16 Jahre Merkel: Eine alternative Bilanz (1)
Zu der ewig jungen Frage des systemeigenen marktwirtschaftlichen Gerechtigkeitssinns:
Warum verdient wer wie viel?
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16 Jahre Merkel: Eine alternative Bilanz (1)
Zu der ewig jungen Frage des systemeigenen marktwirtschaftlichen Gerechtigkeitssinns
Warum verdient wer wie viel?
haben 16 Jahre Merkel-Regierung unter anderem zwei weit auseinanderliegende Antworten beigesteuert.
Die eine gilt für Millionen arbeitsame Bundesbürger, lautet auf einen Betrag von rund 9,60 € die Stunde und überlässt dabei den Inhalt der bezahlten Stunde denen, die mit ihrer Verfügung über eine ganze Menge Geld nicht die Zeit, sondern den pro Zeiteinheit geleisteten Dienst bezahlen. Der zählt in den einschlägigen amtlichen Statistiken hauptsächlich zu einem Gewerbe, das – irgendwie passend – unter die Rubrik „Dienstleistungen“ fällt und – irgendwie ungerechterweise – von einem anderen unterschieden wird, das „produktiv“ heißt. Tatsächlich produziert der so sparsam entgoltene „Dienst“ genau dasselbe, worauf es bei allen „produktiven“ Arbeiten ganz genauso ankommt: Produziert werden Einnahmen für die zahlende Seite; produktiv sind die bezahlten Arbeitsleistungen genau darin, dass, und in dem Maß, wie sie pro Zeiteinheit und darin abgeleisteter Arbeit weniger Lohn kosten, als sie Einnahmen für die zahlende Seite schaffen. Neu, irgendwie alternativ ist daran im Prinzip natürlich nichts; schon gar nicht, dass die bezahlten – oder noch nicht einmal bezahlten Über- – Stunden mit maximaler Arbeitshetze gefüllt werden. Der zweite Wortbestandteil von „Arbeitsleistung“ bedeutet eben nicht bloß in der Physik, sondern erst recht im Kapitalismus „Arbeit pro Zeit“. Zu den Errungenschaften der Merkel-Ära zählt die verbindlich mindestens zu zahlende Geldsumme pro Stunde, darin enthalten das Warum. Fixiert ist der Schnittpunkt zweier Linien in der Geometrie der sozialen Marktwirtschaft. Die eine Linie sinkt vom Maximalentgelt, das in Merkels Republik gezahlt wird, kontinuierlich ab und repräsentiert das Interesse der geldigen Käufer von Arbeitsstunden, sich die benötigte Anzahl so billig wie möglich zu beschaffen. Dieses Interesse ist sehr heikel, findet sich laufend überfordert, fragt nur so viele Stunden nach, wie sich garantiert für seinen Erfolg lohnen, schafft deswegen – mit der Macht des Geldes, die es ganz auf seiner Seite hat – auf der anderen Seite eine Menge Bereitschaft, für wenig Geld alles Verlangte zu leisten. Die besagte Kurve, die den Preis aufzeichnet, zu dem die Nachfrage nach käuflicher Arbeit sich gut bedient sieht, zeigt dementsprechend beständig nach unten. Dabei kreuzt sie sich irgendwo zuerst mit dem Betrag, den Merkels Gewerkschaften mit ihren Tarifverträgen als Mindestlohn für besonders schlecht bezahlte Arbeitsdienste „durchgesetzt“, besser: zugestanden gekriegt haben. Von da aus geht es für Millionen Landesbewohner auf der schiefen Ebene der Stundenentgelte weiter nach unten, weil es keine gewerkschaftlich ausgehandelten Tarifverträge als Auffangstation gibt. Irgendwo war dann ein Hungerlohnniveau erreicht, bei dem die politische Herrschaft im Land, gedrängt durch schon längst nicht mehr als Tarifpartner gefragte Gewerkschaftspolitiker, auf den Grund zurückgekommen ist, aus dem der deutsche Rechtsstaat den Gewerkschaften eine Zuständigkeit in der nationalen Lohnfrage zugesteht: Lohnarbeit muss funktionieren. Dafür ist es grundsätzlich am besten, die Vertreter der beiden Seiten dieses Verhältnisses regeln die Sache selbst; dann gibt das Ergebnis keinen Grund für Beschwerden bei der Obrigkeit. Wenn es allerdings eine quasiamtliche Vertretung der lohnabhängigen Seite, eine Gewerkschaft als willigen Tarifpartner, nicht gibt, braucht es Ersatz; schon allein als Orientierungsgröße für die Geldbesitzer, die mit dem Kauf produktiver Dienstleistungsstunden Geld verdienen wollen. Mit der Ersatzvornahme haben Merkels Leute es sich einerseits nicht leicht gemacht, dann aber doch eine für sie sehr bequeme systemkonforme Lösung gefunden: Eine Kommission aus Experten aller Seiten fungiert als Ersatz für die nicht stattfindenden Tarifverhandlungen und bringt deren Sinn und Zweck genau auf den Punkt, indem sie einen Mindestbetrag für die Stunde dekretiert, der dann unterster Fixpunkt für das Interesse der Lohnzahler ist, das Verhältnis von optimaler Menge nutzbringender Arbeitsstunden und maximaler Produktivität neu zu gestalten. Eine Mindestlohnkommission als Bremse für das zeitlos waltende kapitalistische Lohnminderungsinteresse – das ist das „Warum“ für das „Wie viel“, von dem Millionen Arbeitskräfte in Merkels Land leben.
Und eine Gratisgabe der alten an die neue Regierung ist noch dabei: Der sorgfältig errechnete Euro- und Centbetrag ist bescheiden genug, dass die SPD mit dem Versprechen, auf mittlere Sicht, wenn mal Zeit dazu ist, den runden Betrag von satten 12 Euro pro Stunde gesetzlich als Mindestlohn einzuführen, für einen sozialdemokratisch bestens fundierten Respekt vor der Arbeit sorgen kann. Obwohl die wahre, gute und schöne Zivilgesellschaft das von sich aus gar nicht eingefordert hat. So wohltätig wirkt Merkels Herrschaft über ihr Ende hinaus.
Für eine kleine radikale Minderheit beziffert sich das Fazit der sechzehn Jahre Christliche Sozialdemokratie auf eine Zahl rund um glatte 16 000. Die bezeichnet nicht eine Euro-Summe, die irgendwer pro Stunde verdienen würde, obwohl das in etlichen Fällen durchaus auch darauf hinauslaufen könnte. Die 16 000 beziffert die Gesamt-Performance der DAX-Konzerne am Ende der Ära. Sie – oder die einzelnen Aktienkurse, die darin zusammengefasst sind – informiert eine Handvoll reicher Leute darüber, wie reich sie sind, wie hoch ihr Geldvermögen aktuell ist und um welchen Betrag es sich vermehrt hat. Die Leistung, die diesen volatilen Vermögenszuwachs zuwege gebracht hat, ist damit auch schon fertig bestimmt: Sie liegt ganz in dem Geldvermögen selbst. Das vermehrt sich, so als wäre es sein eigenes tüchtiges Subjekt. Die Intelligenzleistung, die es für diese Art des selbsttätigen Geldverdienens dann doch braucht, besteht in einem Algorithmus, der das Vermögen so auf verschiedene Geldanlagen mit ihren jeweiligen Kursbewegungen verteilt, Kauf und Verkauf von Wertpapieren so zweckmäßig arrangiert, dass immer mehr daraus wird – soweit die künstliche Intelligenz dieses Algorithmus Menschen als Schöpfer und Knechte braucht, verdienen die mit an der Selbstvermehrung der Geldvermögen, die sie verwalten. Merkels Herrschaft über Deutschland und die Deutschen hat es dafür und für das stolze 16 000er Ergebnis einerseits überhaupt nicht gebraucht – außer in dem wirklich ganz alternativlosen Sinn, dass es ein ganzes System kapitalistischer Ausbeutung der gesellschaftlichen Arbeit braucht, damit das Geschäft mit Papierwerten und Derivaten klappt; einen gigantischen, staatlich dirigierten Gesamtbetrieb produktiver Dienstleistung am Reichtum der Reichen, der menschliche Arbeitskraft und natürliche Lebensbedingungen in größtem Stil aufzehrt. In einer entscheidenden Phase ihrer Regentschaft hat die Merkel-Regierung sich aber doch ganz extra um das Warum des gewaltigen Geldverdienens ihrer vermögenden Elite verdient gemacht. Das war, als die engagierte Intelligenz des Finanzgewerbes es mit ihrer zunehmend perfektionierten Kunst, den Reichtum der Reichen auf dem geraden Weg über den Einsatz noch nicht oder überhaupt nicht vorhandener Geldvermögen wachsen zu lassen, aus Schulden besonders schöne Vermögenssteigerungen herauszuholen, mal wieder und ganz besonders total übertrieben hat; als die drohende Annullierung des aufgelaufenen Übermaßes an Vermögenstiteln beinahe den ganzen großen, sogar den weltweiten Betrieb der Geldvermehrung mitsamt dem darunter subsumierten Arbeits- und Lebensprozess der Menschheit lahmgelegt hätte. Da hat die Regierung die Nerven behalten und das systemgemäß Notwendige getan: In vollem Vertrauen auf die letzte Geschäftsgrundlage der heiligen Privatwirtschaft, die souveräne Herrschaftsgewalt des Staates, hat sie fehlendes Geldvermögen durch ihr hoheitliches Machtwort ersetzt – und so den Algorithmus, also das System finanzkapitalistischer Bereicherung gerettet.
Mindestens zwei Highlights christlich-sozialdemokratischer Marktwirtschaft haben Deutschland und die Welt also der Ära der 16 Jahre zu verdanken; von allem anderen ganz abgesehen. An beiden Enden des Spektrums einschlägiger Aktivitäten hat Merkel passende Antworten auf die Frage inszeniert, warum wer wie viel verdient.