Alltag im deutschen Klassenstaat (Teil I)
Die Erledigung der sozialen Frage heute
Der Kampf gegen die „Lohnnebenkosten“ als Neuerung beim sozialstaatlichen Kassieren und Verteilen. Der konsequente Einsatz von Gewerkschaft und Sozialdemokratie für die Korrekturbedürfnisse des Standorts Deutschland.
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Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Gliederung
- Offizielle Klarstellungen zum notwendigen Zusammenhang von Kapitalerfolg und Massenarmut
- Der Kampf gegen das nationale Lohnniveau: Moral und Praxis der Lohnsenkung
- Der Kampf gegen die sog. Lohnnebenkosten: Neuerungen beim sozialstaatlichen Kassieren und Verteilen
- Der konsequente Einsatz von Gewerkschaft und Sozialdemokratie für die Korrekturbedürfnisse des Standorts Deutschland
Alltag im deutschen Klassenstaat (Teil I)
Die Erledigung der sozialen Frage heute
Auf eine eindrucksvolle Auflistung der Fortschritte, die die Verarmung der Arbeiterklasse in Deutschland macht, kann in dieser Zeitschrift verzichtet werden. Schließlich ist es gar nicht so, daß es an einschlägigen Informationen über die „Schattenseiten“ der Marktwirtschaft fehlen würde. Daß die gepriesene Produktionsweise den Berufsstand der Arbeitslosen konjunkturunabhängig mit Nachwuchs versorgt, wird nicht verheimlicht. Neben und in schönstem Kontrast zu Meldungen über ein „kräftiges Wirtschaftswachstum“ – das seit einiger Zeit auch die Staatseinnahmen wieder „sprudeln“ läßt – wird die Zahl der Arbeitslosen ziemlich unvermindert fortgeschrieben und von Sachverständigen mit dem Hinweis versehen, daß mit ihrem Sinken auf absehbare Zeit nicht zu rechnen ist. Die höchsten Staatsrepräsentanten bringen in ihren Festtagsreden nachdrücklich die „menschlichen Schicksale“ in Erinnerung, die „hinter den Zahlen der Sozialstatistik“ stehen – zur moralischen Erbauung des Volks, das sich am Vergleich mit „Krieg, Hunger und Elend“ aufrichten kann, die Belastbarkeit der Familienbande als hohen Wert nahegebracht bekommt und seine Vorbilder an denjenigen nehmen darf, die in der Betreuung Hilfloser „selbstlos einen Dienst übernehmen, ohne gleich eine Gegenleistung zu erwarten“. Die schäbigen Innenansichten der Nation sind also nicht unbekannt, sie beeindrucken nur keine maßgebliche Instanz. Ein Armutsbericht der Kirchen, zu Wahlkampfzeiten an die Bundesregierung adressiert, stößt einfach auf keine Nachfrage – staatlicher Handlungsbedarf ist offensichtlich keiner vorhanden –, sondern wird als Anschlag auf die optimistische Stimmung zurückgewiesen, die der Kanzler seiner Nation verordnet hat.
Offizielle Klarstellungen zum notwendigen Zusammenhang von Kapitalerfolg und Massenarmut
Daß die Armut in der deutschen „Wohlstandsgesellschaft“ nicht als kritikwürdiger Tatbestand gilt, liegt daran, wie sie von vornherein genommen wird. Nämlich nicht als Schlaglicht auf die „menschenverachtende“ Funktionsweise des ökonomischen Systems und den praktizierten Zynismus seiner politischen Verwalter, sondern als die in ihrer Unvermeidlichkeit anzuerkennende Begleiterscheinung einer Produktionsweise, die für alle Beteiligten als ultima ratio feststeht. Die Unvermeidlichkeit der unerwünschten Nebenwirkung beweisen aufgeklärte Zeitgenossen sich und anderen, indem sie die Notwendigkeiten herbeizitieren, die in ihrem marktwirtschaftlichen Laden praktisch gelten.
So, durch die Funktionsweise des ökonomischen Systems gerechtfertigt, ist es dann in aller Munde: „das Krebsgeschwür“, die Arbeitslosigkeit, die nicht enden will, obwohl alle maßgeblichen Instanzen, Regierung und Opposition, Unternehmer und Gewerkschaften, unter geistigem Beistand einer aufgeregten Öffentlichkeit und trostspendender Kirchen zum Kampf gegen sie aufgerufen haben. Warum sie stattdessen vielmehr wächst, ist in Vokabeln wie „Stellenabbau“, „Gesundschrumpfen“ und vor allem „Rationalisierung“ jedermann geläufig: Die Leute werden aus Rentabilitätsgründen entlassen und aus denselben Gründen nicht wieder gebraucht. Schon die Benennung dieses banalen Grundes verrät jedoch die felsenfeste Gewißheit, daß an ihm nicht zu rütteln und ihm deswegen auch nicht zu widersprechen ist.
Dabei spricht es wirklich nicht unbedingt für die „Rationalität“ einer Wirtschaftsweise oder für „gesunde“ Verhältnisse, wenn sich die Effektivierung der Arbeit, die Erhöhung ihres materiellen Nutzeffekts, geradewegs gegen diejenigen richtet, die sie zu erledigen haben. Alles geht flotter und leichter, der gesellschaftliche Reichtum an Gebrauchswerten produziert sich beinahe von selbst, menschliche Arbeit wird entbehrlich – und die Logik des gesellschaftlichen Systems der Arbeit sorgt dafür, daß die Arbeitskräfte in der Falle sitzen: Vom leichter produzierten Reichtum fällt für sie weniger ab. Ein Teil von ihnen wird mit jedem einschlägigen Fortschritt in die Einkommenslosigkeit entlassen, also von den Früchten des Fortschritts überhaupt ausgeschlossen. Und das, ohne daß die verbleibenden Arbeitskräfte etwas davon hätten: Statt daß Geruhsamkeit an ihren Plätzen einzieht, werden sie mit neuen Leistungsanforderungen für die erweiterte Produktion haftbar gemacht; und unter Hinweis auf die Null-Diät der Entlassenen wird auch ihr Anteil an der hergestellten Güterwelt herabgedrückt.
„Gesund“ ist das für die Unternehmer der Nation, die als Eigentümer der Produktionsmittel auch die berechtigten Herren über die sachgerechte Gestaltung des Produktionsprozesses sind. Die Sache, um die es ihnen geht, ist schlicht der Gewinn, der sich mit dem Verkauf ihrer Waren erzielen läßt; die müssen dafür kostengünstig produziert werden. Diesem Zweck wird der kapitalistische Eigentümer gerecht, indem er die Arbeiter, die das Firmeninventar produktiv handhaben, kalkulatorisch zerlegt in einen Kostenfaktor, der zu verkleinern, und einen Produktionsfaktor, dessen Leistung zu steigern ist. Für diese doppelte Rechnung sind Lohnarbeiter ungemein geeignet, weil sie sich als Produktionsfaktor mit jeder Sorte Maschinerie kombinieren lassen, also flexibel und universell einsetzbar und für jede Produktivitätssteigerung gut sind – und zugleich als betrieblicher Kostenfaktor um so günstiger, je effektiver die Maschinerie; denn um so weniger braucht man von ihnen. „Rational“ ist es daher, Kapital dafür einzusetzen, daß immer weniger bezahlte Arbeit immer mehr Ertrag herbeischafft, Kapitalwachstum für eine immer geringere Lohnsumme zu haben ist: Produktive Armut ist eben das Mittel kapitalistischer Bereicherung.[1]
Freilich muß der produzierte dingliche Reichtum erst noch am Markt versilbert werden, um in den Bilanzen eines kapitalistischen Unternehmens überhaupt als Reichtum zu Buche zu schlagen. Und das machen Unternehmer gerne als ihre ureigene Zwangslage geltend, die ihnen zur vermehrten Ausbeutung des eingekauften Produktionsfaktors Arbeit gar keine Alternative läßt. Mit ihrem Aufwands-Ertrags-Verhältnis bzw., auf die einzelne Ware umgerechnet, dem Kostpreis und den Lohnstückkosten als dessen wichtigstem, weil variablen Bestandteil müssen sie nämlich die Konkurrenz mit ihresgleichen bestehen. Immerhin ist aber das, was ihnen da zum unabweisbaren Muß wird, wiederum nichts anderes als ihr eigener Reichtum. Insofern ist es zwar verrückt genug und auch kein übermäßiges Gütesiegel für die herrschende Produktionsweise, daß die Mehrung des gesellschaftlichen Überflusses als Zwangsveranstaltung abläuft; doch handelt es sich andererseits um eine eigentümlich nützliche Zwangslage, mit der die Herren und Nutznießer der Produktion einander bei Strafe des Untergangs ihrer Firma zu ihrem Glück nötigen. Die Härten dieses Sachzwangs haben die kapitalistischen Konkurrenten selber denn auch gar nicht auszuhalten; eben dafür nehmen sie ihren menschlichen Produktionsfaktor her. Der büßt dafür mit einer sinkenden Lohnsumme und gesteigerter Produktionsleistung.
Der Aufwand, den Deutschlands weltmarkttüchtige Unternehmer dafür treiben, ist enorm. Sie dividieren ihn gern durch die Zahl ihrer – jeweils noch verbliebenen – „Mitarbeiter“, um in den Summen, die dabei herauskommen, ihren hingebungsvollen Einsatz für „Arbeitsplätze“ vorstellig zu machen. Tatsächlich demonstrieren sie damit nur, wieviele Mittel sie auf der einen Seite aus ihren Betriebsbelegschaften herausgewirtschaftet haben und wofür sie diese auf der anderen Seite anlegen – gegen deren Lohninteressen nämlich. Deswegen sind die Erfolge, die die deutschen „Arbeitsplätzebeschaffer“ im globalen Konkurrenzkampf erringen, komplementär zum rasant steigenden Anlagevermögen der Unternehmen in der kontinuierlich steigenden Zahl Arbeitsloser zu besichtigen. Diese Anzahl fluktuiert nicht bloß mit den Konjunkturen des kapitalistischen Geschäfts; sie nimmt insgesamt zu, weil der Reichtum „der Wirtschaft“ umgekehrt proportional zur Lohnsumme wächst, die sie dafür ans nationale Arbeitsvolk wegzahlen muß.[2]
Gegen dieses Sachgesetz des kapitalistischen Interesses erhebt aus der nationalen Einheitsfront der Feinde des „Krebsübels Arbeitslosigkeit“ niemand einen Protest. Im Gegenteil: Je eindeutiger der Schaden, um so selbstverständlicher der Standpunkt, daß man davon ausgehen muß. Gerade seit die Armut immer auffälliger wird, die der Kampf der Unternehmer um mehr Abstand zwischen der nationalen Lohnsumme und dem nationalen Kapitalwachstum erzeugt, schwinden auch noch die letzten moralischen Vorbehalte gegen „raffgierige“ Unternehmer und ihre „Manchester-Sitten“. Gebetsmühlenartig wird die Vorstellung bemüht, der „Wettbewerb“ nötige die Arbeitgeber zu „Marktanpassungen“ und zwinge ihnen jene „Effizienz“ auf, der immer wieder Arbeitsplätze zum Opfer fallen. Als wäre es zu übersehen, daß sie es sind, die diesen Wettbewerb mit ihren „Anpassungs“leistungen und „Effizienz“bemühungen betreiben – und zwar ausschließlich in ihrem eigenen Interesse an Profit. Übersehen wird dieses Interesse freilich gar nicht. Es wird nur von keiner Seite für erwähnenswert befunden, weil es allseits gebilligt ist. Als gültiger Standpunkt ist es so sehr unterstellt, daß die Klage von Unternehmern über Konkurrenten, die seiner Durchsetzung im Weg stehen, glatt als seine Rechtfertigung durchgeht.
Zumal dann, wenn es der „internationale Wettbewerb“ ist, der es der deutschen Wirtschaft schwer macht. Widerspruch gegen Stellungnahmen wie die folgende, in der der Kanzler in seiner unverkrampften Art hinerzählt, worum es seiner Meinung nach geht, ist einfach undenkbar. Die Stellungnahme findet sich übrigens unter der Überschrift „Bekämpfung der Arbeitslosigkeit“:
„Der weltweite Wettbewerb wird immer schärfer und stärker. Unsere Nachbarländer in Mittel- und Osteuropa werden für Investoren zunehmend attraktiv. Anbieter aus den neuen Wachstumszentren im pazifischen Raum erringen auf den Weltmärkten mit hochwertigen Produkten steigende Marktanteile. All dies stellt die deutsche Wirtschaft vor neue Herausforderungen. Sie muß sich anstrengen, um ihre Spitzenposition in der Welt zu erhalten und auszubauen.“
In drei aufeinanderfolgenden Halbsätzen versteht es Kohl, die deutsche Wirtschaft als von der Konkurrenz betroffen vorzustellen, sie als Maßstab setzendes Subjekt der Konkurrenz zu benennen und ihr den Auftrag mit auf den Weg zu geben, der auswärtigen Konkurrenz das Nachsehen zu geben. Seine Gleichsetzung des Kapitalerfolgs mit der Sache der Nation bedarf keiner Begründung; das Attribut „deutsch“ zu „Wirtschaft“ macht alles klar: Hinter dem Interesse der Unternehmer steht, nahtlos und unverbrüchlich, der allerhöchste, alle verpflichtende Materialismus, nämlich eben der der Nation. Dieser „Egoismus“ ist nicht im mindesten anfechtbar durch die Überlegung, wie sich die deutsche „Spitzenposition“ wohl vom Standpunkt der Verlierer des weltweiten „Wettbewerbs“ ausnimmt – der schlagende Einwand gegen jeden Egoismus: „Wenn das alle täten!“ gilt hier nicht –; geschweige denn, daß noch jemals ein kritischer Blick auf die „Anstrengungen“ fiele, die deutsche Unternehmer ihren Arbeitskräften auferlegen, um „Spitze“ zu bleiben und noch mehr zu werden. Alles, was ihrem Profit nutzt, ist nationaler Kampfauftrag.
Von diesem Maßstab her – „Wettbewerbsfähigkeit“ lautet das alles schlagende Argument – wird in Deutschland nachgedacht und geurteilt; und zwar über die Ereignisse in der heimischen Marktwirtschaft ebenso wie über die Eigentümlichkeiten auswärtiger Volkswirtschaften; mit dem Anspruch also, daß sich an diesem Maßstab universell die Güte ökonomischer Verhältnisse entscheidet.
Ein Unternehmen namens Telekom sorgt in der Republik dann beispielsweise für negative Schlagzeilen. Aber nicht mit der Ankündigung, in der nächsten Zeit einige Zehntausend „Mitarbeiter“ zu entlassen – dieser Beitrag des Unternehmens zur Arbeitslosenstatistik ist einfach nicht Thema. Für Aufregung sorgen sog. „Traumabfindungen“, die bei der Gelegenheit über den Tisch gehen sollen. Abstandszahlungen, die von ziemlich vielen zusätzlichen Arbeitslosenhaushalten in den nächsten 12 bis 19 Monaten aufgebraucht sein werden, führen der Öffentlichkeit den unerhörten Skandal vor Augen, daß eine deutsche Aktiengesellschaft, die sich gerade für den Weltmarkt fit macht, für Entlassungen Geld zahlen muß. Auch die vergleichsweise nüchterne Rechnung des Unternehmens, das seine unkündbaren Angestellten – die es mit diesem Status vom Staat geerbt hat – nur so los wird und für das die Abfindungen nach Auskunft seiner Geschäftsleitung „billiger“ kommen als Weiterbeschäftigung, kann die Nation nicht mehr beruhigen, die sich als fanatisierter Anwalt unternehmerischer Freiheiten in Sachen Kündigungen ins Zeug legt.
Wenn derselbe am Maßstab marktwirtschaftlicher Erfolgsrechnungen durchgedrehte Verstand dann einen Blick über die Grenze wirft, sieht er sogleich, woran das russische Wirtschaftsleben krankt:
„Für verhängnisvoll halten es die drei Institute, daß die Produktionsrückgänge in der Industrie – von 1990 bis 1993 um rund 40 Prozent – kaum Stillegungen veralteter Kapazitäten und nur ‚äußerst geringfügige‘ Anpassungen bei den Beschäftigten nach sich zogen. Letzteres habe damit zu tun, daß das Management von Staatsbetrieben Massenentlassungen scheue, ‚weil es kein funktionierendes soziales Netz gibt‘.“ (FR vom 12.1.95)
Einwände gegen die Marktwirtschaft, die in Rußland die Produktion weitgehend flachlegt, sind dem geballten Sachverstand der drei Wirtschaftsinstitute naturgemäß fremd. Er verlangt nach der Konsequenz, die sich aus allen Regeln marktwirtschaftlicher Rechnungsführung ergibt: daß Belegschaften, deren Anwendung sich nicht rentiert, der Lebensunterhalt zu streichen ist. Die deutschen Sachverständigen „scheuen“ daher nicht davor zurück, „Massenentlassungen“ zu empfehlen, die, „angepaßt“ an die russische Geschäftslage, größere Bestandteile der Bevölkerung die Existenz kosten würden. Sie halten vielmehr Skrupel vor so einer marktwirtschaftlich gebotenen Brutalität für „verhängnisvoll“. Und sie brauchen dafür noch nicht einmal anzugeben, wer durch die Beherzigung ihres Ratschlags etwas gewinnen würde oder wie aus einer herbeigeführten Massenverarmung in Rußland Geschäftsgelegenheiten erwachsen könnten. Sie haben nämlich kein Rezept anzubieten, sondern wenden einen Maßstab an, dessen weltweite Gültigkeit sie aus Prinzip verlangen. Dieser Maßstab, den sie ihrer erfolgsverwöhnten Nation entnommen haben, stellt für sie alles klar: Wo nicht den Bedürfnissen des Geschäfts gemäß entlassen wird, kann ja nichts funktionieren.
Wenn in Deutschland das „Problem Arbeitslosigkeit“ angegangen wird, ist also die Affirmation gewinnsteigernder Entlassungen und damit die Anerkennung ihres Grundes das erste Wort. Was gibt es auf der Grundlagen gegen die Arbeitslosigkeit zu tun?
Der Kampf gegen das nationale Lohnniveau: Moral und Praxis der Lohnsenkung
Das Hindernis für mehr Beschäftigung ist anerkanntermaßen das Lohnniveau in Deutschland. Über das ist mit dem Hinweis, daß im Ausland Arbeitskräfte billiger zu haben sind und im Inland Arbeitskräfte nicht unterkommen, alles gesagt: Es untergräbt die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft, birgt die Gefahr in sich, daß Kapital ins Ausland abwandert, hindert Unternehmer daran, mehr Leute zu beschäftigen, muß also niedriger werden. So jedenfalls argumentieren unter allgemeinem Kopfnicken die Arbeitgeberverbände, die zur Einstimmung auf die diesjährige Tarifrunde ihre Vorschläge zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit eingereicht haben – Entlastung der Unternehmen bei den Lohnnebenkosten, Beseitigung der Überstundenzuschläge durch Saldierung mit Kurzarbeit, Anrechnung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall auf den Urlaub, Streichung eines zusätzlichen Urlaubstags, Ausweitung der regulären Samstagsarbeit, Aussetzung der vermögenswirksamen Leistungen, Einführung von Billigtarifen für Berufsanfänger, für Langzeitarbeitslose usf..
Wenn sich die Unternehmer dabei auf das niedrigere Lohnniveau in anderen Ländern berufen, das ihre Wettbewerbsfähigkeit in Frage und sie vor eine Herausforderung stellt, steht alles ziemlich auf dem Kopf. Schließlich sorgen sie durch ihre weltmeisterlichen Leistungen auf dem Feld effizienter Ausbeutung für das Verhältnis von Lohn und Leistung, das für lohnende Geschäfte weltweit maßgebend ist und das ihnen auswärts in Gestalt von Arbeitskräften entgegentritt, die sich in ihren Heimatländern aufgrund des niedrigeren Ausbeutungsstands einer „arbeitsintensiven Industrie“ nur noch als Billiglöhner geschäftsmäßig nutzen lassen. Und zwar nicht nur von der auswärtigen Konkurrenz, die durch diesen Standortvorteil der deutschen Wirtschaft das Geldverdienen schwer macht. Immerhin ist dem warnenden Hinweis der Unternehmer, sie könnten wegen der höheren Löhne in Deutschland gezwungen sein, ihr Kapital im Ausland anzulegen, unschwer zu entnehmen, wie geläufig ihnen der Standortvergleich nicht bloß theoretisch ist. Sie nutzen die nationalen Differenzen im Lohnniveau, wo es geht, zur Senkung ihrer Lohnkosten aus – durch Verlagerung von Produktionsstätten ins Ausland, durch Kooperation mit auswärtigen Produzenten, durch den Einsatz ausländischer Billigarbeitskräfte in Deutschland; wobei ihnen der Umstand entgegenkommt, daß die Heimstätten des Billiglohns heute nicht mehr nur irgendwo im fernen Osten liegen, sondern seit dem Einzug der Marktwirtschaft in die ehemals sozialistischen Nachbarstaaten praktischerweise gleich vor der eigenen Haustüre.
Die Unternehmer machen also ihre eigenen lohnsenkenden Geschäftspraktiken zum Argument, wenn sie aus dem internationalen Vergleich der Arbeitslöhne den Sachzwang ableiten, bei der Senkung deutscher Lohnstandards nicht locker lassen zu können – und dabei selbstredend den Leistungsstandard unterstellen, den sie in Deutschland durchgesetzt haben; schließlich geht es ihnen beim Sparen am Preis der Arbeit genauso um die Verbesserung des Verhältnisses von Lohn und Leistung wie beim Überflüssigmachen von Lohnzahlungen durch leistungssteigernde Rationalisierungen. Mit ihrem Standortvergleich verweisen sie auf Alternativen, die sie haben – darin nämlich, die Beschäftigungslosigkeit als Hebel der Lohndrückerei einzusetzen. Was sie mit dem in den Billiglohnländern zustandebringen, setzt deswegen gültige Maßstäbe für den Kapitalstandort Deutschland, auf dem sie diesen Hebel seit geraumer Zeit ebenfalls erfolgreich einsetzen, wo er nach ihrem Geschmack aber noch viel mehr hergeben könnte. Auf diese von ihnen gesetzten Maßstäbe berufen sie sich, wenn sie den Umstand, daß Arbeitskräfte Geld kosten, zum Hindernis ihrer Beschäftigung erklären, also aus der Beschäftigungslage, die sie geschaffen haben, ihren Anspruch auf einen niedrigeren Preis der Arbeit ableiten.
Unter nationalen Konkurrenzgesichtspunkten geht diese Lohndrückerei voll in Ordnung. Wenn z.B deutsche Reeder auf ihren Schiffen „ausländische Seeleute zu Billiglöhnen arbeiten“ lassen, wird diese Umgehung deutscher Tarifverträge vom Gesetzgeber durch ein „Zweitregistergesetz“ ausdrücklich genehmigt. Und dessen Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz wurde erst neulich höchstrichterlich mit der Begründung festgestellt: „Mit dem Gesetz sollte der Trend zum kostensparenden Flaggenwechsel gebremst werden.“ Das Gericht, das sich dem staatlichen Anliegen aufgeschlossen zeigte, sicherzustellen, daß der Ertrag der Reedereigeschäfte der richtigen Nation zugutekommt, und dieses Anliegen mit Bedacht gegen den Lebensstandard von Arbeitern abgewogen hat, bestätigte also ausdrücklich, daß das nationale Konkurrenzinteresse die lohnsenkende Geschäftspraktik der Reeder rechtfertigt. Wenn englische Baufirmen mit ihren Billigarbeitern auf deutschen Baustellen anrücken, liegt der Fall zwar genauso – und ist deswegen auch genauso übliche Praxis –, sie nutzen ihre Möglichkeiten, den Preis der Arbeit unter das nationale Niveau zu drücken. Nur laufen ihre Geschäfte unter anderer Flagge. In ihrem Fall gilt daher der Grundsatz des Sozialministers: „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort.“, weil sonst deutsche Bauunternehmer unterboten werden und die Geschäfte dann schon wieder in die falsche nationale Bilanz eingehen. Wenn und soweit es der Durchsetzung deutscher Wirtschaftskraft dient, erkennt der Staat also ausdrücklich an, daß seine Unternehmer die Vorteile anderer Standorte zur Einsparung von Lohnkosten nutzen. Schließlich kann es nicht in der Absicht staatlicher Standortpflege liegen, ausgerechnet die Konkurrenzfähigkeit des eigenen Unternehmerstands zu untergraben.
Daß seine Unternehmer in ihrem praktischen Verhalten wenig von einer ausgeprägten Standorttreue erkennen lassen, veranlaßt den Staat vielmehr zu der Konsequenz, ihnen den nationalen Standort als erstklassiges Geschäftsfeld anzubieten. Erst recht finden daher ihre Bemühungen politische Anerkennung, das deutsche Lohnniveau zu senken. „Wer für wettbewerbsfähige Betriebe sorgt, braucht sich um Arbeitsplätze nicht zu kümmern“, lautet der einschlägige Beschluß aus dem Wirtschaftsministerium, mit dem sich die Politik zur Abhängigkeit der Einkommensquelle der Arbeiterklasse vom Geschäftserfolg des nationalen Unternehmerstandes bekennt und klarstellt, daß eines von Staats wegen nicht vorgesehen ist: Korrekturen an den Wirkungen dieser Abhängigkeit auf die abhängige Variable. Die Beschäftigungspolitik, die auf der Grundlage betrieben wird, ist konsequent betriebene Standortpolitik, also die staatliche Sorge darum, daß sich auf deutschem Boden statt anderswo möglichst viel Geschäft entfaltet. „Arbeitsplätze“ sind daher längst ein Synonym für dieses staatliche Konkurrenzinteresse. Deswegen hält sich auch die Freude in Grenzen, wenn beispielsweise ein deutscher Konzern seine Swatch-Autos in Frankreich produzieren läßt und dort „Arbeitsplätze schafft“. Das spricht dann zwar einerseits auch für die „Wettbewerbsfähigkeit“ des deutschen Autoherstellers, der sich erfolgreich in einen auswärtigen Markt einnistet. Aber nur einerseits, denn andererseits stellt sich in so einem Fall der ganzen Nation vor allem die Frage, ob mit dem Standort Deutschland etwas nicht in Ordnung ist. In allen Details werden dann öffentlich alle Faktoren durchgenommen, die bei der Standortentscheidung des Konzerns eine Rolle gespielt haben – von den Grundstückspreisen und Steuersätzen über die Marktchancen bis zur günstigen Anbindung ans Eisenbahnnetz –, mit dem eindeutigen Ergebnis, daß in Deutschland die Löhne zu hoch sind. Daß die Lohnhöhe in den Standortentscheidungen von Unternehmen nur ein Gesichtspunkt ist – in dem angesprochenen Fall noch nicht mal der entscheidende – und sich dieser Gesichtspunkt an anderen Standortfaktoren ökonomisch relativiert, spielt dann in der öffentlichen Aufbereitung der Problemlage einfach keine Rolle. Und zwar deswegen, weil die öffentliche Meinung solche Fälle aus dem durchgesetzten Blickwinkel der Standortpolitik betrachtet, für die das nationale Lohnniveau der entscheidende Faktor ist.
Daß die Senkung des Lohnniveaus praktizierte Standortpflege ist, verkünden die maßgeblichen Politikern zwar auch öffentlich vor jeder Tarifrunde und läßt sich unschwer auch dem Regierungsprogramm entnehmen, das u.a. das „Ziel bekräftigt, die Lohnnebenkosten zu senken“. Sie ist jedoch keine Angelegenheit, die in erster Linie die Politik durchsetzen müßte. Die kann sich in der Hinsicht voll auf ihren Unternehmerstand verlassen, der politisch ins Recht gesetzt dabei nichts anbrennen läßt.
Wenn dessen Vertreter im Vorfeld der 95er Tarifrunde „Spielräume“ für „maßvolle Tariferhöhungen“ entdecken, sagt das einiges über den erreichten Stand – allerdings nichts über eine etwa vorhandene Bereitschaft, höhere Tarife zuzugestehen. Während alle Welt die 6%igen Gewerkschaftsforderungen längst auf Abschlüsse um die 3% herunterrechnet, beharren die Arbeitgeber im maßstabsetzenden Tarifstreit der Metallbranchen auf Kostensenkungen als unerläßlicher Vorleistung der Gewerkschaftsseite, um allenfalls dann mehr zu zahlen. So führen sie in die Lohnverhandlungen ein, was sie ohnehin mit zunehmendem Erfolg alltäglich praktizieren: Sie senken die Löhne in Deutschland
- durch „Abschmelzung übertariflicher Einkommen“, den „Abbau von freiwilligen Leistungen“ bzw. deren Anrechnung auf die Tariflöhne; eine Praxis, die manchen tariflich ausgehandelten Prozentsatz bedeutungslos macht;
- durch Teilzeitarbeitsplätze bzw. Arbeitszeitmodelle, die die bezahlte Wochenarbeit maßgeschneidert auf ihre betrieblich rentable Anwendung reduzieren und den Lohn von dem Kriterium entbinden, der Arbeitskraft den Lebensunterhalt zu zahlen;
- durch Ausweitung der regulären Arbeitswoche auf den Samstag, mit der der Nutzen längerer „Maschinenlaufzeiten“, die den Kapitalumschlag beschleunigen, auch ohne Lohnzuschläge zu haben ist;
- durch Einsparung von Überstundenzuschlägen; der diesbezügliche „Horrorvorschlag“, „Gleitzeitkonten“ einzuführen, „so daß bei guter Auftragslage zum normalen Tarif länger, bei schlechter Lage kürzer gearbeitet wird“, bezieht sich auf die schon stattfindende Praxis, innerhalb gewisser Fristen Überarbeit mit Unterarbeit aufzurechnen, und zielt auf deren Ausweitung;
- durch Überflüssigmachen qualifizierter Arbeit und die Umgruppierung von Arbeitsplätzen;
- durch Ausnutzung bestehender Differenzen in den Tarifbereichen der verschiedenen Einzelgewerkschaften mittels entsprechender Aufgliederung von Unternehmen;
- durch Beschäftigung formell „selbständiger“ Arbeiter, bei denen die Sozialversicherungskosten entfallen;
- durch Einstiegstarife zwischen 90 und 95% der normalen Tarifsätze für Langzeitarbeitslose, extern ausgebildete Berufsanfänger und sonstige unbefristete Neueinstellungen; auch das ist in der Chemieindustrie tarifvertraglich anerkannte Praxis;
- durch Ausnutzung ostdeutscher Niedrigtarife.
Das alles auf der Grundlage einer mittlerweile schon Jahre andauernden tariflichen Reallohnsenkung mit Nullmonaten und Laufzeitverlängerungen, mit dem Einfrieren des Urlaubsgeldes und der Senkung der Jahressonderzahlungen etc.
Der Kampf gegen die sog. Lohnnebenkosten: Neuerungen beim sozialstaatlichen Kassieren und Verteilen
Wieviel für Arbeit hierzulande zu zahlen ist und was an Leistung daraus herauszuholen, das haben, wie man sieht, die Arbeitgeber in der Hand; doch das genügt ihnen nicht. Je härter und erfolgreicher sie ihre Kalkulationen durchziehen und aus einer ausgedünnten und verbilligten „Mit“arbeiterschaft wachsenden Gewinn herausholen, um so heftiger attackieren ihre politischen Wortführer außerdem die staatliche Sozialgesetzgebung und ihr wichtigstes Werk, das System der Sozialversicherungen. Ihnen ist das alles einfach zu teuer.
Das ist einerseits ein schlechter Witz. Denn von wirklichen Zusatzkosten, die der Staat ihnen dafür in Rechnung stellen würde, daß er sie seine braven Bürger ausbeuten läßt, kann kaum die Rede sein. Bei der – befristeten – Lohnfortzahlung im Krankheitsfall vielleicht, die deswegen auch am entschiedensten kritisiert und mit dem Antrag angegriffen wird, die ersten Krankheitstage nicht bezahlen zu müssen. In der Hauptsache aber, nämlich bei der Bedienung seiner Sozialkassen, geht der Staat genauso vor wie bei der Lohnsteuer: Er verstaatlicht einen Teil der Summe, die die Arbeitgeber ohnehin als Preis des „Produktionsfaktors Arbeit“ kalkulieren und die sich entweder für sie lohnt oder gestrichen wird. Zwar ist die Abrechnung der Kassenbeiträge so gestaltet, daß nur die Hälfte davon als Abzug vom Bruttolohn, die andere Hälfte als Zuschlag des Arbeitgebers zum Bruttolohn firmiert. Tatsächlich wird aber nicht eine fertige Unternehmerrechnung mit einer Zusatzkost belastet, sondern bloß der Betrag vermindert, von dem der Arbeitnehmer leben muß, nachdem sein Chef den Preis der Arbeit entrichtet hat.[3] Insofern berufen sich die Arbeitgeber auf eine ganz fiktive Rechnung, wenn sie geltend machen, „der Sozialstaat“ würde ihre Kosten in unverantwortbare Höhen treiben.
Tatsache bleibt dennoch, daß die Kapitalisten der Nation, wenn der Sozialstaat zulangt, sich mit Kosten konfrontiert sehen, die sie ganz einfach sachfremd finden. Im „Sozialen“ erkennen sie einen Gesichtspunkt, der völlig extern ist zu ihrer Kalkulation mit einem lohnenden Preis der Arbeit. Und damit haben sie irgendwo schon recht, wenn auch nicht mit ihrer Beschwerde über sozialstaatliche Preistreiberei. Denn wenn der Staat sich in die Verwendung der veranschlagten Lohnsumme einmischt und ein gutes Stück davon für seine Sozialkassen beschlagnahmt, dann reflektiert er, offiziell und allgemeinverbindlich, auf eine Notwendigkeit, die ansonsten den privaten Einteilungskünsten der „Lohnempfänger“ überlassen bleibt: mit dieser Summe auszukommen. Mit seinen Sozialgesetzen bezieht der Staat sich darauf und erkennt als politisches Problem an, daß der Arbeitslohn ganz allgemein und grundsätzlich kein hinreichendes Lebensmittel ist; insofern er nämlich die Lebensphasen gar nicht abdeckt, die zu einem Dasein als „abhängig Beschäftigter“ notwendig dazugehören, in denen diese Figur aber gar keine Arbeitsleistung abliefern kann; sei es aus „persönlichen“ Gründen, wegen Krankheit, deren Therapie außerdem sowieso zu teuer ist für einen Arbeitnehmerhaushalt, oder aus Altersgründen, sei es wegen fehlender Nachfrage nach ihrer Arbeitskraft. Der Sozialstaat löst dieses Problem, indem er den Betroffenen per Gesetz eine Umverteilung ihres Einkommens aufzwingt – also in vollem Respekt vor der ökonomischen Rechnung der Arbeitgeber, wieviel ihnen die Arbeit ihrer Belegschaft wert ist. Daß der Lohn fürs ganze Leben oder, dasselbe gesamtvolkswirtschaftlich im Querschnitt gesehen, für alle Lohnabhängigen, auch die unbenutzten und unbenutzbaren, mit reicht, legt die Sozialgesetzgebung ganz dieser armseligen Klasse zur Last. Die andere Klasse, die die Löhne zahlt, nimmt daran aber trotzdem eine Parteilichkeit der Staatsmacht für wirtschaftsfremde Interessen wahr, nämlich für das Interesse an einem (Über)Leben über die Dienstzeit als Produktionsfaktor hinaus. Daß Lohnarbeiter auf Geheiß des Sozialstaats insgesamt und lebenslänglich vom Preis des „Faktors Arbeit“ leben müssen, nehmen die Lohnzahler so wahr, daß letztendlich doch sie für den lebenslangen Finanzbedarf ihrer Arbeitskräfte bzw., andersherum betrachtet, für den Gesamtunterhalt der Lohnabhängigen der Nation geradestehen – und zwar durchaus nicht freiwillig. Ihre Polemik gegen die „Kosten des Sozialstaats“ gilt insofern ganz banal den Unterhaltskosten der Lohnabhängigen: dem Wert der als Ware verfügbaren gesellschaftlichen Arbeitskraft.
Ihren Kampf um die Senkung des Preises, den sie für Arbeit zahlen müssen, unter den Wert der seltsamen Ware, die sie dafür einkaufen müssen, führen die Unternehmer praktisch an ganz anderer Stelle als in ihren polemischen Beiträgen zur Sozialpolitik des deutschen Staates; nämlich in ihren Betrieben, in Tarifverhandlungen usw. Ihr Gejammer über unerträgliche Sozialkosten gehört somit zwar zum Grundbestand demokratischer Meinungsvielfalt, ist aber kein übermäßig wirksames Instrument in ihrem „Lohnkampf“. Um so wirksamer hängen die Lohnsenkungen, die sie durchsetzen, andersherum mit ihren Forderungen nach einer gründlichen Verbilligung des Sozialen zusammen: Je erfolgreicher die Unternehmer die gesamtgesellschaftliche Lohnsumme herabdrücken, um so weiter fallen die Notwendigkeiten einer Umverteilung dieser Summe auf die gesamte Klasse der Lohnabhängigen auf der einen Seite, die umverteilbaren Finanzmassen auf der anderen Seite auseinander. Diese wachsende Diskrepanz setzt die Polemik der Arbeitgeber praktisch ins Recht. Gemessen am gesamten Reichtum, der so geschaffen wird, ist das zwar ein Witz – aber gemessen an der Lohnsumme, die die Unternehmen noch zahlen und aus der der Staat die Sozialkassen sich bedienen läßt, wird deren Bedarf tatsächlich „unbezahlbar“. Dieser Unternehmerstandpunkt muß gar nicht erst von Staats wegen recht bekommen und in Gesetze gegossen werden, um Gültigkeit zu erlangen; er ist gültig, nämlich der einzig realistische, weil die Arbeitgeber die Kosten der Sozialversicherungen tendenziell untragbar machen.[4]
Mannhafte Sozialpolitiker, egal ob christ- oder sozialdemokratisch sozialisiert, kennen diesen Zusammenhang übrigens, benennen ihn zumindest gelegentlich[5], verwahren sich daher tapfer gegen die rüden Angriffe aus dem „Unternehmerlager“ auf ihr sozialstaatliches Kunstwerk – und tragen zugleich der Krise Rechnung, in die die allgemeine Lohnkostensenkung die Sozialkassen stürzt: Sie betreiben deren „Umbau“. Damit beweisen sie die Anpassungsfähigkeit ihres Systems der Lohnumverteilung und beteiligen sich an der gründlichen Neudefinition des Wertes der Ware Arbeitskraft, wie die Protagonisten des Kapitalinteresses sie fordern.
A.
Arbeitslosigkeit gehört zu den „Lebensrisiken“, die keine private Versicherung abdeckt.[6] Ihre Betreuung bleibt ganz der gesetzlichen Kasse und den Arbeitsämtern überlassen. Und die haben sich als sehr leistungsfähig erwiesen. Daß Arbeitslosigkeit zur Massen- und Dauerangelegenheit geworden ist; daß jede Rezession mehr Entlassene hinterläßt, die auch im neuen Aufschwung nicht wieder gebraucht werden; daß ein zusätzlich eingemeindetes Volk zur Hälfte arbeitslos gemacht und der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit überantwortet worden ist – das alles wurde mit einer Anhebung der Beitragssätze, einer Minderung der Auszahlungsbeträge und ein paar Modifikationen bei den Versicherungsbedingungen bewältigt. Natürlich ist das für den betroffenen Einzelnen nicht schön, wenn ganz unabhängig von seinen Leistungen, Chancen und Bedürfnissen immer mehr von seiner Lohnsumme abgezogen wird – 6,5% inzwischen – und immer weniger ausgezahlt – mit Kind 67% vom letzten Netto-Entgelt, ohne Kind 60% beim Arbeitslosengeld, 57 bzw. 53% bei der Arbeitslosenhilfe –; wenn das Anrecht auf Arbeitslosengeld an immer mehr Bedingungen geknüpft und seine Dauer verkürzt wird; wenn die daran anschließende Arbeitslosenhilfe regelmäßig nach unten an das Entgelt für den Job angepaßt wird, in den der Betroffene sich allenfalls noch vermitteln ließe; wenn dabei für die Zumutbarkeit eines neuen Arbeitsplatzes immer schärfere Maßstäbe gelten, insbesondere was die Entlohnung, aber auch z.B. die tägliche Anfahrt betrifft; wenn bei der Verhängung von Sperrzeiten von Amts wegen eine gewisse Willkür um sich greift; wenn gesetzliche wie wilde Ehepartner mit ihrem Einkommen und Vermögen füreinander einstehen müssen, bis sie noch maximal 8000.- DM besitzen; usw. Das alles macht aber nur die wirkliche Auftragslage der Bundesanstalt für Arbeit und ihrer Kasse kenntlich, folgt daraus nämlich ganz logisch.
Wenn der bundesdeutsche Kapitalismus Arbeitslose produziert, dann ist er nicht an die Schranken einer naturgegebenen Knappheit gestoßen, sondern offenbart im Gegenteil, wie leicht ihm die Mehrung des Reichtums fällt: Er braucht für seine Wachstumsraten nicht einmal alle verfügbaren Hände. Wenn er sich ein Millionenheer von Arbeitslosen leistet, dann beweist er damit allerdings keine Großzügigkeit, sondern organisiert den Mangel, dem er seine Arbeitskräfte unterwirft. Aus deren Lohn wird das Nötigste abgezweigt, um Entlassene nicht einfach zu erhalten, sondern um sie als Teil der gesamten gesellschaftlich verfügbaren Arbeitskraft für jederzeitige Wiederverwendung, als zusätzliche oder Ersatzmannschaft, in Bereitschaft zu halten. Deswegen die sinnreiche Kombination der Unterstützung aus Lohngeldern mit der nationalen Arbeitsvermittlung: Indem die Bundesanstalt „Arbeitslosigkeit finanziert“, eröffnet sie fürs Kapital einen Arbeitskräftemarkt, organisiert für dessen Bedarf ein Angebot – und zunehmend ein hoffnungsloses Überangebot – an potentieller Lohnarbeit. Auf diesen Zweck sind alle Regelungen bezogen, die den Arbeitslosen jederzeitige Verfügbarkeit nicht bloß zur Pflicht machen, sondern geradezu zum Beruf ausgestalten – wobei der Urlaubsanspruch nicht vergessen wird! –; ebenso die Umschulungsangebote; sogar noch die letzten Bildungsmaßnahmen für Langzeitarbeitslose, die nur noch ermitteln, wofür die einzelnen Mitglieder dieses Bodensatzes überhaupt noch bzw. schon nicht mehr taugen. Daneben stellen alle diese Pflichten, die das Berufsbild des modernen deutschen Arbeitslosen ausmachen, das jeweils gewünschte Maß an Sparsamkeit sicher: Wer sie verletzt, wird mit Leistungskürzungen oder -sperre bestraft; wer sie erfüllt, hat entweder Glück oder steigt in die durchorganisierte Negativkarriere ein, die ihn für die Arbeitsvermittlung zwar immer weniger brauchbar, für die Arbeitslosenversicherung aber immer billiger macht. Wie da – insgesamt und deswegen auch im Einzelfall – verfahren, der Übergang zur Verwahrlosung gebremst oder beschleunigt wird, richtet sich wiederum, ganz marktwirtschaftlich, nach Angebot und Nachfrage: nach dem Verhältnis zwischen dem Arbeitskräftebedarf der Arbeitgeber und der Masse der Entlassenen, die sie der Bundesanstalt zur Verwaltung überantworten.
Auf die Dauer allerdings, wenn die Zahl der Arbeitslosen so hoch ist und gar nicht sinken will, scheiden sich die beiden Leistungen, die diese Anstalt so genial kombiniert hat und gut miteinander erledigen konnte, solange die Konjunkturen des nationalen Kapitals noch regelmäßig dessen Nachfrage nach Arbeit belebt haben: Die Erhaltung der entlassenen Leute erweist sich immer weniger als Bereithaltung fallweise benötigter Arbeitskraft; die ordentliche, auf Zweckmäßigkeit ausgerichtete Verwaltung der Armut, die aus Entlassungen entsteht, deckt sich immer weniger mit der Herstellung eines Arbeitsmarktes, auf dem Arbeitgeber sich nach Belieben bedienen können. Der Arbeitslosenkasse fällt ein Menschenüberschuß zur Last, der nicht mehr die Funktion einer Arbeitskräftereserve fürs Kapital erfüllt und dafür gerechterweise seinen „Lohnersatz“ bezieht, sondern als einheimische Variante des weltweiten „Phänomens“ der „Überbevölkerung“ abzubuchen ist. Damit gerät das traditionsreiche bundesdeutsche Arbeitslosenversicherungssystem in die Krise: nicht einfach deswegen, weil mit jedem Rationalisierungsfortschritt das Beitragsaufkommen sinkt, während der Finanzbedarf steigt, sondern weil der gesamten Konstruktion einer funktionellen Armutsverwaltung ihre Zweckmäßigkeit fürs Kapital abhanden kommt.
„Neue Lösungen“ sind folglich gefragt – und in Arbeit:
- Auf der einen Seite lösen – einstweilen mehr im Prinzip als faktisch – private Arbeitsvermittler das „Vermittlungsmonopol“ der BfA ab. Daß auf diese Weise mehr Arbeitslose in ein Beschäftigungsverhältnis hineinbugsiert werden könnten, ist eine offiziell anerkannte Milchmädchenrechnung, die den dauerhaften Entlassungs-Überschuß und dessen Grund schlicht ignoriert. Die Arbeitsplätze für Arbeitskräftemakler sind die einzigen, die so geschaffen werden; dafür „rationalisiert“ gleichzeitig die Arbeitsverwaltung als Arbeitgeber ihren eigenen Bedarf an Angestellten. Eingeführt wird so aber ein neues Prinzip, ohne daß es explizit bekanntgemacht werden müßte: Die Beschaffung von „Mitarbeitern“ trennt sich von der Alimentierung unbenutzter Arbeitskräfte.
- In dieselbe Richtung weiter geht die Forderung der Unternehmerverbände, die „versicherungsfremden“ arbeitsmarktpolitischen Leistungen der BfA aus dem Aufgabenbereich der Arbeitslosenversicherung auszugliedern und – soweit sie staatlicherseits nicht für verzichtbar erachtet werden – aus allgemeinen Steuermitteln zu finanzieren. Bei der gegebenen „Arbeitsmarktlage“ sehen die Unternehmer einen Nutzen arbeitsamtlicher Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen für ihre Bedürfnisse nicht mehr ein. Und schon gleich halten sie nichts davon, daß sie in ihrer Eigenschaft als „Beitragszahler“ den entsprechenden Rechtsanspruch der Versicherten weiter mitfinanzieren sollen.
- Auf der anderen Seite werden die Zahlungen der Arbeitslosenkasse entsprechend umdefiniert: von einer sozial und ökonomisch nützlichen Dienstleistung zur bloßen Last, die unbedingt verringert werden muß. Auch dieser „Paradigmenwechsel“ ist nie offiziell bekanntgemacht und zur Diskussion gestellt worden – so ehrlich funktioniert eine freie öffentliche Meinung ohnehin nie. Sie ist stillschweigend unterstellt, wenn das kritische Augenmerk der Öffentlichkeit von den Verantwortlichen auf den „Mißbrauch sozialer Leistungen“ gelenkt wird sowie auf das angeblich dauernd durchbrochene „Abstandsgebot“, demzufolge noch die schlechtestbezahlte Lohnarbeit deutlich mehr Geld bringen muß als jede denkbare Ansammlung sozialer Zuwendungen. Sie wird bekräftigt, wenn der demokratische Konsens sich darauf einigt, in jeder Mark für Arbeitslose ein Beschäftigungshindernis, nämlich einen Grund dafür zu sehen, daß immer mehr Arbeitslose immer länger arbeitslos bleiben – statt einfach wieder arbeiten zu gehen. Der Gesichtspunkt, daß Arbeitslose einen Rechtsanspruch auf Versicherungsleistungen haben, wird auf diese Weise moralisch ausgelöscht, die Kassenleistung dem Almosen angenähert. Und das nicht bloß moralisch. Kürzungen und Restriktionen mehren sich – mit dem Erfolg, daß ein Drittel aller Arbeitslosen mittlerweile gar keine Unterstützung mehr bekommt und die Bundesanstalt im Jahr der zweithöchsten Arbeitslosenziffern einen Milliardenüberschuß in ihrem Haushalt ausweist und an den Finanzminister zurücküberweisen kann. Der bringt postwendend die Befristung der Arbeitslosenhilfe auf zwei Jahre ins Gespräch – bislang muß sie „nur“ jährlich neu beantragt und nach Überprüfung der Bedürftigkeit neu bewilligt werden und entfällt erst nach einjähriger Nicht-Inanspruchnahme. Außerdem gibt es immer mehr Beschäftigungsverhältnisse mit so geringem Entgelt, daß die nach einer Entlassung gezahlten Prozente endgültig für keinen Lebensunterhalt mehr reichen; obwohl versichert, und mit ihrem wohlerworbenen Anspruch auf Kassenleistungen, werden die Betroffenen zu Klienten der kommunalen Armutsverwaltung.
- Die Zunahme derart schäbiger Lohnverhältnisse hat ihren Hauptgrund in der Erfindung neuer Methoden, Arbeitsmarktgesichtspunkte und den Aufwand für den Unterhalt von Arbeitslosen zweckmäßiger als bisher zu kombinieren. Die eine Methode setzt „an der Wurzel“ an: Wenn Entlassungen anstehen, sollen Unternehmen und Arbeitnehmervertretung Arbeitszeitverkürzungen und entsprechende Lohnsenkungen für alle und auf der Basis die Weiterbeschäftigung der gesamten Belegschaft aushandeln. Das neue Arbeitszeitmodell bei VW war hier der praktische Durchbruch[7]; die aktuellen Debatten über mehr Teilzeitarbeit und Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich verallgemeinern diesen neuen Weg, den Arbeitslohn gleich direkt unter das geläufige und gewohnheitsmäßig verkraftete Niveau zu drücken. Ähnlich attraktiv sind die Beschäftigungsverhältnisse, in die – gewissermaßen am anderen Ende der Skala – Leute eingewiesen werden sollen, die ihre Entlassung lange genug hinter sich haben: Für Firmen, die sie trotzdem einstellen, sollen sie extra billig zu haben sein; mit 3 Milliarden aus der Arbeitslosenkasse subventioniert die Bundesregierung auch weiterhin solche „Wiedereinstiegs“-Löhne ein Jahr lang bis zu 80%.[8] Bildungsmaßnahmen werden so organisiert, daß die Verwendbarkeit der dahin Eingewiesenen von den Firmen praktisch getestet werden kann. In Zukunft sollen Arbeitslose auch als Klienten gemeinnütziger Firmen für Arbeitnehmerüberlassung „probeweise und kostenlos“ für eine „Schnupperphase“ zur Arbeit in einem Betrieb ausgeliehen werden und dafür ein Geld kriegen – so müssen sie nicht mehr, ohne sich nützlich zu machen, vom Arbeitsamt für eine Nachfrage bereitgehalten werden, die sich doch nicht einstellt. Wer auch noch aus solchen Arbeitsverhältnissen herausfällt, findet sich gleich sehr weit unten im „sozialen Netz“.
- Dessen letzte „Masche“, die kommunale Sozialhilfe, wird deswegen zunehmend strapaziert – und dementsprechend reformiert.[9] Abgesenkte „Hilfen zum Lebensunterhalt“ definieren ein neues deutsches Existenzminimum; damit verknüpfte Arbeitsdienste wirken der Verwahrlosung entgegen – der Städte wie ihrer Armen. So kehrt auch im reichen Deutschland nach und nach wieder, was ein paar Jahrzehnte lang als „frühkapitalistisch“ und längst überwunden galt.
Ein Anfang ist also gemacht, was den „Umbau“ der Arbeitslosenkarriere und ihrer Verwaltung und Finanzierung betrifft – und damit zugleich der Nachweis erbracht, wie rasch und reibungslos sich eine „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ über das Zwischenstadium der „Zwei-Drittel-Gesellschaft“ zum „Nebeneinander“ von Reichtum und unübersehbarer Armut fortentwickelt und ihr erneuertes Erscheinungsbild als Normalfall akzeptiert.
B.
Die gesetzliche Rentenversicherung wird von den Kritikern des bundesdeutschen Sozialsystems am nachdrücklichsten in Frage gestellt. Das ist verständlich: Sie ist der umfangreichste Posten im Sozialhaushalt der Nation; ihre Auszahlungen sind nicht an Bedingungen der Wiederverwendbarkeit des Empfängers gebunden, also durch keine ökonomische Zweckmäßigkeit gerechtfertigt; noch dazu leben die Alten immer länger, kosten also immer mehr. Ein Ärgernis also, dem die Beschwerde über die unmögliche Gestalt der nationalen Alterspyramide, über die „demographische Schere“, die demnächst jeden aktiven Arbeitnehmer mit einem Rentner oder mehr belädt, und über die spätestens dann untragbare Beitragslast verlogen, aber unmißverständlich Ausdruck verleiht. Dagegen fällt niemandem der Hinweis auf den gigantischen Reichtum ein, den hierzulande immer kleinere und jüngere Belegschaften erarbeiten. Die Verteidiger des herkömmlichen Systems beharren stattdessen auf den zwei bewährten Prinzipien der Umverteilung, die sie organisiert haben: der Leistungsbezogenheit der Altersrente und dem sog. Generationenvertrag.
Die Rede von einem gerechten Leistungsbezug der Renten spiegelt vor, die individuell eingezahlten, höchst unterschiedlichen Versicherungsbeiträge würden im Alter gewissermaßen angemessen vergütet oder zurückerstattet. Rechnerisch kämen aus den Durchschnittsbeiträgen eines durchschnittlichen Arbeitslebens auch durchaus Beträge zusammen, von deren Zinsen sich leben ließe und über die die Erben glücklich wären. Tatsächlich wird aber gar kein Vermögen angespart. Schon von der „Quelle“ her, an der sie abgeschöpft werden, haben die eingesammelten Gelder gar nicht die Qualität eines anlagesuchenden Geldüberschusses; daß sie zwangsweise verstaatlicht werden, dokumentiert deutlich genug, daß sie Abzug vom eigentlich Notwendigen darstellen, also dem Geldmangel entstammen. Diesem Charakter der Beiträge entspricht die Gegenleistung der Kasse, zugesagt durch ein fortwährend anpassungsbedürftiges und jederzeit veränderbares Gesetz: Versprochen ist eine lebenslange Rente, die den Empfänger im besten Fall um ein Viertel schlechter stellt, als er zuletzt mit seinem Nettolohn dagestanden hat. Die Bezugnahme auf die erbrachten Leistungen ist gerecht in der ganzen schäbigen Bedeutung dieses hohen Werts: Wie gering der Lohn war, von dem die Beiträge einbehalten wurden; wie lange der Mensch sich für fremden Gewinn nützlich gemacht hat oder auch nicht hat machen können, sei es wegen Krankheit oder Entlassung: die gesamte, sorgfältig nachgewiesene und dokumentierte „Rentenbiographie“ eines Arbeitnehmers erweist sich bei der abschließenden Rentenberechnung als Sammlung von Gesichtspunkten, die den „Alterslohn“ noch unter das erreichbare Maximum drücken.
Der andere Grundsatz schreibt vor, daß vom Lohn eines künftigen Rentenempfängers überhaupt nichts für später aufgehoben wird. Was Rentner kriegen, wird zwar nach ihrer persönlichen Rentenbiographie ausgerechnet, aber aus den aktuell einlaufenden Beiträgen bezahlt. Nach offizieller sozialstaatlicher Sprachregelung handelt es sich hierbei um einen „Generationenvertrag“ – ein selten kleinliches Machwerk, wenn es wirklich einer wäre. Doch an diesem ideologischen Etikett ist ohnehin beides verlogen: Weder hat da ein Teil der Gesellschaft mit einem anderen einen Vertrag geschlossen – auf freiwillige Vereinbarungen dieser Art läßt der Sozialstaat es gar nicht erst ankommen –, noch findet eine Geldüberweisung zwischen verschiedenen Jahrgängen statt: Herumgeschoben werden Lohnteile, und zwar zwischen verschiedenen Generationen von Lohnarbeitern und Angestellten.[10]
Mit diesem Umlageverfahren stellt der Sozialstaat das Verhältnis her, auf das es ihm vor allem ankommt: Die Summe aller „Alterslöhne“ ist nichts als ein Teil der Summe der wirklich aktuell gezahlten Löhne; auch die ausgedienten Alten leben buchstäblich von keinem anderen Geld als dem, welches die Arbeitgeber der Nation jeweils für Lohnarbeit, also kapitalistisch lohnend ausgeben. So steht der Sozialstaat dafür ein, daß kein Stück des kapitalistischen Reichtums unproduktiv „verschenkt“ wird, um die Unselbständigen nach Ende ihres Arbeitslebens noch am Leben zu erhalten. Die Ideologie von der individuellen Leistungsgerechtigkeit der Altersrente ist damit freilich ein wenig blamiert: Was einer kriegt für seine angesammelten Ansprüche, das macht das Umlageverfahren von der aktuellen Konjunkturlage und ihren Auswirkungen auf die Beschäftigungslage abhängig, außerdem von der Zahl der Rentner, die ja alle aus dem zustandegebrachten „Topf“ bedient werden müssen. Mit diesen Schranken hat der deutsche Sozialstaat andererseits eine Gunst für die Alten verknüpft, die er für enorm hält: Ihre Rente ist „dynamisiert“, d.h. sie bleibt nicht auf dem Geldbetrag stehen, der sich nach Anwendung der gesetzlichen Versicherungsmathematik aus ihrem lebenslänglichen Durchschnittslohn ergibt, sondern sie wird Jahr für Jahr auf den jeweils aktuellen nationalen Durchschnittslohn bezogen und mit dem Prozentsatz errechnet, in dem der individuelle Lohn früher zum jeweiligen nationalen Durchschnittslohn damals im Verhältnis gestanden hat. Eine Vergünstigung ist das, weil ja bekanntlich immer alles teurer wird, sogar die Arbeit. Die jährliche Neuberechnung der Rente im Verhältnis zur aktuellen Durchschnittslohnsumme verhindert, daß die Geldentwertung die Rentner direkt verarmt – eine Wohltat, die verständlicherweise um so mehr Dank verdient, je größer die Inflationsrate ausfällt. Deswegen darf es auch nicht stören, wenn die Renten-„Dynamik“ dann doch nicht so ganz mitkommt mit der Inflation – es ist ja auch gar nicht ausgemacht, ob der Durchschnittslohn selber die Teuerungsrate ausgleicht. Und in welchem Umfang die Durchschnittsrente dem Durchschnittslohn folgen soll, das ist Jahr für Jahr von neuem eine schwierige sozialpolitische Ermessensentscheidung, die den Rentnern garantiert, daß ihnen die Konjunkturen und Wandlungen im Lebensstandard ihrer Klasse nicht vorenthalten bleiben.
Was für die Rentner gilt, das gilt mit umgekehrten Vorzeichen für die Beitragszahler. Sie werden einerseits zwar nur für ihre höchstpersönlichen zukünftigen Rentenaussichten haftbar gemacht und lernen im gesetzlichen Abgabezwang das Ideal der Leistungsgerechtigkeit kennen. Eben damit werden sie aber für den Lebensunterhalt der aktuellen Rentnermannschaft in Beschlag genommen und kriegen gleich auch noch beigebracht, was gemeint ist, wenn Sozialpolitiker von Solidarität reden. Diese hat ihr Maß in den jeweils akuten Finanzbedürfnissen ihrer Versicherungsanstalt; und die werden durch die Zahl der Rentner und die denen jeweils zugestandenen Geldansprüche auf der einen Seite, durch die Zahl und den Durchschnittslohn der Beitragspflichtigen auf der anderen Seite bestimmt – außerdem durch die Gewohnheit des Staates, die Rentenkasse als finanzielle Manövriermasse für seine Haushaltsnöte sowie für politische Vorhaben verschiedener Art zu nutzen. Niedrige tarifliche Lohnabschlüsse verschlechtern das Verhältnis zwischen Beitragsaufkommen und Zahlungsverpflichtungen ebenso wie massenhafte Abgruppierungen in den Betrieben oder steigende Arbeitslosenzahlen; umgekehrt kann es sich verbessern, wenn vermehrt Arbeitnehmer mit Niedriglöhnen oder größeren Ausfallszeiten in ihrer Rentenbiographie, also ehemals Arbeitslose, in den Rentnerstand eintreten oder die durchschnittliche Lebenserwartung ein bißchen sinkt. Den Ausgleich stiften allemal der Beitragssatz und die jährliche Rentenanpassung.
Sehr verständlich also, daß bundesdeutsche Sozialpolitiker auf ihre Konstruktion schwören. Es ist nur so, daß die Tendenz der Lohnsumme nach unten auch bei der Rentenversicherung ihre Spuren hinterläßt. Die Rentenformel ist eben einerseits, für den einzelnen, sehr nachtragend, andererseits sehr gegenwartsbezogen: Sinkende Löhne werden regelmäßig in Rentensenkungen übersetzt. In diese Regel lassen sich nach Bedarf alle nötigen Präzisierungen einarbeiten – so der elegante Übergang von der Brutto- zur Nettolohnbezogenheit der Rentenformel, der die Rentner an den Reallohnsenkungen teilhaben läßt, die jeder erweiterte Zugriff des Staates auf den Lohn, sei es per Steuern, sei es – kleine Ironie am Rande – per Sozialabgaben, mit sich bringt; oder der Beschluß, die Rechenweise beim Einzug der Sozialabgaben – die Hälfte vom Bruttolohn, die andere Hälfte „vom Arbeitgeber“ – auf die Rentner so anzuwenden, daß der halbe Beitrag zur Kranken- und Pflegeversicherung von deren „Brutto“-Rente einbehalten wird. So kann es gar nicht ausbleiben, daß das Rentenniveau leistungsgerecht und generationenvertraglich in Richtung Armutsgrenze absinkt – und die Arbeitgeber mit ihrer Kritik am Rentensystem schon wieder Recht bekommen. Zwar werden die Beitragssätze nicht unbedingt geringer, die Alten insgesamt aber billiger – so daß Banken und Versicherungen längst mit der Wahrheit für ihre Spar-Angebote werben, daß man ohne private Vorsorge demnächst nicht mehr mit Anstand alt werden kann. Wer dafür nichts übrig hat, dem winkt die neu eröffnete Chance, in bescheidenen Grenzen zur Rente hinzuzuverdienen oder über die Altersgrenze hinaus arbeiten zu dürfen und so den Rentenbetrag ein wenig zu erhöhen – prachtvolle Angebote im Zeitalter der Massenarbeitslosigkeit und des „Vorruhestands“.
C.
Die gesetzlichen Krankenkassen verstaatlichen einen Lohnteil für die medizinische Betreuung der Massen. Sie teilen den Unselbständigen ihr Einkommen vorweg entsprechend ein, weil die sich das Nötige im Bedarfsfall sonst gar nicht leisten könnten, auch nicht über eine private Versicherung, die das – bei minder bemittelten Lohnarbeitern „naturgemäß“ besonders hohe – individuelle Risiko kalkulieren und zudem keinen Beitragsausgleich mit zahlungskräftigeren Zwangsmitgliedern herstellen würde. Auch das ist nach Auffassung der Arbeitgeber mittlerweile zu teuer. Ihr Argument sind wieder die Lohnkosten, von denen sie sich entlastet sähen, wenn es kein Krankenversicherungsgesetz gäbe. So legen sie auf ihre bornierte Art Protest dagegen ein, daß der Sozialstaat den Aufwand für die allgemeine Volksgesundheit als fixen Bestandteil der Kosten definiert, zu denen hierzulande Arbeitskraft verfügbar ist. Dabei bleiben diese Kosten sicher eingeschlossen in den Grenzen der Summe, die für lohnende Arbeit verausgabt wird. Und das ist überdies ein ausgesprochen klarer Hinweis, daß das, was da kostet, die Funktionstüchtigkeit der Arbeitskraft ist, die die Unternehmer verbrauchen.
Es geht also wieder bloß darum, den Wert, nämlich die notwendigen Reproduktionskosten der gesellschaftlich verfügbaren Arbeitskraft zu senken. Im Fall der medizinischen Versorgung stößt dieses ehrenwerte und allgemein anerkannte kapitalistische Anliegen allerdings auf eine Schwierigkeit: Es läßt sich nicht so einfach die Summe dekretieren, mit der die Patientenschaft insgesamt auszukommen hat.
Denn erstens erbringt das Gesundheitswesen seine nützlichen Dienste für die nötige Dauerreparatur am maroden Volkskörper nur dann zweckmäßig, wenn es seine Kundschaft nach seinen eigenen abstrakten Kriterien behandelt: denen des medizinischen Funktionierens. Die berufsbornierte Befassung mit dem beschädigten und leidenden Individuum, dem „Patienten“ eben, blendet die bekannten gesellschaftlichen Gründe der bekannten Volkskrankheiten[11] ebenso aus wie den bekannten gesellschaftlichen Zweck ihrer Behandlung; und das soll – einerseits – auch so sein. Die Zuständigkeit der Medizin beginnt mit dem lädierten Organismus, erstreckt sich auf biochemische Prozesse und deren Auslöser und Auswirkungen und endet mit einem Eingriff ins Arbeitsleben, der über die Krankschreibung praktisch nicht hinausgeht. Dabei ist es auch für Mediziner gar kein Geheimnis, daß die meisten Schäden, die ihnen in ihrer Praxis oder im Krankenhaus vorgeführt werden, von dem Gebrauch herrühren, den das herrschende System der gesellschaftlichen Arbeit von seinen Dienstkräften macht; erst recht ist ihnen geläufig, daß sie ihre Patienten für die Fortsetzung dieses Verschleißes von Physis und Psyche zurechttherapieren. Davon geht das Gesundheitswesen aber wie von einer Naturbedingung aus, ebenso wie von den Giften, die der nationale Kapitalstandort seinen Insassen zumutet, oder dem finanziellen Mangel, der über die schlechte Gewohnheit, sich damit zu arrangieren, zu mancherlei Mangelerscheinungen an Hirn, Lunge, Leber usw. führt. Mit dem bornierten ärztlichen Auftrag an den Patienten, gesünder zu leben, grenzt sich der medizinische Betrieb von dem arbeitsteiligen Gesamtzusammenhang ab, in dem er seine Funktion hat. Diese professionelle Borniertheit bringt auf der anderen Seite eine gewisse Uferlosigkeit der medizinischen Betreuung mit sich: In ihrer Hingabe ans leidende Individuum abstrahieren die Agenten des Gesundheitswesens eben auch von „externen“ Kosten-Nutzen-Rechnungen. Von ihren therapeutischen und kompensatorischen Leistungen schließen sie niemanden deswegen aus, weil es sich volks- oder betriebswirtschaftlich nicht auszahlt. Und nicht nur das: Bei der Fortentwicklung ihres Könnens orientieren sie sich an den am Individuum eingetretenen Schäden, nicht an der Nachfrage des Kapitals; und eben deswegen haben sie viel zu tun; denn die Hilfen zum Aushalten, die sie der Menschheit verfügbar machen, verhindern den kapitalistischen Personalverschleiß ja nicht, sondern schieben die Grenzen endgültiger Untauglichkeit in interessante Bereiche hinaus, sichern ihnen also ihre Kundschaft. Die notwendige, funktionale und selbstverständliche arbeitsteilige Verselbständigung der Medizin bezahlt der Sozialstaat so mit dem kostspieligen Nachteil, daß diese Profession sich auf ihre Art um alles, also immer raffinierter um immer mehr Leiden kümmert.
Kostspielig ist dieser Nachteil deswegen, weil die arbeitsteilige Abtrennung des Gesundheitswesens hierzulande – so wie die Arbeitsteilung im Kapitalismus überhaupt – ihre feste Grundlage in der kommerziellen Verfassung dieser Sphäre hat. Hinter jeder medizinischen Dienstleistung steht als staatlich anerkannter Beweggrund ein geschäftliches Interesse. Das trägt zwar lauter medizinisch gesehen eher unsachliche Gesichtspunkte in die Kunst des Diagnostizierens und Therapierens hinein; eben die verbürgen aber zuverlässig die Stellung der Gesundheitsindustrie in der Marktwirtschaft und liefern die systemgemäße Basis zur medizinischen Ethik, die sich allein dem leidenden Individuum verpflichtet weiß. Mit diesem Gewerbezweig haben es die gesetzlichen Krankenkassen zu tun, wenn sie die Funktionstüchtigkeit des gemeinen Volkes finanzieren. Sie geben ihr Geld ja nicht den ungesunden Leuten in die Hand, sondern alimentieren ein kerngesundes privates Geschäftsleben; und weil das, wie jedes private Geschäft, ein berechtigtes Interesse an Gewinn und Wachstum hat, wird – anders als bei der Alimentierung von Alten und Arbeitslosen – die „Kostendämpfung“ zur Daueraufgabe. Um Abrechnungsziffern und Arzneimittelpreise, Leistungskataloge und Negativlisten, Kostensätze und Punktwerte führen die gesetzlichen Kassen mit Standesorganisationen, Krankenhausträgern, der Pharmaindustrie usw. fortwährende Verhandlungen, die regelmäßig dann in einen Kleinkrieg umschlagen, wenn Sozialpolitiker wieder einmal besonders auf Sparsamkeit drängen.
Die Ergebnisse dieses Kleinkriegs sind noch stets durch den gesetzlich erlaubten Zugriff der Kassen auf die Lohnsumme der Nation aufgefangen worden. Die Kritik an den Beitragsprozenten, die auf diese Weise zusammengekommen sind, hat aber seitens der Verantwortlichen in dem Maße Recht bekommen, in dem eine tendenziell sinkende Lohnsumme die Basis für das Wachstum der Branche eingeschränkt hat. Am Ende sind sogar in einem gesetzliche Gewaltakt die Gesamtausgaben der gesetzlichen Kassen „gedeckelt“ und auf eine Proportion zum nationalen Lohneinkommen festgelegt worden und sollen auch dann nicht wieder überproportional steigen dürfen, wenn Ende 95 der „Deckel“ eventuell wieder gelüftet wird. Der freundschaftliche sozialpolitische Schwindel, das geschähe allein im Interesse der Patienten in ihrer Eigenschaft als gebeutelte Beitragszahler, wird praktisch zurechtgerückt durch die „Sparmaßnahmen“, die diese „Notbremsung“ der Kassenausgaben begleiten. Tatsächlich werden nämlich die Beitragszahler in ihrer Eigenschaft als Patienten zusätzlich abkassiert: Am einen Ende der Skala werden Dinge aus dem Leistungskatalog der Krankenkassen herausgenommen, die längst in den gewohnheitsmäßigen Konsum des auf Kompensationen angewiesenen, mit Packungsbeilagen und Gesundheitsideologien vollgestopften Normalpatienten eingegangen sind und mit ziemlicher Sicherheit auch auf eigene Rechnung weiterhin erstanden werden. Andere Dinge werden als Luxus aus der Zuständigkeit der Kassen hinausdefiniert, von der tragbaren Brillenfassung bis zum besseren Zahnersatz, für die mancher extra zahlt und auf die mancher verzichtet. Das alles ergänzt sinnvoll das fein ausgedachte System von Rezeptgebühren und anderen Zuzahlungen. Die offizielle Planung geht dahin, den Zwang zum freiwilligen privaten Draufzahlen in ein System von Wahlalternativen zu kleiden, wie es einem freien Bürger in einem freien Land zusteht: Mit unterschiedlich „schlanken“ Angeboten sollen die gesetzlichen Kassen fast wie Privatversicherungen um die Pflichtmitglieder konkurrieren dürfen. So wird die sozialstaatliche Umwidmung von Lohnteilen fürs Medizingeschäft in Grenzen gehalten, ohne dessen Wachstumschancen über Gebühr einzuschränken. Daß die Versicherten sich ihren privaten Haushalt entsprechend neu einteilen müssen, ist beabsichtigt – private Zusatzversicherungen helfen dabei…
Daneben wird den gesetzlichen Kassen neuer finanzieller Spielraum zur weiteren Alimentierung der Wachstumsbranche Krankheit & Gesundheit verschafft, nämlich durch die sozialpolitische Großtat der 90er Jahre, das System der sozialen Sicherung durch eine vierte „Säule“ zu vollenden.
D.
Die Pflegefallversicherung[12] darf noch ein Stück Lohn verstaatlichen, um mit diesem Geld die Krankenkassen und die Sozialhilfe zu entlasten, die für die Unkosten dieser speziellen Sorte unselbständiger Existenz bislang aufgekommen sind, eben aus anderweitig eingesammelten Finanzmitteln. So wird auch die Pflegebedürftigkeit, die logischerweise am Ende eines hinreichend lange aushaltbar gemachten Gesundheitsverschleißes steht, von Staats wegen ausdrücklich in den Preis der nationalen Arbeitskraft hineindefiniert. Dies freilich noch ausdrücklicher unter der Prämisse, daß die Lohnkosten dadurch auf keinen Fall steigen dürfen. Der Streit darum, wie dieser kategorische Imperativ am elegantesten mit der klassischen Abrechnungsweise in Einklang zu bringen wäre, die nun einmal die Hälfte der Beiträge als „Arbeitgeberanteil“ über den ausgewiesenen Bruttolohn hinaus verbucht, hat das wirkliche sozialstaatliche Finanzproblem erfolgreich auf den Kopf gestellt. Es ist ja nicht bloß so, daß der halbe Prozentpunkt an zusätzlichen Lohnkosten, der den Arbeitgebern mit dem Akt der Einführung der neuen Kasse gesetzlich verordnet wird, überhaupt keinen bemerklichen Posten darstellt im Verhältnis zum Arsenal unternehmerischer Techniken der Lohnsenkung und den damit erzielten Erfolgen. Es ist ja umgekehrt so, daß gerade die abgesenkten Lohnkosten mitsamt der vergrößerten sozialen Last, die aus dem Posten „Lohn & Gehalt“ zu finanzieren ist, den sozialpolitischen Entschluß erzwungen haben, unter einem neuen Titel Geld einzusammeln. Immerhin hat die aufgeregte und noch längst nicht abgeschlossene nationale Debatte zusätzlich klargestellt, daß dieser Zugriff die Unternehmer höchstens scheinbar belasten darf; daß also die Abrechnungsart reine Augenwischerei ist und das auch sein soll – das Publikum darf sich darüber den Kopf zerbrechen, wie es den Schwindel am liebsten hätte. Mit dem Hin und Her über das Wie einer „Kompensation“ für die Arbeitgeber ist die sozialpolitische Selbstverständlichkeit etabliert worden, daß die Prozente für Sozialabgaben den Unternehmern eigentlich gar nicht zugemutet werden dürfen. Deren Kampf um Entlastung von den Gesamtkosten der gesellschaftlichen Arbeitskraft einschließlich unbrauchbar gewordener Bestandteile – den sie praktisch, wie gesagt, an anderen Fronten führen – ist damit auch sozialpolitisch offiziell ins Recht gesetzt.
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Die gegenwärtig so in Fahrt gekommene Kritik am traditionellen Sozialstaat bedient sich durchgängig der Heuchelei, ihr wäre es wesentlich um die Entlastung der vielen kleinen Beitragszahler und ihrer Lohneinkommen zu tun. Die Wahrheit davon wird direkt daneben auch im Klartext ausgesprochen, so als wäre beides dasselbe: Es geht um die „Bremsung“, d.h. Senkung der Lohnkosten. Immerhin enthält die Heuchelei arbeitgeberischer Fürsorge für die geschröpften „Mitarbeiter“ auch ihre Wahrheit und eine bemerkenswerte Klarstellung: Der Sozialstaat ist tatsächlich so konstruiert, daß er die diensttuende Mehrheit der Klasse der Lohn- und Gehalts-„Empfänger“ ärmer macht. Um die Notlagen zu steuern, die zum Dasein „abhängig Beschäftigter“ notwendigerweise dazugehören, wird mit gesetzlichem Zwang die finanzielle Zwangslage derer verschärft, die da „versichert“ werden. Der Lohn, der so umverteilt wird, daß er lebenslänglich und insgesamt reichen muß, reicht dafür nicht: Das gesteht die Arbeitgeberkritik am Sozialstaat unfreiwillig ein, wenn sie sich heuchlerisch auf die geringe Höhe der übrigbleibenden Nettolöhne beruft. Sie ist zwar durchaus nicht so gemeint, blamiert aber die jahrzehntelang gepflegte Illusion, ein gesetzlich verordnetes Sozialwesen zusätzlich zum Lohnverhältnis machte dieses erträglich, verwandelte den Dienst am Kapital zum brauchbaren Lebensmittel derer, die mangels Eigentum keine Alternative zu diesem Dienst haben.
In Maßen populär und glaubwürdig wird die Arbeitgeber-Agitation ausgerechnet dadurch, daß sie die erfolgreiche Praxis der doppelten Lohnsenkung begleitet, nämlich die Absenkung der Gesamtlohnkosten sowie die deswegen gebotene und staatlich auch durchgesetzte Vergrößerung des Abstands zwischen Brutto- und Nettolohn: Je geringer das verdiente Entgelt, um so mehr schmerzen die Abzüge davon und erst recht deren Vergrößerung. So setzen die Anwälte des Kapitals mit ihren Angriffen auf die Kosten des Sozialstaats auch noch ihre Lohn- und Entlassungspolitik ins Recht und umgekehrt – nach der Logik: Wo die Armut der Beschäftigten wächst, läßt sich um so weniger erübrigen, um die Verelendung der Nicht-Beschäftigten zu regulieren.
Und so ist es ja in der Tat: Jede sozialstaatliche Beschönigung der proletarischen Mittelknappheit geht unweigerlich zu Lasten der „Begünstigten“ – was denn auch sonst, wenn der Preis der Arbeit für alle reichen soll, die davon leben müssen.
Der konsequente Einsatz von Gewerkschaft und Sozialdemokratie für die Korrekturbedürfnisse des Standorts Deutschland
Die Lohnpolitik der Arbeitgeber, einschließlich ihrer Initiativen zur Umgestaltung des Sozialsystems, ist ein Angriff auf den Lebensunterhalt der von ihnen abhängigen Menschheit, und zwar ein erfolgreicher. Das ist die eine Sache.
Eine andere ist ihr offenes Bekenntnis dazu. Das ist eine politische Herausforderung an alle, die gemeint haben und dafür eingetreten sind, Lohnarbeiter müßten im Kapitalismus und vom Lohn doch leben und letztlich sogar ganz gut damit zurechtkommen können; also an alle Freunde und Förderer des Attributs „sozial“ zur „Marktwirtschaft“ und des Gedankens der „Humanisierbarkeit“ des Profits. Für die professionellen Vertreter der Arbeitnehmerinteressen im Kapitalismus, die Gewerkschaften, und für die politische Partei der sozialen Reform des Klassenstaats, die Sozialdemokratie, liegt in der Sache der größte anzunehmende Skandal vor, politisch eine Kampfansage auf dem Tisch.
Könnte man denken…
A.
Die deutschen Gewerkschaften haben in der Frage der Bruttolöhne „lohnpolitische Vernunft“ angenommen und den Standpunkt der Unternehmer, daß es sich dabei in erster Linie um Kosten und eine Behinderung ihrer Konkurrenzfähigkeit handelt, unter nationalen Standortgesichtspunkten als maßgebliche Leitlinie für sich akzeptiert. Daß nach Maßgabe eben dieses Kostengesichtspunkts massenhaft Arbeitskräfte überflüssig gemacht werden, um mit geringerer Lohnsumme mehr Leistung zu mobilisieren, finden sie zwar schade, läßt sie aber an ihrem Glauben an die Vernünftigkeit dieser Ökonomie nicht irre werden. Sie kommen deswegen auch nicht im Traum auf die Idee, die eingesparten Summen für die verbliebenen Kräfte einzufordern. Sie lassen im Gegenteil die Entlassenen, die gar nichts mehr verdienen, als stichhaltigen Einwand gegen die Verdienste der Nicht-Entlassenen gelten. Sie wollen ausdrücklich nicht sein, was ihnen von ihren Gegnern als ihr Fehler vorgehalten wird: Agent der Lohninteressen der „Arbeitsplatzbesitzer“.[13] Forderungen der Unternehmer nach niedrigeren Lohngruppen, insbesondere für Neueingestellte, werden zurückgewiesen mit Hinweisen der folgenden Art: Es gebe bereits Niedriglohngruppen, doch die würden kaum besetzt; auch durchaus gegebene Möglichkeiten, bei Neueinstellungen Lohn zu sparen, würden kaum genutzt; im übrigen dürfte der Tariflohn nicht auf diesem Weg ausgehebelt werden. Lohnforderungen im Rahmen der fälligen Tarifrunde werden erhoben, um den Unternehmern Abstriche davon gegen Beschäftigungszusagen anzubieten – daß die Gewerkschaft so ihr eigenes Rechtfertigungsargument blamiert, höhere Löhne wären als Mittel zur Konjunkturbelebung über die Nachfrageseite geboten und durchaus im Interesse der Arbeitgeber selbst, fällt schon gar nicht mehr auf, weil die Rechtfertigung längst genausowenig ernstgenommen wird wie die Forderung selbst. Aktiv ist die Arbeitnehmervertretung bei der Suche nach Teilzeitarbeitsmodellen, die die Lohnkosten senken,[14] ohne die Zahl der vollständig Erwerbslosen zu erhöhen. Daß damit der Lohn grundsätzlich von dem Anspruch entlastet wird, noch mit Anstand eine Arbeitskraft zu ernähren, wird als sozialpolitisches Problem ventiliert, für dessen Bewältigung, etwa durch Lohnkostenzuschüsse und Abmilderung der Konsequenzen beim Arbeitslosengeld und bei der Rente, der Sozialstaat eintreten sollte.
Was dessen Finanzprobleme betrifft, deren Bewältigung ein so gewaltiges Loch zwischen Brutto- und Nettolöhnen aufreißt, so können Gewerkschaftsvertreter/innen gemeinsam mit dem Arbeitsminister Zusammenhänge der folgenden Art hersagen: Die „enormen Produktivitätsfortschritte“ deutscher Unternehmen „in den letzten beiden Jahren“ wurden maßgeblich durch „‚Verschlankung‘ der Belegschaften“ erzielt und damit „zu Lasten ganzer Arbeitnehmergruppen und des Sozialstaats“; „gerade bei älteren Arbeitnehmern“ hat sich das „Karrieremuster“ herausgebildet: „Sozialplanabfindung, Arbeitslosengeld, -hilfe und vorzeitige Rente. Arbeitgeber belasten, um nicht zu sagen mißbrauchen den Sozialstaat und beklagen anschließend dessen Kosten.“[15] Sie folgern aus diesem Befund aber nicht etwa, daß dann die Unternehmer mit höheren Löhnen für die höheren Sozialabgaben ihrer „Mitarbeiter“ einstehen müssen. Der Gedanke, daß das Problem mit den geringen Nettolöhnen durch dickere Bruttolöhne zu lösen wäre, wenn schon die Unternehmer von der Differenz profitieren, ist ihnen völlig fremd. Lohntarife und staatliche Zugriffe sind für sie verschiedene Welten, die sie auf gar keinen Fall vermischen wollen, schon gar nicht mit dem Ziel, die doppelt geschröpften Lohnempfänger schadlos zu halten.[16] Stattdessen beklagen die Arbeitnehmerorganisationen die wachsende Abgabenlast und machen konstruktive Vorschläge für eine bessere und sparsamere Finanzverwaltung[17] einschließlich Leistungskürzungen, die selbstverständlich nicht so heißen und eigentlich nur das System des Ganzen in Ordnung bringen.[18]
Und so weiter. Natürlich erheben Gewerkschaftsvertreter gelegentlich ein gewisses Geschrei über „Horrorkataloge“ der Arbeitgeber, wenn deren Wortführer auflisten, wo sie sich überall Lohnkosten-Einsparungen vorstellen könnten; und wenn Tarifrunde ist, nennen Arbeitnehmervertreter eine Prozentzahl oberhalb der offiziellen Inflationsrate und verkünden, der kleine Mann müßte auch einmal wieder mehr Geld in der Tasche haben. Es lohnt aber nicht, immer wieder den Dummheiten gewerkschaftlicher Protestrhetorik und den Winkelzügen ihrer Tarifverhandlungskunst nachzugehen, so als stände der Standpunkt der deutschen Arbeiterorganisation nicht längst fest. Sie kennt die Interessen, die sie vertritt, ausschließlich als abhängige Variable, abhängig vom Erfolg „der deutschen Wirtschaft“; sie weiß keinen Gesichtspunkt, unter dem sie für diese Interessen eintreten könnte, als daß „die Wirtschaft“ etwas Entgegenkommen hergibt und davon sogar selber Vorteile haben könnte. Wenn die Gegenseite auf der Unvereinbarkeit von Lohninteressen und kapitalistischem Kostensenkungsbedarf besteht, sind die Anwälte des Lohns bestürzt, in der Sache jedoch einsichtig und verzichten nicht bloß auf die Rolle, sondern zunehmend auch auf den Anschein einer unbeugsamen Korrekturinstanz: Immer öfter bekunden sie öffentlich ihre weise Bereitschaft, auf Korrekturen an der Lohngestaltung der Unternehmer und der entsprechenden Sozialpolitik des Staates zu verzichten. Die Arbeitgeber müssen eine Tarifrunde schon ausdrücklich mit dem Ziel der Lohnsenkung ansagen, damit die Gewerkschaft in Gestalt von Warnstreiks etc. etwas von ihrem alten Ritual aufleben läßt.
Was vom gewerkschaftlichen Standpunkt dann eigentlich noch bleibt, fragen Gewerkschaftsfunktionäre sich selbst; um so dringlicher in dem Maße, wie Massenentlassungen ihre Mitgliedschaft dezimieren. Einzelne verfallen auf die Forderung, tarifvertragliche Errungenschaften exklusiv für Gewerkschaftsmitglieder zu reservieren[19] – ein Lohnsenkungsangebot eigener Art, an dem die Arbeitgeber aber gar nicht interessiert sind; es wird auch rasch zurückgezogen, weil ein solches Tarifprivileg unter den heute allein maßgeblichen Lohnkostengesichtspunkten ein Nachteil für die „Privilegierten“ selber wäre[20] – andernfalls müßten die Gewerkschaften glatt für mehr Lohn kämpfen, und damit wären sie ihre anerkannte Verantwortung für den deutschen Lohn los. Sowas liegt außerhalb der Vorstellungskraft einer Arbeiterinteressensvertretung, die ihre Zuständigkeit in Lohnfragen in Kamingesprächen mit dem Kanzler wahrnehmen will. Für die ist klar: Jeder Versuch, einem Lohnabhängigen, sei es tarifvertraglich oder sozialgesetzgeberisch, einen „Vorteil“ zu verschaffen, schlägt unweigerlich gegen den „Begünstigten“ aus, weil so etwas nur das an seiner Person haftende Kosten-Nutzen-Verhältnis für seinen eventuellen Käufer verschlechtert.
Da haben sich also die deutschen Gewerkschaften mit durchschlagendem Erfolg aller Kommunisten erwehrt[21] und entledigt und mitgeholfen, die Auffassung zu erledigen, daß systemimmanente Verbesserungen nichts Rechtes sind, der Interessengegensatz zwischen Lohnarbeit und Kapital durch soziale Reformen jedenfalls nicht aufzulösen ist. Jetzt wird die anpassungswillige Arbeiter-„Bewegung“ von den Unternehmern mit der Wahrheit konfrontiert, daß sich im Kapitalismus systemimmanente Verbesserungsversuche zugunsten der Lohnarbeitermannschaft „letztlich“ immer bloß zu deren Nachteil auswirken können. Dagegen fällt ihr nichts mehr ein – die Klarstellungen ihrer Kontrahenten kann sie schließlich nicht als „organisationsschädigend“ verbieten, und eine Gegenposition hat sie auch nicht mehr. Dafür hat ihr Dachverband ein neues Logo, und die Abteilung Mitgliederwerbung plant neue Tricks – auch eine Art einzugestehen, daß man sich selbst im Grunde ziemlich unzeitgemäß und überflüssig vorkommt.
B.
Die deutsche Sozialdemokratie hat gegen die Massenarbeitslosigkeit und ihre Gründe und Folgen den emphatischen Ruf nach „Arbeit, Arbeit, Arbeit“ gesetzt. Nachdrücklich fordert sie den Gebrauch all der arbeitsmarktpolitischen Instrumente von ABM über Lohnkostenzuschüsse bis Zeitarbeit, die die Regierung entwickelt und gebraucht. Enorme beschäftigungspolitische Wirkungen verspricht sie sich von einer „Verzahnung“ von „Strukturpolitik“, Umweltschutz und Hochtechnologieförderung – mit seinem Einsatz für den Konkurrenzerfolg deutscher VW-Werke macht der niedersächsische Ministerpräsident klar, was das praktisch heißen mag. Weil für moderne Sozialdemokraten Arbeitslosigkeit und Weltmarkt-Konkurrenz letztlich ein und dieselbe „Herausforderung“ darstellen, offenbart die Troika-Spitze der Öffentlichkeit ihr Bedürfnis, sich als Ausweis ihrer gerade jetzt geforderten „wirtschaftspolitischen Kompetenz“ einen eigenen Sachverständigenrat zuzulegen. Zur Lohnfrage im engeren Sinn steuert die Partei den Wunsch nach mehr Phantasie bei der Erfindung von Teilzeitarbeitsmodellen bei. Einwände gegen die Steuerreformpläne der Regierung bringt sie vom Standpunkt der Finanznot der Kommunen und einer Einkommenssteuerprogression ohne häßliche „Buckel“ vor; außerdem würde sie das steuerfreie Existenzminimum glatt um einen Hunderter oberhalb der 1000 Mark pro Monat ansetzen, die die Regierung plant. Die Lohnsenkung im Bereich des staatlich administrierten Sozialen begleiten die politischen Erben der Arbeiterbewegung mit der Mahnung, der unaufschiebbare „Umbau“ dürfe kein „Abbau“ werden. Und so weiter.
Mit dieser Politik verläßt die SPD den Standpunkt des reformerischen Verbesserns, der bislang ihre politische Identität ausgemacht hat. Ein solcher Verbesserungswille lebt nämlich auch dann noch, wenn er sich auf ein bloßes Wünschen zurückgenommen hat, das sich mit einem „leider“ den kapitalistischen „Realitäten“ anpaßt, also wenn er nur noch als ideologische Kennmarke der Partei existiert, von systemkritischen Momenten, von Erinnerungen an stets korrekturbedürftige Verhältnisse. Solche Töne, die, wie verlogen auch immer, eine Distanz zur Marktwirtschaft und eine idealistische Unzufriedenheit mit der demokratischen Praxis markieren, hat die heutige Sozialdemokratie aus ihrem Traditionsbestand getilgt. Sie steht ohne Wenn und Aber zur Marktwirtschaft, will auch nicht mehr das Attribut „sozial“ als Bedingung verstehen, ohne die dieses System womöglich doch abzulehnen wäre. Sie verleugnet damit die politische Aufgabe, als deren Sachwalterin die Partei sich einmal konstituiert hat. Daß sie keine anderen Politik-Alternativen anbietet, geschweige denn nach Wahlsiegen praktiziert, als solche auf der Sachbearbeiterebene, gehört seit eh und je zum Reformismus der Sozialdemokratie; mittlerweile hält sie etwas anderes aber auch gar nicht mehr für wünschbar. Sie verzichtet auf alles, woran man sie als „Partei der sozialen und demokratischen Reformen“ identifizieren könnte.
Eine politische Praxis, die die Welt des kapitalistischen Geschäfts und der demokratischen Gewalt gemütlich gemacht hätte, gibt die SPD damit nicht auf; die gab es nie. Was die Partei streicht, ist ihre Funktion im demokratischen Pluralismus. Als soziale und demokratieidealistische Reformpartei hat sie die pure Affirmation der herrschenden Verhältnisse stets um die fade Dialektik ergänzt, mit dem Gestus der skeptischen Distanz an diese Verhältnisse heranzugehen, deren Affirmation als das Ergebnis einer gewissenhaften Prüfung hinzustellen und mit Vorbehalten gegen alles Schlechte zu begleiten. Dem „demokratischen Konsens“ hat sie damit den Schein eines Angebots an schlecht bediente Interessen und der Toleranz gegenüber abweichenden Meinungen beigelegt – und so umgekehrt die Reichweite zulässiger demokratischer Meinungsvielfalt definiert und das Maß an Entgegenkommen, mit dem geschädigte Massenbedürfnisse sich zufrieden zu geben haben. Dieser dialektische Zusatz zum staatsbürgerlichen Gemeinschaftsbewußtsein kommt den heutigen Sozialdemokraten endgültig wie eine Position des national verantwortungslosen Nein-Sagens und der sozialen Miesmacherei vor – wie es ihnen und ihren Ahnvätern von den Rechten immer vorgeworfen worden ist. Sie geben ihr Markenzeichen auf, um schnörkellos als berufene Sachwalter der bestehenden Verhältnisse Zustimmung zu finden.
Diese Anpassungsleistung ist einerseits der konsequente Endpunkt der alten sozialdemokratischen Entscheidung, die Kritik am Kapitalismus in den Antrag auf volles Bürgerrecht fürs Proletariat und ein wenig Entgegenkommen in der „sozialen Frage“ zu verdrehen. Über die Dauer ihres konstruktiven Mitmachens, insbesondere in der unwiederholbaren Phase, als ein sachgerecht gemäßigter sozialdemokratischer Verbesserungswille sich eine Zeitlang mit einem „Fortschritts“-Bedarf von Staat und Wirtschaft getroffen hat und der nationale Kapitalismus „Modell Deutschland“ hieß, haben die Reformer die kapitalistische Welt als Verwirklichung ihrer sozialen und demokratischen Träume anerkannt und sich als kundige Hüter aller Sachzwänge und Freiheitschancen empfohlen. Diesen Erfolg, mit der Nation und ihren Einrichtungen deckungsgleich geworden zu sein, gibt die Sozialdemokratie selbstverständlich auch dann nicht preis, wenn diese Nation sich gewisser Zusätze, „das Soziale“ betreffend, entledigt, den Gegensatz zwischen sich als erstklassigem Kapitalstandort und einer gesicherten Reproduktion der Arbeiterklasse zuspitzt und entsprechend dazu umstandslose Zustimmung des Volkes ohne Umwege und Umständlichkeiten einfordert. Die SPD geht mit der Zeit, also mit den nationalen Bedürfnissen konform; wo diese keinen Ansatzpunkt für eine Politik unter dem Signum der Weltverbesserung bieten, orientiert sie sich um – und legt für alle, die es noch wissen wollen, unmißverständlich offen, daß ihr Reformismus eben nie eine Alternative zum Kapitalismus war, sondern allein zu dessen Abschaffung. Diese letzte Konsequenz der sozialdemokratischen Art, dafür zu sein, verlangt der Partei andererseits doch einen gewissen Traditionsbruch ab: Der programmatische Wille zur Streichung des Sozialen aus der Marktwirtschaft erfordert auch den Verzicht auf das Soziale an der Demokratie, die sie meinen. Diese Partei, die die Interessen der notorisch Schlechterverdienenden auf die Funktion einer Stammwählerschaft heruntergebracht hat, kommt 1995 zu dem Befund, daß anständige Deutsche ohnehin nicht wegen ihres Geldbedarfs wählen gehen, sondern wegen ihrer nationalistischen Neigungen, die sie auf die verschiedenen Parteien verteilen. Sie läßt die Nation deswegen wissen, daß sie es leid ist, als „Anwalt der sozial Schwachen“ aufzutreten. Von dieser Fortsetzung des Wegs von Godesberg verspricht sich diese Volkspartei, das von ihr selbst herbeigeführte Ende der Sozialdemokratie zu überleben.
***
In dem Zuge, in dem die Marktwirtschaft die gesellschaftliche Armut auf ein neues Normalniveau hebt und die Politik den Sozialstaat an die Bedürfnisse des Standorts anpaßt, werden in Deutschland also auch die politischen Rechtfertigungsmaßstäbe korrigiert. Der Maßstab des Sozialen wird von der Partei, die ihn als ihr Markenzeichen vor sich hergetragen hat, als politikfremder Anspruch aus dem Verkehr gezogen und ist damit aus dem Umkreis der politisch anerkannten Standpunkte entfernt. Die Verantwortlichen wollen sich vor diesem Maßstab nicht mehr rechtfertigen und lassen sich an ihm nicht mehr messen; bestehen also darauf, daß aus den Opfern ihrer Marktwirtschaft kein Urteil über die Qualität ihrer Politik zu folgen hat.
Zur moralischen Bekräftigung dieser Klarstellung leisten sie bei Bedarf gezielt dem Verdacht Vorschub, daß der menschliche Ausschuß, den sie verwalten, die staatliche Fürsorge gar nicht verdient – das Stichwort „Sozialmißbrauch“, nur mal so in die Debatte gebracht, leistet da gute Dienste und bringt die Sorge um den Sozialstaat in die zeitgemäße Fassung. Denn das Bedenken, der Staat werde durch unrechtmäßige Inanspruchnahme seiner Leistungen geschädigt, nimmt von vornherein die Perspektive des staatlichen Korrekturanspruchs ein, urteilt von da aus über die eingerichteten Verhältnisse und wird in dem Maße praktisch ins Recht gesetzt, in dem die Bonner Kassenwarte die geltenden Grenzen „wirklicher Bedürftigkeit“ enger ziehen. Regierende Nationalisten, die sich mit der Forderung profilieren, daß der Staat der Ausnutzung seines Sozialsystems Einhalt gebieten muß, geben den regierten Nationalisten den aktualisierten Maßstab vor, an dem sie beurteilen können, ob die Politik ihrer Verantwortung nachkommt.
Wohlgemerkt: ihrer Verantwortung für den Sozialstaat. Die Absicht, den „abbauen“ zu wollen, dementieren Politiker nämlich aus gutem Grund: „Denn unser heutiger Sozialstaat ist ja auch ein Standortvorteil“; der Bundespräsident, von dem das Zitat stammt, denkt dabei an den „sozialen Frieden“. Mit einer Mahnung an die Verantwortlichen, dessen Grundlagen nicht zu untergraben, ist seine Einlassung allerdings nicht zu verwechseln. Er weiß, was der Sozialstaat seinen Untertanen derzeit zumutet, und billigt es selbstverständlich. Gerade deswegen, weil er das ordentliche Funktionieren der Bürger auf harte Proben gestellt sieht, dringt er darauf, die politische Funktion des Sozialstaats im Auge zu behalten. Vorsorglich kommen so die Ordnungsprobleme ins Gespräch, die dem Staat aus den Zumutungen an sein Volk erwachsen könnten, und liefern ein neues Kriterium, unter dem sich Regierende wie Regierte Gedanken über den ordnungsgemäßen Zustand ihres Staats machen können. Nämlich solche, die sich – garantiert von jeder Erinnerung an den Materialismus der Bürger bereinigt – der Frage widmen, ob die Staatsmacht intakt ist und alles ausreichend im Griff hat.
Unter diesem Gesichtspunkt verspricht der Kanzler seinem Volk neue politische Prioritäten:
„Man wolle weniger Staat, aber dafür einen, der seine eigentlichen Aufgaben voll erfülle. Dazu gehörten vor allem der Schutz vor Kriminalität und die Sicherung des Friedens.“
[1] Wie das funktioniert, im allgemeinen und in Deutschland speziell, ist ausführlich abgehandelt in GegenStandpunkt 2-92: „Die Ware Arbeitskraft in der Theorie von K. Marx – Die Lohnarbeit in der Praxis Deutschlands“.
[2] Vgl. dazu die erste der „Vier Bemerkungen zur Weltbevölkerungskonferenz“ in GegenStandpunkt 4-94, S.40.
[3] Für Zwecke der Polemik, und um die Arbeitnehmer für ihre Kritik am Sozialstaat einzunehmen, greifen die Anwälte der Unternehmersache bei Gelegenheit glatt zu dieser Wahrheit: Die Lohnnebenkosten, bestehend im wesentlichen aus den Arbeitgeberbeiträgen zu den Sozialversicherungen und der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, sind, anders als ihr Name … vermuten läßt, keineswegs eine Belastung, die nur die Unternehmen, nicht aber ihre Beschäftigten trifft. Für die Betriebe, für ihre Rentabilität und Überlebenschancen, zählt nämlich, was ihre Kosten für den Faktor Arbeit betrifft, nur die gesamte Summe, die sie pro Beschäftigten aufzuwenden haben. Wieviel sie davon sozusagen vorweg an die Sozialversicherung zahlen und dann erst gar nicht auf dem Lohnzettel ausweisen, ist ihnen eigentlich völlig egal. … In Wahrheit sind die Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung, ja die gesamten Lohnnebenkosten mithin ein Teil des vom Arbeitnehmer selbst verdienten Einkommens – ein Gehaltsbestandteil, der nur vorweg schon und ‚stiekum‘ durch den Sozialstaat konfisziert wird. Ihr irreführender Name und das Faktum, daß sie den Arbeitnehmern gegenüber gar nicht offen ausgewiesen werden, verschleiert nur die wahre Höhe und Dynamik der Belastung, die den Beschäftigten aufgebürdet ist.
(R.Merklein, Am Sozialabbau führt kein Weg vorbei, Handelsblatt vom 30.12.94)
[4] Und natürlich finden sich umgehend überparteiliche Meinungsbildner, die das zum unwidersprechlichen Trend der neuen Zeit erklären und zur Abhilfe eine etwas unbestimmte Wegwerfaktion empfehlen. Z.B. D. Deckstein von der SZ: Der immer deutlicher zutage tretende ‚Konstruktionsfehler‘ des Sozialstaatsmodells frühindustrieller Prägung ist…, daß dieses Modell auf der Grundannahme beruht, eine Erwerbstätigkeit sei der Normalfall. Ausschließlich diese Erwerbsarbeit wird mit Sozialabgaben belastet, und Nicht-Erwerbstätigkeit wird als vorübergehender Wechselfall des Lebens betrachtet. Wie aber, wenn Arbeitslosigkeit oder der vorgezogene Ruhestand für immer mehr Menschen zum ‚Normalfall‘ wird?
Ja: was dann? Sollte man dann womöglich auf den gesellschaftlichen Reichtum – statt auf die Löhne – zugreifen, von dem eine bestimmte eng begrenzte Klasse von „Nicht-Erwerbstätigen“ heute schon prächtig lebt, um dem großen Rest das Dasein zu erleichtern? Oder wird umgekehrt die Erinnerung daran fällig, daß „Erwerbstätigkeit“, eine lohnabhängige übrigens, nicht bloß eine sozialpolitische „Grundannahme“ ist, schon gar nicht eine veraltete, sondern nach wie vor die Existenzbedingung für eigentumslose Massen – also der kapitalistische Sachzwang schlechthin, dem der moderne Sozialstaat sein Volk erst einmal ausnahmslos unterwirft, bevor er die „Wechselfälle“ ins Auge faßt, die derzeit in der Tat kräftig ausufern? In der Redaktion der „Süddeutschen“ hält man es mit folgendem „Modell“: „…deswegen muß seine (sc des Sozialstaats) Renovierung damit beginnen, die menschliche Arbeitskraft von der Bürde der Abgaben zu entlasten und den Bürgern in einer pluralistischen Gesellschaft mehr Hilfen zur selbstverantwortlichen Bewältigung ihrer Lebensrisiken zu gewähren, anstatt sie zu Almosenempfängern einer entmündigenden Sozialbürokratie zu degradieren.“ (SZ vom 2.1.95) Um was für „Lebensrisiken“ mag es sich da wohl handeln? Egal: Mit ein wenig öffentlicher Beihilfe zur Mündigkeit lebt es sich auch ohne „Erwerbstätigkeit“ ganz ordentlich von der Tugend der Selbstverantwortlichkeit – soviel Pluralismus muß in einem freien Land einfach drin sein!
[5] Bundesarbeitsminister Blüm z.B. hat im Vorfeld der NRW-Wahl die Gelegenheit ergriffen, sich beim deutschen Arbeiter mit starken Tönen in gute Erinnerung zu bringen: Wir haben es mit einer ganzen Kompanie von Maulhelden zu tun, die reden viel und machen wenig.
Was sie machen, weiß er durchaus auch: Blüm warf den Arbeitgebern vor, die Sozialkassen durch Vorruhestandsregelungen auszubeuten. Dabei würden Arbeitnehmer ab einem Alter von 50 Jahren ‚wie Kirschkerne ausgespuckt‘. Zahlen müßten dafür die Bundesanstalt für Arbeit und die Rentenversicherung. ‚Dieselben Leute, die samstags klagen, daß die Lohnzusatzkosten zu hoch sind, tun werktags alles dafür, daß sie weiter steigen‘…
(FR vom 28.12.94) Freilich, irgendwer muß den Unternehmern dieses Verfahren erst einmal erlaubt haben. Und Blüm denkt auch gar nicht daran, diese Erlaubnis zurückzuziehen. Er wollte ja nur nicht auf sich allein den Vorwurf sitzen lassen, daß der Sozialstaat die Lohnkosten treibt…
[6] Es verhält sich damit, wie man seit neuestem weiß, wie mit erdbeben- oder hochwassergefährdeten Gebäuden: Wer eine solche Versicherung absehbarerweise braucht, bekommt sie nicht.
[7] Hierzu: „Das neue Arbeitszeitmodell von VW: Zuviel Kapital – weniger Arbeit – mehr Armut“, in GegenStandpunkt 4-93, S.91.
[8] So beschlossen bei der Auftaktrunde zum „Beschäftigungspakt“, den der Kanzler mit Arbeitgebern und Gewerkschaften schließen will. Weltklug meint dazu die Süddeutsche Zeitung: …der Mitnahmeeffekt … ist trotz gegenteiliger Beteuerungen der Sozialpolitiker enorm groß. Wer will es auch einem Unternehmer verdenken, wenn er bei ohnehin geplanten Neueinstellungen dankbar zugreift und Lohnkostenzuschüsse bis zu 80% einkassiert. Da fällt es nicht schwer, es auch einmal mit einem halbwegs qualifizierten Langzeitarbeitslosen zu versuchen…
(SZ vom 27.1.95) Ausgerechnet die Begünstigten bleiben freilich skeptisch, weil sie noch lieber dauerhaft niedrige „Einstiegs“-Tariflöhne hätten. Um so zufriedener waren nach dem Beschluß zu Lasten der Arbeitslosenkasse Regierung und Gewerkschaften miteinander.
[9] Der Entlastung der kommunalen Sozialhaushalte dient u.a. auch die Einführung der Pflegeversicherung, von der noch die Rede sein wird.
[10] Die Ideologie vom „Generationenvertrag“ nimmt Anleihe bei einer Vorstellung von planwirtschaftlicher Zweckmäßigkeit, wie sie jedem „gesunden Menschenverstand“ einleuchtet – die produktiven Teile der Gesellschaft lassen die nicht mehr produktiven am produzierten Reichtum teilhaben –, um schönfärberisch über ein völlig anderes Verhältnis zu reden: Die Staatsgewalt macht den Lebensunterhalt der ausgeschiedenen Arbeiterschaft von Lohnabzügen bei den noch Beschäftigten abhängig.
[11] Ein schönes Beispiel bietet die jüngste Statistik über Ausfalltage wegen Krankheit in Deutschland: Im Westen ist deren Zahl zwischen 91 und 93 von 26 Tagen pro Betriebskrankenkassen-Pflichtmitglied auf 21 gefallen, in Ostdeutschland von 10 auf 18 gestiegen. Auch im „realen Sozialismus“ war Lohnarbeit mit Sicherheit keine Erholung; aber wenn die „Arbeitsproduktivität“ so rasant steigt wie in der Ex-DDR nach der „Wende“ zum Kapitalismus, dann geht das eben auf Muskeln und Skelett (30% der Erkrankungen), Atemwege (19%), Verdauung (9%), Herz und Kreislauf (8%) sowie auf die Verletzungs- und Vergiftungsrate (12%). Demgegenüber können die Arbeitgeber im Westen der Nation die Auswirkungen einer radikalen Verjüngung ihrer Belegschaften sowie einer durch eine allgegenwärtige Entlassungsdrohung gestählten Arbeitsmoral registrieren. – Für die nationale Öffentlichkeit belegt die Statistik übrigens einen Erfolg anderer Art: Ost und West werden einander immer ähnlicher…
[12] Vgl. hierzu: „Die Pflegeversicherung – Der Sozialstaat stockt seine Finanzquellen auf“ in GegenStandpunkt 2-94, S.88.
[13] Knackige Lohnrunden bei sechs Millionen Arbeitslosen nannte sie unter dem Beifall der Delegierten ‚ein Unding‘.
So berichtet „Die Quelle. Funktionärszeitschrift des DGB“ Nr.10, Oktober 1994, vom letzten Auftritt der damaligen ÖTV-Vorsitzenden Wulf-Mathies beim Außerordentlichen Gewerkschaftstag der ÖTV in Bremen. Ähnlich reden alle Gewerkschaftsführer herum – und handeln tun sie sowieso danach.
[14] Es gehört einstweilen zu den Restbeständen gewerkschaftlicher Lohnkampftradition, daß dieser Zweck der Sache immer noch als ‚leider wohl unvermeidliche‘ Konsequenz eines ganz anderen Anliegens formuliert wird: Ein voller Lohnausgleich werde wohl nicht zu erreichen sein…
[15] U. Engelen-Kefer, stellvertretende DGB-Vorsitzende, in „Die Quelle…“ Nr.12, Dezember 1994.
[16] Die IG Metall verzichtet mit ihrer Forderung auch darauf, falsche Weichenstellungen der konservativen Finanzpolitik durch gewerkschaftliche Tarifpolitik zu korrigieren.
(W. Hoffmann in „Der Gewerkschafter. Monatszeitschrift für die Funktionäre der IG Metall“ Nr.10, Oktober 1994) Gleichlautende Beteuerungen gibt es haufenweise.
[17] Insbesondere die Ressortabgrenzung zwischen Sozialkassen und Fiskus hat es den Gewerkschaften angetan. Indem sie hier Belastungsgerechtigkeit einklagen, sind sie völlig weg von jedem Interessengegensatz zwischen Lohnzahlern und Lohnarbeitern, eher sogar auf derselben Seite, gemeinsam gegen „den Steuerzahler“: Es ist mittlerweile unwidersprochen, daß die Sozialversicherungen den Staat in hohem Maße subventionieren. Über die Beitragszahler zur Bundesanstalt für Arbeit werden allgemeine wirtschafts- und gesellschaftspolitische Aufgaben im Umfang von rund 40 Mrd. DM finanziert. Über die Rentenversicherung werden versicherungsfremde Leistungen von über 80 Mrd. DM finanziert, wovon lediglich 60 Mrd. DM durch den Bundeszuschuß gedeckt sind. Nimmt man dies zusammen, so könnten – bei ordnungsgemäßer Finanzierung dieser allgemeinen Aufgaben durch den Steuerzahler – die Beitragssätze insgesamt um rund fünf Prozentpunkte gesenkt werden.
Radikalismus ist gewerkschaftlichen Experten selbstverständlich auch in dieser ehrenwerten Gerechtigkeitsfrage fremd: Jeder weiß, daß angesichts der derzeit desolaten Lage der staatlichen Finanzen eine Umfinanzierung nicht auf einen Schlag zu erreichen ist. Aber auf mittlere Sicht könnte und müßte eine solche Finanzverlagerung sukzessive umgesetzt werden.
Zu bedenken ist außerdem, daß man auch von denen Beiträge einziehen könnte, die derzeit wegen der Geringfügigkeit ihres Einkommens aus dem Sozialkassensystem ausgeklammert bleiben – selbstverständlich nicht bloß zur Sanierung der Kassen, sondern zur Verbesserung des sozialen Schutzes
. Und so weiter. Die Vorschläge macht U.Engelen-Kefer in ihrem schon zitierten Beitrag in „Die Quelle“ Nr.12.
[18] Zum Beispiel: Die Hinterbliebenenversorgung, die heute rund ein Drittel der Rentenausgaben beansprucht, wird angesichts zunehmender Erwerbstätigkeit von Frauen in der bestehenden Form immer stärker zum Anachronismus.
(gleichfalls Engelen-Kefer, aaO) Eine zeitgemäße Regelung, so soll man das doch wohl verstehen, könnte bis zu einem Drittel der Rentenzahlungen einsparen.
[19] So der Vorsitzende des ÖTV-Bezirks Hamburg zu Beginn dieses Jahres. Es geht mir ausdrücklich auch um materielle Einzelvorteile
, gab der Mann bekannt. Ein Tarifexperte aus dem Vorstand des DGB hielt den Vorschlag ein paar Tage lang für einen recht interessanten Anstoß einer Diskussion
, die freilich gar nicht stattgefunden hat. Prinzipiell wünschenswert
fand ihn auch die DAG. Dann einigte man sich auf: nicht praktikabel.
(FR vom 3. und 4.1.95)
[20] Scharfsichtig die „Frankfurter Rundschau“: Bleibt als drittes der Einwand, daß sich bei differenzierter Behandlung in den Firmen (teure) Gewerkschaftsmitglieder outen müßten. Dies brächte den Chefs den Vorteil, billigere Leute bevorzugt einstellen zu können.
(FR vom 4.1.95)
[21] Sogar gegen die PDS grenzt der DGB sich in diesem Sinne ab: In einem von DGB-Chef Dieter Schulte an alle Bundesvorstandsmitglieder verschickten Papier heißt es, die programmatischen Aussagen der PDS widersprächen den Auffassungen des DGB: ‚Sie zielen auf die grundsätzliche Durchbrechung von Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft, während der DGB auf deren Regulierungsfähigkeit und den Ausbau ihrer sozialen Komponenten setzt.‘ Die PDS-Programmatik sei deshalb trotz wünschenswerter Einzelziele abzulehnen.
(Die Quelle Nr.11, November 1994)