Putsch in Niger
Im drittärmsten Armenhaus der Welt kämpft das Militär um „die Wiedererlangung der vollständigen Souveränität“ des nigrischen Staates gegen Islamisten und westliche Bevormundung

Neulich hat in Afrika, genauer gesagt in Niger, ein Putsch stattgefunden, der im Westen nicht gern gesehen wurde. Denn damit setzt sich, so las man, ein unerfreulicher Trend in ‚unserem‘ Afrika fort. Nicht der, dass dort die Menschen bettelarm, die Staaten schwach und die Terroristen zahlreich sind – mit solchen „instabilen Verhältnissen“ hat der Westen praktisch umzugehen gelernt. Unerfreulich aber ist, dass oppositionelle afrikanische Politiker und Militärs die Souveränität ihrer Staaten zunehmend als Gegensatz zu westlichen Interessen und westlicher Aufsicht sehen und handhaben, obwohl ihnen dieses schöne zivilisatorische Geschenk in Form von Waffen und Kredit doch überhaupt nur gemacht worden ist, damit sie sich für den Westen ökonomisch und strategisch nützlich machen. Unser Artikel erläutert am Fall Niger das Verhältnis von prekärer ökonomischer Staatsgrundlage, zerfallender Staatsgewalt, strategischem westlichem Zugriffsinteresse und praktiziertem antiwestlichem Souveränitätsidealismus afrikanischer Militärs.

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Putsch in Niger
Im drittärmsten Armenhaus der Welt kämpft das Militär um „die Wiedererlangung der vollständigen Souveränität“ des nigrischen Staates gegen Islamisten und westliche Bevormundung 

2023 putscht sich in Niger das Militär an die Macht, setzt den gewählten Präsidenten ab und erläutert den Landsleuten und der interessierten Staatenwelt, warum:

„Das Handeln des CNSP [Rat für die Rettung des Vaterlands] ist einzig und allein durch den Willen motiviert, unser geliebtes Vaterland zu bewahren angesichts einerseits der sich ständig verschlechternden Sicherheitslage in unserem Land – und das, ohne dass die gestürzten Behörden uns eine echte Lösung zur Überwindung der Krise in Aussicht stellen – und andererseits der schlechten wirtschaftlichen und sozialen Regierungsführung... Nein, die Ergebnisse entsprechen nicht den Erwartungen der Nigrer; nein, wir können nicht länger mit denselben bisher vorgeschlagenen Ansätzen fortfahren, da wir sonst Gefahr laufen, den allmählichen und unaufhaltsamen Untergang unseres Landes zu erleben. Deshalb haben wir beschlossen, einzugreifen und unsere Verantwortung zu übernehmen. Nicht ohne mehrfach versucht zu haben, in unserer Rolle als militärische Führer die Aufmerksamkeit der obersten gestürzten Behörden auf die Inkohärenz und Ineffizienz ihres politischen Umgangs mit den Sicherheitsfragen unseres Landes zu lenken.“ (General Tiani am 28.7.23)

Der General ist gewiss überaus staatstragend, man nimmt ihn aber lieber nicht beim Wort: Das steht nämlich in einem ziemlichen Missverhältnis zur Sache, über die er spricht. Nicht deswegen, weil er die katastrophale Lage im Lande übertreiben würde – im Gegenteil: Mit „sich ständig verschlechternder Sicherheitslage“ findet er einen eher zurückhaltenden Ausdruck für den Stand des gut zehnjährigen Krieges gegen grenzüberschreitende Dschihadisten, mit denen der nigrische Staat mit und trotz westlicher Unterstützung immer schlechter fertigwird. Aber wenn ihm beim Blick auf das landesweite Elend, das in die unterste UN-Statistikern bekannte Schublade gehört, die Phrase von „schlechter wirtschaftlicher und sozialer Regierungsführung“ einfällt, dann fällt das zwar nicht aus dem Rahmen – diese Universalerklärung liegt ganz auf der Linie westlicher Entwicklungspolitiker, denen noch kein Fall von Armut in ihrer gesamten Weltordnung begegnet ist, den sie nicht auf die Versäumnisse lokaler Verantwortlicher zurückführen können, der also nicht durch deren Korrektur zu heilen sein müsste –, doch mit dem Grund des so überaus wenig staatsnützlichen Elends hat Tianis Vorwurf an seinen Vorgänger nichts zu tun. Und erst recht schief ist seine eindringliche Beschwörung von „unserem Land“ bzw. „geliebten Vaterland“ und von den „Erwartungen der Nigrer“ an ihre Regierenden; die suggeriert nämlich ein Verhältnis zwischen der nigrischen Staatsgewalt, ihrem Territorium und der dort hausenden Bevölkerung, das mit der Realität dieses Landes nichts zu tun hat.

1. Niger: Failed State, Terror-Hotspot, Heavily Indebted Poor Country, verlässlicher Partner und Stabilitätsanker in der Region

a) Niger kämpft um eine Souveränität – aber um was für eine?

Der Krieg selbst ist davon ein erstes, vielsagendes Zeugnis. Dieser betrifft zwar nur vergleichsweise kleine Regionen der gewaltigen Landmasse, die dem nigrischen Staat völkerrechtlich gehört, konzentriert sich aber auf die bevölkerungsreichsten Gegenden im Südwesten des Landes in den Grenzregionen zu Mali und Burkina Faso – dort auch die Hauptstadt Niamey – und im Südosten in der Region um den Lake Tschad, grenzend an Nigeria und Tschad.

Geführt wird er gegen Dschihadisten – vor allem zwei Ableger des IS im Südwesten und Osten des Landes (ehemals Boko Haram) sowie einen Al-Qaida-Ableger. Mittlerweile taucht die Sahelzone in der IS-Propaganda als eines der bedeutendsten Schlachtfelder im internationalen Dschihad auf, sodass nicht nur lokale Rekruten zum Einsatz kommen, sondern auch zahlreiche Kämpfer aus der ganzen Welt. Dass die Dschihadisten auch in dieser Region Terroristen heißen und damit auffallen, dass sie die Sahelzone zur Gegend mit der höchsten Terroranschlagsdichte der Welt gemacht haben, bedeutet aber nicht, dass es sich bei diesem Feind bloß um eine überdimensionierte Terrorzelle handeln würde: Die Kämpfer vertreiben die Staatsmacht aus zahlreichen Gegenden und eignen sich alle dort vorhandenen substanziellen Einkommensquellen an – am geldträchtigsten sind da alle Arten von Schmuggel, die einerseits schon immer zur ökonomischen Ausstattung Nigers gehört haben, andererseits gerade in dem Kriegszustand gedeihen, den die Dschihadisten herbeiführen. Sie erobern Dörfer und unterwerfen sich die dortige Bevölkerung, besorgen sich die Mittel für ihren heiligen Krieg durch regelmäßige Raubüberfälle, deklarieren die Beute dann als ordentlich abzuliefernden Beitrag zur Sache des Islam und setzen ihre Auslegung islamischer Sittlichkeit gewaltsam durch. Wo sie auf Widerstand treffen, greifen sie zu den passenden Mitteln, um die Loyalität der muslimischen Gemeinschaft gegenüber ihrer neuen gottesfürchtigen Herrschaft herzustellen, etwa wenn sie in Strafaktionen ganze Dörfer abbrennen.

So bringen sich die Dschihadisten immer erfolgreicher in Stellung gegen „die ungläubigen Regimes“ – imPlural deswegen, weil sie nicht nur dem nigrischen Staat die Hoheit über Teile seines Territoriums streitig machen, sondern auch den anderen Staatsgewalten in der Nachbarschaft. Sie führen damit vor, dass der nigrische Staat faktisch keine Hoheit über seine gewaltigen Grenzen hat; er ist unmittelbar von dem Staatszerfall betroffen, der in der Sahelzone seit über zehn Jahren immer mehr um sich greift. [1]

Die absolute Unfähigkeit der nigrischen Staatsgewalt, diese Herausforderung ihres Gewaltmonopols zu bewältigen, wird abermals unterstrichen durch den Hilferuf, den seine mächtigen westlichen Partner erhören: Frankreich organisiert diverse westliche Kriegskoalitionen, während die USA eine eigene Drohnenbasis im Land errichten. Nach einem Jahrzehnt hat der Koalitionskrieg freilich vor allem ein Resultat: Die „staatsfernen Räume“ werden immer größer, die Reichweite des Staates immer geringer. Mit den wachsenden Erfolgen des Feinds geht die zunehmende Selbstbewaffnung der eigenen Bevölkerung in den Gegenden einher, aus denen der nigrische Staat sich hat zurückziehen müssen. Was freilich nicht bedeutet, dass die einschlägigen Milizen dann eben selbst den Kampf gegen die Dschihadisten übernehmen. Eher kämpft das eine Dorf gegen das andere, [2] ob es nun unter der Kontrolle der Dschihadisten oder der Vertreter einer anderen Ethnie liegt, die als Dschihadisten-affin ausgemacht wird, um mit ihr ältere Rechnungen zu begleichen. [3] So mündet der Kriegin ein allseitiges Gemetzel, das den nigrischen Staat immerzu vor die Frage stellt, wie er sich auf die diversen Milizen beziehen soll und ob er überhaupt dazu in der Lage ist, solche Eigenmächtigkeit zu funktionalisieren oder zu unterbinden. Ein problematischer Fall ist da etwa die Selbstverteidigungsmiliz der Tuareg namens „garde nomade“, weil diese Volksgruppe in der Vergangenheit durch gewaltsame Opposition gegen den nigrischen Staat aufgefallen ist. [4] Deshalb bemüht er sich einerseits darum, diese möglichst in die eigene Befehlshierarchie zu integrieren, andererseits gesteht er damit praktisch ein, dass dieser Krieg, auch da, wo er ihn selber führt, zu immer größeren Teilen nicht auf den Machtmitteln beruht, die er dank westlicher Unterstützung überhaupt mobilisieren kann. Das gilt auch da, wo er die Zarma-Milizen in Tillabéri schlicht duldet und damit anerkennt, dass Teile seines Volkes, die er nicht zu seinen Feinden zählt, seiner Gewalt nicht unterworfen sind, sondern auf eigene Faust Krieg führen.

Das ist also die „sich verschlechternde Lage“, in der die Putschisten das Land auf dem Weg in den Untergang sehen. Tatsächlich ist dort das erste und entscheidendste Element eines jeden Vaterlands kaputt: das staatliche Gewaltmonopol. Und es ist auch sehr auffällig, wie wenig es dafür gebraucht hat: Kaum wird die nigrische Hoheit angefochten, schon erweist sie sich als unfähig, sich zu behaupten. Der nigrische Staat wird sofort zu einer Kriegspartei im eigenen Land, und trotz französischer und amerikanischer Unterstützung bleibt er eine extrem schwache. Nicht sehr verwunderlich die Verwunderung westlicher Beobachter, die sich fragen, wie bloße „Männer auf Motorrädern“ dem nigrischen Staat die Hoheit über sein Land so effektiv bestreiten können. [5]Die gar nicht überraschende Antwort, dass das weniger an der Stärke der Gegner als an der Schwäche des nigrischen Staates liegt, ist zwar richtig, aber nicht vollständig. Der Zustand des nigrischen Gewaltmonopols zeugt nämlich davon, dass diese Herrschaft noch nie dafür gebaut gewesen ist, ihr Territorium effektiv zu beherrschen und die Bevölkerung zu ihrer Machtbasis zu formen. Davon hat diese Herrschaft offenbar nie gelebt. Der nigrische Souverän, völkerrechtlich als solcher anerkannt, mit eigenem Sitz in der UNO, also mit der Kompetenz ausgestattet, in seinem Interesse frei für ihn nützliche Beziehungen mit der Staatenwelt einzugehen, hat in dem Territorium und den Bürgern, über die seine Souveränität höchstoffiziell anerkannt ist, nicht seine Machtbasis.

Dieser Widerspruch der nigrischen Souveränität zeigt sich auch beim Blick auf die Ökonomie des Landes – auf den nationalen Reichtum und die Art seiner Bewirtschaftung.

b) Die Her- und Sicherstellung der materiellen Basis des Staates: „Natürliche Reichtümer“ statt Nationalreichtum, Bevölkerung statt Volk

Besagte Bewirtschaftung hat ihren Ausgangspunkt in einem Geld, das dem nigrischen Souverän von außen spendiert wird: dem CFA-Franc. Eine Stiftung, die die ehemalige Kolonialmacht Frankreich gleich mit einer festen Wechselkursbindung an den – ehemals französischen Franc, mittlerweile – Euro verknüpft. [6] Damit wird dem nationalen Zahlungsmittel CFA a priori eine Eigenschaft bescheinigt, die für Entwicklungsländer wie Niger – eigentlich – der ideale Zielpunkt ihrer monetären Ambitionen ist: ein Geld, das auch international als Wertträger anerkannt und als Zugriffsmittel auf all die Dinge tauglich und verwendbar ist, die der nationale Hüter für die Bewirtschaftung seines Standorts für nötig befindet. Genützt hat dieser Umstand für die ökonomische Entwicklung von Niger nichts – was sich unzweifelhaft an den amtlichen Statistiken ablesen lässt, in denen diesem Land seit einigen Jahrzehnten ein prominenter Platz als Heavily Indebted Poor Country (HIPC) attestiert wird. So ein Land ist schließlich darauf angewiesen, dass es auch reichlich von dem Geld verdient, in dem es seinen Reichtum misst. Als materielle Grundlage staatlicher Macht ist dessen Förderung und Wachstum ein Muss, folglich die Mobilisierung aller verfügbaren Quellen dafür vorrangiges Ziel der Regierung.

Diesbezüglich setzt Niger vor allem auf seine „natürlichen Reichtümer“ – hauptsächlich Uran, Gold und seit neuestem Öl. Wie in vielen „Rohstoffländern“ ist auch in Niger deren Förderung nicht der erste Bestandteil einer nationalen kapitalistischen Produktionskette, in der mittels Ausbeutung von Arbeit und Anwendung von Kapital ein Gewinn erwirtschaftet wird, an dessen ökonomischem Resultat der Staat sich per Steuer bedient. Zu einer solchen landesweiten, produktiven Kombination aus Kapitalreichtum und dafür nützlicher Armut hat es das Land nie gebracht; es verfügt zwar über Armut im Überfluss, aber das Kapital, das nötig wäre, um aus den armen Massen eine ordentliche Kapitalakkumulation herauszuwirtschaften, hat über sie längst das Urteil gefällt: nicht brauchbar. Für den nigrischen Staat heißt das erst einmal, dass auch seine „natürlichen Reichtümer“ in Niger schlicht und einfach kein Reichtum im marktwirtschaftlich einzig relevanten Sinne sind. [7] Zu einem solchen werden sie nur, wenn sie in einen kapitalistischen Akkumulationsprozess eingehen, der im Ausland abläuft; nur dadurch werden sie für den nigrischen Haushalt nützlich. Dessen wichtigste autonome Quelle hängt also vollständig von den Bewegungen des Weltmarktpreises dieser Rohstoffe ab. [8] Erschwerend kommt hinzu, dass es in seinem Land kein Kapital von der nötigen Größe gibt, das Rohstoffgeschäft national zu betreiben; Schürfrechte vergibt der nigrische Staat stattdessen an ausländische Konzerne, an deren Erträgen er sich beteiligt. [9] Dass er zu diesen Operationen außer seine Hoheit über das Territorium nichts beisteuert, auf die Vergabe von Schürfrechten zugleich nicht verzichten kann, wird von den auswärtigen Käufern marktwirtschaftskonform ausgenutzt. So kommt in den nigrischen Kassen nur ein Bruchteil der Weltmarkterlöse an; von dem muss der nigrische Staat leben, er konnte das aber noch nie. Weder für die Aufrechterhaltung von Bürokratie und Militär noch für die Erhaltung und weitere Erschließung dieses Geschäfts haben die Einnahmen je gereicht.

Von seinem Volk lebt der Staat erst recht nicht. Dessen Überlebensbemühungen orientieren sich zwar auch alle am Erwerb seines nationalen Geldes, aber dieser Erwerb findet getrennt von den wichtigsten Geldquellen des Landes statt. [10] Die ökonomische Aktivität des Volkes konzentriert sich auf den fruchtbareren Süden des Landes und besteht im Wesentlichen in Landwirtschaft, in der mehr als 80 % der 27 Millionen starken Bevölkerung arbeiten. Statistiker betrachten diese Landwirtschaft zwar in aller beruflichen Borniertheit als „Sektor“, dem sie als solchem einen Anteil am BIP in Höhe von rund 41 % zurechnen – der Uranexport beträgt hingegen nur 5 % –, darüber freuen kann sich der Staat freilich nicht, denn dieser „Sektor“ ist kein Beitrag zu einem Nationalreichtum, von dem der Staat per Steuer leben könnte. [11] Es wird zuallererst und zumeist für die Subsistenz der Bauern selbst produziert. Die untersten Schichten bringen es oft genug nicht einmal dazu, während im Normalfall neben der Subsistenz, soweit es geht, Viehzucht und/oder der Anbau von Cash Crops betrieben werden. Einen Markt gibt es also nur für etwaige Überschüsse über die Produktion für das eigene Überleben. Die fallen notwendigerweise wenig üppig aus, weil das Produktivitätsniveau der Landwirtschaft ganz von den „traditionellen Anbaumethoden“, d.h. fast ausschließlich durch die natürlichen Eigenschaften des Bodens und das Wetter bestimmt wird. Und in der Hinsicht hat die nigrische Bevölkerung, die sich davon ernähren muss, das größtmögliche Pech. Denn fast die gesamte Bewässerung der nigrischen Landwirtschaft hängt am Niederschlagsniveau, weil kaum Bewässerungsinfrastruktur vorhanden ist, und selbst in den Regionen, in denen durchschnittlich genügend Jahresniederschlag für den Ackerbau vorhanden ist – und die werden wegen der Versteppung durch den Klimawandel immer kleiner –, schwankt die Niederschlagsmenge so stark, dass die Bevölkerung periodisch von Hungerkatastrophen heimgesucht wird. Diese totale Abhängigkeit von einer sehr schlechten Naturbedingung sorgt dafür, dass sich die Überschüsse weder als sichere Basis für die Ernährung der Bevölkerung in den Städten noch als insgesamt lohnendes Exportgeschäft bewähren. [12] Denn zum Ausgleich für das schlechte Produktivitätsniveau der Landwirtschaft ist ein jährlich steigendes Importvolumen an Nahrungsmitteln notwendig, damit der Teil der Bevölkerung, der seine Nahrungsmittel einzukaufen in der Lage ist, das überhaupt kann – und um die Hungerleider auf dem Land kümmert sich weniger der Staat, sondern, wenn überhaupt, westliche Entwicklungsorganisationen und die UNO. [13]

Die absolute Armut seiner Landbevölkerung ist zugleich ein Beitrag zu Nigers Sicherheitsproblem. Sie ist nämlich selbst eines: Gerade wegen der Untauglichkeit dieser Subsistenzökonomie kommt es auf jeden Quadratmeter Land an, sind also dessen Besitz und Nutzung selbst Gegenstand gewaltsamer Konflikte zwischen Ackerbauern und Viehzüchtern entlang von ethnischen Linien. Diese Konflikte werden mit ihrer Verschärfung um solche Schönheiten wie die Frage bereichert, was mit den Ernteresten geschieht: Von denen lebt traditionell das nach der Ernte durch die Äcker geführte Vieh, seit den 90er Jahren aber zunehmend ein neuer „Berufsstand“, nämlich landlose Viehfutterhändler, die diese Reste einsammeln, um sie in den Städten an Viehhalter zu verkaufen. Der Versuch des Staates, solche Konflikte durch das Mittel desRechts zu befrieden, indem er Durchzugskorridore festlegt sowie Zeitpunkte, ab denen der Durchzug durch die Felder erlaubt ist, leistet aufgrund des Inhalts des Gegensatzes – diese Überlebensinteressen haben kein produktives Verhältnis zueinander, sondern schließen sich einfach aus – diese Befriedung nicht. Wenn überhaupt, dann überführen seine Regelungen die Gegensätze in diverse Versuche, das Recht als Hebel zu benutzen, um von der anderen Fraktion Geld abzupressen – etwa indem die Regelung für Durchzugsrechte für Viehzüchter durch die offensive Expansion des Ackerlandes in die Durchzugskorridore ausgenutzt wird. [14]

Das ist die „Lebensperspektive“, die 80 % der nigrischen Bevölkerung geboten ist, mit über 40 %, die unterhalb der absoluten Armutsgrenze leben. Ein paar wenige alternative Einkommensquellen gibt es freilich auch noch, z.B. im „informellen Sektor“, der hauptsächlich in den Städten beheimatet ist und in dem ein Gutteil der dortigen Bevölkerung aktiv ist – mit dem Verkauf von Lebensmitteln, der Erbringung von allerlei Dienstleistungen und im Kleingewerbe. [15] Dieser „Sektor“ hat zwar eine ebenso beachtliche „Wachstumsrate“ wie die Landwirtschaft, aber was da wächst, ist genauso wie in der Landwirtschaft nichts Kapitalistisches, sondern mit dem Wachstum der Bevölkerung bloß die Multiplikation von „self-employed service providers“, die mit ihrem Geschick darum konkurrieren, die nächste Woche zu überleben. Dass der größte Teil der nigrischen Ökonomie informell stattfindet, ist also auch einfach zu erklären: Formalität kostet Steuern. Dem Staat fehlt seinerseits der Apparat, diese zuverlässig einzutreiben – und so etwas wie eine zentrale Zusammenfassung des gesellschaftlichen Zahlungsverkehrs, wo der Staat nachschauen könnte, gibt es auch nicht; nur 9 % der Nigrer haben überhaupt ein Bankkonto. 7 % haben das „Glück“, in einem formellen Lohnverhältnis in kleinsten Betrieben – 0,5 % haben mehr als fünf Beschäftigte – und unter Bedingungen, die von Lohnsklaverei oft genug nicht zu unterscheiden sind, [16] oder beim Staat beschäftigt zu werden. Wer im Staatsdienst landet, kann sein Gehalt durch „Korruption“ aufbessern, also die eigenmächtige Erhebung von kleinsten Summen und Verwicklungen in Geschäfte der nicht nur informellen, sondern illegalen Art: Es gibt z.B. – ganz prominent – den Transport von Migranten im Norden, also Gelegenheiten fürs Verdienen an allem, was dazugehört: Wasserverkauf, Unterbringung etc. Die Stadt Agadez mit 118 000 Einwohnern im Norden Nigers und ein paar Dörfer an den wesentlichen Transportrouten des Landes leben davon. [17] Dieses Geschäft hat mit dem Staat höchstens in der Form zu tun, dass die Transport-Konvois sich an den Personalaustauschrhythmus der Armee halten, um als Schutz vor Überfällen in deren Gefolge zu fahren. Und die anderen wichtigen, illegalen Unterkategorien der Transportbranche leben überhaupt davon, mit dem Staat möglichst nichts zu tun zu haben: Niger ist ein wichtiges Durchzugsland für Drogen- und Waffenschmuggel, der sich die Schwäche des Staates im Verhältnis zur enormen Größe seines Territoriums zunutze macht. Auch daran ist der nigrische Staat dann aber doch beteiligt, wie es sich für ein Transitland gehört – so, dass Staatsbedienstete ihren Lohn aufbessern können. [18] Ansonsten besteht der Bezug des Staates auf diese Überlebensbemühungen seiner Bevölkerung, die auch in Niger auf dem Papier ins Illegale reichen, hauptsächlich darin, dass er sie duldet und so zumindest praktisch als legitime Beiträge zum Überleben seines Volks anerkennt. Wenn er sie wirklich als illegal behandelt und gegen sie vorgeht, dann nur deshalb, weil er von außen für ordentliche Summen Weltgeld den Auftrag bekommt, sie zu bekämpfen – dazu später mehr.

Für diejenigen, die für die Ernährung von sich und ihrer Familie nichts oder nichts Ausreichendes finden, gibt es schließlich die Möglichkeit des irregulären Grenzübertritts: am seltensten in die Zentren des Imperialismus, dafür sind die meisten Nigrer schlicht zu arm, sondern in die Nachbarstaaten, vornehmlich Algerien. In der Regel bestehen die Beschäftigungsmöglichkeiten dort in informeller Tagelöhnerei, von der etwas für die Familie daheim abfällt, oft verbunden mit der Hoffnung, mit den Ersparnissen später in Niger als Teil des glorreichen informellen Sektors ein Geschäft zu eröffnen. Dabei handelt es sich um eine ziemlich unsichere Angelegenheit: Algerien veranstaltet immer wieder Razzien und Abschiebungen gegenüber Nigrern auf seinem Gebiet, weil es diese Migration im Verhältnis zu seinem eigenen Überfluss an kapitalistisch unbrauchbarer Bevölkerung als bloße Last definiert. Anders verhält es sich mit der Migration in die benachbarten ECOWAS-Staaten, weil die Staaten dieses Bündnisses sich in einem entsprechenden Freizügigkeitsabkommen wechselseitig anerkannt haben, dass die zeitweise und dauerhafte Migration ihrer Bevölkerungen ein legitimer Bestandteil von deren Überlebensbemühungen ist.

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Für den nigrischen Staat ist also der allergrößte Teil seines Volkes bloße Bevölkerung: Die Nigrer wohnen zwar auf nigrischem Territorium, sind aber in ihrer großen Mehrheit weder ökonomisch noch politisch seine Machtbasis – also auch nicht das Objekt seiner Bewirtschaftung und Pflege. [19]

Versuche, das nigrische Volk in Gänze, also vor allem die Landbevölkerung, zu einer sicheren Basis zu machen, gibt es in der nigrischen Geschichte zwar schon – meistens auf dem bescheidenen Niveau der Entwicklung einer Transportinfrastruktur auf dem Land, der Schaffung eines einheitlichen Agrarmarkts, der durch Kredite für die Entwicklung von Agrarkooperativen beförderten Zusammenlegung kleiner Parzellen, der Herstellung einer Bewässerungsinfrastruktur etc., damit die Nation „food self sufficient“ wird. Doch dieses Ideal hat sich nie damit vertragen, dass die chronisch überstrapazierten Staatsfinanzen – die letzten zehn Jahre nun auch noch durch einen eskalierenden Krieg – zuallererst die Erhaltung des Staates sowie die Erhaltung und weitere Erschließung seiner Rohstoffquellen gegen jede Idee einer nationalen Entwicklung geboten haben. So kommt es verlässlich zur beständigen Reproduktion dieses Nebeneinanders von absolutem Elend und den Selbstbehauptungsbemühungen des Staates – und dazu, dass das „geliebte Vaterland“ in nichts Weiterem besteht als in dem Standpunkt und Willen einer nationalistisch aufgeweckten Elite, Niger als solches haben zu wollen. Davon kann kein Staat leben.

c) Die wirkliche Existenzgrundlage des nigrischen Staates und seiner erfolglosen Selbstbehauptung: politischer Kredit – und die weltpolitische Rolle, die ihm dieser aufnötigt: „verlässlicher Partner des Westens“

Dennoch lebt der nigrische Staat – und zwar von Anfang an und umfassend – von Kredit. Das gilt schon für die Bewirtschaftung seiner hauptsächlichen Einkommensquelle, die schon erwähnten Geschäfte mit Rohstoffen; Kredit braucht die Regierung auch für die Finanzierung öffentlicher Ausgaben, die sie für ihren Machtapparat, dessen Personal wie Aufgabenkatalog für nötig befindet – was auch den Schuldendienst einschließt, mit dem sie sich als solventer Kreditnehmer gegenüber ihren Gläubigern erweist. Berichte über diesbezügliche Nöte, mit denen die Putschisten nach ihrer Regierungsübernahme konfrontiert sind, geben beredt Auskunft über das Ausmaß des Kreditbedarfs wie die Adressen der Gläubiger – und letztlich auch darüber, worauf die Solvenz des nigrischen Staates beruht: [20]

Erstens beschafft sich Niger Kredit in seiner eigenen Währung auf dem Finanzmarkt durch die Emission von Staatsanleihen über die Westafrikanische Zentralbank der CFA-Länder BCEAO. Diese autonome Verschuldung gründet letztlich auf der Kreditmacht Frankreichs, materialisiert in der Konvertibilitätsgarantie des CFA, geltend gemacht im institutionalisierten Kreditverhältnis zwischen der französischen und der westafrikanischen Zentralbank und dem darin eingeschlossenen Kontrollregime über den nigrischen Haushalt und eine an der ‚Wertstabilität‘ orientierte Geldpolitik, [21] denn die dadurch hergestellte Geldqualität des CFA verleiht den nigrischen Staatsanleihen Kapitalqualität.

Zweitens beginnen auch erfolgreiche Versuche, staatliche Interessenten für die Förderung heimischer Rohstoffe zu gewinnen, mit fremdem Kredit (vgl. Fußnote 8) – der, wie die Erfahrung zeigt, durch die staatliche Partizipation an den Erträgen, die fremde Nutzer dieser Quellen erwirtschaften, nicht gerechtfertigt wird. Wie auch? Der Kredit, der fließt, ist durch eine absolut untaugliche Einkommensquelle zu bedienen, die der Kredit zwar überhaupt erst möglich macht, an deren Untauglichkeit er selbst aber nichts ändert. Ökonomisch lohnend waren die stetig wachsenden Kredite an Niger in der Summe also nie, und geleistet haben sie am Ende nur eines: Sie haben zielsicher einen Staatsbankrott nach dem anderen vorbereitet.

Dass der Staatsbankrott letztlich nie zugelassen wurde, das heißt: dass das Land trotzdem weiterhin Kredit bekommt, also auch und gerade mit seinem jedes Jahr steigenden Gewalt-, also Finanzbedarf am Leben gehalten wurde, lebt drittens davon, dass es ein politisches Interesse an der Existenz dieses Staates seitens der imperialistischen Hauptmächte gab und gibt, das über den ökonomischen Nutzen hinausgeht, den Niger manchen ausländischen Geschäftsleuten und seinem wichtigsten Partner für dessen Energieversorgung gestiftet hat: Ihnen kam und kommt es auf den Erhalt eines Staates auf nigrischem Territorium an, der als souveräner Adressat für alle erdenklichen Aufgaben herhalten kann, die sie für ihn bereithalten könnten. Neben ihren Zuschüssen durch Entwicklungshilfe sorgen sie im Verbund mit IWF und Weltbank durch politischen Kredit, den weitaus größten Posten von Nigers Verbindlichkeiten, [22] in Form von Kreditstundungen, Umschuldungen und ganz viel konzessionärem Kredit dafür, dass Niger seinem Schuldendienst dauerhaft nachkommen kann. [23] So bleibt der nigrische Staat verschuldungsfähig, auch wenn seine Ökonomie ihn gar nicht kreditwürdig macht. [24]

Dieses Kreditverhältnis begründet zugleich den Rechtsanspruch gegenüber Niger, dass es gefälligst ein „verlässlicher Partner“ des Westens zu sein hat. Und wie es beim Sich-Verlassen so ist in der Welt des Imperialismus – Vertrauen ist gut, Kontrolle aber bekanntlich besser –, wird die Geltung dieses Anspruchs nicht dem Zufall überlassen. Das Mittel, um das unbedingte Loyalitätsverhältnis herzustellen, welches die Phrase vom „verlässlichen Partner“ bei solchen Ländern bezeichnet, ist der Kredit selbst: Der wird nämlich nur gegen weitreichende Einflussrechte auf die staatliche Haushaltsführung und Organisation der staatlichen Gewalt gewährt. Erstens wird dem Staat ein institutionalisiertes Austeritätsregime auferlegt, damit er mit seinem gesponserten Geld wirklich nur die Funktionen finanziert, für die seine Kreditgeber ihn erhalten. [25] Zweitens wird auf ‚good governance‘ und Demokratie bestanden, was beide Seiten als den Auftrag verstehen, für „Stabilität“ zu sorgen, also Eigenmächtigkeiten zu unterlassen.

d) Der heute mit der westlichen Hilfe verbundene politische Auftrag, an dem der nigrische Staat kaputtgeht: „Stabilitätsanker in der Region“

Dieser Staat und der Wille einer nationalen Elite zu seiner Durchsetzung sind also das Produkt und der Auftrag imperialistischer Interessen an ihm. Mit allerlei Militär- und Finanzhilfen sorgt der Westen dafür, dass es Niger gibt, damit es für ihn nützliche Dienste leistet. Diese beschränken sich im Wesentlichen darauf, dass die Lage und der Zustand dieses Landes für den Westen kein Ordnungsproblem darstellen sollen.

Der nigrische Staat soll sich mit dem Lohn einer ordentlichen Aufbesserung der Staatsfinanzen als erweiterte Außengrenze der EU im Norden des Landes herrichten, um in seiner Eigenschaft als wichtigstes Transitland für westafrikanische Flüchtlinge als effizientes Bollwerk gegen sie zu fungieren. Damit er diesen bedeutenden Dienst erledigt, hat die EU sogar ihren bisherigen entwicklungspolitischen Ansatz in Niger aufgegeben, dem Land allenfalls eine vom Staat getrennt abzuwickelnde Elendsbetreuung in Aussicht zu stellen. [26] Dass der nigrische Staat damit die Aufgabe hat, die Lebensgrundlage von Agadez zu zerstören, gehört zum Tausch dazu: Er hat sich nämlich auf die Kriminalisierung und Bekämpfung von Schleusern verpflichtet. Im Gegenzug sollte er Gelder erhalten, um den nun als Schleuser kriminalisierten Menschen neue Einkommensmöglichkeiten zu verschaffen, was im Maße des Verlusts dieser Einkommensquelle nie geschehen ist.

Er soll auch die Terroristen bekämpfen, damit sie „uns“ nicht zum Problem werden: Schlimm genug, dass dieser Feind in Niger und bei seinen Nachbarn ganze Länder durcheinanderbringt und die politischen Herrschaften zu zerstören droht, die sich der Westen für nützliche Dienste gesichert hat. Der Krieg der Dschihadisten zielt aber schon im Ausgangspunkt über die Sahelzone hinaus; deren Staatsführer sind in der kriegerisch praktizierten Weltsicht dieser Gotteskrieger eher Handlanger des ultimativen Feindes des Islam: der mächtigen westlichen Nationenmit ihren Kriegen, mit denen sie sich als Kreuzfahrer gegen den Islam selbst entlarven. Der westliche Auftrag besteht entsprechend darin, den Terroristen keinen sicheren Hafen zu bieten, von dem aus sie für das westliche Homeland gefährlich werden könnten. Für den Zynismus dieses Blicks auf Niger hat sich der deutsche Verteidigungsminister noch drei Monate vor dem Putsch in Niamey beklatschen lassen und ihn auf den Punkt gebracht: „Gerade verglichen mit den Nachbarstaaten Burkina Faso und Mali sei ‚Niger ein Stabilitätsanker, der aber nicht unkaputtbar [!] ist‘. Und der deshalb gestärkt werden müsse.“ (tagesschau.de, 28.4.23) Das Kompliment „Stabilitätsanker“ hat sich Niger dadurch verdient, dass es sich, im Unterschied zu den anderen ehemaligen Partnern des Westens in der Sahelzone, als williger staatlicher Verschleißartikel für das Sicherheitsproblem hergibt, das der Westen mit ihm hat. Und weil die westlichen Staaten von vornherein wissen, dass diese halbe Staatsruine „nicht unkaputtbar“ ist, sie Niger also keine Sekunde lang zutrauen, sich alleine im Dauerkrieg gegen die Dschihadisten zu behaupten, wollen sie sich auf es nicht verlassen. Deshalb haben sie – federführend Frankreich und die USA – dafür gesorgt, dass sie die Lage unter Kontrolle halten, indem sie sich mit ihrer Militärpräsenz vor Ort selbst zum Herrn der Lage machen. Sie lassen sich von dem in Bedrängnis geratenen Staat einladen und errichten Militärstützpunkte, von denen aus sie die Gotteskrieger mittels Luftaufklärung, Drohnenkrieg und begrenzten Militäroperationen dauerhaft in Schach halten können. Dies findet nicht nur in Niger statt, sondern im Rahmen der Missionen im ganzen Sahel, ausgehend von Mali. Dazu hat vor allem Frankreich seine Militärpräsenz um den Aufbau einer militärischen Koordination aller Staaten der Sahelzone ergänzt: ursprünglich im Rahmen der Mission Barkhane, dann in Gestalt einer internationalen Eingreiftruppe der G 5-Sahel-Länder, [27] von EU-Missionen etc. Frankreich hat damit ein sicherheitspolitisches Regime errichtet, das die Ambitionen der Sahel-Staaten an den Kriegszwecken ihres Sponsors ausrichten sollte. Die mögen sich von seiner Unterstützung die erfolgreiche kriegerische Bewältigung ihrer Feinde versprochen haben, aber Frankreich definiert gemäß seinen Kriterien einer stabilen Sahelzone, wer überhaupt als Feind zu bekämpfen ist, mit welchen der unzähligen bewaffneten Gruppen und sogar mit welchen Staaten man gemeinsam Krieg gegen den Terror führt. Seine taktischen Unterscheidungen zwischen Staatsfeinden und zu funktionalisierenden Milizen fallen mit jenen der Staaten vor Ort überhaupt nicht notwendig zusammen: Frankreich hat z.B. Mali nach der erfolgreichen französischen Militärintervention 2013 ein Friedensabkommen mit eben jenen Rebellen aufgenötigt, die es zwei Jahre zuvor fast überrannt hatten. [28] Und wenn Frankreich mit Sahelstaaten wie Mali und Burkina Faso, in denen geputscht wurde, die Zusammenarbeit in seinen Antiterrorkoalitionen gekündigt und sie mit Sanktionen belegt hat, dann hat es alleine dadurch für Niger die Vorgabe gemacht, dass eine effektive Zusammenarbeit mit diesen illegitimen Regierungen nicht mehr möglich ist. [29]

Für eine Ausrottung des Dschihadismus sorgt diese vom Westen angeführte Terrorbekämpfung und -eindämmung nicht – wie auch, wenn der Krieg selbst das beste Anschauungsmaterial für die Agitation liefert, Krieg und Elend verdankten sich einer Verschwörung der Kreuzfahrer und ihrer lokalen Statthalter gegen das fromme Gottesvolk. Den diversen dschihadistischen Gruppen gehen die Rekruten jedenfalls ebenso wenig aus wie die Finanzquellen, die in den immer größer werdenden staatsfreien Räumen sprudeln. Im Gegensatz zu den Staaten vor Ort konnten Frankreich und die USA offenkundig damit leben, solange es keinen sicheren Hafen für die Islamisten gab, in dem sie zur Gefahr auch für den Westen werden können, solange sie also nur den Staaten vor Ort ein Dauerproblem bescheren. Solange die Sahelstaaten ihre Rolle im Antiterrorkampf aushalten, erfüllt der Krieg gegen den Terror den Zweck, den die westlichen Sponsoren praktisch verfolgen. Dafür wurden Niger und Co ausgestattet und in einem nicht endenden und nicht zu gewinnenden Antiterrorkrieg unterstützt, der in seinem Verlauf alles, worum es dem Gesponserten geht, immer fraglicher macht: Das Land wird progressiv zerstört und die Gewalt des Staates aufgerieben.

2. Der Aufstand der Putschisten gegen die bisherigen Partner Nigers – und seine weltpolitische Grundlage und Bedeutung

Auf diese Lage ihres aparten Staatswesens beziehen sich die Putschisten also mit ihrer eingangs zitierten Bilanz. Dabei übersetzen sie die Hoffnungslosigkeit seiner Kriegsbemühungen in einen Mangel an Professionalität und Führungsstärke des bisherigen Präsidenten – als ob so ein Krieg nichts als eine Frage des Willens zum Sieg wäre. Sie erklären das systematische Nebeneinander von absolutem Elend und staatlicher Gewalt zu einer falschen Sozial- und Wirtschaftspolitik – als ob dieser Staat von der Pflege seines Volkes und dessen Wirtschaften überhaupt leben würde. In den zuverlässig kläglichen, weil den Gesetzen des Weltmarkts folgenden Einnahmen aus seinem Exportgeschäft sehen sie eine ungerechte Ausbeutung durch ihre ehemalige Kolonialmacht – als würde ein staatsnützliches Sprudeln dieser Quellen nur dadurch verhindert, dass man sie an den Falschen verkauft. Die Stiftung seines Geldes durch Frankreich und die damit einhergehende Kontrolle der Devisen und der Haushaltspolitik, damit diese Garantie Frankreich im Großen und Ganzen nichts kostet, deuten sie – und alle antikolonialen Gegner westlicher Politik im Sahel – um in den Grund für die mangelnde Entwicklung ihres Landes, als gäbe es getrennt von dieser Garantie etwas, was eine souverän herausgegebene nigrische Währung in Wert setzen würde, und eine ökonomische Grundlage, die eine solche Freiheit für eine nationale Entwicklung nützlich machen würde. Das durchgesetzte Interesse des Imperialismus an einer sich behauptenden nigrischen Gewalt, damit deren Land nicht störend auffällt, wird in eine französische Verschwörung übersetzt, Niger als Kolonie zu halten, ja die Dschihadisten sogar extra gewähren zu lassen.

Was in alledem zum Ausdruck kommt, sind nicht einfach idealistisch verfremdende Vorstellungen über die Gründe für den Zustand ihres Landes, sondern ein bemerkenswertes Kampfprogramm, das jede Not dieses Staates auf den einen Nenner bringt: Niger fehlt es an Souveränität, weswegen es eine Führung braucht, die sich gegen alle Widerstände um deren „Wiederherstellung“ verdient macht. Die Notwendigkeit dieses Programms beweist ihnen – wenn denn ein Beweis nötig war – die Antwort ihrer ehemaligen Partner auf ihre Bemühung, ihr geliebtes Vaterland zu retten. Die behandeln Niger nach dem Putsch als das, was es ist: nämlich überhaupt nicht als Kolonie, sondern als ein Exemplar des zu dieser Weltordnung gehörenden Widerspruchs eines mit ihrer imperialistischen Portokasse gekauften und am Überleben gehaltenen Souveräns von ihren Gnaden.

Das tun die entscheidenden imperialistischen Subjekte– in diesem Fall vor allem Frankreich und die USA – aus je eigenen Interessen, deshalb in unterschiedlicher Intensität und mit miteinander konkurrierenden und sich ausschließenden Lösungswegen für die Unbotmäßigkeit ihrer Kreatur. Der Verlauf ihrer Konkurrenz um die Bewältigung des Putsches ergibt sich aus der jeweiligen imperialistischen Bedeutung, die das Land für sie hat, also aus den unterschiedlichen Arten und Weisen, in denen sie in Niger und der Sahelzone eingemischt waren. Nachdem Frankreich schon aus Mali und Burkina Faso rausgeschmissen wurde, ist die Militärbasis in Niger der Dreh- und Angelpunkt der französischen Militärpräsenz im Sahel. Die Wiederherstellung der Demokratie in Niger – der Generaltitel für das Eingreifen aller betreffenden westlichen Staaten – hat es deshalb unbedingt mit dem bisherigen Lieblingspräsidenten verknüpft, der für Frankreichs Recht auf Niger als Teil seiner Sicherheitsarchitektur in der Sahelzone steht. Es dringt auf eine sofortige und harte Konfrontation mit den neuen Machthabern, stellt sich hinter die Kriegsdrohung der ECOWAS gegen die Putschisten. Für Frankreich geht es um mehr als die Frage, ob es in Niger bleiben und sich dafür womöglich mit einer neuen Regierung arrangieren kann: Nach den vorangegangenen militärischen Machtübernahmen in Mali und Burkina Faso bewertet es diesen Putsch als einen entscheidenden Angriff auf seine jahrzehntelang praktizierte Zuständigkeit für dem Westen genehme Herrschaften in Westafrika, die heute vor allem darin besteht, sich als westlicher Vorkämpfer gegen den Dschihadismus in der Region zu bewähren. Es sieht seinen Status als Ordnungsmacht in der Sahelzone auf dem Spiel stehen und definiert den Putsch als Angriff auf die westliche Weltordnung, also als Verpflichtung der europäischen und amerikanischen Partner zum militärischen Handeln gegen die Usurpatoren. Das vereiteln die USA; sie bewerten einen zwischenstaatlichen Krieg in der Region als eine viel größere Bedrohung für ihren Antiterrorkampf als irgendeinen Putschgeneral und teilen – ganz die Weltmacht Nummer eins – der ECOWAS mit, wie deren Kriegsdrohung recht eigentlich zu verstehen ist:

„Mir ist kein Ersuchen um militärische Unterstützung durch die USA bekannt, aber die Länder, die der ECOWAS angehören, haben alle erklärt, dass eine militärische Intervention das letzte Mittel ist und sie dies nicht wollen. Wir unterstützen also diese Haltung. Wir wollen auch nicht, dass es zu einer militärischen Intervention kommt. Wir wollen eine friedliche Lösung, und wir haben uns der Diplomatie auf keinen Fall verschlossen.“ (Sabrina Singh, stellvertretende Pentagon-Pressesprecherin, 15.8.23)

Trotz dieser Konkurrenz versprechen alle – Frankreich, die EU und die USA im Verbund mit IWF und Weltbank – den neuen Machthabern, dafür zu sorgen, dass sich ihr Aufstand definitiv nicht lohnen wird, verhängen gemeinsam ein umfassendes Sanktionsregime, das alle Existenznöte dieses Staates potenzieren und ihn endgültig an den Rand des Untergangs drängen soll. Die Budgethilfen für den nigrischen Staat werden zusammengestrichen; mit ein paar Unterschriften wird er an den Rand eines Staatsbankrotts gebracht. Direkt nach dem Putsch wird die militärische Zusammenarbeit gekündigt, sodass die Sicherheitslage im Land sich schlagartig verschlechtert. Dafür stellen sie sich auch hinter die v.a. für den Überlebenskampf der nigrischen Bevölkerung zerstörerischen Sanktionen der ECOWAS: Das Regionalbündnis, in dem Niger bisher Mitglied war, untersagt den grenzüberschreitenden Handel – wichtig vor allem für Essens- und Medizinimporte – für mehrere Monate; Nigeria stellt die Stromexporte ins Land ab, welche 70 Prozent des nationalen Verbrauchs ausmachen. Außerdem leistet das Bündnis seinen Beitrag zur finanziellen Strangulierung Nigers, indem es das Land aus dem regionalen Finanzmarkt ausschließt, woraufhin die BCEAO die Emission von Staatsanleihen durch Niger unterbindet (s.o.). Schließlich sorgen Frankreich und die ECOWAS mit ihrer gemeinsamen Kriegsdrohung dafür, dass Niger sein Heer neben seinem Krieg gegen den Terrorismus auf einen ganzen Regionalkrieg einstellen muss.

Das ist der Angriff auf die Souveränität, die bzw. deren Erlangung die Putschisten in Form ihrer Militärgewalt mit neuer, echt nationaler Zielsetzung zu repräsentieren beanspruchen. Den Kampf für eine souveräne Staatsgewalt im Inneren buchstabieren die Militärs Schritt für Schritt und konsequent als eine Befreiung von der schädlichen ‚Einflussnahme und Bevormundung‘ der westlichen Staaten aus. Sie verbitten sich die ‚kolonialistische Einmischung in ihre inneren Verhältnisse‘ und sortieren unter diesem radikalen Gesichtspunkt ihre bisherigen Beziehungen zu ihren westlichen Sponsoren wie zu ihren Nachbarn neu. Sie demonstrieren der Staatenwelt ihre neu erlangte Souveränität, indem sie alle Beziehungen kappen, die die bisherige Grundlage des nigrischen Staates und speziell seines Antiterrorkampfes ausgemacht haben. Sie schmeißen die französische und amerikanische Militärpräsenz aus dem Land [30] und beenden das Flüchtlingsabkommen [31] und die Polizei- und Ausbildungsmission mit der EU; sie treten im Verbund mit Mali und Burkina Faso aus der ECOWAS aus, in der sie nichts als ein Instrument der kolonialen Unterdrückung entdecken können. [32] Zum Schluss kündigen sie die Rückeroberung ihrer Souveränität über das eigene nationale Geld an – worin die dann eigentlich materiell bestehen soll, ist da nachrangig, denn die Hauptsache ist: „Die Währung ist ein Symbol der Souveränität, und wir befinden uns in einem Prozess der Wiedererlangung unserer vollständigen Souveränität.“ (General Tiani am 12.2.24)

Dass Nigers Militärführer sich diese Befreiungsaktion zutrauen, ist aber nicht nur ihrer eigenen Entschlossenheit geschuldet. Sie haben nämlichtatsächlich Alternativen:

  • die gleich gestrickten nationalen Emanzipationsprogramme ihrer Nachbarn Mali und Burkina Faso, die sich als natürliche Partner im nigrischen Selbstbehauptungskampf anbieten, weil sie im Inneren und nach außen mit demselben Problem befasst sind wie Niger. Niger schließt sich mit ihnen zu einem defensiven Kriegsbündnis gegen die Dschihadisten in ihren Ländern und gegen die Kriegsdrohungen ihrer Nachbarn und Frankreichs zusammen. [33]
  • den weltpolitischen Antiamerikanismus Russlands, der sich antiamerikanischer und antiwestlicher Bestrebungen als freundliche Schutzmacht annimmt, mit der Nigers Nachbarn bisher die gute Erfahrung gemacht haben, dass sie sich auf die Lieferung von Waffen, Militärberatern und Söldnern beschränkt und sich ansonsten nicht in „die inneren Angelegenheiten“ ihrer neuen Partner einmischt. Deshalb schließt auch Niger Abkommen mit Russland über militärische Zusammenarbeit, die Lieferung von Waffen – unter anderem kürzlich ein Luftabwehrsystem – und Unterstützung mit Militärberatern sowie über eine Zusammenarbeit mit dem russischen „Afrikakorps“, das von Burkina Faso aus agiert. Zusammen mit seinen neuen Verbündeten und der Unterstützung durch Russland rechnet sich die Militärregierung Nigers eine Stärkung ihrer Kriegskapazitäten gegen die Dschihadisten und damit eine Konsolidierung ihrer bisher vom Westen abhängigen Machtbasis aus.
  • zuletzt die ökonomische Erschließung des afrikanischen Kontinents durch China, in der Niger eine wichtige Rolle spielt: Ein chinesischer Staatskonzern betreibt das Ölfeld in Agadem und die nun fertiggestellte Ölpipeline durch Benin an den Atlantik, von der die Partner sich ab diesem Jahr eine Lieferung von 100 000 Barrel Öl pro Tag versprechen. Dass China die dafür freigegebenen Kreditlinien ausschließlich an ihre Verwendung für profitable Projekte in diesem Feld knüpft, macht diese im Vergleich zu denen des Westens zu einer willkommenen Alternative, weil das heißt, dass sich der Schacher auf die Geschäftskonditionen beschränkt – einstweilen jedenfalls: Denn seitdem der Putsch erfolgreich über die Bühne gegangen ist, ist in den Beziehungen Chinas zu Niger ein Übergang zu bemerken, der es in sich hat: nämlich von der Kreditierung des Staates für die Erschließung lohnender Geschäfte hin zur Sicherstellung des Staates durch Kredit für die Fortführung dieser Geschäfte. Aufgrund des drohenden Staatsbankrotts des nigrischen Staates, der seit dem Putsch 457 Milliarden FCFA an uneingelösten Verbindlichkeiten angehäuft hat, [34] sieht sich China gezwungen, sich für die Fortführung des von ihm finanzierten Öl-Geschäfts an die Rettung der nigrischen Staatsfinanzen zu machen, indem es eine 400-Millionen-Dollar-Vorauszahlung leistet [35] – und die löst das Problem natürlich überhaupt nicht, sondern verschiebt bloß die Frage, wie mit der mangelnden Solvenz des Geschäftspartners zu verfahren ist. Denn das einzige, was den Staatsbankrott eines HIPC abwendet, ist die Vorbereitung des nächsten – und das eröffnet Kontrollfragen ganz anderer Art als jene, die China schon bisher durch die Verpflichtung seines Geschäftspartners auf den sachgerechten Umgang mit seinen Geldern vermittels entsprechender Vertragskonditionen beantwortet hat.

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Der klassische Vorwurf, die chinesischen und russischen Rivalen seien indolent in der Menschenrechtsfrage und ließen den regierenden Potentaten vor Ort immer alle Freiheiten beim autoritären Herrschen, während ‚wir‘ als werteberufene Aufpasser den Machthabern Afrikas menschenrechtlich auf die Finger schauen, darf auch in diesem Fall nicht fehlen. Die imperialistische Sache, für die solche Wertehuberei steht, gilt schließlich auch in der Sahelzone: die eigene Zuständigkeit für gutes Regieren, also der eigene Kontrollanspruch über die dortigen Regierungen. Auffällig ist aber die imperialistische Selbstkritik, um die das Selbstlob der eigenen Wertetreue zunehmend ergänzt wird: Demütig gestehen die Staatenlenker aus dem globalen Norden ein, dass sie bei der Wahrnehmung ihrer Vormundschaft in Sachen Regierungsführung, also bei der Indienstnahme der ihnen verpflichteten Staaten eine bisweilen arrogante Haltung an den Tag gelegt hätten. Problematisch daran ist der Umstand, dass man dabei vor allem sich im Wege steht: Die Hauptsache, nämlich der eigene, wertemäßig verhimmelte Zugriff auf diese Länder, geht ja zunehmend verloren. Den gilt es wiederherzustellen – zwar mit Berufung auf die Werte der Demokratie, aber nicht mit einem zweckwidrigen Bestehen auf ihnen. [36] Bei allem Zynismus dieser Kombination aus Selbstlob und -tadel ist am Vergleich imperialistischer Benutzungsansätze – die anderen sind skrupellos und effektiv, wir sind wertegebunden und kommen leider nicht immer zum Zuge – zumindest so viel dran: China und Russland verfahren mit diesen Ländern tatsächlich anders; und das ist für diese Staaten, gerade in ihrem Krieg um ihre souveräne Selbstbehauptung, offenbar tatsächlich attraktiver als der Umgang des Westens mit ihnen. Während der Westen Niger in seinem bisherigen praktischen Bezug in einer Weise behandelt, wie es einem souveränen Staat wirklich nicht gut zu Gesicht steht, behandeln China und Russland dieses Land nicht nur wie, [37] sondern als einen souveränen Staat und ernstzunehmenden Geschäftspartner, der seinen Platz in der Welt hat und sich selbstständig und sein Volk auf der Weltbühne vertretend um die Geltendmachung nationaler Interessen bemüht. DieserRespekt vor der Souveränität des nigrischen Staates gibt dem Heimatstandpunkt, mit dem diese und andere Putschisten ihren Putsch unterlegen, recht und imperialistisch überhaupt seine Substanz. Denn so hat über 30 Jahre nach der Abdankung der Sowjetunion als Weltfriedensmacht, weltpolitische Alternative für afrikanische Länder und Schutzmacht nationaler Befreiungsbewegungen [38] der Standpunkt nationaler Souveränität und antiimperialistischer Heimatliebe in den ‚failing‘ und ‚failed states‘ Afrikas wieder eine weltpolitische Grundlage: die imperialistische Konkurrenz kapitalistischer Super- und strategischer Weltmächte um Nutzen, Gestaltung und Vorherrschaft in der Weltordnung. Dabei hat der Westen nun einen neuen Problemfall für seine Weltherrschaft: den „Putschgürtel“ in Subsahara-Afrika. Für dessen speziell europäischen Gehalt hat die Expertenfront das passende Bild in der Verschwörungstheorie gefunden, dass „uns“ Putin demnächst nun auch die Südfront eröffnet, indem er höchstpersönlich den nigrischen Staat damit beauftragt, Flüchtlinge auf den Weg gen Europa zu schicken. [39]

[1] Nach der einen Seite nimmt dieser Krieg seinen Ausgangspunkt im Libyen-Krieg und den Konsequenzen, die dieser westlich herbeigeführte Staatszerfall (siehe dazu: Öl-, Migrations- und Terror-Hotspot und Dauerkriegsschauplatz. Europas shithole country Libyen feiert seinen Zehnten – unter reger internationaler Beteiligung in GegenStandpunkt 2-21) für Mali gezeitigt hat. Dazu und zur französischen Rettungsaktion für Mali siehe Die französische Militärintervention in Mali – ein Blitzkrieg für die Sicherheit des Westens in GegenStandpunkt 1-13. Nach der anderen Seite in Nigeria: Dort gründete sich Ende der 90er Jahre Boko Haram und wirkte mit zunehmenden Aktivitäten Anfang der 2000er über Nigeria hinaus. Im angrenzenden Burkina Faso sollen mittlerweile 40 % des Territoriums in der Hand dschihadistischer Gruppierungen sein; in Mali haben sie große Gebiete an der Grenze zu Niger erobert; und in Nigeria läuft der Krieg gegen Boko Haram sowie diverse Gruppierungen, die sich inzwischen von dieser Miliz abgespalten haben.

[2] „Tillabéri ist die Region, in der sich die Hauptstadt Niamey befindet, doch ihre nördlichen und westlichen Teile grenzen an Mali und Burkina Faso. Zwischen 2018 und 2021 kam es dort zu einem sprunghaften Anstieg der Gewalt, wobei die Gewalt im Norden zuletzt zurückging. Nach zwei brutalen Angriffen auf die Sicherheitskräfte in Inatés und Chinagodrar in den Jahren 2019 und 2020 hat sich die Armee aus mehreren wichtigen Grenzposten zurückgezogen, und die Behörden haben gezögert, die volle Zahl der zuvor an der Grenze stationierten Kräfte wieder einzusetzen. Der ISGS [Islamic State of the Greater Sahara, eine dominante IS-Gruppe] übt ständigen Druck auf die Dörfer im nördlichsten Teil von Tillabéri aus und ermordet oder entführt diejenigen, die sich seinen Befehlen widersetzen oder die verdächtigt werden, staatliche Informanten zu sein. Im November 2019 richtete der ISGSden Zarma-Häuptling des Dorfes Tchomabangou hin, weil er sich angeblich weigerte, die Zakat [islamische Steuer] zu zahlen. Dies war einer der vielen gewalttätigen Vorfälle, die zu einem 2020 vom Komitee der Tillabéri-Vereinigung für den Frieden, die Sicherheit und den sozialen Zusammenhalt, einer Zarma-Vereinigung, erstellten Dokument führten, in dem zur Gründung einer Selbstverteidigungsgruppe unter der Leitung pensionierter Militärs aufgerufen wurde. Im Januar des darauf folgenden Jahres griffen Dutzende von Aufständischen als Vergeltung für die Gründung dieser Gruppe (und auch, um zu testen, ob die Gruppe eine potenzielle Bedrohung darstellte) Zivilisten in der Tchomabangou- und Zaroumdareye-Gemeinde Tondikiwindi an und töteten mehr als 100 Menschen, zumeist Angehörige der Volksgruppe der Zarma. Es folgten Vergeltungsaktionen, die die Zivilbevölkerung dazu veranlassten, bei bewaffneten Gruppen Schutz zu suchen. Die Zarma-Selbstverteidigungsgruppen in Tillabéri unterscheiden sich deutlich von der ‚garde nomade‘ [eine Miliz der Tuareg]. Erstens sind es zu viele, als dass man genau wüsste, wer was und wo tut, und obwohl sie recht gut organisiert sind (die meisten Gruppen haben einen Präsidenten, einen Vizepräsidenten, einen Schatzmeister und einen militärischen Leiter), wissen nicht einmal die Präfekten genau, wer wer ist: ‚Alles in allem kann sich jeder, der eine Waffe besitzt, einer Selbstverteidigungsgruppe anschließen, aber es gibt in der Regel immer eine gewisse Hierarchie, selbst in kleinen Gruppen in kleinen Dörfern.‘ Es handelt sich um einen losen Haufen von Kämpfern, die alle zu einer ethnischen Gruppe gehören.“ (Delina Goxho: Self-defense Militia Groups in Niger: Risking a Time Bomb. In: Megatrends Afrika, Stiftung für Wissenschaft und Politik, 17.10.23)

[3] „In Reaktion auf dschihadistische Gruppen, die anfangs sehr klein waren, haben Politiker und Geschäftsleute Milizen mobilisiert. Der Staat, der überfordert ist, billigt die Mobilisierung dieser Milizen oder unterstützt sie sogar, und nach und nach setzen diese Milizen dann die Dschihadisten mit bestimmten ethnischen Gruppen gleich, insbesondere mit den Peul, nicht zuletzt, um sich so das Land und die Ressourcen der Gemeinschaften anzueignen, die dieser ethnischen Gruppe angehören. Und im Gegenzug schließen sich dann Angehörige dieser Gruppe den Dschihadisten an, um sich zu schützen und an Waffen zu kommen, und greifen Gemeinschaften der ethnischen Gruppen an, aus denen sich die Milizen rekrutieren.“ (Wolfram Lacher, Stiftung für Wissenschaft und Politik, Dlf, 10.1.20)

[4] „Die Regierung Bazoum war nicht nur daran interessiert, zu sehen, wohin die Mobilisierung [der Tuareg] im Hinblick auf die Eindämmung der Gewalt führen würde, sondern sie war auch besorgt, dass es, würde sie keine Versprechungen gegenüber einer großen Gruppe bewaffneter Tuareg machen, zu einer weiteren Rebellion oder ehrgeizigeren Autonomieforderungen in der Zukunft kommen könnte. Dies erklärt das Interesse der Regierung, die ‚garde nomade‘, die im Jahr 2021 aus etwa 500 Tuareg-Kämpfern bestand, zu kontrollieren und schließlich zu kooptieren und sie in die offiziellen Reihen der ‚garde nationale‘ aufzunehmen.“ (Delina Goxho, a.a.O.)

[5] „Wie kann es sein, dass es Männern auf Motorrädern gelingt, so schlagfertig zu sein, obwohl die Zahl der ausländischen Streitkräfte weiter zunimmt?“ (Wenn Terror Grenzen überschreitet, deutschlandfunk.de, 10.12.22) (Die Überfälle auf Dörfer finden häufig auf Motorrädern statt.)

[6] Der CFA-Franc (Franc de la Communauté Financière d’Afrique) ist die Währung der westafrikanischen Wirtschafts- und Währungsgemeinschaft UEMOA, der Benin, Burkina Faso, die Elfenbeinküste, Guinea-Bissau, Mali, Niger, Senegal und Togo angehören. Er wird von der westafrikanischen Zentralbank BCEAO mit Sitz in Dakar emittiert. „Die Kooperation zwischen Frankreich und den afrikanischen Staaten wird geleitet von folgenden Grundprinzipien: 1. Der Franc CFA war fest an den französischen Franc als Ankerwährung gebunden. Mit der Einführung des Euro 2002 wurde der französische Franc als Referenzwährung durch den Euro abgelöst. Es besteht ein fester Wechselkurs. 2. Auf Grund der französischen Konvertibilitätsgarantie können Franc CFA unbegrenzt in Euro umgetauscht werden, es besteht somit ein weitgehend freier Geld- und Kapitaltransfer. 3. Durch das französische Finanzministerium wird eine unbegrenzte Deckung eventueller Zahlungsbilanzdefizite der CFA-Länder garantiert [Gemeint sind Zahlungsverpflichtungen in fremdem Geld, die ein CFA-Land nicht mehr bedienen kann, was u.a. wegen 4. aber faktisch nicht vorkommt]. 4. Im Gegenzug verpflichten sich die Mitgliedsländer der UEMOA, ihre Währungsreserven bei der BCEAO zu lagern. Die BCEAO wiederum muss ... ein Operationskonto beim französischen Finanzministerium führen, auf dem mindestens 50 % (bis 2005: 65 %) der Devisenreserven gehalten werden. [Die 50 %-Verpflichtung wurde 2021 durch die Übertragung der Bankenaufsicht an Frankreich ersetzt, d.V.] Die Zentralbank selbst kann grundsätzlich unbegrenzt verzinste Überziehungskredite auf ihr Operationskonto aufnehmen. Grenzen werden der Kreditaufnahme der Zentralbank jedoch de facto durch verschiedene Regeln gesetzt. So sind die Kredite der BCEAO an die Regierungen der Mitgliedsländer der UEMOA beschränkt auf eine Obergrenze von 20 % der Steuereinnahmen des Vorjahres.“ (Julia Verena Klein, Friedrich-Ebert-Stiftung Bureau Cotonou (2013): Der Franc CFA in Westafrika: wirtschaftliche und politische Implikationen der gemeinsamen Währung)

[7] Z.B. Öl: Felder werden in Niger seit Jahrzehnten exploriert, erst seit 2011 wird Öl unter chinesischer Leitung auch gefördert. Raffiniert wird es in der Stadt Zinder, hauptsächlich für den sehr geringen nationalen Verbrauch, der mit dem Energiebedarf einer kapitalistischen Industrie nichts zu tun hat. 2023 wird eine Pipeline nach Benin in Betrieb genommen, um erstmals Rohöl in größerem Maße zu exportieren.

[8] Seit es den nigrischen Staat gibt, ist sein Haushalt und sind seine Ambitionen diesen Konjunkturen ausgesetzt. In den ersten zwei Jahrzehnten nach seiner Unabhängigkeit hat er sein Glück im Anbau von Erdnüssen gesucht und – dank guter Weltmarktbedingungen und garantierter Abnahmepreise am französischen Hauptmarkt – seine Idee eines „Entwicklungsstaats“ finanziert, bis die Konkurrenz mit den anderen afrikanischen Staaten, die auf dieselbe Idee gekommen waren, diesen Exportartikel ruiniert hat. Der Fund von Uran und der steigende Bedarf Frankreichs nach diesem Rohstoff für den Aufbau seiner Energiewirtschaft und Atomwaffenproduktion haben dann Niger eine weitere sprudelnde Einkommensquelle verschafft – bis es auch um den Weltmarktpreis dieser Ware schlechter stand. Nun setzt Niger seine Hoffnung darauf, mithilfe von chinesischem Kredit und Kapital zum Ölstaat aufzusteigen.

[9] Der Uranabbau und -transport wird vom französischen Staatskonzern Orano betrieben, die Ölförderung und die dazugehörige Pipeline von der China National Petroleum Corporation.

[10] Die Ölförderung wird größtenteils von chinesischen Arbeitern bewerkstelligt, während die Uranminen im Norden von einigen wenigen Nigrern aus dem bevölkerungsreichen Süden des Landes bestückt werden. Letzteres hat dem Staat im Verhältnis zu den Tuareg ein eigentümliches Sicherheitsproblem eingebracht, das für einen weiteren Einblick darin sorgt, was für ein Land die Putschisten eigentlich als Vaterland bezeichnen, das einig nach neuen Führern ruft: Wiederholt gab es Aufstände der Tuareg, zuletzt 2010, die sich einerseits auf eine Beteiligung der lokalen Bevölkerung an den Erträgen aus dem Uranabbau, andererseits und vor allem gegen die ‚Zerstörung ihrer Lebensweise‘ durch schwarze Arbeitsmigranten aus dem Süden Nigers gerichtet haben, die die angestammte Kastenordnung zwischen den Berber-Tuareg – halbnomadische Viehzüchter und als gastfreundliche Teetrinker romantisches Betrachtungsobjekt westlicher Touristen, bevor die Sicherheitslage zu schlecht wurde – und den Schwarzen Tuareg – deren Sklaven – durcheinanderbringen. (Vgl. „Tuareg“ und „Tuareg Rebellion“ in: Rahmane Idrissa (2020): Historical Dictionary of Niger)

[11] „Die Landwirtschaft ist die Haupteinnahmequelle für über 80 % der Bevölkerung des Landes und leistet mit rund 41 % des nationalen BIP den wichtigsten Beitrag zur Wirtschaft. Diese regenabhängige Landwirtschaft ist nach wie vor wenig mechanisiert und sehr anfällig für Klimaschocks. Nur 8 % des Territoriums erhalten mehr als 400 Millimeter Regen pro Jahr, was eine zufriedenstellende Landwirtschaft ermöglicht. Im Jahr 2016 machte die gesamte landwirtschaftliche Fläche etwa 36,06 % der Gesamtfläche aus, während die Ackerfläche (Feldfrüchte, Gemüseanbau, Dauerkulturen, Futterpflanzen, Kunstwiesen ...) nur 13,26 % betrug. Die Bewässerungslandwirtschaft macht nach Schätzungen aus dem Jahr 2011 etwa 0,21 % der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche aus.“ (Rabani Adamou, Boubacar Ibrahim, Abdou Latif Bonkaney, Abdoul Aziz Seyni, Mamoudou Idrissa (2021): Niger – land, climate, energy, agriculture and development: A study in the Sudano-Sahel Initiative for regional development, jobs, and food security, ZEF Working Paper Series, No. 200, University of Bonn, Center for Development Research (ZEF))

[12] Exportiert werden größtenteils Vieh und Zwiebeln nach Nigeria sowie in andere Staaten der westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS und nach Frankreich. Wobei ein großer Teil des Viehexports schlicht über irreguläre Grenzübertritte von Viehzüchtern geschieht, sodass der Staat davon nicht viel zu Gesicht bekommt.

[13] „Der Agrarsektor benötigt dringend externe Finanzmittel. Die meisten Kulturen sind vom Regen abhängig, und die jüngsten Dürren haben das Land auf eine harte Probe gestellt, was es zu einem Nettoimporteur von Nahrungsmitteln in großem Umfang und sehr abhängig von ausländischer Hilfe macht.“ (Niger – Agricultural Sector, export.gov, 26.6.17)

[14] „Aufgrund des hohen Bevölkerungswachstums, der Übernutzung der Böden und des Klimawandels wächst die Konkurrenz um Land. Sesshafte Bauern haben daher mit Unterstützung lokaler Autoritäten ihre Anbauflächen immer stärker ausgedehnt und Weiden und Durchzugspassagen in Felder umgewandelt. Für die Viehzüchter gibt es kein konfliktfreies Durchkommen mehr. In vielen Fällen werden Felder gezielt so angelegt, dass Herden nicht passieren können, ohne Schaden anzurichten. Lokale Autoritäten nutzen diese ‚Fallenfelder‘ zur Erpressung überhöhter Entschädigungs- und Strafzahlungen. Die ländlichen Produktionssysteme haben sich verändert. Viehzüchter haben Dörfer gegründet und bestellen Felder, Ackerbauern halten Vieh und düngen ihre Felder selbst. Aufgrund der Ressourcenknappheit müssen nomadisierende Viehzüchter immer weiter in den Süden ziehen. Seit den 1980er Jahren passieren sie die Grenzen zu Nigeria, Benin und Togo und verbringen einen Teil des Jahres in den dortigen Wäldern. Dort kommen sie in erhebliche Konflikte mit lokalen Behörden, Kommunen und Ackerbauern.“ (Günter Schönegg: Wanderweidewirtschaft. Früher Ergänzung, heute Konkurrenz. In: E+Z, dandc.eu, 19.6.15)

[15] Der eben genannte Verkauf von Überschüssen über die eigene Subsistenz hinaus gehört zum größten Teil ebenfalls dazu: „Entscheidend ist, dass ein großer Teil der Aktivitäten des primären und tertiären Sektors in der so genannten informellen Wirtschaft stattfindet, die schätzungsweise 75 Prozent des BIP ausmacht.“ („Economy“ in: Rahmane Idrissa (2020): Historical Dictionary of Niger)

[16] Einer der Bessergestellten: „Das Leder unserer Gerberei geht an Händler, die es an Werkstätten verkaufen. Sie fertigen Rucksäcke, Handyhüllen oder Sandalen daraus, die auf den heimischen Märkten angeboten werden. Manchmal dürfen wir Leder für uns selbst mitnehmen. So kam ich zu meinem Gürtel. Von den 25 000 bis 30 000 CFA-Francs Wochenlohn (etwa 38 bis 46 Euro) ernähre ich meine Frau und meine zwei Kinder, natürlich unterstütze ich auch noch meine Eltern. Ich arbeite sieben Tage die Woche. Urlaub bekommen wir nicht. Ich bleibe nur zu Hause, wenn ich krank bin. Mittags, wenn es sehr heiß wird, machen wir Pause. Dann beten wir gemeinsam und kaufen Reisgerichte bei einer Köchin, die jeden Tag mit einer rollenden Küche vorbeikommt. Meine Arbeit endet erst, wenn die Sonne hinter dem Niger untergeht.“ (Gerberei Yantala, Niamey, Niger. In: Magazin Mitbestimmung, Ausgabe 02/2023)

[17] Dabei ist das Ausmaß dieser Einkommensquelle, die bis 2016 rechtlich nicht sanktioniert wurde, ein recht neues Phänomen und ein Nebenprodukt der Staatsdesintegration in Mali: „Auf Gaddafis Sturz 2011 folgte eine rasche Wende. Angesichts des in Libyen alsbald entstehenden Chaos kehrten die Migranten entweder zurück oder tauchten unter oder beschlossen, den Seeweg nach Europa anzutreten. Die meisten Migranten aus Niger entschieden sich für die ersten beiden Optionen, viele Abwanderer aus anderen westafrikanischen Staaten entschlossen sich zur Flucht über das Mittelmeer. Organisiert wurde das Transportgeschäft am Knotenpunkt Agadez von Bewohnern aus den nigrischen Gemeinschaften (die Tuareg und die Tubu) im Norden des Landes. Dieses Geschäft überlebte daher nicht nur, sondern entwickelte sich immer profitabler, da die Route von Mali nach Europa durch die Rebellen und den Dschihad, die 2012-13 im Norden Malis (als weitere Konsequenz des Sturzes von Gaddafi) ihr Unwesen trieben, verschlossen war.“ (Rahmane Idrissa (2019): Dialog im Widerstreit: Folgewirkungen der EU-Migrationspolitik auf die westafrikanische Integration. Dargestellt anhand der Fallbeispiele Nigeria, Mali und Niger. Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin, S. 33)

 „Die Bewohner von Agadez hatten neben der Unterbringung und Ernährung ein vielfältiges Dienstleistungsangebot für die Ankömmlinge organisiert und damit wieder an den Wohlstand angeknüpft, der seit dem Niedergang des Tourismus aufgrund der Tuareg-Rebellion 2007 und des späteren Aufkommens des Terrorismus in der Sahara zunichtegemacht worden war. Auch von nigrischen Beamten – wie gewählte Amtsträger mit Leitungsfunktionen oder Sicherheitskräfte – wurden Migranten zu Zwangsabgaben und Bestechungsgeldern genötigt.“ (Ebd., S. 36)

[18] „So gelangte ein Bericht der Globalen Initiative gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität (Global Initiative Against Transnational Organized Crime) vom Mai 2021 zu der Erkenntnis, dass Drogenhändler große Mengen an beschlagnahmten Drogen von den Behörden zurückgekauft hatten.“ (Vgl. amnesty.de/informieren/amnesty-report/niger-2022)

[19] Entsprechend diesem Nebeneinander vom alltäglichen Überlebenskampf und der nigrischen Staatsgewalt ist der wirkliche Bezugspunkt der Überlebensbemühungen der meisten Nigrer weniger der Staat, sein Recht und am Ende noch eine sozialstaatliche Betreuung, sondern die eigene „naturwüchsige“ Gemeinschaft: die Familie, das Dorf, die eigene Ethnie. Der Staat trägt diesem Umstand in seinem Verwaltungsrecht zwar Rechnung – es gibt neben der von der Zentralregierung ausgehenden Verwaltungshierarchie bis hin zu den ländlichen und städtischen Kommunen, die durch Wahlen besetzt wird, weiterhin die anerkannten ‚chefs traditionnels‘ mit eigenem, im Staat eingebautem Verband. Z.B. die Corona-Impfkampagne wurde im Auftrag der Regierung von diesen getragen, und auch UNICEF wendet sich mit seinen Kinderrechtsanliegen an sie, weil sie in ihren Dörfern die maßgeblichen Autoritäten sind. Einen wirklichen Bezug der breiten Bevölkerung auf den nigrischen Staat stellt diese formelle Einbindung der lokalen Autoritäten aber nicht her.

[20] „Der für den 7. August geplante Gang Nigers auf den Markt für Staatsanleihen im Rahmen einer Auktion wurde abgesagt, wie Umoa-Titres mitteilte. Das Organ, das der Kontrolle der BCEAO [Westafrikanische Zentralbank] untersteht, setzt damit die Sanktionen gegen die Militärjunta um, die am 26. Juli den Präsidenten Mohamed Bazoum gestürzt hat. Vor dem aktuellen Hintergrund macht diese Annullierung die ohnehin schwierige wirtschaftliche Lage Nigers noch prekärer. Während das Land in den ersten sieben Monaten des Jahres bereits über 520 Mrd. FCFA am Markt für öffentliche Wertpapiere aufgenommen hat, verschärft die Annullierung der geplanten Neuemission in Höhe von 30 Mrd. FCFA die Spannungen. Darüber hinaus läuft das von der ECOWAS gestellte Ultimatum ab, und wenn die Situation nicht bis Ende Oktober gelöst wird, würde Niger mit einem Loch von 100 Milliarden FCFA in seinem Haushalt konfrontiert werden, dies der noch fehlende Betrag von dem, was er bis zum Ende des dritten Quartals auf dem Markt für öffentliche Wertpapiere durch eine Auktion aufbringen wollte. Das Haushaltsdefizit ist umso besorgniserregender, als das Sahelland im August 12 Mrd. FCFA und im September über 70 Mrd. FCFA an die Investoren auf diesem Markt zurückzahlen muss. Zu Beginn des Jahres hatten sich die nigrischen Behörden zum Ziel gesetzt, 830 Mrd. FCFA zu mobilisieren, um die öffentlichen Ausgaben und Kassenoperationen zu finanzieren, die auf 3291,62 Mrd. FCFA geschätzt wurden. Mehr als die Hälfte dieses Betrags sollte aus externen Mitteln stammen, insbesondere aus Haushalts- und Projektbeihilfen sowie aus Anleihen. Ohne die Ausgabe von Staatsanleihen auf dem regionalen Markt wollte Niger bei seinen Entwicklungspartnern mehr als 1,274 Billionen FCFA mobilisieren, was fast 40 % seines Haushalts für das Haushaltsjahr 2023 entspricht. Seit dem Putsch hatten die meisten dieser Partner, darunter Frankreich, Deutschland, die Europäische Union, die USA und die Weltbank, jedoch bereits angekündigt, ihre Unterstützung für Niger einzustellen.“ (Coup d’Etat au Niger : une émission obligataire annulée, les premières séquelles des sanctions, pressions sur le budget, agenceecofin.com, 4.8.23)

[21] Frankreich sitzt in allen entscheidenden Gremien der BCEAO, bestimmt z.B. mit über den Leitzins, beschränkt wie erwähnt die Kreditvergabe der BCEAO an die Regierungen der Mitgliedsländer der UEMOA (Westafrikanische Wirtschafts- und Währungsgemeinschaft) auf eine Obergrenze von 20 % der Steuereinnahmen des Vorjahres (s. Fußnote 6); außerdem sind die CFA-Länder auf eine rigorose Inflationsbekämpfungspolitik festgelegt, die aufgrund des festen Wechselkurses zum Euro vor allem darin besteht, von der Zentralbank ausgehende Kredite und Refinanzierung für die Privatbanken knappzuhalten: „Die für den westlichen Teil der F-CFA-Zone verantwortliche Zentralbank erklärt in ihren Statuten die Preisstabilität der UMEOA [CFA-Währungsunion] zur obersten geldpolitischen Zielsetzung. Die intendierte Inflationsrate wird – innerhalb einer tolerierten Abweichung von +/– 1 % – analog zur Zielinflation der EZB mit 2 % definiert. Das wichtigste Gremium zur Umsetzung der geldpolitischen Ziele ist das Comité de la Politique Monétaire (CPM). In den regelmäßig stattfindenden Sitzungen des CPM werden u.a. die Zinssätze für die Bereitstellung von (Zentralbank-)Liquidität, ... der Einlagenzinssatz für Guthaben der Geschäftsbanken bei der BCEAO und die Höhe der für die Geschäftsbanken verpflichtenden Mindestreserven festgelegt bzw. angepasst. Das Vetorecht Frankreichs bezüglich der Entscheidungen des CPM macht den politisch-institutionellen Einfluss der ehemaligen Kolonialmacht auf die Implementierung der Geldpolitik in der UEMOA deutlich.“ (Lampe, Florian (2020): Das CFA-Währungsregime: Zinspolitik, Geldbasisdeckung und Kreditvergabe in der UEMOA)

 Frankreich verpflichtet mit dieser Bewirtschaftung die CFA-Länder darauf, Sorge zu tragen, dass der Garantiefall nicht eintritt. Vor allem aber knöpft es ihnen im Tausch für die Garantie des Geldes die Hoheit über dessen Bewirtschaftung ab.

[22] „Drei Viertel der Auslandsschulden bestehen gegenüber multilateralen Gläubigern; etwa die Hälfte aller multilateralen Schulden entfällt auf das Weichkreditfenster der Weltbank, die IDA. Ein zunehmend größerer Teil entfällt auf einen nicht identifizierten ‚weiteren multilateralen‘ Akteur, der Kredite vermutlich nicht-konzessionär vergeben hatte... Wichtigster westlicher Gläubiger ist mit deutlichem Abstand zu China Frankreich. Erstmals weist Niger in größerem Stil auch nicht-konzessionäre Schulden bei bilateralen Gläubigern aus. Der Hintergrund könnten Exportfinanzierungen aus Frankreich sein, deren genaue Konditionen nicht bekannt sind. Deutschland ist kein Gläubiger von Niger.“ (erlassjahr.de/laenderinfos/niger)

[23] Dies ist die zweite Grundlage für Nigers vordergründig autonome Schöpfung von CFA: Die Verschuldungsfähigkeit dieses und der ganzen westafrikanischen „hoch verschuldeten armen Länder“, die den CFA-Staatsanleihenmarkt bilden, lebt von der immer wieder bestätigten Spekulation der Geschäftsbanken darauf, dass die sich bei IWF und Co immer weiter verschulden können.

[24] Aus diesem Widerspruch, dass Niger sich immer mehr und immer unhaltbarer verschuldet, sein Schuldendienst im Verhältnis zu seinen Einnahmen immer mehr anwächst und er dabei solvent gehalten wird, hat der Schuldenschnitt, der Niger im ersten Jahrzehnt der 2000er gewährt wurde, sachgemäß nicht herausgeführt, sondern ihn auf neuer Grundlage reproduziert und fortgeführt: „Seit der Entschuldung unter der Entschuldungsinitiative MDRI sind Nigers Auslandsschulden durchgängig angestiegen. Insbesondere seit 2010 haben Investitionen in die Urangewinnung – Nigers wichtigster Devisenbringer – und die Exploration der neu entdeckten Öl-Lagerstätten zu einem Anstieg der Verschuldung geführt.“ (Ebd.)

 Von 2012 bis 2021 stieg der Anteil der Staatsverschuldung am BIP, auch durch die jedes Jahr vermehrte Emission von Staatsanleihen, von 18,1 % auf 51,3 %, und um das Verhältnis von Kreditvolumen und Exportvolumen steht es immer schlechter.

[25] So ist der systematische Abbruch des nigrischen Programms namens „Entwicklungsstaat“ am Ende das Resultat dieses Diktats: „Nach dem Uranboom Mitte der 1970er Jahre verstärkte der Staat die Investitionen in den halbstaatlichen Sektor im Rahmen des ehrgeizigen Dreijahresprogramms und des Fünfjahresplans für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung von 1976-1983. Diese Entwicklungen wurden sowohl durch die Uraneinnahmen als auch durch ausländische Kredite finanziert, die die scheinbare Zahlungsfähigkeit Nigers honorierten, die durch das Erz befördert wurde. Der Zusammenbruch des Uranmarktes machte diesen Ambitionen und Prozessen Anfang der 80er Jahre ein Ende; 1985 war Niger mit einer Auslandsverschuldung in Höhe von 51 % seiner Steuereinnahmen belastet, und die Situation war besonders im halbstaatlichen Sektor katastrophal. 1983 wurde berechnet, dass die Gesamtverschuldung in diesem Sektor die stolze Summe von 87 Milliarden CFA-Francs erreicht hatte, was 31 % der gesamten Auslandsverschuldung des Landes entsprach. 1986 verpflichtete sich die Regierung zu einer vom Internationalen Währungsfonds (IWF) verordneten Umstrukturierung, die die wirtschaftliche Liberalisierung durch Privatisierung und Schließung halbstaatlicher Betriebe ankurbeln sollte – ein erster Schritt zum Rückzug des Staates aus dem produktiven Sektor. Die meisten halbstaatlichen Unternehmen wurden als nicht wettbewerbsfähig, verschwenderisch und personell überbesetzt eingestuft, und die staatliche Kontrolle bedeutete auch umfangreiche Zahlungsrückstände der öffentlichen Hand sowie die Zweckentfremdung von Geldern und Gewinnen, die wirtschaftlichen Unternehmenszielen dienen sollten, was auf die Finanzkrise und eine schlechte Regierungsführung zurückzuführen war.“ („Economic Liberalization“ in: Rahmane Idrissa (2020): Historical Dictionary of Niger) Dieselbe Geschichte hat sich in den frühen 2000er Jahren wiederholt, als sich der nigrische Staat aufgrund eines drohenden Staatsbankrotts dazu genötigt sah, diese verhassten Konditionen für Kredit beim IWF erneut zu akzeptieren.

 In diesem institutionalisierten Austeritäts- und Kontrollregime über Niger nimmt Frankreich als bestimmendes Subjekt im Kreditverhältnis zwischen seiner Zentralbank und den Mitgliedsstaaten des CFA-Währungsraums seine Verantwortung immerzu gemäß den oben bestimmten Vorgaben zu Geldwertstabilität und Haushaltsdisziplin und im Jahr 1994 folgendermaßen wahr: Es teilt – auch wenn dies seine eigenen Nützlichkeitserwägungen bzgl. eines passenden Wechselkurses relativieren mag – die Direktive des IWF, zur „Förderung der Wettbewerbsfähigkeit“ von Niger et al. insbesondere die Terms of Trade zu modifizieren, die dem Export und damit einem zuverlässigen Schuldendienst entgegenstünden, und halbiert in Abstimmung mit dem IWF unilateral das Wechselkursverhältnis, wertet den CFA also ohne Zustimmung der betroffenen Länder um 50 % ab. Auch dies, jenseits der Beurteilung der Konsequenzen dieser Maßnahme auf die inneren Verhältnisse in Niger, ein Dokument dessen, wie es um die politökonomische Souveränität der Regierung dieses Landes bestellt ist.

[26] „Bis 2014 war lediglich ein Drittel der EU-Hilfen für Niger dem Staatshaushalt zugutegekommen. Im darauffolgenden Zyklus ab 2014 flossen 75 % der EU-Mittel direkt in die Staatskasse. Der EEF gewährte Niger im Zeitraum 2014-2020 rund 640 Millionen Euro und stockte diese Summe nach weiterer Überprüfung um weitere 95 Millionen Euro auf. Ausgewählte Bereiche des nigrischen Grenzkontrollsystems – Sicherheitskräfte, die im Norden stationiert waren, sowie Gerichte, die nach dem neuen Gesetz mit Fällen von Menschenschmuggel befasst waren – profitierten von zusätzlicher Ausrüstung und angemessen entlohnten Fortbildungen. (usw.)“ (Rahmane Idrissa: Dialog im Widerstreit, a.a.O, S. 35)

 2016 setzte Niger das Gesetz zur Kriminalisierung von Schleusern in Kraft, zu dem es sich 2015 in einem Abkommen mit der EU verpflichtet hatte.

[27] Mauretanien, Niger, Mali, Burkina Faso und Tschad. Das Bündnis existiert seit den Putschen in Mali und Niger faktisch nicht mehr.

[28] „Denn Malis ehemalige Kolonialmacht hat vor zwei Jahren zwar die Islamisten im Norden zurückgedrängt und wichtige Städte wie Gao und Timbuktu befreit. Gleichzeitig aber hat Frankreich die Tuareg-Separatisten gewähren lassen. Eine kleine, schwer bewaffnete Tuareg-Minderheit also darf mit Frankreichs Gnaden von Azawad träumen – bis heute. ‚Die Franzosen sagen natürlich: Das sind unsere Alliierten im Kampf gegen die Dschihadisten, gegen islamistische Terrororganisationen – das ist aber nur die halbe Wahrheit. Auf diese Art und Weise hat man den Tuareg-Rebellen eine gewisse Legitimität gegeben und dadurch zwei malische Armeen in einem Staat geschaffen – und das kann nicht gutgehen!‘, so Hannes Stegemann, Mali-Experte der Caritas.“ (Ein Friedensvertrag, gestützt auf lose Hoffnungen, Dlf, 20.6.15)

[29] Das kritisiert auch der neue Machthaber in seiner Putschrede: „[Man muss sich wirklich nach] ... der Bedeutung und Tragweite eines sicherheitspolitischen Ansatzes zur Terrorismusbekämpfung [fragen], der jede echte Zusammenarbeit mit Burkina Faso und Mali ausschließt, obwohl wir mit diesen beiden Nachbarländern das Gebiet Liptako-Gourma teilen, in dem sich heute der Großteil der Aktivitäten der terroristischen Gruppen konzentriert, die wir bekämpfen.“ (General Tiani am 28.7.23)

[30] Die USA haben hinter den Kulissen nämlich der Putschregierung deutlich gemacht, dass der Gebrauch ihrer Freiheit der Partnerwahl für sie unerwünschte Konsequenzen haben wird – woraus das Militär den Schluss gezogen hat, dass es sich auch bei den USA um eine Macht handelt, die Niger ‚fremdbestimmen‘ will, im Land also nichts verloren hat.

[31] „Die Junta in Niamey hob das Gesetz nun mit der Begründung auf, es nehme ‚keine Rücksicht auf die Interessen Nigers und seiner Bürger‘. Die Aufhebung gilt auch rückwirkend: Wer auf Basis des Gesetzes verurteilt wurde, soll rehabilitiert werden.“ (SZ, 28.11.23)

[32] „In einer am Sonntagabend veröffentlichten gemeinsamen Erklärung werfen die drei Staaten der Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS vor, ‚unmenschliche und illegale‘ Sanktionen verhängt zu haben. Außerdem erhielten sie von der Organisation keine Unterstützung in ihrem Kampf gegen islamistische Terroristen. Unter dem ‚Einfluss ausländischer Mächte‘ habe die Staatengemeinschaft Prinzipien bei der Gründung verraten und sei zu einer ‚Bedrohung ihrer Mitgliedstaaten‘ geworden. Die drei Staatslenker reagierten jetzt ‚in völliger Souveränität‘ und aufgrund der ‚Sorgen und Hoffnungen ihrer Bevölkerungen‘.“ (FAZ, 29.1.24)

[33] Im September 2023 gründen Niger, Mali und Burkina Faso diese Allianz mit dem Ziel der „Errichtung einer Architektur der kollektiven Verteidigung und des gegenseitigen Beistands der Vertragsparteien... Artikel 4: Die Vertragsparteien verpflichten sich, den Terrorismus in all seinen Formen und die organisierte Bandenkriminalität im gemeinsamen Raum des Bündnisses zu bekämpfen... Artikel 6: Jede Verletzung der Souveränität und territorialen Integrität einer oder mehrerer Vertragsparteien wird als Aggression gegen die anderen Vertragsparteien angesehen und begründet eine Pflicht aller Vertragsparteien zur individuellen oder kollektiven Hilfe und Unterstützung, einschließlich des Einsatzes bewaffneter Gewalt, um die Sicherheit innerhalb des vom Bündnis abgedeckten Raums wiederherzustellen und zu gewährleisten.“ (Charta der Alliance des États du Sahel)

[34] „Die Regierung in Niamey sah sich Ende April gezwungen, erstmals seit Aufhebung der ECOWAS-Sanktionen im Februar auf den regionalen Finanzmarkt zurückzukehren. Insgesamt gelang es in einer ‚Spezialoperation‘, mehr als 457 Milliarden CFA-Francs (rund 747 Millionen US-Dollar) zu beschaffen. Diese für den nigrischen Staat beispiellose Summe soll ‚vorrangig zur Schuldentilgung‘ verwendet werden, hieß es. Die Strategie ist riskant: Denn konkret bekommt das Land nun Geld zu neun Prozent Zinsen, um alte Kredite mit sechs Prozent Zinsen zurückzuzahlen.“ (jW, 16.5.24)

[35] „Tatsächlich hat die nigrische Regierung die Grenzen zu Benin auch nach Aufhebung der ECOWAS-Sanktionen geschlossen gehalten – mit der Begründung, dass sich dort ‚feindliche Truppen aufhalten, die in Zusammenarbeit mit Benin operieren‘. Niamey behauptet, Benin beherberge französische Militärbasen. Trotz der Blockade [die chinesisch-nigrische Ölpipeline läuft durch Benin] hat die China National Petroleum Corporation (CNPC) am 12. April eine Vorauszahlung von 400 Millionen US-Dollar geleistet – ein ‚Rettungsanker für Niger‘, wie Jeune Afrique schrieb. CNPC betreibt zusammen mit der algerischen Sonatrach und der britischen Savannah Energy das Agadem-Ölfeld im Osten des Landes, von wo aus die Pipeline nach Benin führt. Die von CNPC für mehr als vier Milliarden US-Dollar gebaute Pipeline ist die längste in Afrika. Niamey erhofft sich Einnahmen aus dem Ölexport in Höhe von einem guten Viertel der Wirtschaftsleistung.“ (Ebd.)

[36] Schon vor dem Putsch in Niger, nämlich seit den Putschen in Mali und Burkina Faso, ruft Macron eine „neue Afrika-Politik“ aus, die das Verhältnis zu den Staaten der Sahelzone richten soll. Die bestand v.a. in der Prätention, mit den Staaten „auf Augenhöhe“ zu verfahren: „Um eine Wiederholung der Geschichte zu vermeiden, gibt es einen anderen Weg, den wir nun seit sechs Jahren verfolgen, ... der darin besteht, Afrika nicht auf einen Schauplatz von Konkurrenz oder Geldmacherei zu reduzieren, sondern die afrikanischen Länder als Partner zu betrachten, mit denen wir gemeinsame Interessen und Verantwortlichkeiten haben. Und im Grunde genommen eine neue, ausgewogene, gegenseitige und verantwortungsvolle Beziehung aufzubauen... Das, was für mich ein Interesse Frankreichs ist, nicht aufgeben: die Demokratie. Aber es mit Respekt tun gegenüber der Geschichte des Kontinents und vor allem den Akteuren, die sie tragen müssen.“ (E. Macron, 27.2.23) Am großen Unverständnis und der harschen Reaktion dieses Freunds von Afrika gegenüber dem Putsch des nigrischen Militärs wird dann deutlich: So war die Verbeugung vor afrikanischer Souveränität nicht gemeint. Der bekundete Respekt in Kombination mit Frankreichs Einspruchsrecht in Sachen Demokratie zielte darauf, die Sonderrolle Frankreichs im frankophonen Afrika zu sichern. Als überlegene Macht ist es schon noch Frankreich, das die „gemeinsamen Interessen“ zu definieren beansprucht.

 Der deutsche Verteidigungsminister hält von demselben Maßstab aus diese Reaktion Frankreichs auf den Putsch für einen Fehler, sein Bestehen auf dem demokratisch gewählten Präsidenten Bazoum für kontraproduktiv: „Auch Deutschland habe ein vitales Interesse an einem stabilen und wirtschaftlich prosperierenden Sahel, betonte der Minister. Auch Deutschland wolle verhindern, dass terroristische Organisationen Fuß fassten, Menschen drangsalierten, Staaten unregierbar und unkontrollierbar machten. Natürlich müsse mittel- und langfristig die Demokratie das Ziel sein. Aber, so seine tiefe Überzeugung, ‚das darf nicht dazu führen, dass wir demokratische Verhältnisse zu einer Voraussetzung unseres Engagements machen.‘ ... ‚Was bleibt, wenn wir gehen?‘, richtete der Minister das Wort an das Publikum. Russland und China würden in Afrika immer aktiver. Beide Länder seien bereit, große Kredite zu bewilligen und Waffen zu liefern – verfolgten jedoch hauptsächlich eigene Interessen, so der Minister.“ (BMVg, Vernetzte Sicherheit in der Sahel-Region: Wie kann es weitergehen?, 20.3.24) Die ordnungspolitischen Interessen Deutschlands und des Westens im Sahel darf man in der Konkurrenz mit China und Russland um diese Staaten doch nicht dadurch gefährden, dass man denen gegenüber immer auf dem Einhalten von Herrschaftsmethoden besteht, von denen diese Interessen gar nicht abhängen.

[37] Etwa wenn die Oberhumanistin im deutschen Außenministerium im globalen Süden herumreist und sich durch Rückgabe gestohlener Kunstreichtümer vor dessen Völkern und Staaten verneigt, um im Anschluss deren Oberhäupter vor der unrechtmäßigen Einflussnahme autoritärer Mächte zu warnen.

[38] Von den Konsequenzen des Wegfalls dieser weltpolitischen Alternative mit dem Untergang der Sowjetunion und der Karriere Afrikas von der Heimat nationaler Emanzipationsbewegungen gegen den Kolonialismus zum Hort um sich greifenden Staatszerfalls und der Verwandlung der meisten afrikanischen Länder in Heavily Indebted Poor Countries handeln die auch heute noch lesenswerten Artikel: Eine Hinterlassenschaft von 40 Jahren Entwicklung und ihre imperialistische Betreuung – Der Verfall der Dritten Welt in GegenStandpunkt 4-92 und ‚Marktwirtschaft und Demokratie‘ in Afrika – das ultimative Entwicklungsmodell des Imperialismus für seine afrikanischen Geschöpfe und die Folgen in GegenStandpunkt 3-98.

[39] „Die Abkehr vom Westen sei laut Laessing [Leiter des Regionalprogramms Sahel in Mali, Konrad-Adenauer-Stiftung] vor allem gegen Paris gerichtet, ‚dem vorgeworfen wird, sich von seiner ehemaligen Rolle als Kolonialmacht nie wirklich gelöst zu haben, was durch russische Desinformationskampagnen zusätzlich verstärkt wurde, die auf den Westen insgesamt abzielten und dazu führten, dass der Westen nicht mehr als natürlicher Partner der Afrikaner gesehen wird... Die Drohung, die Entwicklungshilfe zu streichen, verfängt nicht mehr, weil Europa gemessen an seiner Bedeutung für die Afrikaner längst hinter Chinesen, Russen und Türken zurückgefallen ist‘, so Laessing. Mit verheerenden Folgen: ‚Gerade durch Niger verläuft die Haupttransitroute für Flüchtlinge in Richtung Libyens Mittelmeerküste. Als Folge [!] der neuen Partnerschaft mit Russland hat Nigers neue Regierung Ende November 2023 das Migrationsabkommen mit der EU aufgekündigt und die Route von Agadez in Richtung Norden wieder aufgemacht‘, so Laessing zum RND. Schließlich [!] habe Moskau schon in anderen Weltgegenden gezeigt, dass es bereit sei, Massenmigration als Waffe gegen den Westen einzusetzen.“ (Die Weltregion, in der Putin den Westen bereits besiegt hat, RND, 8.2.24)

 Nebenbei ist diese Wortmeldung ein wunderbares Dokument des imperialistischen Selbst- und Rechtsbewusstseins: Die seit Jahren an die Wand gemalten „Desinformationskampagnen“ im Sahel bestehen nämlich nicht darin, dass falsche Fakten verbreitet würden, sondern darin, dass sie den natürlichen Zustand der Welt bestreiten, nämlich Europa und den Westen als deren Mittelpunkt, von dem die gute Ordnung ausgeht, weswegen die Staaten der Peripherie gerechterweise „uns“ gehören – „natürlicher Partner“ –, also gefälligst mit niemandem Beziehungen unterhalten dürfen, der nicht unser Partner, sondern unser Rivale ist. Da ist es natürlich äußerst bedauerlich, dass die EU diesem Naturzustand nicht mehr mit dem wohl auch dafür vorgesehenen Erpressungsmittel der Entwicklungshilfe nachhelfen kann, weil diese Staaten den Westen nicht mehr als alternativlos – dies der andere Gehalt von „natürlich“ – behandeln müssen.