Koalitionsstreit um den gesetzlichen Mindestlohn

Noch bevor die neue Bundesregierung im Amt ist und zu ihren sozialen Wohltaten schreiten kann, sind die Koalitionäre sich uneins darüber, wie hoch der gesetzliche Mindestlohn künftig ausfallen soll.

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Dieser Artikel ist eine Vorabveröffentlichung aus der Zeitschrift GegenStandpunkt 2-25, die am 27.06.2025 erscheint.
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Koalitionsstreit um den gesetzlichen Mindestlohn

Noch bevor die neue Bundesregierung im Amt ist und zu ihren sozialen Wohltaten schreiten kann, sind die Koalitionäre sich uneins darüber, wie hoch der gesetzliche Mindestlohn künftig ausfallen soll.

Den hatte die Sozialpolitik vor etwas mehr als zehn Jahren bekanntlich eingeführt, weil das Niedriglohnniveau am Standort, das unter der Ägide der Agenda-2010-Politik im Kräftemessen zwischen Arbeitnehmervertretungen und Arbeitgebern regelmäßig herausgekommen ist, irgendwann derart niedrig war, dass es dem Sozialstaat endgültig zu bunt geworden ist. Das hat er an der kontinuierlich anwachsenden Betreuungslast von Aufstockern und anderen mit beiden Beinen im Arbeitsleben stehenden Sozialfällen festmachen können: Deutschlands Ar­­beitgeber hatten das Ansinnen des deutschen Staates, einen veritablen Niedriglohnsektor im Herzen Europas zu schaffen, derart übererfüllt, dass der Sozialstaat sich in die Rolle gedrängt gesehen hat, nicht nur wie gewohnt durch seine flankierende Betreuung allfälliger Umstände das Leben von Lohnarbeit zu er­­möglichen, sondern durch seine Zuschüsse den Lohn selbst mehr und mehr ersetzen zu müssen. Auf der anderen Seite hatten Deutschlands Gewerkschaften es nämlich zu keiner nennenswerten Gegenwehr gebracht, um dem Lohnverfall und damit seinem massenhaften Ausfall als Lebensmittel irgendetwas entgegenzusetzen, blieben also ihrerseits ihre staatlich geschätzte Rolle als sozialfriedliches Korrektiv in der Lohnfrage mehr und mehr schuldig. Also beschloss die Politik entgegen dem hohen Prinzip der freien Konkurrenz am Markt um den Preis des hohen Gutes ‚Arbeit‘ eine hoheitliche Korrektur: einen allgemeinen Mindestpreis für die Arbeitsstunde, der im Großen und Ganzen nicht unterschritten werden darf. Der ist seither eine große Erfolgsgeschichte und in der sozialen Bundesrepublik nicht mehr wegzudenken.

Den Prozess seiner regelmäßig fälligen Anpassung an die steigenden Lebenshaltungskosten bzw. an das nominell steigende Durchschnittslohnniveau hat der deutsche Staat sinnigerweise so geregelt, dass dieselben Sozialpartner, denen er die freie Lohnfindung aus den genannten Gründen aus der Hand genommen hat, dann doch selbstständig alle zwei Jahre über die Anhebung der verordneten Lohn­­untergrenze zu verhandeln und zu entscheiden haben. Die Politik legt eben großen Wert darauf, dass ihr hoheitlicher Eingriff in die Tarifautonomie nicht der hoheitliche Eingriff sein soll, der er ist: Die Tarifpartner sollen für die Korrektur ihrer Fehlleistungen selbst zuständig sein und gefälligst die korrekte, nämlich sozial- und wirtschaftsverträgliche Lohnuntergrenze ermitteln. Dafür wird eine paritätisch besetzte Kommission ins Leben gerufen, die sich unter Rückgriff auf allerhand tarifpolitische Statistiken und wissenschaftlichen Beistand auf eine Summe verständigt, die – das beweist die gemeinsame Einigung – die richtige ist. Die wohltuenden Leistungen einer sozialpartnerschaftlichen Bewirtschaftung der Lohnfragen im Land sollen sich eben auch dort entfalten, wo der Lohn gerade nicht im Kräftemessen der Sozialpartner, sondern politisch festgelegt wird.

Natürlich bleibt es nicht dabei, dass der Staat die Tarifautonomie, die er den Sozialpartnern entzieht, einfach in Gestalt einer staatlich eingesetzten Kom­mission mit Einigungspflicht an sie zurückreicht. Der Staat hält an seinen An­­sprüchen an die Lohnuntergrenze fest. Die Autonomie der Kommission hat sich dementsprechend daran zu bewähren, ob sie Mindestlöhne ausspuckt, die die politischen Entscheidungsträger für angemessen, also ausreichend halten. Für den Fall, dass die Kommission diese Leistung schuldig bleibt, werden ihre Spielregeln schon mal vorausschauend angepasst;[1] und vor ein paar Jahren hat sich ein SPD-Kanzler gar die Freiheit genommen, an der Kommission vorbei den Mindestlohn pauschal auf volle 12 € anzuheben.[2]

Die neuen Regierungspartner haben ihre Ansprüche an die künftige Höhe des Mindestlohns in ihrer Koalitionseinigung sinnigerweise so festgehalten, dass sie diesen Aspekt der Sozialpolitik als erledigt abhaken konnten, um dann gleich wieder das Streiten darum anzufangen: Dass im Koalitionsvertrag neben dem fälligen Bekenntnis zu einer „starken und unabhängigen“ Kommission noch vermerkt ist, dass „auf diesem Weg ... ein Mindestlohn von 15 Euro im Jahr 2026 erreichbar“ sei, legen sie, kaum beschlossen, unterschiedlich aus. Ihre jeweiligen politischen Positionen sind sonnenklar: Die SPD will 15 Euro, die Union will weniger bzw. diese Anhebung so lange wie möglich hinauszögern. Doch beide Seiten halten sich im Streit an die zweckmäßige Verfremdung, die im Verfahren selbst angelegt ist: Nicht sie müssen die korrekte Höhe festlegen, jedenfalls nicht sofort und unmittelbar, sondern erst einmal die mit dieser Aufgabe betraute Kommission. Entsprechend outen sich Merz und Union als Freunde der unantastbaren Autonomie der Kommission und der dort versammelten Tarifpartner. Der rote Juniorpartner kriegt den Vorwurf, die Kompetenz der Kommission zu missachten und die Scholz’sche Ursünde parteipolitischer Profilierung an der Mindestlohnfront zu wiederholen, wenn er jetzt auf die Umsetzung dieses „erreichbaren“ Ziels drängt und behauptet, das wäre doch auch so verabredet gewesen. Den sozialdemokratischen Gegenvorwurf des Wortbruchs lässt der designierte Kanzler mit Verweis auf den Wortlaut der rechtlichen Kompetenzregelung locker an sich abprallen: Es kann doch durchaus sein, dass besagte 15 Euro statt 2026 vielleicht auch erst 2027 kommen könnten? Das entscheidet ja nicht er, schon gleich nicht die SPD, sondern – die Kommission.

Ein paar Wochen später, die Regierung ist nun tatsächlich im Amt, drückt der Kanzler sich in seiner ersten Regierungserklärung im Bundestag (14.5.) versöhnli­­cher aus und merkt im Namen der gesamten Koalition an, dass „wir einen Mindest­­lohn von 15 Euro im Jahr 2026 ... für erreichbar, für möglich und wünschbar“ halten. Aber: „... wir werden ihn nicht gesetzlich festschreiben.“ Noch Fragen?

[1] Die Satzung der Kommission sieht vor, dass sie sich nachlaufend an der ­bundesweiten Tarifentwicklung und gemäß dem neuen Koalitionsvertrag auch an der 60-Prozent-Marke des Bruttomedianlohns von vollzeitbeschäftigten Durchschnittsarbeitnehmern „orientieren“ soll, inklusive einer Öffnungsklausel für „besondere ökonomische Umstände“, die Abweichungen vom ermittelten Ergebnis geboten erscheinen lassen und gestatten. Falls die beiden Seiten auch nach drei Versuchen ihrem Auftrag, sich einvernehmlich auf den korrekten Mindestlohn zu einigen, nicht nachkommen, darf der Sozialpartner, der turnusgemäß den Kommissionsvorsitz innehat, den anderen überstimmen, was in der Vergangenheit schon für Unmut aufseiten der Arbeit­­nehmervertretung gesorgt hat.

 Viel Spielraum also für die Berufung des jeweiligen Koalitionspartners vom jeweils entgegengesetzten (partei)politischen Standpunkt aus darauf, dass die Kommission recht verstanden ohnehin den Auftrag hat, genau seinen Ansprüchen gerecht zu werden.

[2] Siehe auch den Artikel Gute Nachricht für Niedriglöhner. Ihr Mindestlohn wird armutsfest, bleibt aber nachhaltig wettbewerbsfähig!, erschienen in GegenStandpunkt 3-23.