten dieser Welt, politische Gewaltmonopolisten über Territorien und die dort lebenden Menschen, denen hier per Verbot geboten wird, die Existenz von „Gruppen“ zu akzeptieren, auch wenn die vom Standpunkt der Inhaber staatlicher Herrschaft oder alternativer Volksvertreter aufgrund ihrer Ethnie, Religion oder Rasse nicht zur mit ebensolchen Kategorien versehenen und bebilderten Selbstdefinition des jeweiligen Staates und zu seiner Einheit mit dem von ihm regierten Volk passen. Völkische, an den einschlägigen „Natur“-Merkmalen wie „Rasse“ oder der mehr aus dem Jenseitigen entnommenen Kategorie der „Religion“ entlang definierte und durchgeführte Bereinigungsprogramme sollte es nicht mehr geben.
Dass Staaten mittels „nationaler, religiöser ...“ „Identitäten“ sich, nämlich ihr allerhöchstes und unbezweifelbares Recht auf die Herrschaft über ihre jeweiligen Völker als Ausfluss aus und Dienst an deren „Natur“ definieren, ist dabei der nicht weiter interessierende, noch nicht einmal thematisierte Ausgangspunkt; den Bedarf nach der Legitimation des exklusiven Herrschaftsanspruchs auf und über die ihnen unterworfenen Menschen durch eine exklusive Eigenart des durch staatliche Gewalt tatsächlich hergestellten Kollektivs kennen alle Staaten von sich selbst, und den bestreiten sie einander auch nicht per Völkermord-Konvention. Sie müssen ihn ‚bloß‘ relativieren: ins Verhältnis zu ihrer per Konvention vereinbarten Fürsorge- und Schutzpflicht setzen, die es ihnen verbietet, sich praktisch derjenigen Menschen-„Gruppen“ zu entledigen, die sie als fremd und störend definieren. Und damit ist ihnen im Prinzip, nämlich vom förmlichen Verbot der äußersten, eliminatorischen Konsequenz her, auch schon dieser Blick verboten, der in bestimmten Volksteilen „fremde“ und „störende“, die Staats-Volks-Einheit tendenziell zerstörende Elemente entdeckt – was insofern passend ist, als, die Geschichte lehrt es, solche Definitionen, sobald sie überhaupt vorgenommen werden, ja ihrerseits von der praktischen Konsequenz her konstruiert sind, auf die sie zielen.
Dieses Verbot stellt daher das Komplement zum für alle Staaten gültigen, in anderen Regelwerken wie der UN-Menschenrechtscharta niedergelegten Gebot dar, die Menschen, die sie – anerkannt durch alle anderen staatlichen Gewaltmonopolisten – als ihr Volk beanspruchen und regieren, egalitär zu behandeln: bloß als Staatsbürger, die gleichermaßen dem staatlichen Recht unterfallen. Wie auch immer sich die Staaten in Bezug auf den unverwechselbaren Charakter ihres besonderen Volkes definieren und legitimieren mögen – praktisch zu agieren haben sie als Hüter der abstrakten Freiheit aller ihrer Bürger: des unterschiedslosen Rechts auf Selbstbestimmung, das sie denen als ihr bestimmendes Wesensmerkmal zuzuerkennen haben und dem gegenüber besondere Bestimmungen, wirkliche materielle wie ideelle oder gänzlich fiktive, keine Rolle spielen dürfen. In dieser vornehm zurückhaltenden Funktion hat die staatliche Gewalt bekanntermaßen – nicht etwa nichts, sondern – sehr viel zu tun. Denn diese Abstraktion aufs politisch allein Maßgebliche, nämlich die Freiheit des Bürgers fern von jedem diskriminierenden Inhalt, hat selber den einen entscheidenden Inhalt, der tatsächlich ohne allgegenwärtige staatliche Gewalt nicht zu haben ist: das persönliche ausschließende Verfügungsrecht über das Eigene, worin auch immer das materiell besteht; eine Sphäre des gesetzlich geschützten Besitzes, was nicht besondere Güter als solche meint und betrifft, sondern die vom Staat garantierte Zugriffsmacht darauf. Eigentum, ökonomisch realisiert im Geld, der quantifizierten reinen Zugriffsmacht auf alles, ist der Stoff, die Konkurrenz darum der konkrete Inhalt der abstrakten Freiheit, die der Staat, wie er im Völkerrechtsbuch steht, zu gewährleisten hat. Diese Pflicht ist der Ausgangspunkt einer kompletten bürgerlichen Staatsräson, die das System der kapitalistischen Konkurrenz ums Geld und dessen Mehrung ausbuchstabiert und zur materiellen Grundlage der Staatsgewalt ausgestaltet, die es eben dafür braucht. Die Verpflichtung der Bürger auf den ewigen Konkurrenzkampf ums Geld ist die Wahrheit des Schutzes von Freiheit und Gleichheit „ohne Ansehen der Person“, den der Staat mit seiner Gewalt zu leisten hat.
Damit er das hinkriegt, das bürgerliche Erwerbsleben mit all seinen notwendigen Klassen- und sonstigen Interessengegensätzen als Quelle staatstragender Kapitalakkumulation anständig gelingt, muss es dem Staat vor allem anderen um sich gehen, um seine unbedingte Machtvollkommenheit als die unabdingbare Voraussetzung eines produktiven „sozialen Friedens“. Notwendigerweise macht er sich zum übergeordneten Zweck des gesellschaftlichen Lebens, das seine intakte Gewalt braucht. Das erweitert seinen Aufgabenkatalog enorm, bis hinein in die Konkurrenz der Staaten gegeneinander. In gleichem Maß wachsen seine Ansprüche an seine menschliche Basis; und mit denen das Bedürfnis der Herrschaft, ihre Bürger auf sich und ihren Konkurrenzerfolg einzuschwören. Für den sind die nicht mehr bloß als abstrakt freie, konkret tätige Konkurrenzsubjekte gefragt und gefordert, sondern als der besondere, willige Besitzstand ihres besonderen, national definierten Souveräns. Sie werden als staatseigenes Volk in Anspruch genommen, ganz elementar als Einheimische von Ausländern geschieden. Damit tut sich der weite Bereich der Definition und Erzeugung einer nationalen Identität auf, die ohne Diskriminierungen von anderer Art als der durch Eigentum, Klassenzugehörigkeit und Konkurrenzerfolg nicht auskommt. Unter diesem Gesichtspunkt, um sich ihre Konkurrenzgesellschaft als ihr ganz und exklusiv eigenes Volk zuzueignen und sich dem als Heimat zu empfehlen, nimmt auch die bürgerliche Staatsgewalt sich in Sachen rechtlicher Unterscheidungen durchaus grenzwertige Freiheiten heraus. Dass die hinter dem ersten Essential ihrer bürgerlichen Räson, die abstrakte Freiheit des konkreten Konkurrenzsubjekts in Kraft zu setzen, sachgerecht zurücktreten: das ist der wesentliche Inhalt der Menschenrechte, auf die der bürgerliche Rechtsstaat sich verpflichtet und an deren idealisierender Fassung als absolute Schutzansprüche des Einzelnen gegen die Staatsgewalt deren Inhaber gerne ihresgleichen blamieren, um einer auswärtigen Herrschaft ihre Legitimität abzusprechen – was, nebenbei, im Ernstfall nicht abgeht ohne diskriminierendes Unwert-Urteil über deren Fußvolk.
Für die Ergänzung des Menschenrechtskatalogs um das Genozid-Verbot waren der nationalsozialistische Exzess millionenfacher Ausrottung und ein Entsetzen darüber, wozu ein antikommunistischer Volksstaat am Ende fähig ist, Anlass genug, aber für sich genommen nicht hinreichend, um so eine Vorschrift in Paragraphenform in die Welt zu setzen. Dieser deutsche Staat musste erst einmal bedingungslos, mitsamt seiner grässlichen Moral, zerstört werden, und es durfte auch nicht ein sozialistisches Klassenbewusstsein, sondern es musste das Ethos der Freiheit der Konkurrenz triumphieren, damit die Siegermächte sich darauf verständigten, ihrer Abrechnung mit dem großdeutschen Judenmord die fragwürdige Verbindlichkeit einer Verhaltensvorschrift für die Staatenwelt zu geben. Inwiefern fragwürdig, das zeigen die Verhandlungen um die einschlägige Anzeige der Republik Südafrika bei dem zuständigen UN-Gericht, die sich ausgerechnet indirekt gegen die USA richtet, die mit den Menschenrechten doch die Illegitimität aller anderen Staaten zu messen gewohnt sind, und noch viel ausgerechneter direkt gegen Israel, das seine ganze Existenz doch als Vorkehrung für nichts als gegen einen erneuten Genozid am ganz besonderen eigenen Volk verstanden und gewürdigt wissen will.
Denn das ist nun einmal die Kehrseite davon, dass Amerika seine Siegerjustiz gegenüber dem faschistischen Deutschland gleich in der Dimension eines dauerhaft verbindlichen, an der eigenen bürgerlichen Staatsverfassung orientierten Regelwerks für die gesamte Staatenwelt, also mit der Stoßrichtung einer Weltordnung unter seiner Führung ausgeübt hat: Dieses Regelwerk gilt jetzt formell und berechtigt in diesem Fall die Republik Südafrika streng konventionsgemäß dazu, angesichts des Krieges Israels zur Vernichtung der Hamas den Klageweg zu beschreiten und das dafür zuständige Gericht den Verdacht auf Völkermord prüfen zu lassen. Im Folgenden beweisen alle am Verfahren Beteiligten, was juristisch in der Konvention steckt und was politisch ihr sachgemäßer Gebrauch und ihre wirkliche Rolle ist.
c)
Juristisch bemüht sich Südafrika um den Nachweis, dass im Falle des israelischen Krieges im Gazastreifen der Straftatbestand Genozid erfüllt ist, und es tut dies ganz der Logik der Konvention und ihrem Geist folgend. Für die spielt bei tödlichen Großtaten vom Schlage des laufenden Krieges die entscheidende Rolle, ob die Absicht vorliegt und beweisbar ist, dass eine bestimmte, den Kriterien der Konvention entsprechende „Gruppe“ als solche ausgelöscht werden soll. Die schiere Menge der getöteten Menschen geht da als wichtiger Bestandteil und Indiz ein, ist aber keineswegs hinreichend für den schlimmen Tatvorwurf. Umgekehrt gilt: Der überragende Gesichtspunkt, unter dem die einschlägigen Gewalttaten eine Rolle spielen, setzt alle wirkliche Gewalt und alle wirklichen Opfer zum Bestandteil der bösen Tat und zum Indiz für die böse Absicht herab. Und weil es bei der Konvention anhand der letzten Konsequenz der Ausrottung unliebsamer Massen ums egalitäre, nicht diskriminierende Schutzmacht-Prinzip geht, an das sich Staaten zu halten haben, werden Verletzungen dieses Prinzips, die zu ahnden sind, nicht erst bei gewaltsam vollzogener Elimination eines als unpassend und schädlich definierten Unterkollektivs juristisch kategorisiert, also verboten, sondern schon da, wo Anläufe dazu ruchbar werden, so eine Definition überhaupt vorzunehmen und praktisch umzusetzen. [7] Südafrika zitiert jedenfalls die Fakten, die es für die einschlägigen Argumente dafür hält, dass die juristisch definierten Tatmerkmale in genügender Menge vorhanden sind: die ganze Geschichte der israelischen Inbesitznahme des Landes und der Vertreibung, Ungleich- und Schlechtbehandlung der arabischen Bewohner; [8] die Vorgängerkriege Israels gegen den Gazastreifen und seine Blockade in den Zwischenkriegszeiten; aktuell den massenhaften Tod von Zivilisten; den besonders massenhaften Tod von Frauen und Kindern – der völkermordjuristisch von Südafrikas Anwälten als Verhinderung der biologischen Reproduktion der „Gruppe“ gemäß Artikel II interpretiert wird –; die Zerstörung von Infrastruktur und ökonomischen Grundlagen bis zur Hin-und-her-Vertreibung der Gazawi im Gazastreifen; die von Israel zwischenzeitlich ins Spiel gebrachte Verbringung der Gazawi nach Ägypten bis hin zur Zerstörung von Moscheen, Kirchen und Museen; die mangelnde Untersuchung, Ahndung, Verhinderung von entsprechenden Missetaten durch die zuständigen israelischen Stellen... Durchzogen ist das alles von dem fixen Ausgangspunkt, dass das Schutzgut der Konvention in diesem Falle die „Gruppe“ der Palästinenser sei – und die ist nun einmal mehr bzw. etwas anderes als die Summe ihrer individuellen Mitglieder. Darum müssen weder alle noch die Mehrheit der Palästinenser ‚physisch zerstört‘ worden sein, um mit Fug und Recht vom absichtsvollen Zerstören der Gruppe „als Ganzes oder in Teilen“ sprechen zu dürfen. [9] Jedenfalls gemäß der einen Variante der juristischen Vernunft, die sich hier abspielt.
Derselben Logik folgt konsequenterweise die Verteidigungsstrategie der Gegenseite, die kongenial funktioniert. Ein Streit um die grausigen Fakten findet so gut wie gar nicht statt; stattdessen betonen Israels Vertreter vor Gericht, dass es für die Glanzleistungen der israelischen Militärgewalt keinerlei genozidalen Vorsatzes bedarf. [10] Sie leugnen auch nicht den Umstand, dass die zu diesem – wie zu jedem anderen – Krieg gehörende moralische Ertüchtigung des eigenen Volks ein gehöriges Maß an Hetze mit sich bringt, die ohne kollektives Unwerturteil über diejenigen weder auskommt noch auskommen soll, die als unmittelbare Feinde, Unterstützer oder Kollateralschäden zum Abschuss freigegeben sind. Sie betonen aber, dass noch so viel Hetze die Einsatzdoktrin der IDF nicht praktisch bestimmt und dass die humanistischste Armee in der Geschichte moderner Gewaltmaschinerien die vielen Einzelfälle untersucht, in denen verhetzte Militärangehörige den nicht-genozidalen Felddienstvorschriften zuwidergehandelt haben. Nach Israels Auffassung muss es jedenfalls und vor allem gestattet sein, auch unter Inkaufnahme von vielen zivilen Opfern zu der Selbstverteidigung zu schreiten, ohne die es selber zum potenziellen Opfer eines antijüdischen Genozids der Hamas würde, zu der und deren Kämpfern die im Gazastreifen produzierten Toten als menschliche Manövriermasse oder auch bloß als unfreiwillige Nachbarn nun mal dazugehören. Absichtlich werden keine militärisch unnötigen Opfer herbeigeführt, alle Schwierigkeiten bei der Versorgung der Zivilisten liegen an der Hamas und so weiter.
Insgesamt ist das ein anschauliches Lehrstück darüber, dass ‚Völkermord‘ leicht vorzuwerfen und schwer nachzuweisen ist, was sich nicht einem Mangel an Klarheit, einer entstehungsbedingt engen und aus dem gleichen Grund dann doch schwammigen Definition von Völkermord im Text der Konvention oder dergleichen verdankt, sondern der Sache, um die es geht. Die allemal ausschließliche und ausschließende Gewalt von Staaten über ihre Völker wird im Rahmen der modernen internationalen Rechtsordnung anerkannt und mit positiven und negativen Anforderungen umzingelt. Die sind vordergründig solche des Rechts und seiner Paragraphen; der politischen Sache nach verdanken sie sich dem Gewaltvorbehalt Amerikas und seiner elitären verbündeten Mächte gegenüber allen anderen. Gerade dessen perfekte Durchsetzung und rechtliche Verallgemeinerung bieten den Anknüpfungspunkt für die zwar viel kleinere, aber auch ansehnliche Macht Südafrika, nun ihrerseits in Form und auf der Ebene des Rechts seine politische Unzufriedenheit mit dem Schöpfer der schönen Welt(rechts)ordnung und seinem staatlichen Geschöpf Israel anzumelden.
Politisch nämlich bezieht sich Südafrika auf den Gaza-Krieg Israels vom Standpunkt einer Macht, die für sich in Anspruch nimmt, nicht nur für sich selbst, sondern als afrikanisches BRICS-Mitglied für die etwas unscharf definierte Gruppe der Staaten des ‚Globalen Südens‘ zu sprechen und zu agieren: Staaten, die sich einerseits redlich darum bemühen, im Rahmen der erlaubten und gebotenen Staatenkonkurrenz um ökonomischen Reichtum und politisches Gewicht zu dem Ihren zu kommen, und formell genauso wie alle anderen Staaten in der Doppelrolle als dem internationalen Recht Unterworfene und zugleich als Gestalter dieses Rechts und Begutachter aller anderen agieren dürfen; die aber fortwährend damit konfrontiert sind, dass eine kleine Staatenelite praktisch das Monopol beansprucht, die Regeln für den Staatenverkehr zu setzen, zu ändern, vor allem aber: Regelverstöße zu definieren und damit die Gewalt zu begründen, mit der sie gegen die ausgemachten Missetäter vorgeht. Israel stößt diesen Staaten – ungeachtet der Beziehungen, die sie zu diesem wichtigen Lieferanten vor allem für polizeiliche und militärische Gewalt- und Überwachungsmittel im Einzelnen pflegen – als eine permanente Ausnahme von der Ordnung auf, auf die sie sich (haben) verpflichten (lassen). Und tatsächlich stellt Israel insofern eine Ausnahme von der mit den diversen Rechtskatalogen ausformulierten amerikanischen Ordnung einer zivilen, am Vorbild und für den Nutzen des kapitalistischen Amerika ausgerichteten Staatenwelt dar, als dieser Staat sich nicht nur dauerhaft im Kriegszustand befindet, sondern den permanenten Krieg gegen seine Feinde als die einzig mögliche Weise zu existieren beschwört; sein Volk definiert er als die Gesamtheit der Juden der Welt, für die er sich über jede staatliche Grenze hinweg als Schutzmacht versteht und denen er ihr angestammtes Land immer noch nicht vollständig erobert hat; die im Bereich seiner Herrschaft lebenden Araber definiert er als Bürger zweiter Klasse oder gleich als Nichtbürger und behandelt sie allen guten Sitten zuwider, die für eine moderne kapitalistische Staatsmacht, die Israel schließlich auch ist, gelten. Das eigentlich Störende aber ist: Die Fähigkeit und Freiheit dazu, permanent im Unfrieden nach außen und in nicht abschließend erledigter völkischer Sortierung nach innen zu agieren, hat Israel, weil Amerika es zulässt und unterstützt. An Israel bekommt Südafrika und bekommen alle anderen Staaten, deren gleichartige Unzufriedenheit es zu vertreten beansprucht, permanent vorgeführt, dass Amerika sich über die zivile Ordnung stellt, auf die es die Welt verpflichtet; an Israel bekommen sie vorgeführt, wie groß die wirkliche Freiheit ist, die sich Amerika nimmt und seinem Verbündeten zugesteht, allein mit der Überlegenheit der Waffen jeden Einspruch anderer Mächte abzublocken bzw. aus dem Weg zu räumen. In der – auch vor dem IGH gebrauchten – Bezeichnung von Israel als einem ‚Projekt des westlichen Siedler-Kolonialismus‘ wird kenntlich, dass Südafrika und die anderen Vertreter des ‚Globalen Südens‘ denWiderspruch, den sie mit der schönen amerikanischen Weltordnung haben, sowie den aktuellen Stand [11] dieses Widerspruchs auf den Sonderfall des militant-zionistischen Staats der Juden projizieren: Ihre Versuche, in der Weltordnung und mittels deren Regeln den mit dieser Ordnung gesetzten Erfolgsmaßstäben zu genügen, brechen sich in letzter Instanz an der puren Gewaltüberlegenheit Amerikas und seiner Verbündeten, mit der ‚der Westen‘ allen anderen Recht setzt.
d)
Entsprechend gehen die Vertreter der USA und anderer westlicher Staaten damit um, dass sie nun indirekt oder direkt – Deutschland hat es mit einer Anzeige wegen Beihilfe zum Völkermord zu tun, gegen die es sich ebenfalls vor dem IGH zu rechtfertigen hat – auf der Anklagebank eines Gerichts sitzen, das doch Teil der Weltordnung ist, für die sie allgemein so entschieden auftreten, weil sie sie bestimmen und mit Erfolg benutzen. An den Gewaltverhältnissen, denen sich der Komplex von Regeln und Instanzen der Vereinten Nationen verdankt, die er juristisch verallgemeinert und verfremdet, ändert sich selbstverständlich nichts dadurch, dass mit Südafrika nun eine Nation gegen alle gute Absicht Amerikas den Klageweg gegen seinen ‚unique ally‘ beschreitet, die sich in der Hierarchie der Nationen zu Höherem berufen fühlt, die aber erst einmal da steht, wo sie steht. Und darum geht der Krieg auch erst einmal so weiter, wie ihn Israel führt und er von den Verbündeten Israels praktisch versorgt und gegen jeden Versuch feindseliger militärischer Einmischung und politischer Diskreditierung abgeschirmt wird.
Einfach nur ignorieren wollen Israel, die USA und der westliche Rest die Klage aber nicht. Das ist Israel seinem kriegerischen Rechtsstandpunkt und das sind die USA ihrem Standpunkt schuldig, dass ihre nationalen Ansprüche auf Botmäßigkeit aller anderen Staaten zugleich mehr sind als das, nämlich anerkanntes Recht, dem zu genügen nicht einfach der Angst vor der Abschreckungsmacht Amerikas geschuldet sein soll, sondern der auf dieser Basis gedeihenden Anerkennung der Verbindlichkeit und Nützlichkeit eines internationalen Rechts für jeden legitimen nationalen Materialismus. Dieser Widerspruch spiegelt sich an jedem Umgang mit der von Südafrika in die Wege geleiteten Rechtsangelegenheit wider: Israel verkündet, dass es seinen Krieg von keinem Schiedsspruch abhängig machen wird, und entsendet seine Vertreter vor den IGH, die dort nach dessen Regeln agieren; die USA kritisieren den Schritt Südafrikas und äußern zugleich, dass sie optimistisch bezüglich dessen sind, dass die Richter richtig rechten werden. [12]
Und auch das politisch und moralisch doppelt aufgestellte Deutschland findet nach ein bisschen Irritation seinen Umgang damit, dass es von Nicaragua – „selbst kein Leuchtturm der Freiheit“ – wegen Beihilfe zum Völkermord vor Gericht gezerrt wird. Deutsche Politik und Öffentlichkeit müssen von dem einen Credo keine Abstriche machen, dass ihre Nation wie keine andere für die egalitär regelbasierte Weltordnung und die von allen zu akzeptierende Rolle einschlägiger Instanzen und Regeln eintritt, wenn sie zugleich an dem anderen Credo festhalten, dass Israels Gewalt per se Notwehr ist, die zu unterstützen qua deutscher Vergangenheitsbewältigung deutsche Staatsräson ist. Deutschland entsendet seine Advokaten nach Den Haag, und die dürfen dort neben allerlei juristischer Kleinarbeit vor allem demonstrativ beleidigt darüber sein, dass sich ausgerechnet Deutschland überhaupt diesen Verdacht gefallen lassen muss, obwohl es sich doch seit jeher gegen verbotenen Mord und Totschlag einsetzt und aktuell nicht nur der zweitgrößte Munitions- und Waffenlieferant Israels, sondern auch einer der größten Geldgeber für humanitäre Hilfe im Gazastreifen ist. Und außergerichtlich ist die deutsche Nation nach einer Schrecksekunde mit sich im Reinen darüber, dass der Völkermord-Vorwurf die zur deutschen Staatsmoral gehörende hermetische Gleichsetzung von Kritik an israelischer Staats(gründungs)gewalt und Antisemitismus bestätigt. Weil Genozid eine staatliche Gewalt absolut ins Unrecht setzt, der Vorwurf also auf totale Delegitimation zielt, beweist jeder, der diesen Vorwurf gegen Israel erhebt, dass er die Juden der Welt ihrer legitimen staatlichen Schutzmacht, also des einzigen wirksamen Schutzes davor berauben will, dass sie demnächst erneut das Opfer des Genozids werden. Die Vertreter Deutschlands genieren sich nicht, ihre feine Nation und deren Geschichte als Beweis dieser negativen Gleichung zu präsentieren: Ohne eine total überlegene israelische Staatsgewalt, die sich alles erlaubt, was sie für nötig hält, kein jüdisches Leben auf der Welt – wir haben es doch vorgemacht. Und weil Deutschland nach der durch alliierte Kriegsgewalt beendeten Ausrottungsorgie an den europäischen Juden die historisch einmalige Gelegenheit ergriffen hat, die praktische Niederlage in ein moralisches Schuldeingeständnis zu verwandeln und das damit verbundene und präsentierte schlechte Gewissen in das gute Gewissen des bekehrten Täters, der damit fürderhin allen anderen als Richter kommt und ihnen vorbuchstabiert, wie gescheite Staatsgewalt zu gehen hat, steht für die Vertreter dieser feinen Nation fest: Erstens ist mit Blick auf ihre deutsche Vergangenheit jedes arabische Opfer israelischer Gewalt im Prinzip in Ordnung, weil Israel mit dieser Gewalt nur die Gewalt nachholt, die den Juden damals gefehlt hat, also die eliminatorische Gewalt sühnt, die Deutschland ihnen angetan hat. [13] Und damit steht in aller frechen deutschen Selbstbezüglichkeit zweitens fest: Der Genozid-Vorwurf gegen Israel ist Antisemitismus und damit der Absicht nach selber Genozid. Sodass jede Verurteilung Israels allein dadurch, dass sie laut wird, beweist, dass sie absolut im Unrecht ist. [14]
4. Öffentliche Anteilnahme, Proteste und Gegenproteste im Westen: Vom Fehler der moralischen Parteinahme im laufenden Krieg
Die Gleichung gilt in Deutschland zwar offiziell, ist aber sogar da nicht das Ende der Debatte. Sondern nur eine von zwei Positionen in einem heftigen Meinungsstreit, der die demokratische Öffentlichkeit etlicher Länder – unter anderem die der USA – aufwühlt. Nicht zuletzt deswegen, weil hier mehr noch als in anderen mörderischen Konflikten, eindeutiger sogar als im Kriminalfall Putin vs. Ukraine, Parteinahme geboten ist.
Natürlich erst einmal – wie sonst auch –, weil die vielen, eindringlich publizierten Opfer doch niemanden kaltlassen können. Schon gar nicht die jeweils vorgeführten Opfer das jeweils angesprochene Publikum: frohgemute Partygäste, Menschen wie ich und du, in guter Stimmung unversehens überfallen, vergewaltigt, entführt, umgebracht, auf der einen Seite; auf der anderen Seite Familien mit Kindern, die aus ihren ohnehin elenden Lebensverhältnissen herausgebombt und in eine Hungersnot gestürzt werden, mit Verwandten in demokratisch akzeptierten Communitys hierzulande. Juden wie Palästinenser stehen dem öffentlichen Humanismus der zielgerichtet informierten Ersten Welt eben ein ganzes Stück näher als massakrierte Neger, von denen man vor allem weiß, dass man sie so nicht nennen darf. Nur: ein Kriterium dafür, welche Opfer die jeweils andere Seite zu Tätern machen, bekommt der kundige Moralismus damit nicht wirklich an die Hand. All die engagierten Debatten, die, teilweise unter gewissen moralischen Vorbehalten, Heimtücke gegen Opferzahlen und umgekehrt abwägen, belegen tatsächlich nur, dass die grauenhaften Fakten, die überzeugen sollen, nur für schon Überzeugte zählen; nicht als Argumente, sondern als Belege dafür, die richtige Seite gewählt zu haben. Sie enden daher auch gerne mit der Konzession, dass Täter und Opfer irgendwie auf beiden Seiten zu finden sind. Die darf in dem Fall aber schon gleich nicht das letzte Wort sein: Mit billiger Neutralität verabschiedet man sich nämlich aus einem politischen Streit, in dem es auch unter Moralisten nicht bloß um Empörung über Täter und Opfer geht, sondern um Staatsmoral in einem höheren Sinn.
Die Protagonisten der Auseinandersetzung begnügen sich jedenfalls nicht damit, die Opfer als Schuldbeweis gegen die Täter in Szene zu setzen. Die einen würdigen Israel als – einzig sicheren, jetzt aber gefährdeten – Zufluchtsort einer weltweit verstreuten Gemeinde, als solche konstituiert und zusammengehalten durch gemeinsame Bezugspunkte religiöser und volkssittlicher Art sowie durch eine kollektiv erlittene zweitausendjährige Verfolgungsgeschichte, die sie sogar gegen den großdeutschen Vernichtungsversuch durchgestanden hat; diese Geschichte begründet ein unüberbietbares, nicht relativierbares Recht der Judenheit auf eine wehrhafte Staatsgewalt, das der so wenig abgesprochen werden darf wie jedem anderen Mitglied der modernen Völkerfamilie. Die anderen verurteilen Israel als das Produkt eines Übergriffs des westlichen Imperialismus, der ausgerechnet zu Beginn des schönen demokratischen Entkolonialisierungsprozesses der Nachkriegszeit, der allen autochthonen Völkern ihre eigene Staatlichkeit geschenkt hat, in diesem Fall in einem letzten kolonialistischen Kraftakt dem autochthonen arabischen Völkchen am Ostrand des Mittelmeers ein zugewandertes Fremdvolk als herrschende Vormacht aufgedrückt hat und sein Recht auf einen eigenen Staat noch immer vorenthält. Die einen wie die anderen reproduzieren und propagieren so die staatliche Kampfräson der Kriegsparteien: die der israelischen Regierung, für die die Existenz eines souveränen Palästinenserstaats die ihres eigenen Staates negieren würde; auf der anderen Seite die der Keimzelle eines Palästina, das mit fehlgeleiteter westlicher Hilfe von einem expansiven Judenstaat unterdrückt wird. Alle Seiten machen damit klar, dass es hier nicht um das Recht des Staates auf Krieg – und im Krieg um seine schuldhafte Verletzung – geht, sondern um das Recht von Menschen in ihrer völkischen Besonderheit, also um das Menschenrecht auf einen Staat – auf einen unbedingt wehrhaften für den jüdischen, auf einen eigenen für den palästinensischen Menschenschlag. Wobei in beiden Fällen eine Besonderheit hinzukommt, die dieses Recht nach Überzeugung seiner wirklichen wie ideellen Protagonisten besonders berechtigt macht: für Israel die eigentümlich offene Definition der staatsberechtigten Menschengemeinde, nicht irgendwo ortsansässig, sondern weltweit zerstreut zu sein und deswegen nur umso mehr eine lokale kriegsfeste Heimstatt zu brauchen; für das angestrebte Palästina der Status von aus ihrer angestammten Heimat Vertriebenen.
Dieser Streitgegenstand macht den Streit unversöhnlich, nötigt zur Parteinahme, einer Parteinahme anderer Art als in sonstigen Kriegen, weil es hier um das Recht auf staatliche Existenz als solche geht. Natürlich ist für alle Nicht-Beteiligten die Lösung ganz einfach: 2 Staaten nebeneinander; gute Nachbarn, wie es sie sonst zwar nur aus Berechnung und nirgends konfliktfrei gibt; aber was denn sonst! Dabei ist die Jahrzehnte alte, seit Monaten eskalierte blutige Feindschaft die klare Antwort: Einen wirklichen staatlichen Gewaltmonopolisten gibt es nicht als Konzession eines anderen. Einen palästinensischen Souverän gäbe es also nur als den Widerspruch eines Lizenznehmers israelischer Oberhoheit oder als Negation der unteilbaren Sicherheitsräson des Staates aller Juden. Eine „Zweistaatenlösung“ wäre nichts als die Verewigung des beiderseitigen Unvereinbarkeitsbeschlusses – was, nebenbei, nicht heißt, dass der Imperialismus es nicht am Ende auch zu so einem Widerspruch neben seinen vielen anderen bringt. Für die Sympathisanten der einen wie der anderen Seite eröffnet dieser nette „Lösungsvorschlag“ ohnehin nur die nächste Frage: welche Seite seine Realisierung verhindert. In der Frage stehen wieder die elementaren Rechtsstandpunkte beider Kriegsparteien unversöhnlich gegeneinander und verlangen Parteinahme.
Um das Menschenrecht auf Staat geht es also in diesem Krieg; und somit um eine in ihrer Brutalität unmissverständliche Klarstellung, was da Sache ist. Die wirklich betroffenen Menschen „vor Ort“ sind nämlich Partei; ungefragt. Als Bürger und im kriegerischen Ernstfall als Befehlsempfänger einer kompletten oder einer erst quasistaatlichen hoheitlichen Gewalt sind sie Repräsentanten des Staatswillens, dem sie gehorchen müssen. Sie überleben oder sterben für das Recht auf monopolisierte Gewalt, das ihre Kommandeure gegen ihren Feind durchsetzen. Ihr Dasein als menschliche Subjekte hängt vom Gang des Machtkampfs ihrer Herrschaft ab, ist aufgegangen in ihrer politischen Identität als Israeli oder Palästinenser. Mit dem Menschenrecht auf Staat ausgestattet, kommen sie gar nicht umhin, in dem tödlichen Gegensatz, in den ihre Herrschaft sie verwickelt, sich auf die als ihre Schutzmacht zu beziehen. Dieser fatale Zirkel ersetzt praktisch den freien Entschluss, für „ihre“ Seite Partei zu nehmen: Krieg macht sie zur Partei, die für ihr Überleben auf den Erfolg ihrer Kriegsherren setzen muss. Das ist ihre Lebenslage, und die bestimmt, was sie wollen müssen und sich vornehmen können. Zum Standpunkt des Zurechtkommens mit der kriegerischen Räson ihrer Gewalthaber ist keine machbare Alternative im Angebot einer Welt, die ihren Insassen keine andere Existenz als die eines unter hoheitliche Gewalt subsumierten Staatsangehörigen zu bieten hat – ausgenommen die namenlose Nicht-Existenz als Staatenloser. Zu dieser Existenz gehört das praktisch notwendige falsche Bewusstsein, das die Gewalt affirmiert, die in ihren Menschen ihre Manövriermasse besitzt und sie entsprechend beansprucht.
Nicht in dem Sinn notwendig und insofern erst recht verkehrt sind demgegenüber die empörten Stellungnahmen für die eine oder die andere Seite, das „Existenzrecht Israels“ oder das „Recht der Palästinenser auf einen eigenen Staat“, die dem allgemeinen Publikum abverlangt und von dem auch weithin abgeliefert werden. Abgeliefert erstens von Leuten, die sich selbst der einen oder der anderen Volksgruppe zurechnen und den Kampf, der diesem Volk aufgenötigt wird, freiwillig als den Ihren anerkennen. Die beteiligen sich daran aus der Ferne; mit Demonstrationen, soweit der zuständige Gewaltmonopolist sie lässt; also nur ideell und dafür als umso heftigere Befürworter der Gewalt, die die Herrschaft aufbietet, der sie sich als Gefolgsleute zurechnen. So bekennen sie sich dazu, dass auch für sie der Mensch mit seiner Identität als verfügbares Stück Volk: als Jude oder Palästinenser anfängt und aufhört.
So konsequent ist die Masse derer, die sich auf die verlangte Parteinahme für eine Seite einlassen, nicht. Die stellt man da unter Vorbehalt: Sie gilt nicht dem Krieg, sondern nur seinem Zweck; sie billigt nicht den Exzess, weder den Hamas-Überfall noch jede israelische Vernichtungsaktion, sondern nur das Recht, das so geltend gemacht wird; sie befürwortet nicht die Gewalt, sondern bloß deren Erfolg. Das ist nett. Aber es hilft ja nichts: Auch in dieser Fassung gilt das ideelle Engagement dem Zweck und Erfolg staatlicher Gewalt. Die wird anerkannt und bejaht; ausgerechnet da und umso ausdrücklicher gerade da, wo sie Menschen als ihr Material verschleißt. Mit dem moralischen Imperativ, „nicht zu schweigen“, wenn im Nahen Osten gekämpft wird, wird eben das falsche Bewusstsein abgerufen, das die Identität des Menschen in seiner Rechtspersönlichkeit als Staatsangehöriger sieht; das die Kollisionen der staatlichen Gewalten als eine Tatsache anerkennt, mit der der Mensch zu leben hat; und das mit einer Parteinahme im Sinne der Schuldfrage, gemäß der Unterscheidung zwischen Gut und Böse, moralisch gut zurechtkommt. Der Fehler wird auch dann nicht besser, wenn die Anerkennung der Alternativlosigkeit dieser Tatsache, die ideelle Unterwerfung unter bewaffnete Herrschaft als Selbstverständlichkeit, sich in aller Gedankenfreiheit über jeden notwendigen Zusammenprall unvereinbarer Souveränitätsansprüche stellt und im gegebenen Fall weder Israel noch dem palästinensischen Staatsgründungsprojekt die Gunst der eigenen Parteinahme zuteilwerden lässt. In der Richterpose wird das falsche Bewusstsein nicht vernünftig, sondern albern.
Praktisch leistet die aktive oder schweigende Beteiligung an dem Meinungsstreit über den Gaza-Krieg erst einmal nicht mehr und nicht weniger als die gedankliche Zuordnung der eigenen urteilsfähigen und -befugten Persönlichkeit zum fortschreitenden Kriegsgeschehen: Man hat eine Meinung. Angesichts des Grauens darf und soll es dabei aber nicht bleiben. Das frei nachdenkende Subjekt ohne jeden Einfluss auf die Kriegsführer verlangt nach praktischer Einflussnahme. Und es findet Wege dahin. Zuerst und vor allem den der demonstrativen Aufforderung an die eigene Herrschaft, gegen die Gewaltaktionen der einen, der anderen oder gleich beider Seiten einzuschreiten. Die Einsicht, dass ohne Gewalt in der Staatenwelt gar nichts zu holen ist, geht hier einher mit der demokratischen Illusion, die eigene Staatsangehörigkeit, also der eigene Status als menschlicher Besitzstand einer weltpolitisch wirkungsvoll aktionsfähigen Macht, wäre – irgendwie, letztlich – das Gegenteil, nämlich der Besitz eines zwar kleinen, per Demonstration und Appell aber wirksam zu machenden Stücks Verfügungsgewalt über das Tun und Lassen der nationalen Staatsgewalt. Der wird einerseits die souveräne Macht, zugleich die willfährige Bereitschaft zugetraut, gegen kriegführende Gewalthaber die Stellungnahme durchzusetzen, mit der der empörte Bürger sich in seiner Meinungsbildung am besten fühlt. Aus der unausbleiblichen Enttäuschung folgt auf der nächsten Eskalationsstufe eine Polemik gegen die eigene Herrschaft und deren falsche Parteilichkeit. Das kämpferische Engagement, das da und überhaupt nichts weiter ausrichtet, sucht und findet sein Betätigungsfeld in der Auseinandersetzung mit den kongenialen Vertretern der Gegenseite. Als Kampfplatz dafür bieten sich Bildungs- und Kulturstätten an, weil die Protagonisten dieses Meinungsstreits gerne mit wertebasierten Begründungen operieren; da steht dann das spätkolonialistische Unrecht eines weißhäutigen Siedlerstaats, das den Palästinensern ihre Heimat raubt und vor allem den USA angekreidet wird, gegen das welthistorische, im globalen Unterbewusstsein verankerte Unrecht des Antisemitismus, unter dem die Juden seit der Erfindung des Christentums zu leiden haben. Ein Fußvolk, das ohne weitere Erklärungsnot zuschlägt, findet sich unter empörten Moralisten allemal auch. Wo das Bemühen, sich Gehör zu verschaffen, für den Geschmack der amtlich Zuständigen zu weit geht, machen die das ihnen anvertraute Stück Gewaltmonopol geltend. Und so geht die demokratische Diskussionskultur ihren vorgezeichneten Gang: von der Empörung über Fakten weiter zu dem im Kreis herumgereichten Vorwurf, diese zu ignorieren und die Wahrheit über das Kriegsgeschehen nicht hören zu wollen; es folgen Verbotsanträge und die beleidigte Ehre derer, die nicht gehört, sondern abserviert werden; am Ende geht es – einmal mehr – um den abendländischen Höchstwert der Meinungsfreiheit, an dem die Obrigkeit sich vergreift. Was an Erschrecken über ein monatelanges Grauen womöglich im Spiel war und geblieben ist, wird überführt in eine heiße Grundfrage der zur abendländischen Werteordnung gehörigen Lizenz, eine Meinung haben und demonstrieren zu dürfen. Damit ist der staatsbürgerliche Moralismus dann ganz bei sich selbst angekommen.
[1] Der Gegenstand des regen internationalen Interesses, also die in einen neuartigen Krieg umgeschlagene Unversöhnlichkeit israelischer und palästinensischer Staatsgründungsansprüche, wird im Artikel ‚Al-Aqsa-Flut‘ und Gaza-Krieg: Hamas gegen Israel in Heft 4-23 dieser Zeitschrift erklärt. Den entscheidenden Bezugspunkt jedes auswärtigen Interesses an dem Krieg, nämlich die Allianz der globalen Welt und Atommacht USA mit der regionalen Atommacht Israel, analysiert der Artikel ‚Eiserne Schwerter‘ und ‚die Gefahr eines regionalen Flächenbrands‘: Ernstfall für die Freundschaft zwischen der regionalen und der globalen Supermacht“ in Heft 1-24.
[2] So ganz bleibt Israel gerade wegen seines entschiedenen Willens zur Hamas-Bekämpfung die Frage nicht erspart, wie mit dem großen Rest der Gazabewohner zu verfahren ist, wenn im Zuge der Bodenoffensive immer mehr israelisches Militär immer tiefer im Gazastreifen operiert und ‚on the ground‘ mit den Menschenmassen zu tun hat. Das hat u.a. dazu geführt, dass sich zwischenzeitlich die israelischen Kriegsorganisatoren an die Scheichs im Gazastreifen ansässiger Familienverbände gewandt haben, die für ihre Distanz bzw. Feindschaft gegenüber der Hamas bekannt sind, um ihnen vorzuschlagen, dass sie gewisse Hilfeleistungen für die Logistik und die Absicherung des für nötig gehaltenen Minimums an humanitärer Betreuung übernehmen, wofür sie Israel unter Rückgriff auf den gleichfalls angefragten Geheimdienstchef der im Westjordanland sitzenden Palästinenserbehörde auch mit ein bisschen Schießgerät ausgestattet hätte.
[3] „... ob im Frieden oder im Krieg begangen ...“ (aus Artikel I)
[4] „Personen, die Völkermord oder eine der sonstigen in Artikel II aufgeführten Handlungen begehen, sind zu bestrafen, gleichviel ob sie regierende Personen, öffentliche Beamte oder private Einzelpersonen sind.“ (Artikel IV)
[5] „Völkermord und die sonstigen in Artikel III aufgeführten Handlungen gelten für Auslieferungszwecke nicht als politische Straftaten.“ (aus Artikel VII)
[6] „Die vertragschließenden Parteien verpflichten sich, in Übereinstimmung mit ihren jeweiligen Verfassungen die notwendigen gesetzgeberischen Maßnahmen zu ergreifen, um die Anwendung der Bestimmungen dieser Konvention sicherzustellen...“ (aus Artikel V)
[7] Also sind unter Artikel III neben „(a) Völkermord“ auch „(b) Verschwörung zur Begehung von Völkermord; (c) unmittelbare und öffentliche Aufhetzung zur Begehung von Völkermord; (d) Versuch, Völkermord zu begehen; (e) Teilnahme am Völkermord“ unter Verbot und Strafe gestellt.
[8] Die Vertreter Südafrikas benutzen in diesem Zusammenhang immer wieder den Terminus „Apartheid“, in Bezug auf den sie ihrem Land eine Kompetenz zusprechen, mit der sie meinen, vor Gericht hausieren zu können, denn erstens gilt „Apartheid“ international allgemein anerkannt als schlimmes Vergehen gegen die staatliche Gleichbehandlungspflicht gegenüber allen Menschen, zweitens darf sich das moderne Südafrika dessen rühmen, dass es sich von dieser schlimmen Geißel unter Führung des ebenfalls international als Ikone der Menschenwürde und Völkerverständigung angebeteten Nelson Mandela befreit hat.
[9] Man sollte sich davor hüten, sich in die Fragestellung einzumischen, welcher der Vorwürfe im Einzelnen ‚tatsächlich‘ von der Konvention gedeckt ist und welcher sich ‚bloß‘ einer interessierten Deutung verdankt – das übernimmt das Gericht, aus dessen Spruch dann in einem ganz eigenen nächsten Schritt folgt, was entscheidende staatliche Mächte daraus folgen lassen wollen. Stattdessen sollte man sich an die theoretische Kritik eines Rechtskonstrukts halten, das Menschen und ihre „Gruppen“ gar nicht anders kennt als in der juristischen Abstraktion der Schützlinge von Staatsgewalt, die sie einer Behandlung gemäß dem Anstandskatalog einer zivilen bürgerlichen Herrschaft zu unterziehen hat – egal, was die leiblichen Menschen davon haben und ob sie die überhaupt überleben. Sonst landet man am Ende noch dabei, sich mit der Frage auseinandersetzen zu müssen, ob es „die Palästinenser“ als „Gruppe“ überhaupt gibt.
[10] Es gehört zur zynischen Rationalität dieser Sphäre, dass Israels Vertreter unter Verweis auf Artikel IX auch damit argumentieren, dass der IGH für die Beurteilung eines „Disputs zwischen den vertragschließenden Seiten“ zuständig sei, den es dafür aber auch erst einmal geben müsse, was sie bestreiten: Südafrika habe es versäumt, vor seinem Gang vor den IGH Israel bilateral ausreichend in einen Streit über dessen Vorgehen im Gazastreifen zu verwickeln. Zynischer als alle anderen Stellungnahmen in diesem Verfahren sind solche Versuche, die Klage mit Verweis auf Verfahrensfehler ins Leere laufen zu lassen, auch nicht.
[11] Mit dem nicht vor Gericht, aber überall sonst vorgenommenen ‚Vergleich‘ von israelischem Gaza-Krieg und russischem Ukraine-Krieg bringen Staaten den aktuellen Stand ihrer Unzufriedenheit auf den Punkt: Den russischen Angriffskrieg sollen sie ja nicht nur moralisch und politisch verurteilen, sondern werden vom Westen in ihn hineingezogen, weil sie v.a. im Zuge des westlichen Wirtschaftskrieges gegen Russland mit teils gravierenden Konsequenzen zu tun bekommen. Indem sie beide Kriege nebeneinanderstellen, prangern sie die Verletzung des Grundprinzips souveräner Gleichberechtigung aller Staaten und im Falle Südafrikas auch die Ignoranz gegenüber seinem Anspruch nicht nur auf Rücksicht, sondern auf Mitsprache an.
[12] Eine gewisse Eskalation stellt im Verhältnis dazu der Antrag auf Haftbefehl gegen Netanyahu und Gallant dar, den der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) – neben Anträgen auf Haftbefehl gegen drei palästinensische Führer – bei den zuständigen Richtern dieser Institution einreicht. Angesichts dieses Vorstoßes erneuern die USA ihre skeptische bis feindselige Haltung gegenüber diesem Gericht, dessen Jurisdiktion sie sich formell sowieso nie unterstellt haben, und am eigenmächtigen Vorgehen des Anklägers sehen sie sich endgültig bestätigt: Die Möglichkeit eines solchen Haftbefehls, die Tatsache des entsprechenden Antrags bestärken ihre Führer in dem Standpunkt, dass der ICC eine institutionalisierte Amtsanmaßung ist, nämlich ein mit den Mitteln des Rechts vorgenommener Verstoß dagegen, dass internationales Recht ein Mittel der amerikanischen Führung der Welt zu sein hat.
[13] Siehe dazu auch Punkt 4. des Artikels Anmerkungen zum allgemeinen Verhältnis von Krieg, Kriegsmoral und Kriegsöffentlichkeit sowie zu einer deutschen Besonderheit in Heft 3-21 dieser Zeitschrift.
[14] Für Deutschland stellt sich der besagte Vorstoß des ICC-Chefanklägers etwas anders dar: Der ICC ist nämlich im Wesentlichen eine Erfindung der Europäer; auf diese Weise wollten sie mit den Mitteln des Rechts ein wenig den großen Abstand zu den USA kompensieren, den sie auf dem Feld des gewaltsamen Setzens von Recht für die Staatenwelt seit jeher so schmerzlich verspüren. Sie und insbesondere die europäische Führungsmacht Deutschland haben sich daher zu den Protagonisten eines wirklich verbindlichen Staatenkriminalrechts gemacht und sind demonstrativ als dessen ehrliche Freunde und Förderer aufgetreten, was bisher nach Lage der Gewaltdinge ganz gut zu ihren strategischen Ambitionen bezüglich der Gewaltaffären der Welt gepasst hat. Einer Verhaftungsforderung des ICC gegen Netanyahu müssten sie statutengemäß nachkommen, falls dieser Führer der von ihnen unterstützten Macht bei ihnen zu Besuch vorbeischaut – und dies passte dann ganz und gar nicht zur politischen Linie Deutschlands in Sachen Gaza-Krieg. Dann müssten sie ein bisschen Farbe dahingehend bekennen, wie es um ihre Ambition in Bezug auf den ICC relativ zu ihren Beziehungen zu Israel und zu den USA steht. Aber bis es soweit kommt – die Richter des ICC haben ja einstweilen noch die Chance, den Fehlgriff ihres Anklägers durch Ablehnung seines Antrages zu korrigieren –, vergewissern sich alle journalistischen und politischen Instanzen der imperialistischen Moral Deutschlands mit Hilfe der üblichen Tautologien, dass jedes bisschen des von ihnen verspürten Rechtfertigungsdrucks letztlich gegen denjenigen spricht, der ihnen diesen Druck bereitet hat, dass also ihr Dilemma in Wahrheit keines ist.