Vor einem Jahr hat die Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland ein Kriterium für die Güte ihrer Nation in Umlauf gebracht: Der Gesichtspunkt, unter dem sich das Land, das sie regiert, auch im moralischen Sinne als „ihr Land“ bewähre, nämlich in jeder Hinsicht einwandfrei sei, sei der Umgang mit Flüchtlingsmassen. Im Positiven wie im Negativen hat sich die Nation dieses Kriterium seitdem zu eigen gemacht: Ausgerechnet an der peripheren Frage der Verdauung des Flüchtlingsstroms soll sich entscheiden, was von dieser Republik zu halten sei.
Die IG Metall, Arbeitervertretung von über zwei Millionen Metallbeschäftigten, wendet sich mit einem ganzseitigen offenen Brief in den großen deutschen Tageszeitungen unter der Überschrift „Energiewende jetzt! Stillstand gefährdet 200 000 Arbeitsplätze!“ an die Bundesregierung.
Die Drogeriemarktkette Schlecker beantragt Insolvenz, und ganz anders als sonst, wenn ein Unternehmer Pleite geht, wird das von der Öffentlichkeit nicht mit Betroffenheit, sondern mit Genugtuung und Häme registriert.: „For you, vor Ort, vorbei“ (HB), „Schlecker – Der Ladenhüter“ (SZ), „Den Richtigen hat es schon erwischt“ (SZ), ist der Tenor der Schlagzeilen.
Die Schleckerpleite wird von Politik und Öffentlichkeit unisono als gerechte Strafe des Marktes begrüßt und das ‚Schicksal der 11 000 Schlecker-Frauen‘, die ihre Jobs los sind, als unverdient beklagt. Die sind fortan allgemeines Sorgeobjekt.
Zum Jahrestag der Hartz-IV-Gesetzgebung zieht die Nation Bilanz – und die fällt nicht eben überzeugend aus: Angeregt durch das Verfassungsgerichts-Urteil vom 9.2.10, das Teile der Regelungen verwirft, melden Politik und Öffentlichkeit allenthalben Verbesserungsbedarf an: zu viele rechtliche Einsprüche, zu kompliziert, zu lasch, keiner blickt mehr durch, zu teuer, zu ineffizient, unwürdig usw. usf.
Die nationale Bilanz im diesjährigen Berufsbildungsbericht zur Lage der auszubildenden Jugend fällt zwiespältig aus. Einerseits beklagen die Zuständigen in den Ämtern ein seit Jahren sinkendes und zu geringes Ausbildungsangebot durch die Unternehmen, diese bemängeln jetzt andererseits eine zu geringe Zahl von Bewerbern. Gleichzeitig wird ein Deckungsgrad von 101,8 % bilanziert (Berufsbildungsbericht (BBB) 2010, von der Bundesregierung verabschiedet am 28.4.10).
Im Frühjahr des Jahres ist der amerikanische Automobilkonzern General Motors von Insolvenz bedroht und damit auch seine europäische Tochtergesellschaft Opel. Jahrelange Lohnkürzungen, Stellenstreichungen und Leistungssteigerung für die verbliebenen Arbeiter haben nicht dazu geführt, dass den Kapitalgebern die beanspruchte Rendite erwirtschaftet wurde, sie sind nicht mehr bereit, GM noch weitere Kredite zur Verfügung zu stellen.
Unternehmen kündigen reihenweise die „Beschäftigungssicherungsverträge“, die sie in den vergangenen Jahren mit den Gewerkschaften abgeschlossen haben und die eigentlich noch zwei bis fünf Jahre gelten sollten. Die sind jetzt Makulatur.
Der Vize-Chef der IG Metall, Dieter Wetzel, ist empört: „Ich finde es fast abstoßend, wenn Arbeitgeber wie Heidelberg Druck solche Verträge einseitig aufkündigen … Beschäftigungspakte sind ja gerade für schlechte Zeiten gemacht, dann sollen sie auch wirken.“
Immerhin habt ihr nämlich im Vorfeld des Besuchs mehr als deutlich gemacht, dass es euch ausschließlich um irgendwie „belastbare Zusagen“ für den Erhalt eurer Arbeitsplätze geht. Und wenn wir nicht vollkommen schief liegen, dann hat schon auch die oberste Standortverwalterin einiges dafür übrig, dass in Deutschland möglichst viel gearbeitet wird – natürlich zu weltrekordfähigen Bedingungen: möglichst intensiv, effektiv und billig, damit an den Plätzen, auf denen ihr arbeitet, Geldeigentümer wieder so richtig ihre Freude haben.
Das Familienunternehmen Schaeffler, ein Zulieferer der Automobilindustrie, erobert in einer feindlichen Übernahme mit Hilfe trickreicher Aktienoptionen und zweistelligen Milliardenkrediten von Großbanken die viel größere Aktiengesellschaft Continental.