Korrespondenz zum Gaza-Krieg

Nach einem Streitgespräch auf dem Kanal ‚99 ZU EINS‘ über den Gaza-Krieg haben deren Betreiber eine ausführliche Kritik an unseren Erläuterungen veröffentlicht. Die Kritik und die Antwort der Redaktion sind hier dokumentiert.

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Korrespondenz zum Gaza-Krieg 

Auf dem linken YouTube-Kanal ‚99 ZU EINS‘ hat im Juni 2024 ein Streitgespräch mit einem unserer Redakteure stattgefunden, in dem es unter anderem um Überlegungen aus unserem letzten Artikel zum Gaza-Krieg ging. [1] Im Nachhinein haben die Betreiber des Kanals eine ausführliche Kritik sowohl an besagtem Artikel als auch an den Erläuterungsversuchen in der Sendung veröffentlicht; wir zitieren die beiden Abschnitte der Kritik ungekürzt, um jeweils darauf zu antworten.

I. Terrorvernichtungsaktion vs. zionistische Staatsräson

1. Über den Terror der Hamas

Die Hamas überfällt am 07.10.2023 Israel, wobei ca. 1200 Israelis umkommen. Diese Aktion ist nicht auf einen militärischen Sieg der Hamas gegen Israel berechnet, dazu fehlen der Hamas die Mittel. Die Gewalt der Hamas ist also gemessen am militärischen Potential Israels ohnmächtige Gewalt, der es darum geht, Schrecken (lat. Terror) zu verbreiten und damit Rechtsansprüche zu bekräftigen und Botschaften zu senden. Dabei geht es der Hamas vor allem darum, Israel, der arabischen wie auch der restlichen Welt zu übermitteln, dass es einen palästinensischen Staatsgründungswillen überhaupt gibt und er Berücksichtigung verdient. Gegenüber Israel stellt sie klar, dass dessen Verhinderung einer palästinensischen Staatlichkeit zur Konsequenz hat, mit Gewaltaktionen wie der am 07.10. und der damit verbundenen Störung des zivilen Lebens umgehen zu müssen. Das Vorgehen gegen israelische Zivilisten setzt dabei die Hoheit des israelischen Staates über seine Bürger demonstrativ außer Kraft und unterstreicht so den Rechtsstandpunkt der Hamas, dass deren Anwesenheit in Palästina grundsätzlich unberechtigt sei. Darüber hinaus will die Hamas wie alle Terroristen ihre Aktion als Fanal verstanden wissen. Die Bewohner der besetzten Gebiete will sie mit der punktuellen Relativierung israelischer Überlegenheit zum Widerstand aufrufen, Verbündete wie die Hisbollah sollen sich ihrem Kampf anschließen und die arabischen Staaten die Normalisierungspolitik ihrer Beziehungen zu Israel aufgeben.

Bei ihrer Aktion nimmt die Hamas 250 Geiseln, die sie als Verhandlungsmasse gegen Israel in Anschlag bringen will. Alles in allem ein Terroranschlag, wie er im Buche steht.

2. Über Staaten und ihre „Terroristen“

Die genannten sachlichen Bestimmungen charakterisieren den Überfall der Hamas lehrbuchreif als Terrorismus. Darüber hinaus hat die Bezichtigung des Terrorismus eine politische Konnotation: Wenn Staaten ihre Gegner des Terrorismus bezichtigen, dann geht es ihnen nicht um ein theoretisches Urteil, sondern darum, deren Gewalt als grundsätzlich unrechtmäßig zu kennzeichnen. Den so des Terrorismus „überführten“ Gegnern fehlt dann in der öffentlichen Wahrnehmung mit der Rechtmäßigkeit auch jeglicher Zweck ihrer Aktion, außer eben unrechtmäßige Gewalt auszuüben und darin ziemlich böse zu sein. Die Benennung eines Interesses der so identifizierten „Terroristen“ gilt als Versuch ihrer Entschuldigung. Jeder Erklärungsversuch ist Verharmlosung ihrer bösen Tat. Dem so konstruierten Feindbild entspricht selbstredend nur eine staatliche Maßnahme: Terrorvernichtung.

3. Über Israel und seine „Terrorvernichtungsaktion“

Die Gewalt der Hamas ist aus israelischer Perspektive auch ohne den Überfall vom 07.10.2023 grundsätzlich unrechtmäßig, da sie einen Staatswillen repräsentiert, der den israelischen Anspruch auf (wenigstens) ganz Palästina als sein Staatsgebiet ausschließt. Deshalb ist jeder palästinensische Staatswille, der sich als autonome Gewalt Israel entgegenstellt, aus israelischer Perspektive „Terrorismus“, und dementsprechend beschließt die israelische Regierung nach dem 07.10.2023 eine Vernichtungsaktion gegen die Hamas. Auffallen sollte hier, dass es der israelische Anspruch auf ganz Palästina ist, der die Gewalt der Hamas aus israelischer Perspektive jeglicher Rechtmäßigkeit beraubt. Die Terrorvernichtungsaktion ist also nichts weiter als die Exekution dieses Programms, Kontrolle über den von der Hamas kontrollierten Teil Palästinas herzustellen und ihn in das israelische Staatsgebiet aufzunehmen. Dieser Annexion und der daraufhin folgenden zionistischen Kolonisierung stehen die von Israel ausgeschlossenen Bewohner Gazas im Weg, wofür so ziemlich alle israelischen Regierungsmitglieder mit dem gleichen Lösungsvorschlag aufwarten.

Der Referent äußert im Stream, dass er das nicht wahrgenommen habe, weshalb wir mal ein Zitat von Netanjahu, der ja auch im GegenStandpunkt zitiert wird, als eines von vielen Beispielen aufführen wollen:

„Von Israels Seite aus gibt es kein Hindernis für die Bewohner, den Gazastreifen zu verlassen, vielleicht könnte sogar der Hafen, den [die USA] bauen, dafür genutzt werden. Aber es gibt keine Länder auf der Welt, die bereit wären, sie aufzunehmen.“ (Netanjahu, 19.3.24)

Dieses einfache Sender-Receiver-Modell für Gazawi (Israel → other countries of the world) ist der Lösungsvorschlag der israelischen Regierung für das Palästinenserproblem in Gaza. Das hat den Referenten nicht überzeugt, weshalb wir uns die Frage erlauben, was an dem Zitat von Netanjahu im GegenStandpunkt überzeugender ist? Die Person des Absenders kann es jedenfalls nicht sein, da sie ein und dieselbe ist.

Der Referent weiß natürlich, dass es solche Äußerungen von so ziemlich allen Regierungsmitgliedern in Israel gibt, und ist auch darauf eingegangen. Nach seiner Auffassung handelt es sich dabei um eine Fraktion der israelischen Politik, um Kräfte, die da irgendwo unterwegs seien. Nur stellen diese Kräfte eben die Regierung. Was er damit nachvollzieht, ist die Trennung der ethnischen Vertreibung vom israelischen Staat, die Israel spätestens seit 1967 praktiziert: Der israelische Staat überlässt den Teil seines Staatsprogramms den Siedlern, die im Schutz seines Besatzungsregimes die Landnahme vorantreiben. Das sind also keine „Fraktionen“ oder „Kräfte“, sondern private Aktivisten des israelischen Staates, die unter seinem Schutz sein Staatsprogramm exekutieren und in der zionistischen Diaspora für ständigen Siedlernachschub werben. Landnahme braucht nämlich Leute, die sie exekutieren, welche zu einem größeren Teil in der Diaspora rekrutiert werden. Die Siedler als etwas von Israel Getrenntes zu betrachten, affirmiert die Praxis ethnischer Vertreibung, wie sie der israelische Staat organisiert und verstanden haben will.

4. Über Israels Souveränität

Das alles findet der Referent nach eigener Aussage in Gaza nicht vor. Dort soll es nur um eine reine Terrorvernichtungsaktion gehen, um die Herstellung der Souveränität Israels, die durch die Hamas herausgefordert worden ist. Er begreift (im Gegensatz zum vorigen Abschnitt) die Terrorvernichtungsaktion als etwas vom israelischen Staatsprogramm verschiedenes und streicht damit das Kriterium durch, entlang dessen Staaten Terroristen identifizieren. Es ist eben ihre Rechtslage, es sind ihre Zwecke, die Gewalt als unrechtmäßig und damit terroristisch erscheinen lassen, d.h. es ist das Verhältnis des Inhalts der sich gewaltsam äußernden Bewegung zum geltenden Recht bzw. den Zwecken des jeweiligen Staates. Erkennt der Staat keinerlei erlaubter Betätigung würdiges Interesse in der Gewalt gegen sich (wie im Fall eines palästinensischen Staatswillens), schließt er auf Unrechtmäßigkeit bzw. Terrorismus. Davon sieht der Referent programmatisch ab, wenn er über Souveränität an sich redet; er abstrahiert damit von allem, was den Inhalt israelischer Souveränität ausmacht.

Die Kritiker seiner Totalabstraktion identifiziert er mit einer Verschwörungstheorie. Sie würden behaupten, es ginge bei der Terrorvernichtungsaktion eigentlich um ethnische Vertreibung. Er unterstellt ihnen also die Abstraktion vom israelischen Kriegsziel, die Hamas zu vernichten. Die Kritik an ihm ist aber, dass er verkennt, dass die Terrorvernichtungsaktion die Exekution des israelischen Staatsprogramms (und damit ethnische Vertreibung) ist. Die Terrordefinition und Vernichtung ist vom israelischen Staatsprogramm nicht zu trennen, und das erklärt eben einen großen Teil des Vorgehens der IDF in Gaza. Für den Referenten ist das zionistische Programm und seine Umsetzung dagegen nur ein von der Erklärung getrenntes Add-on, das nicht vergessen werden sollte, weshalb es am Ende des Gesprächs auch noch vorkommt. Diese Trennung macht uns in Bezug auf den Erklärungswert seiner Ausführungen misstrauisch, und wenn diese zu den „heiligen Kühen“ gehört, die er schlachten wollte, dann bleiben wir lieber ihre Hirten.

5. Über die Idee des Referenten von der israelischen Terrorvernichtungsaktion

Der Referent steht dann vor dem theoretischen Problem, irgendwie das Vorgehen der IDF gegen alle Bewohner Gazas, das Aushungern der Gazawi usw. aus seiner Vorstellung der Terrorvernichtungsaktion abzuleiten. Wir haben das Problem nicht, weil sich das Vorhaben aus dem israelischen Staatsprogramm ergibt, das in Gaza durchgesetzt wird, wollen seine Idee aber dennoch würdigen.

Zutreffend stellt er fest, dass sich die Hamas durch ihre Herrschaft über den Gazastreifen eine soziale Basis geschaffen hat und sich damit von einer Terrororganisation, die z.B. auf der sozialen Basis eines von ihr bekämpften Staates operiert, unterscheidet. Im letzten Fall sind die Bürger des Staates keine oder nur sehr bedingt soziale Basis der Terrorgruppe. Nach Auffassung des Referenten nimmt der israelische Staat die Bevölkerung Gazas als soziale Basis des alternativen Staatswillens, repräsentiert durch die Hamas, wahr. Daher schließt er sie in seinen Vernichtungszweck ein, um auszuschließen, dass ein Standpunkt, wie die Hamas ihn vertritt, jemals noch gegen ihn antreten könne. Das wollen wir ihm überhaupt nicht bestreiten, da genau das der Zweck ist, der dem israelischen Staatsprogramm entspricht, da Israel die Terrordefinition ja genau aus diesem ableitet. Alle Gazawi sind Terroristen, so das israelische Verdikt. Als Herrschaft (Hamas) repräsentieren sie aus israelischer Perspektive einen terroristischen Willen, und als soziale Basis sind sie der terroristische Sumpf, der sich nicht austrocknen lässt, ohne dass man sich ihrer entledigt.

Widersprechen müssen wir dem Referenten darin, dass das, im Gegensatz zu unseren Ausführungen, die Erklärung des israelischen Vorgehens in Gaza sei. Nein, er führt nur aus, wie dem zionistischen Staat sein Programm an den Gazawi erscheint. Die Praxis der Niederhaltung und Blockade der Gazawi sorgt für diese Perspektive des israelischen Staates. Somit überzeugt der israelische Staat sich durch seine eigenen Werke davon, dass ein palästinensischer Staat bzw. eine Nachbarschaft mit den Palästinensern in Palästina ein Ding der Unmöglichkeit ist. Er beschließt, dass die dort ansässige Bevölkerung als sein Staatsvolk ungeeignet ist. Er sperrt sie ein, weil und solange ihre Vertreibung für ihn politisch nicht opportun ist, und sie organisiert eine Gegengewalt gegen ihn, die sein Unverträglichkeitsurteil mit diesem aus seiner Sicht falschen Volk auf der Ebene direkter gewaltsamer Konfrontation reproduziert. Es ist also nur eine Verwandlung und Eskalation des zionistischen Staatsprogramms, die der Referent beschreibt.

6. Über Israels Schranken

Der Referent zum Sechstagekrieg:

[Den Sinai] hat es im Handstreich in diesem berühmten Sechstagekrieg besetzt, und dann hat es frei seinen eigenen Entscheidungen folgend entschieden, das braucht’s nicht, damit kaufe ich den Ägyptern die Anerkennung ihrer totalen Unterlegenheit uns oder ja Israel gegenüber ab und bewege sie zur offiziellen Aufgabe jeder feindlichen Ambition. Derselben Logik folgend die Behandlung des Gazastreifens.“

Den Sinai hat es gebraucht – eben dazu, Ägypten zum Friedensschluss (12 Jahre später) zu erpressen. Es ist kein Beweis besonderer Souveränität, wenn Israel sich dagegen entscheidet, den Sinai als Siedlungsgebiet zu nutzen. Die einzige Sache, die man feststellen kann, ist, dass wenn in Folge eines Krieges ein Staat das Territorium eines anderen besetzt, dieser gegen den unterlegenen Staat Souveränität über das besetzte Territorium ausübt. Israel war schon kurz nach dem Sechstagekrieg klar, dass es nicht in der Lage ist, eine Annexion des Sinai (und des Golan) durchzusetzen. Ägypten hat auch nicht seine totale Unterlegenheit anerkannt, sondern es hat mit dem Friedensschluss Israel anerkannt – ein Tauschgeschäft, das Israel unmittelbar nach dem Krieg Ägypten und Syrien (Golan) angeboten hat und das von Ägypten 12 Jahre später angenommen worden ist, was wesentlich auf den Blockwechsel Ägyptens zurückzuführen ist (von der SU zu den USA). Dass der Gazastreifen derselben Logik folge, ist falsch. Mit seiner Aufgabe (an die PLO!?) hätte Israel überhaupt nichts für sein Staatsprogramm tun können, weshalb es ihn auch nicht aufgegeben, sondern angefangen hat, ihn genau wie die Westbank zu kolonisieren und dort Siedlungen zu errichten.

Was auch überhaupt nicht stimmt, ist, dass Israel sich zum Sinai, dem Gazastreifen usw. „frei seinen Entscheidungen folgend“ verhalten würde. Und der Referent meint hier „frei“ im Sinne von unbeschränkt. Das kann kaum ein Staat, und Israel schon 3x nicht. Den Artikeln im GegenStandpunkt kann er entnehmen, dass Israel der (wahrscheinlich) einzige Staat der Welt ist, über dessen (beanspruchtes) Staatsterritorium es eine äußere, internationale Rechtslage gibt, die von den maßgeblichen Staaten der Welt getragen wird (die UN-Resolutionen, in denen festgeschrieben wird, dass das Mandatsgebiet in einen arabischen und einen jüdischen Staat aufzuteilen ist). Das sieht nicht wie eine besondere Unbeschränktheit, sondern wie eine zusätzliche Beschränkung aus, mit der Israel umzugehen hat.

Diese Beschränkung sorgt dafür, dass jeder größere Konflikt, den Israel im Zuge der Durchsetzung seines Landnahmeprogramms eingeht, nahezu umgehend im Weltsicherheitsrat landet und so das Interesse der sich dazu berufen fühlenden Staaten der Welt auf sich zieht. Das Vorgehen Myanmars gegen die Rohingya zieht bei weitem nicht das gleiche Interesse der Staatenwelt auf sich, wie der jetzige oder die vorangegangenen Gaza-Kriege. Das liegt eben daran, dass der Umstand, dass es da einen äußeren Rechtsstandpunkt gibt, die Regelungskompetenz der Staaten herausfordert, die sich als Sachwalter dieses Rechts auffassen.

Israel ist ohne Zweifel eine Regionalmacht, aber den Staaten, die gegen die von Israel geschaffene Tatsache, dass es inzwischen das ganze ehemalige Mandatsgebiet beherrscht, den Rechtsstandpunkt hochhalten, dass es einen Palästinenserstaat geben muss, reicht es weder ökonomisch noch militärisch das Wasser, und das heißt nichts anderes, als dass diese seine Souveränität beschränken. Sie lassen die Vertreibung der Palästinenser einfach nicht umstandslos zu und unterhalten zusätzlich noch das UNRWA, das dafür sorgt, dass die menschliche Basis eines Palästinenserstaates innerhalb und außerhalb des Mandatsgebietes erhalten wird. Israels militärische Kampagnen unterwerfen sie ihrem Vorbehalt, gestehen Israel Titel zu, unter denen es vorgehen darf (Terrorbekämpfung), und messen es gleichzeitig an ihrer Auffassung von Terror, die eben von der israelischen abweicht, da sie die Gazawi nicht mit einem Terrorsumpf gleichsetzen, sondern unter ihnen auch „unschuldige Zivilisten“ ausmachen können, die das Material ihres Standpunkts sind, dass es irgendwann mal einen palästinensischen Staat geben sollte. Daraus ergibt sich dann wieder ihre Mahnung an Israel, sich doch an die Terrorbekämpfung gemäß ihrer Lizenz zu halten.

Umgekehrt muss sich Israel mit einem großen Teil der Staaten ins Benehmen setzen, die anlässlich seiner Expeditionen gegen die Palästinenser und auch bezüglich des Umgangs mit ihnen zwischen seinen Feldzügen Regelungsbedarf anmelden, wann immer sie eine bedenkliche Lage der Palästinenser ausmachen, da es ihr Geschöpf ist: Israel braucht seine Garantiemächte (USA, Deutschland, ...), um seine Staatlichkeit überhaupt in der feindlichen Umgebung, die es durch sein Siedlungsprogramm geschaffen hat, durchsetzen und behaupten zu können.

All die oben genannten Rücksichten, die Israel zu nehmen hat, sorgen dann für das Erscheinungsbild, welches das zionistische Kolonisierungsprojekt abgibt. Israel trennt die Landnahme von sich ab und überlässt sie den Siedlern, schafft Rechtslagen mit Rücksicht auf das Völkerrecht, das, wann immer es seine Garantiemächte für nötig halten, gegen Israel in Anschlag gebracht wird, betreibt Lobbyarbeit in den entsprechenden Staaten, versucht ihre Öffentlichkeit zu beeinflussen, pflegt seine Diaspora und widersetzt sich den Forderungen sowohl seiner Verbündeten als auch der in der UN versammelten Staatenwelt, so gut es das kann.

7. Über Israels Freiheiten

Dabei fällt auf, dass sich Israel in seiner Widerständigkeit oft erfolgreich auch gegen die USA behaupten kann und sich nicht in seinem – schon auf deren Reaktion zugeschnittenen – Vorgehen gegen die Palästinenser beschränken lässt. Der Zuschnitt besteht dabei im durch die Gestaltung des Vorgehens gemachten Angebot an seine Garantiemächte, die israelische Rücksichtslosigkeit gegen die Palästinenser doch als Entsprechung zu ihrem Rechtsstandpunkt zu interpretieren. So werden die Gazawi nicht direkt vertrieben, sondern durch die vollständige Zerstörung ihrer Lebensgrundlage wird Israels Programm, sie nicht mehr in Gaza haben zu wollen, als Teil des von seinen Garantiemächten abgesegneten Antiterrorkampfes umgesetzt. Israels Widerstand gegen die Beschränkung, die seine Verbündeten ihm auferlegen wollen, findet dann im Streit darum statt, ob wirklich alle Zerstörungen und Opfer, die Israel als Teil seines ethnischen Vertreibungsprogramms in Gaza verursacht, auch zur Bekämpfung der Hamas notwendig seien. Es beharrt auf der militärischen Notwendigkeit der Zerstörungen, wahrt so den Schein, ihnen zu entsprechen, und eröffnet seinen Verbündeten die Kalkulation, wie viel ihnen denn die Einhegung israelischer Intransigenz und Rücksichtslosigkeit gegen die Palästinenser wert ist.

Auf der Habenseite kann Israel bei dieser Wertermittlung gegenüber seinen Verbündeten seinen Status als ‚major non-NATO ally‘ verbuchen. Diesen Status verleihen die USA jenen Staaten, die sie in ihr Aufsichtsregime über die Staatenwelt als mehr oder weniger zu NATO-Verbündeten gleichgestellte Staaten einbinden. Das entschränkt und privilegiert Israel gegenüber den Staaten der Region. Es handelt daher nicht nur kraft eigener Machtvollkommenheit, sondern kann sich dabei auf sein besonderes Bündnis mit den USA in Sachen Beaufsichtigung der Staatenwelt berufen, das ihm Zugang zu militärischen Spitzenprodukten der US-Rüstungsindustrie verschafft, die israelischen Rüstungsfirmen berechtigt, sich an militärischen Ausschreibungen der USA zu beteiligen, und Israel berechtigt, an militärischen Kampagnen der USA teilzunehmen. Es ist also nicht nur eine rechtliche Einbindung in die US-Weltaufsicht, die mit diesem Status verbunden ist, sondern Israel wird damit sowohl militärisch als auch ökonomisch in die US-Weltherrschaft integriert.

Das ist das Pfund, mit dem Israel wuchern kann und das die Grundlage abgibt, auf der sich die USA zu den israelischen Kampagnen zur Durchsetzung seiner völkischen Staatsräson stellen. Das verdeutlicht, was die USA aufs Spiel setzen, wenn sie, wie von den Protesten gefordert, ihre Waffenlieferungen an Israel einstellen oder zurückhalten, weshalb das nie ohne Weiteres – schon gar nicht vollständig und meistens eher symbolisch – stattfindet und Israels zionistische Brandrodung des Gazastreifens von den USA zunächst mit einer Lizenz zur Terrorvernichtung begleitet und von einem Aufmarsch im Nahen Osten flankiert worden ist.

Die USA (und ihre Verbündeten) haben dabei das Dilemma, dass ihr Verbündeter mit seinem Programm ethnischer Vertreibung und militärischer Vorwärtsverteidigung nach Lesart der Staatenwelt gegen das verstößt, was nach ihrer Interpretation des Völkerrechts zwischen Staaten stattfinden sollte. Diese Ausnahme vom Völkerrecht, die Israel für sich beansprucht, ist eine Belastung für die US-Weltaufsicht, die Israels Vorgehen daher bei allen seinen Kampagnen, wo nötig, um eine moralische – jedenfalls nie substanzielle – Kampagne für seine Opfer ergänzt, um so imperialistische Verwerfungen in der Region und weltweit zu moderieren.

Antwort der Redaktion

1.

Die Zuschrift referiert, dass und inwiefern der Überfall der Hamas-Kämpfer im Oktober 2023 „alles in allem ein Terroranschlag“ war, „wie er im Buche steht“. Dass damit auch schon der notwendige und hinreichende Grund für Israels Antiterrorkrieg ermittelt ist, will sie so nicht gelten lassen. Sie bringt eine „politische Konnotation“ – nicht des Terrorakts und seiner blutigen Beantwortung, sondern – des Terrorismus-Vorwurfs zur Sprache, die auf dessen ideologische Bedeutung Wert legt und von dem Terror-Angriff, der immerhin „die Hoheit des israelischen Staates über seine Bürger demonstrativ außer Kraft“ setzt, nur die staatlich definierte „Unrechtmäßigkeit“ der damit verfolgten Absicht stehen lässt; später ist noch davon die Rede, dass der angegriffene Staat auf Terrorismus „schließt“, weil er „in der Gewalt gegen sich“ ein „keinerlei erlaubter Betätigung würdiges Interesse“ „erkennt“ – als wäre das für ihn noch eine offene Frage. Dass der Staat, und zwar jeder mit allen ihm verfügbaren Mitteln, auf „Gewalt gegen sich“ mit einer Vernichtungsaktion reagiert, schreiben die Kritiker in ihren ersten Überlegungen, ganz folgerichtig, nicht der extremen Herausforderung des Gewaltmonopolisten durch die Blamage seiner Hoheit zu, sondern einem aus rechtlicher und ideologischer staatlicher Zuschreibung „konstruierten Feindbild“.

Das halten wir – und so auch der kritisierte Referent – für eine verkehrte Interpretation der Tatsache, dass jeder Staat, und Israel in seinem permanenten stummen Kriegszustand schon gleich, Terror so nimmt, wie er gemeint ist – und von der Zuschrift ja auch verstanden wird –, und entsprechend beantwortet, nämlich mit einem Gewaltakt, der in seiner Größenordnung in einem kalkuliert überdimensionalen Verhältnis zu der Blamage seines Gewaltmonopols stehen muss, um wiederherzustellen und zu beglaubigen, was da angegriffen worden ist: in Gestalt seiner „Schutzbefohlenen“ sein Allerheiligstes, nämlich sein – unantastbares und jetzt doch „angetastetes“ – Monopol auf Gewalt. (Vorbild, das Israel freilich so wenig wie sonst irgendein Souverän nötig hat: der Afghanistan-Krieg der USA als Antwort auf den Al-Qaida-Anschlag von 9/11.)

2.

Die Erklärung staatlicher Terrorbekämpfung aus Kriminalisierung und ideologischer Ächtung eines gegnerischen Willens liest sich, auf Hamas und Gaza-Krieg angewandt, so: „Die Gewalt der Hamas ist aus israelischer Perspektive auch ohne den Überfall vom 07.10.2023 grundsätzlich unrechtmäßig ...“ – ein seltsamer Einstieg in die Erklärung des israelischen Kriegs per Abstraktion von seinem Gegenstand. Aber darum geht es der Zuschrift eben: um die „israelische Perspektive“, die im Generalurteil über einen Staatswillen besteht, „der den israelischen Anspruch auf (wenigstens) ganz Palästina als sein Staatsgebiet ausschließt“. Dementsprechend ist „die Terrrorvernichtungsaktion nichts weiter als die Exekution dieses Programms, Kontrolle über den von der Hamas kontrollierten Teil Palästinas herzustellen und ihn in das israelische Staatsgebiet aufzunehmen“. Ob der erklärte Wille der israelischen Regierung zur Eliminierung der Hamas, koste es was es wolle, mit „Kontrolle herstellen“ nicht etwas bescheiden und mit „in das israelische Staatsgebiet aufnehmen“ nicht etwas zu konstruktiv bestimmt ist, mag dahingestellt bleiben. Mit ihrem betonten „nichts weiter als“ wollen die Autoren der Zuschrift erst einmal Einspruch einlegen gegen unser und das vom Referenten vertretene Urteil, dass der Gaza-Krieg in all seiner Brutalität der Normalfall staatlicher Souveränität ist, die ihre Infragestellung durch Gegengewalt mit dem härtesten verfügbaren Gegenbeweis der Überlegenheit ihrer Gewalt beantwortet; einem Souveränitätsbeweis, der von besonderen politischen Zwecken nicht nur ideologisch nichts wissen will, sondern praktisch alles auf sich bezieht. Für Israel will die Zuschrift das nicht gelten lassen, so als wäre damit die prinzipielle und konjunkturgerecht fortgeschriebene Unvereinbarkeitserklärung des immer noch in Gründung befindlichen israelischen Staates mit einem palästinensischen Staatswillen in Abrede gestellt; dieser Unvereinbarkeitsbeschluss darf nicht als „Add-on“ zu Israels Krieg als Souveränitätsbeweis gedacht werden, so als würden wir Israel und sein Wüten im Gazastreifen mit dem Argument der Souveränität, die sich nichts gefallen lässt, nicht kritisieren, sondern ausgerechnet seine mörderische Normalität zugute halten.

3.

Die Autoren der Zuschrift wollen die Behandlung der Hamas als Terrortruppe jedenfalls als Resultat einer Zuschreibung durch Israel verstehen, die aus dem Wesen des israelischen Staatsprogramms, nämlich „ethnische Vertreibung“ zwecks Landnahme und Besiedlung, folgt. Insofern fallen nicht nur die Hamas-Kämpfer, sondern die gesamte ortsansässige Bevölkerung unter Israels Terror-Definition – „Alle Gazawi sind Terroristen, so das israelische Verdikt“ –; woraus eben folgt oder was man daran sieht, dass „die Terrorvernichtungsaktion die Exekution des israelischen Staatsprogramms (und damit ethnische Vertreibung) ist. Die Ableitung begnügt sich nicht mit der Klarstellung, über die man sich mit dem Referenten beinahe einig geworden wäre: dass Israel die von der Hamas regierten Gaza-Bewohner für den Terrorakt der Hamas haftbar macht und mit seinem rücksichtslosen Krieg den palästinensischen Staatswillen niedermacht: „Nach Auffassung des Referenten nimmt der israelische Staat die Bevölkerung Gazas als soziale Basis des alternativen Staatswillens, repräsentiert durch die Hamas, wahr... Das wollen wir ihm überhaupt nicht bestreiten.“ Was die Zuschrift aber unbedingt will, das ist der Rückschluss auf das „zionistische Kolonisierungsprogramm“, nämlich Landnahme und Vertreibung als die politische Natur des israelischen Staates und als wahren Zweck des Gaza-Krieges. Sie wehrt sich gegen die Feststellung des Referenten, in dieser Sicht der Dinge ginge es „bei der Terrorvernichtungsaktion eigentlich um ethnische Vertreibung“, weil das doch – so die Zuschrift – heißen würde, es gäbe eine Differenz zwischen dem Zweck des Gaza-Kriegs und dem Staatszweck der „ethnischen Vertreibung“.

Man könnte zur Klärung der Sache wie der Kontroverse daran erinnern, dass das israelische Staatsprogramm in seinen negativen Konsequenzen nicht aufgeht, die Betroffenheit der palästinensischen Opfer nicht auch schon der Begriff der Macht ist, die sie drangsaliert. Schon der Zionismus der ersten Stunde hatte nicht die Vertreibung ortsansässiger Araber aus dem britischen Mandatsgebiet zum Inhalt, sondern die Neugründung eines kompletten – der damals populären Idee nach: sozialistischen – Volksstaats, der der jüdischen Diaspora zum Status einer normalen Nation verhelfen sollte; nach der elenden Logik: Einen Staat wie die etablierten Mächte, unter deren völkisch umschriebenem Gewaltmonopol wir so ungerecht und unversöhnlich diskriminiert und ausgegrenzt werden, genau so einen Staat – natürlich viel edler und gerechter – brauchen und wollen wir auch. Und natürlich ist ein solcher Staat ohne Diskriminierung und Verdrängung „der anderen“ nicht zu haben; schon gar nicht, wenn ihm nicht von Beginn an durch eine wehrhafte andere Staatsmacht strikte Grenzen gesetzt sind. Der sagenhafte Erfolg dieses Gründungsprojekts begründet zudem längst ganz andere Staatszwecke: die einer militärisch monströsen kapitalistischen Demokratie, die sich in vielen Hinsichten, insbesondere solchen strategischer Art, zu klein findet; dahin hat es der Zionismus in seiner modernen Fassung gebracht.

Aber das steht ja schon in der gebührenden Kürze in unseren diversen Artikeln. Für die Autoren der Zuschrift ist das alles nur eine unzulässige Ablenkung von der Identität von israelischem Staat und ethnischer Vertreibung, wie sie in ihrer Sicht aus der zynischen Bemerkung Netanjahus zur Freiheit der Gazawi spricht, wohin auch immer auszuwandern: Das sei doch klar und deutlich „der Lösungsvorschlag der israelischen Regierung für das Palästinenserproblem in Gaza“.

4.

Unzulässig ist jede Unterscheidung zwischen Israels Staatszwecken und der Vertreibung der Palästinenser den Autoren zufolge deswegen, und das ist nun schon ganz bemerkenswert, weil Israel selbst diese Unterscheidung vornimmt:

„Was [der Referent] damit nachvollzieht, ist die Trennungder ethnischen Vertreibung vom israelischen Staat, die Israel spätestens seit 1967 praktiziert: Der israelische Staat überlässt den Teil seines Staatsprogramms den Siedlern, die im Schutz seines Besatzungsregimes die Landnahme vorantreiben. Das sind also keine ‚Fraktionen‘ oder ‚Kräfte‘, sondern private Aktivisten des israelischen Staates, die unter seinem Schutz sein Staatsprogramm exekutieren.“

Mit seinem Besatzungsregime macht der Staat den Westbank-Bewohnern durch Ausbeutung und den Ausschluss davon, durch Benutzung autonomer Behörden für die Schikanierung der Ortsansässigen und Schikanierung dieser Verwaltungsbehörden selbst, durch Aussperrung und willkürliches Einsperren, durch lokale Antiterrormaßnahmen und Mauerbau und so weiter ein halbwegs normales Überleben unmöglich. Ob das, worin er die Siedler in ihrem Fanatismus nicht nur gewähren lässt, sondern unterstützt, noch privater Aktivismus ist; ob er andererseits diesen Initiativen „überlässt“, was nach Auffassung der Kritiker immerhin den Kernbestand seiner Souveränität ausmacht? Zur Sache wäre jedenfalls wieder – mit Verweis auf unsere Artikel – anzumerken, dass in Israel zwei Staats-„Doktrinen“ aufeinanderstoßen, die einander in fundamentaler Gegnerschaft verbunden sind: der Standpunkt der noch unfertigen Staatsgründung, ebenso borniert wie offensiv verfochten von einer staatlich lizenzierten, unterstützten, teilweise freilich auch kontrollierten und gelegentlich gewaltsam zurechtgestutzten Siedler-Bewegung, aber auch sonst sehr präsent, und die Räson des den Kapital- und Militär-Standort Israel tragenden bürgerlichen Gemeinwesens mit seinen Großmacht-Ansprüchen: ein sehr realer Widerspruch der israelischen Staatsräson. Von einem solchen Widerspruch wollen die Autoren der Zuschrift nichts wissen. Für sie ist die Kolonisierung ganz Palästinas und dabei nicht einmal deren weitreichender strategischer Zweck, der den nationalen Widerspruch zusammenhält, sondern allein dessen verheerende Wirkung auf die palästinensische Bevölkerung, interpretiert als Vertreibung, die einzige und ganze Wahrheit über Israels Daseinszweck. Dass der israelische Souverän sein Weiß-Warum im praktischen Vollzug von sich abtrennt, finden die Kritiker selber ein wenig widersprüchlich; aber ebendas hat für sie seinen Sinn und Zweck: Dadurch, dass er nicht selbst vollstreckt, wofür er da ist, betreibt er genau das umso nachhaltiger. Weshalb man umso weniger darauf hereinfallen darf: „Die Siedler als etwas von Israel Getrenntes zu betrachten affirmiert die Praxis ethnischer Vertreibung, wie sie der israelische Staat organisiert und verstanden haben will“, nämlich eben als von ihm abtrennbar.

5.

Mit einer Verleugnung des Staatszwecks durch Outsourcing an Privatleute ist es zwar nicht weit her, wenn die Regierung – zwar nicht die Vertreibung, wohl aber – eine auf Dauer angelegte Diskriminierung nicht-jüdischer Einwohner gesetzlich verankert und, wie die Zuschrift betont, nicht nur „Fraktionen“ und rechtsradikal-siedlerfreundliche Minister Vertreibung laut und offen als ihr Vorhaben verkünden. Das spielt für die Autoren aber keine Rolle. Sie widmen sich der Lösung des Rätsels, das sie sich mit der These von der staatsoffiziell praktizierten Trennung des Untrennbaren – Staatszweck und Palästinenser-Verjagen – einhandeln: Warum macht Israel das? Die Zuschrift sucht nach einem stichhaltigen Grund für das von ihr diagnostizierte israelische Quidproquo. Dazu entwickelt sie eine Theorie der existenziellen Abhängigkeit des Staates von Mächten, die dem Land seinen Lebenszweck nicht zugestehen – zumindest nicht offiziell: Es kann nicht und darf nicht, wofür es da ist. Dass Israel im Namen seines unzweifelhaften Existenzrechts alle Bedenken von wem auch immer gegen seine Politik souverän und offensiv abzuschmettern pflegt – wie der Referent offenbar angemerkt hat –, ist den Autoren bewusst. Umso mehr Mühe geben sie sich, das wasserdichte Bild eines ziemlich machtlosen und sehr abhängigen Staates zu zeichnen:

„Israel ist ohne Zweifel eine Regionalmacht, aber den Staaten, die gegen die von Israel geschaffene Tatsache, dass es inzwischen das ganze ehemalige Mandatsgebiet beherrscht, den Rechtsstandpunkt hochhalten, dass es einen Palästinenserstaat geben muss, reicht es weder ökonomisch noch militärisch das Wasser, und das heißt nichts anderes, als dass diese seine Souveränität beschränken. Sie lassen die Vertreibung der Palästinenser einfach nicht umstandslos zu und unterhalten zusätzlich noch das UNRWA, das dafür sorgt, dass die menschliche Basis eines Palästinenserstaates innerhalb und außerhalb des Mandatsgebietes erhalten wird.“ Usw. Deswegen kommt Israel nicht umhin, sich „mit einem großen Teil der Staaten ins Benehmen zu setzen, die anlässlich seiner Expeditionen gegen die Palästinenser und auch bezüglich des Umgangs mit ihnen zwischen seinen Feldzügen Regelungsbedarf anmelden, wann immer sie eine bedenkliche Lage der Palästinenser ausmachen, da es ihr Geschöpf ist“. Folglich „trennt Israel die Landnahme von sich ab und überlässt sie den Siedlern, schafft Rechtslagen mit Rücksicht auf das Völkerrecht, das, wann immer es seine Garantiemächte für nötig halten, gegen Israel in Anschlag gebracht wird“ usw. „Dabei fällt“ den Autoren der Zuschrift selber „auf, dass sich Israel in seiner Widerständigkeit oft erfolgreich auch gegen die USA behaupten kann und sich nicht in seinem – schon auf deren Reaktion zugeschnittenen – Vorgehen gegen die Palästinenser beschränken lässt.“ Seinen Vertreibungskrieg gegen die Gazawi führt es trotzdem berechnend so, als ginge es gar nicht darum, sondern unter dem Vorwand legitimer Terrorbekämpfung: „So werden die Gazawi nicht direkt vertrieben, sondern durch die vollständige Zerstörung ihrer Lebensgrundlage wird Israels Programm, sie nicht mehr in Gaza haben zu wollen, als Teil des von seinen Garantiemächten abgesegneten Antiterrorkampfes umgesetzt.“

Dass die großen Schutzmächte Israels auf solche Scheinmanöver ihres Schützlings hereinfallen, glaubt die Zuschrift selber nicht; dass sie die aber brauchen, um Israel weiter zu unterstützen, meint sie schon. Deswegen bietet Israel ihnen seinen Etikettenschwindel als Verfahren an, ihre von Israel kolonialistisch ausgenutzten imperialistischen Interessen so zu verfolgen, dass sie sich nicht mit Israels Lebenszweck solidarisieren müssen: Indem es „den Schein“ der Respektierung aller Bedenken „wahrt, ... eröffnet es seinen Verbündeten die Kalkulation, wie viel ihnen die Einhegung israelischer Intransigenz und Rücksichtslosigkeit gegen die Palästinenser wert ist.“ Darauf haben die Weltmacht und Deutschland nicht nur gewartet, dafür bedanken sie sich mit Israels Integration „sowohl militärisch als auch ökonomisch in die US-Weltherrschaft“. Zum Dank dafür stürzt Israel sie am Ende dann doch in

„das Dilemma, dass ihr Verbündeter mit seinem Programm ethnischer Vertreibung und militärischer Vorwärtsverteidigung nach Lesart der Staatenwelt gegen das verstößt, was nach ihrer Interpretation des Völkerrechts zwischen Staaten stattfinden sollte. Diese Ausnahme vom Völkerrecht, die Israel für sich beansprucht, ist eine Belastung für die US-Weltaufsicht, die Israels Vorgehen daher bei allen seinen Kampagnen wo nötig um eine moralische – jedenfalls nie substanzielle – Kampagne für seine Opfer ergänzt, um so imperialistische Verwerfungen in der Region und weltweit zu moderieren.“

Die Autoren der Zuschrift geben sich wirklich sehr viel Mühe, nicht nur Israels militanten Regionalmacht-Imperialismus, sondern gleich die Welt- und Nahost-Politik der Weltmacht Amerika unter ihr Problem zu subsumieren, dass sich die „ethnische Vertreibung“, die sie als den Begriff der israelischen Staatsräson identifiziert haben, in der Art und Weise, wie der Staat seinen Existenzgrund exekutiert, immer nur verleugnet auffinden lässt. Allen Ernstes attestieren sie als radikale Kritiker des israelischen Zionismus und des westlichen Imperialismus dem Staat Israel und seinen westlichen Sponsoren den niedlichen Charakter von Moralisten, die wirklich Probleme mit ihrem guten Ruf haben, deswegen Anhaltspunkte für ihre diplomatische Heuchelei brauchen und danach ihre Kalkulationen mit Krieg und Bündnissen einrichten.

*

Dass Israel so nicht funktioniert und der Imperialismus der USA schon gleich nicht, ist die eine Sache; wie stattdessen, der Erklärung haben wir etliche Artikel gewidmet; jetzt auch noch in der vorliegenden Nummer. Was in der Hinsicht mittlerweile aus Israels Gaza-Krieg folgt, geht von der hier rekapitulierten und kritisierten Kontroverse weg und über den zuletzt festgehaltenen Status quo hinaus. Deswegen abschließend noch ein paar Anmerkungen dazu.

6.

Der mittlerweile fast ein Jahr andauernde Krieg gegen die Hamas ist schon seit längerem nicht mehr das, als was er angefangen hat: eine Vernichtungsaktion gegen die Urheber eines massiven Terrorakts; der planmäßig überdimensionierte Machtbeweis der Schutzherrschaft des jüdischen Volkes. In seiner ersten Phase gab es noch einen Austausch palästinensischer Gefängnisinsassen gegen Geiseln; eine Aktion, die eine gewisse Ambivalenz des staatlichen Anspruchs auf alleinige, absolute Hoheit über das Leben einheimischer Bürger zum Vorschein bringt: Die unbedingte Notwendigkeit, die beabsichtigte Blamage eines nicht abgewendeten feindlichen Übergriffs aufs eigene Gewaltmonopol durch demonstrativ rücksichtslosen Gegenterror quasi ungeschehen zu machen, so die Unanfechtbarkeit der wirkungsvoll angefochtenen Souveränität wiederherzustellen, konkurriert da mit dem Standpunkt der höchsten Gewalt, sich in den eigenen Bürgern angegriffen zu sehen, und dem selbsterteilten Auftrag zum ad personam geführten Beweis der Exklusivität ihrer Verfügungsmacht über das Leben in ihrem Land. Schon dieser Deal war höchst umstritten und musste ausgeglichen werden durch entsprechend härtere Schläge gegen die Manövriermasse des feindlichen Quasi-Staatswesens; aber er hat stattgefunden.

Von so etwas kann schon längst keine Rede mehr sein. Der Grund wird von der israelischen Führung nicht nur täglich benannt; es ist auch schnell immer deutlicher geworden, wie wörtlich er gemeint ist: Unterhalb der vollständigen Eliminierung des feindlichen Staatswillens, für den die Hamas steht und den sie im Gazastreifen ansatzweise realisiert, geht gar nichts. Und das ist nicht, wie man es aus der Welt verfeindeter Machthaber oft genug hört, die moralisch überschießende Beteuerung einer Militanz, die nach Lage der Dinge irgendwann dann doch einer – womöglich erzwungenen – Kompromissbereitschaft Platz macht, sondern das bis zum Letzten durchzuführende Programm; durchzuführen gegen alle Bedenken der Befehlshaber des damit beauftragten militärischen Gewaltapparats, ob und wie allenfalls so etwas in der befohlenen Totalität überhaupt zu machen wäre. Dazu passt die Weigerung der politischen Führung, deren Unerbittlichkeit mit jeder Kriegswoche an Gewicht gewinnt: die Weigerung, auch nur anzudeuten, wie der angestrebte Sieg über die Hamas und so etwas wie ein Kriegsende, geschweige denn eine praktikable Nachkriegsordnung allenfalls aussehen könnten. Selbst für eine bedingungslose Kapitulation müsste es ja noch ein zur Kapitulation fähiges Subjekt geben; das darf die Hamas auf keinen Fall sein – die soll am Ende ja gar nicht mehr existieren –, und eine ersatzweise agierende, irgendwie staatsähnliche Autorität im Gazastreifen genauso wenig. Darüber hinaus hat Israel weitere Fronten eröffnet, proaktiv oder reaktiv, aber auf jeden Fall mit der praktischen Absage an jede Möglichkeit, mit den Verbündeten und Sponsoren des radikalen palästinensischen Staatswillens ringsherum anders als in der Weise eines fortwährend mit militärischen Schlägen wahr gemachten Unvereinbarkeitsbeschlusses zu verkehren. Diese Fronten zielen im Wesentlichen, über die provozierend hartnäckige Gegenwehr militanter Palästinenser hinaus, auf den großen Feindstaat Iran, der auch schon direkt, immerhin mit einem gar nicht anonymen Terrorakt in seiner Hauptstadt, in Israels Kriegsszenario einbezogen wird. Der politische Wille, den der Staat so militant unter Beweis stellt, hat ein todernst gemeintes „ein für allemal!“ zum Inhalt: Israel will erst dann so sicher sein, wie es ihm als Staat überhaupt und als Souverän über die Juden der Welt im Besonderen zusteht, wenn es unwiderruflich und restlos sämtlichen wirklichen und mutmaßlichen Feinden jede bedrohliche Fähigkeit genommen hat, ihm militärisch zu schaden, und kein Kriegswille gegen seine Vor- und Übermacht sich mehr regt.

Dieser Fortschritt in der Härte und Reichweite der israelischen Entschlossenheit zum endgültigen umfassenden Antiterrorkrieg spiegelt sich in der Intervention des großen Verbündeten wider, ohne den das Ganze am Ende doch auf die Dimensionen eines regionalen subimperialistischen Dauerkriegsprogramms zurückfallen würde. Die anfänglichen Warnungen der Weltmacht vor einem „Flächenbrand“ richteten sich in erster Linie an alle Gegner Israels; der gewaltige Militäraufmarsch in der Region diente der Abschreckung von eigenmächtigen Eingriffen ins Kriegsgeschehen, leistete so die strategische Ermächtigung Israels zu seiner Kriegführung, zu der Amerika zugleich in großem Stil Waffen geliefert hat und liefert. Inzwischen hat die zweite, von Anfang an auch nicht überhörte Bedeutung der „Flächenbrand“-Warnung aus Washington zunehmend an Gewicht gewonnen: Die USA warnen nicht zum Schein die israelische Regierung vor eigenmächtiger Ausdehnung ihres Kriegsschauplatzes. Das nicht mit der Warnung, Israel in einem solchen, erst noch zu definierenden Fall alleinzulassen; vielmehr umgekehrt im Wissen, im Ernstfall von Israel in ein regionales und weit darüber hinaus reichendes Kriegsszenario verstrickt zu werden, das nicht auf dem Mist ihrer weltpolitischen Berechnungen und strategischen Vorkehrungen gewachsen ist. Gerade weil Israel sich ihrer uneingeschränkten Unterstützung sicher sein kann, sorgen die USA sich um Übergänge von solcher Art, dass nicht mehr sie in letzter Instanz Israels hochgerüstete Abhängigkeit für ihre Politik der zersetzenden Befriedung der arabisch-iranisch-muslimischen Welt ausnutzen, sondern der Verbündete sie mit ihrer Weltmacht und ihrem strategischen Kalkül für seinen totalitären Sicherheits-Imperialismus in Anspruch nimmt. Denn dessen Reichweite und Unerbittlichkeit stützen sich einerseits auf die eigene Atomwaffe, andererseits auf die Gewissheit, bei steigender Existenzgefahr umso sicherer die unbedingte Rückendeckung durch die USA abrufen zu können. Das verleiht dem israelischen Viel-Fronten-Krieg inzwischen Weltkriegsqualität.

PS:

Mit dem Siedler-Zionismus – um darauf nochmal zurückzublicken –, wie hässlich auch immer sich der in der Vertreibung störender Palästinenser betätigt, hat das nichts mehr zu tun. Dass der und die Brutalität des israelischen Militärs das Leben der drangsalierten Palästinenser bestimmen, ist nicht zu bezweifeln. Dass diese Perspektive die Hauptsache wäre, um die die Welt sich dreht, ist verkehrt.

II. Der GegenStandpunkt und die Proteste zum Gaza-Krieg

1. Über Opfer und Parteilichkeit (1)

„... weil die vielen, eindringlich publizierten Opfer doch niemanden kaltlassen können. Schon gar nicht die jeweils vorgeführten Opfer das jeweils angesprochene Publikum: frohgemute Partygäste, Menschen wie ich und du, in guter Stimmung unversehens überfallen, vergewaltigt, entführt, umgebracht, auf der einen Seite; auf der anderen Seite Familien mit Kindern, die aus ihren ohnehin elenden Lebensverhältnissen herausgebombt und in eine Hungersnot gestürzt werden, mit Verwandten in demokratisch akzeptierten Communitys hierzulande... Nur: ein Kriterium dafür, welche Opfer die jeweils andere Seite zu Tätern machen, bekommt der kundige Moralismus damit nicht wirklich an die Hand. All die engagierten Debatten, die, teilweise unter gewissen moralischen Vorbehalten, Heimtücke gegen Opferzahlen und umgekehrt abwägen, belegen tatsächlich nur, dass die grauenhaften Fakten, die überzeugen sollen, nur für schon Überzeugte zählen; nicht als Argumente, sondern als Belege dafür, die richtige Seite gewählt zu haben.“ (GegenStandpunkt 2-24, S. 25)

Dass es sich so nicht verhalten kann, könnte daran auffallen, dass der Verweis auf die Opfer Teil der Kriegspropaganda ist und damit sehr wohl bezweckt ist, Parteilichkeit herzustellen. Das Argument, das dem damit konfrontierten Publikum einleuchten soll, ist, dass der Umgang, den der (in der Propaganda unterstellte) Feind mit Kindern, Zivilisten, Kriegsgefangenen usw. pflegt, deren bürgerlicher Existenz nicht angemessen ist, weshalb man gegen ihn Partei ergreifen soll. Für den Schöpfer der Propaganda steht die Parteilichkeit fest; er illustriert seinen Standpunkt damit – aber eben, weil er das Publikum für seinen Standpunkt einnehmen will. Könnte das der Verweis auf die Kriegsopfer nicht leisten, wären sie kein Material der Kriegspropaganda.

Wie funktioniert diese Überzeugungsarbeit bei den Adressaten? Die Grausamkeiten des Krieges werden ihnen als solche des Feindes vorgeführt; der Feind ist also bei der ganzen Übung als Prämisse unterstellt, und die Opfer sollen das Publikum zur Übernahme der Feindschaftserklärung bewegen. Dabei sind sie angehalten, das Schicksal der Opfer ideell zu teilen und so den Feind als solchen zu erfahren. Das Urteil, das so über den Feind entsteht, ist ein emotionales Urteil, d.h. ein so überzeugter Zeitgenosse fühlt die Feindschaft. Er verbindet das Gefühl, das man beim Anblick der Grausamkeiten des Krieges hat, mit der Feindschaftserklärung.

Deshalb überbieten sich die PR-Abteilungen der Kriegsparteien in der zielgerichteten Zurschaustellung von Kriegsopfern, von denen manchmal nicht einmal Bilder, sondern nur Erzählungen präsentiert werden. Offenbar reicht das schon, um die Feindschaft als Gefühl im interessierten Publikum zu verankern, weil das Kopfkino der Adressaten die fehlenden Bilder (und u.U. überhaupt die fehlenden Opfer) ersetzt.

Dabei kann sowohl die Abscheu der Ausgangspunkt der Übernahme der Feindschaft sein als auch die Feindschaft durch die sinnliche Erfahrung der Opfer emotionalisiert werden. Es sind eben zwei voneinander getrennte Bewusstseinsakte, die in der gefühlten Feindschaft vereint werden. Auch deshalb wird der Zusammenschluss beider Momente nicht dem Zufall überlassen, sondern öffentlich angeleitet und betreut.

Obigem Zitat ist z.B. zu entnehmen, dass auch der Verfasser des Artikels ‚Grauen‘ empfindet. Für ihn macht das seine Kritik an den Verhältnissen einen Moment lang zu einem emotionalen Urteil. Ihn graut es und er weiß, woher das Grauenhafte kommt, legt es beispielsweise dem Nationalstaat zur Last und darin ist er frei. Er kann mit diesem Grauen auch das Urteil fühlen, dass der Mensch des Menschen Wolf sei. Insofern sind die Opfer einerseits nur ein Argument für Überzeugte (also keines), andererseits sehr wohl eine Gelegenheit für jeden, welche Überzeugung auch immer an ihnen zu erfahren oder dem Grauen eine Überzeugung beizustellen und Partei zu ergreifen. Darum wird dann in der Öffentlichkeit gerungen, das ist der Inhalt dieser heftigen Debatten. Um die Ursache der vielen Opfer wird ausdrücklich nicht gestritten, von der ist abstrahiert, wenn es darum geht, jemanden – nämlich den Feind – zum Verantwortlichen zu machen.

2. Über Opfer und Parteilichkeit (2)

Nach dem oben Gesagten sollte klar sein, dass der Krieg in Gaza an Standpunkten und Parteilichkeit zunächst nur das reproduziert, was es ohnehin vorher in der Gesellschaft schon gab – nur eben emotionalisiert, als unvermittelt gefühlte Parteinahme. Die Präsentation des Kriegselends drängt aber auch vorher davon unberührte Teile der Gesellschaft dazu, sich zu positionieren, ganz einfach, indem es vom Staat auf die Tagesordnung gesetzt und durch die Medien der Öffentlichkeit vorgeführt wird. Die Medien beginnen bei der Emotion, die man bei der Kenntnisnahme des Elends empfindet. Dem wird für gewöhnlich gleich das Kriterium beigestellt, entlang dessen man sich davon erschüttern lassen soll: das staatliche Interesse. Dabei fällt selbst bei z.B. nahezu vollständiger Parteinahme der Bevölkerung für den deutschen Staat auf, dass sich das deutsch-israelische Verhältnis nicht in der Parteinahme der Bürger abbildet, sondern diese in größerer Zahl dazu tendieren, Israel und seine Besatzung für die Opfer verantwortlich zu machen und mit den Palästinensern zu leiden. Die deutsche Staatsräson bezüglich Israel ist dagegen etwas, das eher von der Politik und den Parteien der Bevölkerung als das Kriterium nahegelegt wird, entlang dessen sie die Opfer zu würdigen hat.

Woher kommt das?

3. Über die Verweigerung bürgerlicher Existenz

Den Bewohnern der besetzten Gebiete wird durch Israel ihre bürgerliche Existenz verweigert, d.h. das, was Bürger als Normalität empfinden, die jeder in seinem Leben haben müsste – eine Familie, eine Arbeit, einen Lohn, eine gewisse Freizügigkeit, mal reisen usw. Und das kommt auch unmittelbar im israelischen Vorgehen zum Ausdruck – Häuser werden gesprengt, Schulen und Krankenhäuser zerstört, Leute verschüttet usw. Das Urteil, dass eine bürgerliche Existenz jedem eigentlich zustünde, hat jeder Bürger, und das wird bei Vielen durch das Kriegselend emotionalisiert, da leiden sie mit. Krieg ist der Zustand, in dem die bürgerliche Existenz komplett außer Kraft gesetzt wird, was in den besetzten Gebieten ein Dauerzustand ist und die Leute anlässlich des Krieges auf die Straße bringt. Dementsprechend fordern die Proteste mit „Free Palestine“ eine bürgerliche Emanzipation der Palästinenser, und das schließt notwendig einen palästinensischen Staat ein, der aber nicht der Ausgangspunkt der Mobilisierung der Bürger ist und somit nicht das, was die Proteste wollen. Stattdessen ist er die Bedingung ihrer Forderung nach einer bürgerlichen Existenz für die Palästinenser.

Was schreibt der GegenStandpunkt?

„Die einen [Proteste] wie die anderen reproduzieren und propagieren so die staatliche Kampfräson der Kriegsparteien... Alle Seiten machen damit klar, dass es hier ... um das Recht von Menschen in ihrer völkischen Besonderheit, also um das Menschenrecht auf einen Staat [geht] – auf einen unbedingt wehrhaften für den jüdischen, auf einen eigenen für den palästinensischen Menschenschlag. Wobei in beiden Fällen eine Besonderheit hinzukommt, die dieses Recht nach Überzeugung seiner wirklichen wie ideellen Protagonisten besonders berechtigt macht: für Israel die eigentümlich offene Definition der staatsberechtigten Menschengemeinde, nicht irgendwo ortsansässig, sondern weltweit zerstreut zu sein und deswegen nur umso mehr eine lokale kriegsfeste Heimstatt zu brauchen; für das angestrebte Palästina der Status von aus ihrer angestammten Heimat Vertriebenen.“ (GegenStandpunkt 2-24, S. 26)

Während der zionistische Standpunkt richtig zitiert und auch so vertreten wird, charakterisiert der GegenStandpunkt die pro-palästinensischen Proteste falsch. Reproduziert wird der Gegensatz, soweit stimmt das; es ist aber selbst bei der Rede vom palästinensischen Volk dessen negative Bestimmung durch Israel, worauf Bezug genommen wird, da Israel diese Bevölkerung als sein „Nicht-Volk“ herstellt, woraus diese ihre Selbstauffassung als palästinensisches Volk macht. Die in Israel lebenden Drusen, Araber usw. werden als eben das (Drusen und Araber) bezeichnet. Wenn der GegenStandpunkt seine eigenen Aussagen zum Volk ernst nimmt, sollte ihm das auch einleuchten: Die gleiche Rechtslage, das gleiche Verhältnis zur israelischen Herrschaft, wird in der Selbstauffassung als Palästinenser affirmiert (wobei da noch viel anzumerken wäre). So kommt die palästinensische Version der „staatsberechtigten Menschengemeinde“ zustande und so nehmen die Proteste auf sie Bezug. Das ist gerade nicht völkisch im Sinne einer vorstaatlichen Auffassung von Volk wie z.B. beim „jüdischen Volk“ im Zionismus. Für die Palästinenser fällt alles mit der Forderung nach einer bürgerlichen Existenz zusammen. Die ist ohne Staat nicht zu haben und das treibt sie auch um, ganz einfach, indem sie in ihren miesen Verhältnissen zu überleben versuchen und auf Bedingungen reflektieren, die ihre Interessen bräuchten.

4. Über die Kritik an den Protesten für die Palästinenser

Man kann die Proteste an ihren Erfolgsaussichten blamieren, wie es der GegenStandpunkt zu tun scheint:

„Praktisch leistet die aktive oder schweigende Beteiligung an dem Meinungsstreit über den Gaza-Krieg erst einmal nicht mehr und nicht weniger als die gedankliche Zuordnung der eigenen urteilsfähigen und -befugten Persönlichkeit zum fortschreitenden Kriegsgeschehen: Man hat eine Meinung. Angesichts des Grauens darf und soll es dabei aber nicht bleiben.

Das frei nachdenkende Subjekt ohne jeden Einfluss auf die Kriegsführer verlangt nach praktischer Einflussnahme. Und es findet Wege dahin. Zuerst und vor allem den der demonstrativen Aufforderung an die eigene Herrschaft, gegen die Gewaltaktionen der einen, der anderen oder gleich beider Seiten einzuschreiten. Die Einsicht, dass ohne Gewalt in der Staatenwelt gar nichts zu holen ist, geht hier einher mit der demokratischen Illusion, die eigene Staatsangehörigkeit, also der eigene Status als menschlicher Besitzstand einer weltpolitisch wirkungsvoll aktionsfähigen Macht, wäre – irgendwie, letztlich – das Gegenteil, nämlich der Besitz eines zwar kleinen, per Demonstration und Appell aber wirksam zu machenden Stücks Verfügungsgewalt über das Tun und Lassen der nationalen Staatsgewalt. Der wird einerseits die souveräne Macht, zugleich die willfährige Bereitschaft zugetraut, gegen kriegführende Gewalthaber die Stellungnahme durchzusetzen, mit der der empörte Bürger sich in seiner Meinungsbildung am besten fühlt. Aus der unausbleiblichen Enttäuschung folgt auf der nächsten Eskalationsstufe eine Polemik gegen die eigene Herrschaft und deren falsche Parteilichkeit. Das kämpferische Engagement, das da und überhaupt nichts weiter ausrichtet, sucht und findet sein Betätigungsfeld in der Auseinandersetzung mit den kongenialen Vertretern der Gegenseite...“ (GegenStandpunkt 2-24, S. 28)

Daran stimmt nicht, dass es ausgeschlossen wäre, dass solche Proteste die Kalkulation des eigenen Staates mit Israel verändern. Das ist durchaus möglich, nur hängt, wie man z.B. dem letzten Punkt des vorherigen Abschnitts (7.) entnehmen kann, die Messlatte dafür ziemlich hoch. Nichts weniger als die imperialistischen Interessen des eigenen Staates müssten diese Proteste relativieren und vorher die Versuche des so herausgeforderten Staates überwinden, die Proteste kleinzubekommen. Repressionen, die bereits bei einer, gemessen an diesem Zweck, lächerlichen Größenordnung, einsetzen.

Das ist aber auch nicht Zweck der Proteste. Das Stück „Verfügungsgewalt über das Tun und Lassen der nationalen Staatsgewalt“ buchstabiert sich anders. Es ist das Selbstverständnis als Wähler, das den möglichst zahlreichen Aufmarsch aus Sicht der Protestierenden zu einer Botschaft an die Regierung macht. Die Leute wähnen sich als ideelle Auftraggeber ihrer Regierung und wollen sie mit den Protesten an die aus ihrer Sicht richtige Interpretation des Regierungsauftrages erinnern, den sie ihr bei den letzten Wahlen ausgestellt haben. Die Notwendigkeit, dafür protestieren zu müssen, könnte sie auf die Idee bringen, dass es dieses Auftragsverhältnis zwischen Wählern und Regierung nicht gibt.

Darüber hinaus versichern sich die Protestierenden gegenseitig ihrer Kritik und beglaubigen sie sich. „Du bist nicht allein!“, ist die beruhigende Nachricht, die sie sich wechselseitig mit ihrem Erscheinen auf den Demonstrationen übermitteln, und weil eine Kritik an irgendeinem gesellschaftlichen Umstand nur eine Chance auf Realisierung hat, wenn sie von vielen geteilt wird, ist eine Demonstration mit möglichst vielen Teilnehmern auch ihre Beglaubigung. Man bestätigt sich gegenseitig die Kritik und den Standpunkt und feuert sich an, auch wenn man keine Idee davon hat, wie etwas daraus werden könnte. Eine „Demonstration“ unterstellt dabei allerdings die Vorstellung bei den Demonstranten, dass diese Veränderung eine (rituelle) Machtfrage sei. Nur deshalb bilden sie diese Art von Willenskontinuum und stellen es zur Schau. Der Sache nach äußern sie so ihre Betroffenheit und Ohnmacht. Statt die Gesellschaft zu ändern (was sie nicht können), ersetzen sie sie für die Dauer der Demonstration durch ihre Gemeinschaft.

Diese Reduktion der Proteste auf eine in diesem Fall palästinenserfreundliche Erfahrungsgemeinschaft, die der Welt in kritischer Distanz ein paar Slogans entgegenruft, teilen die Demonstranten mit allen kritischen Bewegungen, deren Anliegen vom staatlichen Interesse abweicht, und das werfen wir ihnen im Gegensatz zum GegenStandpunkt nicht vor. Für diesen Vorwurf haben wir nur Unverständnis und fragen uns, was den GegenStandpunkt denn in Sachen Erfolg von den Demonstranten unterscheidet?! Allerdings ist die Empfehlung, die man angesichts dieser Reduktion des demonstrierten Anliegens, eine bürgerliche Existenz für die Palästinenser zu fordern, aussprechen muss, sich die Sache und ihre Grundlagen zu erklären, die zu dieser Ohnmacht führt. Das beansprucht der vorliegende Text in Teilen zu leisten, auch wenn er sich kritisch mit dem GegenStandpunkt bzw. dem Referenten auseinandersetzt.

Da wäre noch eine Sache:

5. Warum ausgerechnet die Palästinenser?

Gewalt, Not und Elend gibt es auf der Welt zuhauf, Demonstrationen, die sich dessen annehmen und es in einigen Gegenden zu regelrechten Massenbewegungen bringen, eher selten. Es gibt sogar zu den Palästinensern ganz ähnlich gelagerte Fälle, wie den der Rohingya, die die UN als die „am stärksten verfolgte Minderheit der Welt“ (Wikipedia) einstufen und die kaum einen Bewohner insbesondere der westlichen Staaten in der Freizeit zu politischen Spaziergängen animiert. Auch die muslimische Gemeinde fühlt sich angesichts der Verfolgung ihrer Glaubensbrüder in Myanmar höchstens sporadisch herausgefordert, sich in politischer Anteilnahme zu versammeln. Es ist also zu erklären, weshalb ausgerechnet die Palästinenserfeindlichkeit Israels zu solchen Solidaritätswellen führt.

Im obigen Zitat macht der GegenStandpunkt als Grund für die selektive Solidarität ein den Palästinensern vorenthaltenes „Menschenrecht auf Staat“ aus: Weil die Palästinenser durch Israel in diesem „Menschenrecht auf Staat“ beschnitten würden, rege sich die Solidarität mit ihnen, der idealistische Standpunkt der Protestierenden, dass noch jedes Volk einen Staat verdiene, und die vehemente Verletzung dieses Rechts durch Israel, die seien der Grund, warum sich gerade bei Palästina signifikant größere Menschenmassen an den Protesten beteiligen.

Beide Erklärungen, sowohl die aus einer puren Anteilnahme an Not und Elend als auch die Erklärung vom GegenStandpunkt, sind ungenügend.

Der Verfolgung der Rohingya durch die Militärs in Myanmar fehlt es zunächst einmal an weltpolitischer Bedeutung, und das wirft ein schlechtes Licht auf die öffentliche Anteilnahme, weil damit nämlich klar ist, dass es eben nicht das durch das völkische Vorgehen Israels oder Myanmars erzeugte Elend ist, welches die Proteste inspiriert, sondern dass politische Urteile dafür sorgen, dass ein großer Teil der muslimischen und westlichen Öffentlichkeit sich vom Leid der Palästinenser ergreifen lässt. Bei den Rohingya lassen sie es eben nicht zu. Diese Feststellung ist auch keine Aufforderung, sich vor jedem toten Menschen in Bestürzung zu üben – das würde angesichts des schieren Ausmaßes des durch die Staatenwelt erzeugten Elends die Lebenszeit jedes Menschen vollständig verbrauchen und sie über das damit verbundene ständige „Schlechtgefühl“ wahrscheinlich auch noch verkürzen. Mitleiden ist also ein sich unvermittelt einstellender und daher verständlicher, aber eben nicht besonders brauchbarer Umgang mit diesem Elend. Da empfehlen sich eher Erklärung und Kritik, die dabei helfen, wenigstens eine Vorstellung davon zu entwickeln, welche Ursachen Not und Elend haben und was sich ändern müsste, damit sie mal aufhören.

Aber auch die Sorge um ein idealistisches „Menschenrecht auf Staat“ kann nicht der Grund für die selektive Parteinahme sein, weil dieses, wie bereits oben erwähnt, auch bei den Rohingya verletzt ist und gleichzeitig keine öffentliche Reaktion hervorruft.

Welche politischen Urteile sind also in der westlichen und muslimisch-arabischen Öffentlichkeit unterwegs, die die anlässlich des Gaza-Kriegs festzustellende massenhafte Anteilnahme auslösen?

Unmittelbar fällt bei dem Publikum, das in irgendeiner Form auf den arabisch-muslimischen Raum bezogen ist, die Relativierung der Ambitionen der arabischen Nationen durch Israel ein. Auf der Grundlage des arabischen Nationalismus bzw. der Bezugnahme auf die muslimische Welt haben diese Staaten versucht, ihre Reichweite (wenigstens dem Anspruch nach) auszudehnen, und sind durch Israel darin beschnitten worden. Das führen sie in ihrem Nationalbewusstsein als eine Ansammlung von Demütigungen mit, und jedes Mal, wenn Israel gegen die Palästinenser vorgeht, mobilisiert das in den arabischen Staaten die Bevölkerung. Das Gleiche gilt für die arabisch-muslimische Diaspora.

Unmittelbar klar ist das auch bei Migranten mit palästinensischen Wurzeln. Dort ist der Mobilisierungseffekt auf ihre direkte Betroffenheit z.B. über Verwandtschaftsverhältnisse zurückzuführen.

Das westliche, nichtmuslimische Publikum erkennt zu einem gewissen Teil links wie rechts im Vorgehen Israels einen Verstoß gegen seine Vorstellung von einer gerechten Weltordnung. Die Leute machen den westlichen Imperialismus maßgeblich dafür verantwortlich und sehen sich deshalb als selbstbewusste Staatsbürger in der Pflicht, sich von diesen Machenschaften ihrer Regierungen durch Protest zu distanzieren oder gar durch Besetzungen und Blockaden deren Unterstützung für Israel Schranken zu setzen. Sie messen ihre eigenen Regierungen am Ideal einer gerechten Weltordnung und stellen zu ihrem moralischen Ungemach fest: Die Staaten, von denen sie das moralisch Gute und Gebotene erwarten, sind für diese „furchtbaren“ Resultate selbst zuständig. Dabei verkennen sie, dass die Weltordnung in diesem Fall eben so geht (siehe 7.). Israel ist ein integraler Teil der US-Aufsicht über die Staatenwelt, und das gestattet ihm seine Ausnahmestellung (die Realisierung seines völkischen Siedlungsprogramms unter dem Schutz der Vereinigten Staaten). Anstatt zur Kenntnis zu nehmen, welche Zwecke diese Ordnung heiligt und hier und da mal braucht, protestieren diese Teile der Öffentlichkeit für ihre ideale Weltordnung.

Und alle zusammen fordern ein bürgerliches Leben für die Palästinenser (siehe oben), und die Rohingya haben angesichts dieser Lage eben Pech, was die Anteilnahme an ihrem Problem betrifft. Sie kommen in dieser von Gerechtigkeitsstandpunkten durchsetzten idealen Sicht auf die Welt nicht vor.

Antwort der Redaktion

Das Kritikpapier wählt einen seltsamen Einstieg in die Zurückweisung unserer Kritik an den moralisch engagierten Stellungnahmen zum Gaza-Krieg. Dass die Bebilderung jeder Kriegspropaganda mit schrecklichen Schicksalen von Betroffenen die Parteinahme für den propagierten Standpunkt bezweckt, ist gar nicht zu bezweifeln, wird auch nicht in Abrede gestellt. Hingewiesen wird darauf: Dass die Parteigänger beider kriegführenden Seiten dasselbe agitatorische Mittel anwenden, zeigt und beweist schon, dass in diesem Propagandamittel kein Kriterium dafür enthalten ist, für die eine und gegen die andere Seite Partei zu nehmen. Dass dies für die engagierten Aktivisten der Kriegspropaganda so ist, findet das Kritikpapier selbst ganz selbstverständlich – und will trotzdem aus der Verwendung von Opferbildern als Propagandamittel folgern, dass „der Verweis auf die Kriegsopfer“ doch die bezweckte Herstellung von Parteilichkeit „leisten“ kann – warum? Weil sie in der Kriegspropaganda sonst nicht so beliebt wären. Echt jetzt? So ganz echt traut das Papier seiner Schlussfolgerung selber nicht. Jedenfalls hält es das Funktionieren einer solchen „Überzeugungsarbeit beim Adressaten“ selbst für problematisch und kommt zu dem Urteil, dass die Bilder kriegerischer Grausamkeit dem Feind-Urteil nicht mehr als die Qualität eines Gefühls hinzufügen. Eine Urteilsbildung darüber, wem die gefühlte „Feindschaftserklärung“ gilt und wer nicht als „Feind“ gilt, kann darüber jedenfalls nicht zustande kommen.

Ob die Kritik ernstlich behaupten will, irgendwie ginge das doch, bleibt im Ungefähren einer Ad-hoc-Theorie über Bewusstseinsbildung durch Kriegspropaganda, die von dem Fehler parteilicher Stellungnahmen zum Gaza-Krieg, von dem unser Artikel hauptsächlich handelt, und von dem darin enthaltenen prinzipiellen Fehler, sich die Staatsaktion Krieg überhaupt mit der Frage nach der Kriegsschuld erklären zu wollen, nichts wissen will. In die kurze Sozialpsychologie kriegspropagandistischer Überzeugungsbildung ist allerdings schon ein Gedanke eingebaut, der sich im Fortgang als zentrales Argument herausstellt: Die Überzeugungskraft von Kriegspropaganda läge in dem „Argument“, „dass der Umgang, den der ... Feind mit Kindern, Zivilisten, Kriegsgefangenen usw. pflegt, deren bürgerlicher Existenz nicht angemessen ist, weshalb man gegen ihn Partei ergreifen muss“. Dass das wirklich ein hinreichender Grund für eine Parteinahme sein könnte, widerruft das Kritikpapier zwar selbst mit der Einfügung: „der (in der Propaganda unterstellte) Feind“; tatsächlich taugen Hinweise dieser Art sowieso allenfalls als Argument gegen Krieg überhaupt, als Belegmaterial für Anti-Kriegspropaganda. Mit der seltsam verhaltenen Kennzeichnung der mörderischen Leistungen eines Krieges als Umgangsweise, die der „bürgerlichen Existenz“ der so traktierten Menschen „nicht angemessen“ sei, kündigt das Papier aber eine Fortsetzung an, die dann doch ein Kriterium für Parteinahme im Gaza-Krieg, nämlich für die palästinensische Seite, hergeben soll; ein Kriterium jedenfalls für das kriegspropagandistisch angemachte Publikum, über dessen Parteilichkeit das Papier sich ausführlich seine wohlwollend-kritischen Gedanken macht.

Folgen wir erst einmal der Logik, und das bedeutet: dem Fehler des Gedankengangs, den die Kritik einem propalästinensisch eingestellten demonstrationswilligen Publikum als höchst plausible Überlegung unterstellt, ohne ihn selbst zu vertreten.

„Den Bewohnern der besetzten Gebiete wird durch Israel ihre bürgerliche Existenz verweigert, d.h. das, was Bürger als Normalität empfinden, die jeder in seinem Leben haben müsste – eine Familie, eine Arbeit, einen Lohn, eine gewisse Freizügigkeit, mal reisen usw.“ „Das Urteil, dass eine bürgerliche Existenz jedem eigentlich zustünde, hat jeder Bürger ...“ „Krieg ist der Zustand, in dem die bürgerliche Existenz komplett außer Kraft gesetzt wird, was in den besetzten Gebieten ein Dauerzustand ist und die Leute anlässlich des Krieges auf die Straße bringt. Dementsprechend fordern die Proteste mit ‚Free Palestine‘ eine bürgerliche Emanzipation der Palästinenser, und das schließt notwendig einen palästinensischen Staat ein, der aber nicht der Ausgangspunkt der Mobilisierung der Bürger ist und somit nicht das, was die Proteste wollen. Stattdessen ist er die Bedingung ihrer Forderung nach einer bürgerlichen Existenz für die Palästinenser.“

Genau der Zusammenschluss von „bürgerlicher Existenz“ in ihrer betont harmlosen Alltäglichkeit und der Notwendigkeit eines eigenen Staates, den das Papier den Pro-Palästina-Demonstranten als Beweggrund nachsagt, ist, erst einmal allgemein genommen, der elementare Fehler des staatsbürgerlichen Bewusstseins, um dessen Kritik es uns geht. Diese Ineinssetzung von bürgerlichem Staat und bürgerlichem Leben abstrahiert auf der einen Seite von dem Gewaltverhältnis, dem schon das pure Existieren im Staat unterworfen ist, interpretiert die durchgängige Abhängigkeit der Leute von der herrschenden Macht und ihren Entscheidungen als unentbehrliche, in diesem Sinn grundsätzlich positive Lebensbedingung. Sie abstrahiert auf der anderen Seite vom Inhalt des alltäglichen Konkurrenzkampfs um die simpelsten Lebensbedingungen, ums Geld als alles beherrschendes Lebensmittel, der sich in den netten Errungenschaften „Familie, Arbeit, Lohn ...“ so brutal geltend macht, dass den Betroffenen der Ruf nach staatlicher Ordnungsgewalt, nicht bloß als stillschweigend wirksamer Voraussetzung, sondern auch als Waffe im permanenten bürgerlichen Lebenskampf, so fatal selbstverständlich ist. Dass diese Abstraktionen den Bürgern durch ihre alltäglich zu bewältigenden Lebensbedingungen für deren alltägliche Bewältigung praktisch aufgenötigt werden, macht sie nicht wahr und macht den Standpunkt prinzipieller Fügsamkeit, der im staatsbürgerlichen Bewusstsein regelmäßig daraus folgt, nicht richtig. Dieser Standpunkt ist so verkehrt, dass er sogar seine härteste Widerlegung aushält, nämlich durch die Staatsveranstaltung Krieg: Da beweisen die höchste Gewalten in ultimativer Weise, dass sie als unbedingte Bedingung bürgerlichen Existierens nicht eine freundliche Hilfestellung für dessen Gelingen sind, sondern als Macht, von der die aus „Familie, Arbeit, Lohn“ etc. zusammengesetzte bürgerliche Gesellschaft abhängt, deren absoluter Zweck. Theoretisch und gesinnungsmäßig wird die bürgerliche Staatstreue mit dieser Klarstellung auf verschiedene Weisen fertig: Extremste Variante ist die begeisterte Identifikation mit dieser höchsten Gewalt, die ihren Bürgern sogar die Bereitschaft zur offensiven Selbstaufgabe, die Selbsterniedrigung zum Verschleißteil hoheitlichen Durchsetzungswillens abverlangt – im Fall der Hamas: schon auf dem Weg zur Selbst-Etablierung als gesamtpalästinensische Staatsgründungsmacht. Die alltäglichere Variante des staatsbürgerlichen ‚gesunden Menschenverstandes‘ behilft sich in der Extremsituation Krieg mit der Vorstellung, die hätte mit der normalen bürgerlichen Lebensweise und deren hoheitlicher Ordnung nichts zu tun, die wären vielmehr durch den Kriegszustand „komplett außer Kraft gesetzt“: So sperrt sich der loyale Normalbürger gegen die Einsicht, dass es keine andere Gewalt als die des für seinen privaten Alltag so unentbehrlichen Staates ist, die im Krieg auf so ungemütliche Weise mörderisch wird. Woran, nebenbei, deutlich wird, dass eine Staatskritik nichts taugt, die erst mit dem Krieg als Einwand anfängt.

Dem Kritikpapier geht es des Näheren um die Unterscheidung des palästinensischen vom israelischen Staatswillen, die es in unserem Artikel vermisst und die nach seiner Diagnose das Publikum mehrheitlich und durchaus nachvollziehbar zu Parteigängern der palästinensischen Sache macht. Der Staatswille der Palästinenser soll nämlich gar nichts anderes widerspiegeln als den Wunsch nach einer angemessenen bürgerlichen Existenz:

„Für die Palästinenser fällt alles mit der Forderung nach einer bürgerlichen Existenz zusammen. Die ist ohne Staat nicht zu haben und das treibt sie auch um, ganz einfach, indem sie in ihren miesen Verhältnissen zu überleben versuchen und auf Bedingungen reflektieren, die ihre Interessen bräuchten.“ „Das ist gerade nicht völkisch im Sinne einer vorstaatlichen Auffassung von Volk wie z.B. beim ‚jüdischen Volk‘ im Zionismus.“

Soweit sie sich doch als Staatsvolk verstehen, also als ein Kollektiv, dessen Mitglieder sich nicht ausschließlich als bürgerliche Individuen einen staatlichen Hüter wünschen, sondern vielleicht doch als besondere vorstaatliche arabische Volksabteilung das Recht auf eine volkseigene Herrschaft reklamieren, tun sie das eigentlich nicht von sich aus, sondern in Reaktion auf ihre rechtliche Ausgrenzung als „‚Nicht-Volk‘“ durch den jüdischen Staat – meint das Kritikpapier. Inwiefern ausgerechnet darin der wesentliche Unterschied zum Zionismus mit seinem Konzept eines „‚jüdischen Volkes‘“ liegen soll – der hat seinen entschlossenen kämpferischen Staatswillen ja erst recht und ganz explizit aus der traditionsreichen rechtlichen und tatsächlichen Ausgrenzung und Verfolgung seiner Diaspora-Gemeinde durch die Staatsgebilde des christlichen Abendlandes abgeleitet und endgültig durch den Völkermord Nazi-Deutschlands gerechtfertigt –, bleibt offen. Ein Argument dafür, dem Staatswillen der Palästinenser ausgerechnet deswegen quasi ‚mildernde Umstände‘ zuzubilligen, weil denen auf ihre anhaltende Drangsalierung durch den machtvoll etablierten jüdischen Staat nichts anderes mehr einfällt als der Standpunkt: ‚Als wahrhaft einheimisches Volk brauchen wir genau das, was Israel uns wegnimmt: einen Staat from the river to the sea!‘ – ein Grund dafür wird nicht ersichtlich.

Aber den will das Kritikpapier wohl auch gar nicht liefern; von einer eigenen offenen Parteinahme für den palästinensischen Staatswillen hält es sich ja überhaupt zurück. Dessen Rechtfertigung durch seine Ableitung aus dem Wunsch nach staatsbürgerlicher Normalität und aus der israelischen Feindschaftserklärung vertritt es als Auffassung von Palästina-Freunden, die auf alle Fälle, auch wenn sachlich verkehrt, doch ganz viel Verständnis verdient und jedenfalls gegen unsere Kritik in Schutz genommen werden muss. In diesem Sinne trägt das Kritikpapier an unsere Erklärung des Fehlers moralischer Parteinahme im Gaza-Krieg eine Fragestellung heran, auf die wir bei unserem Erklärungsbedarf tatsächlich nicht gestoßen sind, zu der wir deswegen auch keine Antwort zu bieten haben und die wir außerdem für sachfremd halten:

„Woher kommt das?“ – nämlich dass sich trotz „nahezu vollständiger Parteinahme der Bevölkerung für den deutschen Staat“ „das deutsch-israelische Verhältnis nicht in der Parteinahme der Bürger abbildet, sondern diese in größerer Zahl dazu tendieren, Israel und seine Besatzung für die Opfer verantwortlich zu machen und mit den Palästinensern zu leiden.“

Ob das mit der Mehrheit überhaupt so ist, sei dahingestellt; ebenso, ob aus dem staatsbürgerlichen Konformismus der Deutschen eigentlich auf eine mehrheitliche Übernahme der staatsoffiziellen ‚anti-antisemitischen‘ Parteinahme für Israel zu schließen wäre. Klargestellt ist mit der Leitfrage „Woher kommt das?“ auf jeden Fall, dass das Kritikpapier sich schlicht für etwas anderes interessiert als unsere Kritik an dem Fehler, in Sachen Gaza-Krieg unbedingt für den einen militanten Staatsgründungswillen gegen den komplementären feindlichen Kriegswillen Partei ergreifen zu wollen – einerseits. Andererseits macht es sich die Mühe, unseren Artikel trotzdem auf die eigene These einer mehrheitlich propalästinensischen Einstellung der Bevölkerung und die Frage nach deren Gründen zu beziehen und zu zeigen, dass sich bei uns denkbare gute Gründe für einen solchen Standpunkt nicht finden lassen. Was die Kritik stattdessen findet, ist eine ganz aufschlussreiche Fehldeutung unserer Überlegungen zur Selbstbezüglichkeit moralischer Stellungnahmen zu dem Kriegsgeschehen und zum Ringen parteiisch empörter Demokraten um praktische Einflussnahme, die sie sich schuldig sind: Da ginge es uns darum, „die Proteste an ihren Erfolgsaussichten zu blamieren“.

„Blamieren“ würde bedeuten, dass die Vorhaben und Aktivitäten der Demonstranten an ihren Erfolgen und ihren – enttäuschten, trotzdem festgehaltenen – Erfolgsaussichten gemessen würden, ihr Scheitern als Versagen aufgefasst und daraus ein abschätziges Urteil über die engagierten Leute als Versager gemacht. Das ist schon deswegen nicht unsere Sache, weil das ja der komplette Hirnriss wäre: einen für falsch erkannten Protest deswegen zu verurteilen, weil er keinen Erfolg hat, so als würde ein Erfolg der verkehrten Sache den von uns kritisierten Fehler in Ordnung bringen. Unsere Kritik will an der zitierten Stelle vielmehr deutlich machen, dass die propalästinensische Protestgemeinde – wie die meisten Bewegungen moralisch betroffener Gegner einer herrschenden Politik – selbst ihr Anliegen an seinem Erfolg misst; kenntlich daran, wie sie ihren erlittenen Misserfolg ohnmächtig, aber tapfer weiterverarbeitet.

So ähnlich und doch ganz anders sieht das auch das Kritikpapier. Es möchte zunächst nicht „ausgeschlossen“ haben, „dass solche Proteste die Kalkulation des eigenen Staates mit Israel verändern“; arbeitet sich dann doch, streng am Erfolgs-Gedanken entlang, zur Diagnose einer demokratischen Illusion aufseiten der Protestierenden vor; findet das aber nicht so schlimm, weil es ihnen als eigentlich beabsichtigte und erreichte Leistung ihrer Zusammenkünfte einen Gemeinschaftsgeist attestieren will, der immerhin dem Status quo ein „Willenskontinuum“ als Bedingung der Möglichkeit von „Veränderungen“ entgegensetzt; was dann aber doch bloß ein Ausdruck von „Betroffenheit und Ohnmacht“ ist: eine kurzfristige Erfolgsillusion, „statt die Gesellschaft zu ändern“; was als negatives Urteil aber nicht stehen bleiben darf ohne den eingeklammerten entschuldigenden Zusatz „(was sie nicht können)“. So löst das Kritikpapier seinen kritischen Vorbehalt gegen die demonstrierenden Palästina-Freunde am Ende ganz in den Befund auf, dass Weltveränderung – welche auch immer, jedenfalls eine gegen den Staat gerichtete und deswegen irgendwie begrüßenswerte – wegen der herrschenden Kräfteverhältnisse von einem demokratisch illusionären Protest nicht zu leisten ist. Dass dann von den Protesten nicht mehr übrig bleibt als „eine in diesem Fall palästinenserfreundliche Erfahrungsgemeinschaft, die der Welt in kritischer Distanz ein paar Slogans entgegenruft“, darf dann aber doch wieder nicht das letzte Wort sein. Zu dem wenig schmeichelhaften eigenen Urteil, das so letztlich für „alle kritischen Bewegungen“ gilt, „deren Anliegen vom staatlichen Interesse abweicht“, gehört unbedingt der Zusatz: „... und das werfen wir ihnen im Gegensatz zum GegenStandpunkt nicht vor“.

Dass wir den Kriegspropagandisten aller Seiten, auch den empörten Freischaffenden mit Extra-Sympathien für die palästinensische Sache, etwas ganz Anderes vorwerfen als – ausgerechnet! – ihre Erfolglosigkeit, ist bei den Kritikern unseres Artikels also definitiv nicht angekommen. Dass das Kritikpapier seinerseits die Erfolgsfrage als einziges Kriterium zur Beurteilung von Kritik und Protestbewegungen gelten lässt, möchte es gegen uns aber noch einmal extra herausstellen: „Wir ... fragen uns, was den GegenStandpunkt denn in Sachen Erfolg von den Demonstranten unterscheidet?!“ Sollen wir da wirklich nochmal ehrlich antworten: das, worin wir Erfolg haben wollen – ? Der Kritik jedenfalls geht es, wo auch immer sie Protest gegen den Staat wahrnimmt, um die Prüfung von Erfolg und Erfolgsaussichten in Sachen „die Gesellschaft ändern“, was im Allgemeinen wie im Besonderen enttäuschend ausgeht – einerseits. Andererseits ist das von ihrer Seite keinesfalls als Vorwurf zu verstehen. Auch wenn die Diagnose bezüglich Ohnmacht und Erfolgsillusion vernichtend ausfällt: sie ist nicht bös gemeint. Die Kritik bleibt positiv.

Von linkem Opportunismus kann dennoch nicht die Rede sein. Die Autoren des Kritikpapiers teilen zwar kein bestimmtes oppositionelles Anliegen, finden demokratische Einbildungen über eine mögliche Einflussnahme von Staatskritikern auf die Politik verkehrt, erteilen insoweit den meisten linken Umtrieben eine radikal linke Absage. Darüber steht aber eine unverwüstliche pauschale Sympathie mit allem, was „für Veränderung“ ist; da waltet herzliches Verständnis für kritische Standpunkte aller Art. Kritisch werden sie zwar, wenn von Protesten mangels Erfolg nichts als ersatzweise Gemeinschaftsgefühle übrig bleiben. Aber so weit gehen sie nicht, dass sie vor lauter Kritik den Anschluss verlieren. Das ist ihr Standpunkt. Den müssen sie wirklich nie opportunistisch verleugnen.

PS: „Da wäre noch eine Sache“

Nämlich noch einmal die eigentümliche Erfolgsfrage, die das Kritikpapier an unseren Artikel heranträgt: „5. Warum“ finden „ausgerechnet die Palästinenser“ so viel Beachtung? Wo es doch „Gewalt, Not und Elend in der Welt zuhauf“ gibt!

Die Frage gibt unseren Kritikern noch einmal die Gelegenheit, unsere Überlegungen zum „Menschenrecht auf Staat“, das in der Parteinahme für die eine oder die andere Seite im Gaza-Krieg unterstellt ist, ein weiteres Mal nicht zu verstehen – nämlich nicht als die Kritik der Rechtsstandpunkte, die im Krieg selbst praktisch, in der Parteinahme ideell unerbittlich gegeneinandergestellt werden; stattdessen misszuverstehen, nämlich als Antwort auf ihre Frage nach einem plausiblen Grund für den angeblichen Publikumserfolg der palästinensischen Sache, die natürlich nicht hinhauen kann, weil ein solches Menschenrecht ja nicht speziell für Palästinenser gelten würde, sondern, nur so zum Beispiel, auch für die Rohingya, von deren Drangsalen man ja in der Tat gar nichts mehr hört. Unsere Kritik ist insofern genauso unbrauchbar wie das menschliche Mitleid, das den um jede bürgerliche Existenz gebrachten Exoten in Hinterindien ja auch gelten müsste, ungerechterweise aber nicht zuteilwird, weil der demonstrationswillige gute Mensch sich beim besten Willen nicht zu jedem Anlass sein – wie war das am Ende noch? – protestlerisches Gemeinschaftserlebnis verschaffen kann. Was den Kritikern zufolge tatsächlich extra für die Palästinenser spricht, ist der antiamerikanische, im Anschluss daran Israel-kritische Weltordnungsidealismus, von dem sie nichts halten, weil sich stattdessen „eher Erklärung und Kritik“ „empfehlen“ würden. Aber wenigstens fallen die im Nahen Osten deswegen nicht durch den Rost der zwar falschen, aber wenigstens vorhandenen kritischen Aufmerksamkeit „dieser Teile der Weltöffentlichkeit“. Heißt für die Rohingya „eben: Pech“ gehabt. Und für die Palästinenser Glück?

[1] Humanitär begleitet, rechtlich begutachtet, moralisch umstritten. Israels Gaza-Krieg – Herausforderung an die Mächte und die Moralisten der imperialistischen Welt, erschienen in GegenStandpunkt 2-24.