16 Jahre Merkel: Eine alternative Bilanz (4)
Die nationale Protestkultur
Die nationale Protestkultur ist in 16 Merkeljahren an verschiedenen Stellen aufgeblüht, teils wieder dahingewelkt, teils zum festen Bestandteil des lebendigen demokratischen Meinungspluralismus geworden – freiheitlicher Geist in Aktion.
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16 Jahre Merkel: Eine alternative Bilanz (4)
Die nationale Protestkultur
ist in 16 Merkeljahren an verschiedenen Stellen aufgeblüht, teils wieder dahingewelkt, teils zum festen Bestandteil des lebendigen demokratischen Meinungspluralismus geworden – freiheitlicher Geist in Aktion.
Da gab es, selten genug in einem Land der kritischen Freidenker, einen protestähnlichen öffentlichen Stimmungsaufschwung zugunsten der Regierungschefin: so etwas wie eine landesweite Bürgerinitiative mit dem Ziel, unter dem Motto Willkommenskultur
Merkels Wir schaffen das!
– nämlich die Aufnahme eines Schwalls von Flüchtlingen und ein freundliches Gesicht
dazu – wahr zu machen. Eine hochanständige Minderheit im Volk hat eine der brutalen Nebenwirkungen von Krieg und – dazu passendem – Frieden in der gesamtwestlich verantworteten Weltordnung des 21. Jahrhunderts als kollektive private Gewissensfrage genommen und positiv beantwortet. Ein kleinerer Teil hat damit auch nicht aufgehört, als das christliche Abendland nach kurzem Dissens zwischen der Chefin und ihren Ministern, Parteigenossen und Kollegen wieder dazu übergegangen ist, das Mittelmeer in seiner Eigenschaft als Todeszone für Schlauchbootinsassen zur Abwehr weiterer „Migranten“ zu nutzen. Zeitweise wurde die Unterstützung privater Seenotrettung sogar populär, nämlich dank der Zuspitzung durch den und auf den rechtsradikalen italienischen (!) Innenminister, der es zweckwidrig fand, an der Ertränkung unerwünschter Zuwanderer als passender EU-Selbstschutzmaßnahme etwas zu beschönigen oder gar zu relativieren. Das hat immerhin gereicht, um Merkels Bemühen um eine EU-weite Verteilung der Last, die jeder nicht bestellte Syrer oder Äthiopier für Europas Binnenmarkt und Asylsystem darstellt, als hochherzigen Akt der Humanität zu interpretieren, der zwar – an „den anderen“ natürlich – gescheitert ist, Merkels Land aber irgendwie zur Ehre gereicht.
Dieselbe Unterstellung einer regierungsamtlichen Menschlichkeit auch ungefragt hereinströmenden Migranten gegenüber hat auf der anderen Seite sehr viel nachhaltiger eine Gesinnung befördert, geradezu zu einer ideellen Gegenbewegung anschwellen lassen, die dem Merkel-Volk viel besser aus dem politischen Herzen gesprochen hat und spricht als der Idealismus der Humanität, der allemal zur moralischen Ökonomie des zeitgenössischen Imperialismus gehört und – zu Recht oder zu Unrecht – in den kurzfristig aufwallenden Reflex der Hilfe für Hilfsbedürftige hineininterpretiert worden ist. Der vorherrschende Geist der deutschen Staatsbürgergemeinde hat für unerwünschte Ausländer im Land nämlich eine ganz andere ideologische Verwendung. Die sind ganz einfach Fremde – die Vorstellung personifizierter Fremdheit in der eigenen Lebenswelt ist hier allemal wichtiger als jede tatsächliche Wahrnehmung – und verdienen allein deswegen Ausgrenzung und eine Ablehnung, die bis in die Sphäre der subjektiven Empfindungen hineinreicht. Die sachliche Quelle dieser Geisteshaltung: die staatsbürgerliche Logik, die da am Werk ist – um es einmal in einem Satz zu sagen:
Die Anforderungen der alltäglichen Konkurrenz ums Geld und seine lohnende Verwendung werden im Licht des geglaubten staatlichen Fürsorgeversprechens ans nationale Volk „den Anderen“, die davon eigentlich ausgeschlossen und trotzdem vorhanden sind, als Übergriff, der Politik als Versäumnis aus Pflichtvergessenheit zur Last gelegt –,
die nährt da einen zunehmend verselbständigten Ausländerhass. In Merkels Regierungszeit hat der sich zu einem Dauerprotest ausgewachsen, der teils, von Deutschlands Parteien demokratisch betreut, als Wählermotiv sein Werk tut. Teils findet er im Bereich des öffentlichen Diskurses und vor allem der alternativ öffentlichen Meinungskundgabe im Internet zu sich selbst, drängt gerne ideell zur Tat, feiert bei Gelegenheit wirkliche Täter als seine Helden. Einer dieser Helden geht dann mit der Ermordung eines christdemokratischen Amtsträgers wegen Ausländerfreundschaft den für Deutschlands ordentliche Verhältnisse entscheidenden Schritt zu weit. Ein halbes Jahrhundert nach dem „Radikalenerlass“ gegen Linke wird der Verfassungsschutz dazu angehalten – und dafür sogar mit einem neuen Chef ausgestattet –, auch im konsolidierten rechtsradikalen Milieu dem Übergang von der Gesinnung zur Praxis vorzubeugen. Unterhalb dieser neu markierten „roten Linie“ etabliert sich die zurechtgewiesene, nach wie vor nicht bloß für „Fremde“ tendenziell lebensgefährliche Gesinnung dauerhaft: als ab- und wieder anschwellendes Getöse im Freiraum der „sozialen Medien“. Für das Bedürfnis, den durch Ausländer und Ausländerfreunde „Erniedrigten und Beleidigten“ herauszukehren und gegen die Fremden und die Abstraktion die da oben
lustvoll „zurück“zuschlagen, ist die Digitalisierung der Republik schon voll gelungen.
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Eine richtige regierungskritische Protestbewegung der Anständigen, mit öffentlichen Aufmärschen und Verweigerungsaktionen, hat die Republik unter Merkels Führung und wieder im Geist der von ihr propagierten Ideale dann auch noch hervorgebracht: Im Sinn – schon wieder – höchster Werte und unabweisbarer sittlicher Notwendigkeiten, so wie die Regierungsspitze höchstpersönlich sie ihrem Volk als nationalen Auftrag vor Augen gestellt hat, sind Teile des lernwilligen Nachwuchses der Nation unter dem Titel „Fridays for Future“ für die Rettung der Zukunft, der eigenen wie der des Planeten überhaupt, vor der zunehmend sicht- und fühlbar in Gang kommenden „Klimakatastrophe“ mit großem Elan öffentlich aktiv geworden. Auf eine Gegenbewegung – so wie die Freunde einer migrantenfreundlichen „Willkommenskultur“ – sind sie nicht gestoßen; zwar auf manche oberlehrerhafte Kritik am Schulschwänzen; andererseits auch auf ziemlich viel politisches Wohlwollen und sogar auf ein Bundesverfassungsgericht, das ihrem Anliegen in der verfremdeten Gestalt eines schützenswerten Freiheitsrechts Recht gegeben hat. Umso mehr ist ihr Kreuzzug zu einem Exempel dafür geworden, wie nachhaltiger Protest in einer politisierten Konkurrenzgesellschaft eben doch gar nicht geht, und zu einem Schulbeispiel dafür, wie eine auch ideell wehrhafte Demokratie kritischen Einsatz für ein von ihr anerkanntes, aber so doch gar nicht gemeintes hohes Ziel bis zur völligen Wirkungslosigkeit absorbiert, verdaut und unter ihre wirkliche Agenda subsumiert. Was das Erste betrifft: Der kritische Idealismus, wie stichhaltig auch immer begründet, einer kollektiven Zukunftsplanung, die den herrschenden Interessen Rücksichtnahme, der kapitalistischen Konkurrenz und der imperialistischen der Staaten nachhaltige Lebensperspektiven abringen will, stößt in Merkels Musterland bei der „Basis“, den geschädigten Massen, auf einen systemkonformen Materialismus: einen Lebenskampf um Erfolg in der marktwirtschaftlichen Konkurrenzgesellschaft und gemäß deren Kriterien, um Geld und Anerkennung und Selbstbehauptung im Betrieb, im öffentlichen und im privaten Leben, in den die Betroffenen nicht bloß faktisch alternativlos eingebunden sind, sondern sich alternativlos eingefügt haben. Von deren Seite ist mehr als wohlwollendes Verständnis für das Recht der Jugend auf ein bisschen Utopie nicht drin. Und was die andere Seite angeht: Die Macht, die ihre Interessen zu alternativlosen Fakten macht, praktiziert einmal mehr die schon tausendfach erprobte Kombination aus Zurückweisung im Namen des vernünftigerweise allenfalls Machbaren und zynischem Gebrauch des zurückgewiesenen edlen Anliegens für die Heuchelei einer eigentlich viel besseren Absicht.
Eine sehr viel stärkere, im nationalen Gesinnungshaushalt sehr viel fester verankerte Protestbewegung ist der Merkel-Regierung vor, während und erst recht nach den „Klima“-Demos aus dem Geist der Gewöhnung ans alternativlos „Gegebene“ erwachsen; logischerweise da, wo sie tatsächlich – natürlich wieder im Sinne einer alternativlosen Notwendigkeit – etwas anderes als ein unbedingtes „Weiter so!“ auf die politische Tagesordnung gesetzt hat. Von dem Rumoren unbefriedigter Ausländerfeindschaft anlässlich der befristeten Grenzöffnung zur „Flüchtlingskrise“ war schon die Rede. Die Ankündigung einiger Zumutungen der Energiewende-Politik im Zeichen des „Klimawandels“ ist vor allem insoweit nicht gut angekommen, wie die Nation sich in ihrer Eigenschaft als Autofahrerclub und in der trostlosen teuren Gewohnheit des „Pendelns“ gestört gesehen hat. So richtig hat sich dann anlässlich weitgehender Eingriffe ins bürgerliche Alltagsleben zwecks Corona-Pandemie-Bekämpfung ein zunehmend lautstarker „Widerstand“ herausgebildet, der punktgenau die Quintessenz bürgerlichen Oppositionsgeistes widerspiegelt – wenn man so will eine Gegenprobe auf die Geisteshaltung, an der Idealisten einer besseren, menschenfreundlichen Welt mit ihrem Bemühen um nachhaltigen Protest nicht nur in Merkels BRD notorisch scheitern. Aufgeregt – oder auch: aufregen lassen – hat sich der Bundesbürger ziemlich dauerhaft und in ziemlich großer Zahl als politisiertes Konkurrenzsubjekt; und das heißt: in dem zentralen Punkt seines bürgerlichen Selbstbewusstseins, in dem die staatsbürgerlich-ideelle Seite seiner Existenz, seine – verfassungsrechtlich garantiert! – unveräußerliche Freiheit, und deren bürgerlich-materielle Seite, der Standpunkt, i.e. die akzeptierte Notwendigkeit des bedingungs- und rücksichtslos selbstbezogenen Einsatzes fürs eigene Wohl, nahtlos zusammenfallen. Als Hybrid aus „Bourgeois“ und „Citoyen“ findet der totale Konformist sich total herausgefordert, nämlich materiell geschädigt und ideell beleidigt zugleich, wenn seine Regierung ihm in die Gewohnheiten freier, selbstbewusster Bewältigung der Zwänge des Geldverdienens und Konkurrierens, des Sich-Anpassens und Sich-Durchsetzens hineinpfuscht. Er wird rebellisch, wenn die öffentliche Gewalt, die er in den als Herausforderung akzeptierten Nöten seines Konkurrenzalltags nie wahrnimmt, ihm Dinge wie eine Impfung zumutet, die in die Sphäre der selbstbewusst subjektiven Alltags-Bewältigung hineinreichen; rebellisch, wogegen auch sonst, gegen die Abstraktion die da oben
– die dumme Elementarform staatsbürgerlichen Dagegen-Seins.
So enden 16 Jahre Merkel’scher Alternativlosigkeit dann doch ganz passend mit einem Musterfall gereifter demokratischer Protestkultur.