Zum Jahrestag der Hartz-IV-Gesetzgebung zieht die Nation Bilanz – und die fällt nicht eben überzeugend aus: Angeregt durch das Verfassungsgerichts-Urteil vom 9.2.10, das Teile der Regelungen verwirft, melden Politik und Öffentlichkeit allenthalben Verbesserungsbedarf an: zu viele rechtliche Einsprüche, zu kompliziert, zu lasch, keiner blickt mehr durch, zu teuer, zu ineffizient, unwürdig usw. usf.
Seit Spätherbst kommt die Krise in der „Realwirtschaft“ an, brechen die Verkaufsmärkte der Auto-, der Werkzeugmaschinen-, eigentlich aller Industrien weg und die Auslastung der Fabriken geht zurück. Die Bundesregierung, die die Banken rettet, rettet auch Arbeitsplätze und hat dafür das passende Instrument parat: Arbeitsminister Scholz verlängert die staatliche Erlaubnis, Kurzarbeitergeld zu beziehen, von bisher 6 auf 18 Monate.
Es gibt wieder eine höchst offiziell anerkannte ‚soziale Frage‘ in diesem unserem Lande. Da stellen sich die Politiker aller Parteien hin und debattieren vehement, ob sie ihre Lieblingsbürger, die Herren Arbeitgeber, nicht zwingen müssen und sollen, zumindest gewissen Arbeitnehmern mindestens soviel zu zahlen, dass sie vom Lohn leben können. Die können das nämlich massenhaft nicht (mehr). Und zwar deshalb, weil die regierenden Volksvertreter und „die Wirtschaft“ mit vereinten Kräften dafür gesorgt haben. Auf dass der deutsche Kapitalstandort wächst und gedeiht.
Kein Tag, an dem nicht öffentlich über den Fortgang des nationalen ‚Reformprogramms‘, die erledigten und noch zu erledigenden Posten kritisch berichtet und über die konsequente Fortsetzung diskutiert würde. Inzwischen ist bei dieser Daueragenda die Frage, ob, und wenn ja, wo und wie die Politik im Verein mit den Sozialpartnern gewisse Grenzen in Sachen Niedriglohn einziehen sollte, zum politischen Streitgegenstand und öffentlichen Dauerthema gediehen. Der Arbeitsminister macht sich generell für die Notwendigkeit von Mindestlöhnen stark.
Die Rede war vor zwei Jahren bei der Hartz-IV-Reform von der „tiefgreifendsten Sozialreform der letzten 30 Jahre“. Und gewürdigt wurde so – mehrheitlich anerkennend, versteht sich – eine Reform, mit der sich der deutsche Sozialstaat zu einer in der Tat ziemlich fundamentalistischen Wende im Umgang mit seiner arbeitslosen Klientel entschlossen hat. Mit seiner Reform hat er zwar nicht gleich die Armut neu erfunden – die war immer schon und ist nach wie vor seine kapitalistische Grundlage –, aber immerhin einen neuen Typus von Armut in seiner Gesellschaft geschaffen.
Angesichts von Massenprotesten revidiert der französische Staat selbstkritisch seine Methode der Gewaltausübung: Stärkung seiner Autorität ist oberstes Reformziel und „Dezentralisierung“ des öffentlichen Dienstes, d.h. Verbilligung und Effektivierung seiner Aufgaben vor allem im Ausbildungswesen vorrangig. Das setzt Maßstäbe für die Verbilligung der Kosten der Arbeit zur Wiedergewinnung der Wettbewerbsfähigkeit Frankreichs Wirtschaft.
Mit dem „Kombilohn“ setzt die rotgrüne Regierung ganz praktisch ein Stückchen weiter den neuen sozialpolitischen Haupt- und General-Grundsatz durch, dass ein kompletter Lebensunterhalt für die Arbeitnehmer der Nation einfach nicht mehr drin ist, nämlich nicht mehr enthalten sein kann in dem nationalen Durchschnitts- und Gesamt-Preis für Arbeit, der den am nationalen Standort tätigen Kapitalisten allenfalls zuzumuten ist.
Unter Anleitung der Regierung hat das Bündnis für Arbeit für Lohn-Zurückhaltung gesorgt und setzt in Anknüpfung an den Überstunden-Skandal diesen Kurs entschieden fort, u.a. durch Verrechnung der Überstunden gegen den Aufwand für „Qualifizierung“ von alt und unbrauchbar gewordenen Arbeitsplatzinhabern. Und Arbeitslose müssen künftig, statt etwa schwarz zu arbeiten, von dem Angebot Gebrauch machen, sich irgendwie qualifizieren und damit besser überwachen zu lassen.
Der Kampf gegen die „Lohnnebenkosten“ als Neuerung beim sozialstaatlichen Kassieren und Verteilen. Der konsequente Einsatz von Gewerkschaft und Sozialdemokratie für die Korrekturbedürfnisse des Standorts Deutschland.
Die Freiheit zum grenzüberschreitenden Geldverdienen erhalten Kapitalisten durch die Übereinkunft zwischen nationalen Staatsgewalten, welche die Territorialisierung des Geschäfts, das sie betreuen, für eine Beschränkung halten. Staaten, die ihre Gesellschaft auf die Vermehrung von Kapital verpflichten, gründen nämlich ihren ökonomischen Bestand darauf, dass sie sich ihre Finanzmittel aus den Umsätzen und Einkommen ihrer Bürger beschaffen. Ihr Interesse an möglichst viel Erwerbstätigkeit im Land schließt die Benutzung auswärtiger Geldquellen ein.