Öl-, Migrations- und Terror-Hotspot und Dauerkriegsschauplatz
Europas shithole country Libyen feiert seinen Zehnten – unter reger internationaler Beteiligung

Wenn das Thema Libyen in der deutschen Öffentlichkeit zum Gegenstand von Meldungen, Kommentaren, Hintergrundexpertisen wird, dann gibt es in aller Regel nichts Erfreuliches zu berichten: Seit nunmehr zehn Jahren tobt, auf- und abflauend, ein Krieg mit unübersichtlich vielen inneren Beteiligten und einer Reihe von auswärtigen – wie vermeldet wird, nicht nur befugten – Unterstützermächten. Letztere halten mit Geld und Waffen nicht nur den Krieg am Laufen, sondern veranstalten in größeren Abständen Konferenzen an unterschiedlichen Orten, verkünden im Anschluss ihren festen Willen, den Krieg zu beenden, von dem sie so auch offiziell zu Protokoll geben, dass es ihrer ist, und berufen sich dabei allesamt auf hohe, wenn auch teilweise unterschiedliche weltpolitische Prinzipien und Regeln.

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Öl-, Migrations- und Terror-Hotspot und Dauerkriegsschauplatz
Europas shithole country Libyen feiert seinen Zehnten – unter reger internationaler Beteiligung

Wenn das Thema Libyen in der deutschen Öffentlichkeit zum Gegenstand von Meldungen, Kommentaren, Hintergrundexpertisen wird, dann gibt es in aller Regel nichts Erfreuliches zu berichten: Seit nunmehr zehn Jahren tobt, auf- und abflauend, ein Krieg mit unübersichtlich vielen inneren Beteiligten und einer Reihe von auswärtigen – wie vermeldet wird, nicht nur befugten – Unterstützermächten. Letztere halten mit Geld und Waffen nicht nur den Krieg am Laufen, sondern veranstalten in größeren Abständen Konferenzen an unterschiedlichen Orten, verkünden im Anschluss ihren festen Willen, den Krieg zu beenden, von dem sie so auch offiziell zu Protokoll geben, dass es ihrer ist, und berufen sich dabei allesamt auf hohe, wenn auch teilweise unterschiedliche weltpolitische Prinzipien und Regeln. Nach der zum je eigenen Interesse jedes Mal erstaunlich gut passenden diplomatischen Auslegung der Resultate dieser Treffen schreiten sie dann zur praktischen Anwendung der jeweiligen Vereinbarungen, was genauso regelmäßig in den Fortgang der Auseinandersetzungen mündet. Unter Anleitung dieser rührigen auswärtigen Mächte haben es die Kriegsparteien vor Ort inzwischen zur zweiten „Regierung“ mit dem bezeichnenden Namen „Government of National Unity“ (GNU) gebracht, die wie ihre auf den Namen GNA („Government of National Accord“) getaufte Vorgängerin zwar nicht in allen Teilen der Hauptstadt, aber dafür „international anerkannt“ ist. Sogar das offizielle Ziel steht, im Dezember d.J. diejenigen, die als „Bürger Libyens“ rangieren, zur Wahl zu rufen; in ihren gewalttätigen Auseinandersetzungen lassen sich die verfeindeten Akteure vor Ort davon, nach allem, was man erfährt, nicht weiter stören. Dazwischen irren Flüchtlinge auf libyschem Territorium oder auf dem Mittelmeer umher, die von einigen der libyschen Milizen für Schlepperdienste nach Strich und Faden ausgepresst und von anderen Bewaffneten – manche haben sogar Uniformen mit Hoheitszeichen – inzwischen wieder sehr verlässlich und zu hohem Prozentsatz an die libysche Küste zurückgeschleppt werden, um sie dann in diverse Zwangsdienste zu nehmen oder einfach verrotten zu lassen. Manchmal kommt es dabei zu Exzessen und größeren Unglücken, die europäische Politiker gar nicht leiden können; sie bedauern dann zutiefst, dass die libysche Flüchtlingsabwehr, die zur europäischen Festungspolitik zumindest im Resultat sehr gut passt, ein Grauen produziert, das zur „europäischen Idee“ irgendwie nicht passt. So gut eingedämmt der das humanistische Europa bedrohende Menschenstrom inzwischen wieder ist, so gut fließt der Strom von Öl aus Libyen heraus, wiederum vor allem nach Europa, das neben seiner Werte- bekanntlich auch noch eine kapitalistische Realwirtschaft betreibt, also mit der feinen Ware – gehobene Kategorie „sweet crude“ – viel anzufangen weiß. Nach den Regeln des zivilen Rohstoffschachers fließt viel Geld in Gegenrichtung zurück; dies, wie mitgeteilt wird, sogar zu größeren Teilen über die international legitimen Kanäle. Ab und zu wird ein Ölterminal besetzt oder zerstört, manchmal werden Förderung und Transport von Öl sogar landesweit nahezu komplett heruntergefahren, dann wird unter der Rubrik „Wirtschaft und Finanzen“ fachkundig die Frage gewälzt, ob das Auswirkungen auf den Ölpreis hat; und zwischendurch erschießt amerikanisches Militär per Drohne ein paar militante Islamisten.

I. Libyen-Krieg 2011: Noch ein Ordnungskrieg zerstört noch ein Stück imperialistischer Ordnung

Dabei war vor zehn Jahren alles so gut gedacht und begann ja auch so schön: In Protesten gegen den im Westen als Problem eingestuften Staatsführer Gaddafi, die sich – wie gerufen – bald zu blutigen Unruhen auswuchsen, weil der Diktator nicht abtreten wollte und die Protestierer ebenfalls nicht nachgaben, entdeckte vor allem Frankreich eine Gelegenheit: Mittels eines nach amerikanischem Vorbild und mit amerikanischer Unterstützung herbeigebombten Regime-Change im Namen der unterdrückten Libyer sollte der Grundstein für eine schöne neue, französisch definierte, europäisch ausgeübte Ordnung übers Mittelmeer gelegt werden, an der kein künftiger libyscher Herrscher, kein sonstiger arabischer Despot und erst recht keiner der weltpolitischen Rivalen Frankreichs und Europas vorbeikommen sollte. [1]

So nahmen die Dinge auch ihren hoffnungsvollen Anfang und Verlauf: Der humanitäre Luftkrieg bombte Gaddafi und die Seinen in kürzester Zeit vom Status institutioneller Herrschaftsgewalt auf den einer Partei unter mehreren in einem Krieg um Teile des Landes und deren Bewohner zurück. Weil auch ansonsten die Gaddafi-Gegner die auswärtige Hilfe erhielten, die sie für ihre Rolle als Kanonenfutter für westlich-europäische Ordnungsambitionen brauchten, war der Ex-Herrscher recht bald und definitiv beiseitegeschafft. Aufseiten der Opposition hatten die Westmächte schon vor dem endgültigen Abgang Gaddafis nach Figuren Ausschau gehalten, die ihnen passten, und waren in Libyen selbst und vor allem in den libyschen Exilanten-Communities in den USA und in Frankreich auch schnell fündig geworden. Als „einzig legitime Vertreter des libyschen Volkes“, die die Anerkennung der Welt verdienen, waren ja in dieser Etappe im Prinzip alle geeignet, die nur entschieden genug den Standpunkt vertraten, dass Gaddafi weggehört. [2] Die brachten die auswärtigen Aufstandspaten per Anerkennung als alternative Führer in Stellung und nahmen ihnen auch gleich die Mühe ab, sich über die Zukunft Libyens große und vor allem allzu selbständige Gedanken machen zu müssen: ungeteilt und in den anerkannten nationalen Grenzen, friedlich und den Regeln der internationalen Gemeinschaft verpflichtet, außerdem demokratisch und modern sollte das neue Libyen sein, was durchaus passende Umschreibungen dafür waren, dass Libyen eine national selbständig wirtschaftende prowestliche Ölquelle bleiben sollte, nur diesmal eben ohne den störenden Ehrgeiz eines nationalen Führers, aus dem Land ein gegenüber den Großmächten in West und Ost eigenständiges Staatssubjekt zu machen, und stattdessen verlässlich einsortiert als strategischer Besitzstand Europas.

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Gekommen ist es bekanntlich, siehe oben, anders. In ihrer Euphorie der Neuordnung eines Stücks der von ihnen beanspruchten Mittelmeerregion, die darum südliche Gegenküste Europas heißt, haben sich die kriegslustigen Mächte nämlich darüber hinweggesetzt, dass sie mit der ihnen unbequemen Herrschaft Gaddafis eben auch die einzige politische Herrschaft über das Land zerstören. So viel war an den zum Feindbild stilisierten Schilderungen der schlimmen, schlimmen Verhältnisse in Libyen als Ein-Mann-Diktatur nämlich wahr: Der nationale Zusammenhalt innerhalb der kolonial und nachkolonial, also allemal von außen gesetzten Grenzen des Sahara-Abschnitts hatte ausschließlich darin bestanden, dass Gaddafi ihn verordnete, mit den ihm ergebenen Mannschaften durchsetzte, persönlich repräsentierte und damit das Land und seine Leute auf seine Vorstellungen von einem definitiv modernen, irgendwie islamisch-arabisch-beduinisch volksfreundlichen Staatsleben unter seiner Lenkung und Leitung verpflichtete. Die Mittel dafür bezog er samt und sonders aus der Rolle Libyens als Ölquelle fürs westliche Ausland. Mit dem dabei verdienten Geld besorgte er sich die Gewaltmittel, die er für die Etablierung und Sicherung seines Regiments brauchte; und er stiftete den Leuten, die er zu dem Volk formieren wollte, als welches er sie definierte, mit dem Ölgeld zugleich die Einkommen, mit denen sie sich an dem gleichfalls so gut wie vollständig aus dem Ausland bezogenen, fürs gesellschaftliche und individuelle Dasein nötigen sachlichen Reichtum beteiligen konnten. Geblieben ist nach seinem Abgang die Abhängigkeit des Landes vom Ölexport als einziger Devisenquelle und vom Import der sachlichen Mittel des Lebens und damit die Abhängigkeit aller Libyer vom Zugriff auf möglichst große Teile davon.

Der ist seitdem Gegenstand gewaltsamer Auseinandersetzungen, für die sich vor allem regionale und innerhalb der Regionen familien-, clan- und stammesmäßig organisierte Vereine zusammenrotten und militärisch ausstatten. [3] Im Moment von Gaddafis Entmachtung und seither machen sie sich über die zivilisatorischen Hinterlassenschaften dieser Epoche her, versuchen insbesondere, Ölförderanlagen, Pipelines und Hafenterminals in ihre Gewalt zu bringen, um direkt von deren in der Regel ausländischen Betreibern Tribut zu beziehen oder einen größeren Anteil an den von den ausländischen Konzernen an die offiziellen Stellen gezahlten Geldern verlangen zu können; als Gegenleistung dafür stellen sie sich für Verteidigungsdienste gegen konkurrierende Gruppen zur Verfügung. Auf dieser Basis entwickelt sich eine barbarische Ökonomie der Territorial- und Bandenkriege, in der von stationärem und mobilem Gerät, Expertise, Versorgung und Verpflegung bis hin zu den Mannschaften und einem irgendwie loyalen Fußvolk alles für Geld zu haben und also umgekehrt zu Geld zu machen ist. Etwas Politisches im Sinne einer Auseinandersetzung einander ausschließender Programme einer „libyschen Nation“ hat das alles für die Waffenträger und ihre Feldkommandeure nicht. Das heißt umgekehrt, dass sich alle doch zu Politikern berufen fühlenden Möchtegern-Erben Gaddafis auf diese bewaffneten Kräfte zu beziehen, also sie zu bekämpfen oder zu kaufen haben – beides jeweils immer in Konkurrenz zu anderen mit gleich gelagerten Ambitionen. Exakt soweit sie das vermögen, reicht ihr Machtwort dann auch. Wie weit das genau ist, können darum selbst intime Kenner der Szene oft nicht so recht beantworten – ebenso wenig wie die Frage, ob der im größten Palast der jeweiligen „Hauptstadt“ oder „Hochburg“ Residierende von den umliegenden Milizen mehr beschützt oder mehr belagert wird.

Die Einzigen, deren Gewalt einem wirklich höheren Zweck dient, sind die von Gaddafi unterdrückten Islamisten. Die nutzen das Ende seiner Kontrolle über das Staatsgebiet dazu, ihren nun entfesselten gewaltsamen Kampf für die Unterwerfung des Diesseits unter die von ihnen befolgten und vertretenen Regeln der Gottgefälligkeit zu führen. Die lokalen Führer und Aktivisten dieses Kampfes verstehen sich subjektiv als Teil eines viel größer dimensionierten arabisch-islamischen Reiches in Gründung, bringen es objektiv immerhin dazu, Libyen zu einem neuen Kampfplatz, Stützpunkt und Rückzugspunkt der antiwestlichen und dezidiert antieuropäischen islamistischen Internationale mit ihren zum Teil erbittert konkurrierenden, mitunter kooperierenden Abteilungen vom IS bis zu al-Qaida zu machen – und kommen ansonsten auch nicht umhin, sich um die Finanzierungsquellen ihres bewaffneten Märtyreraktivismus zu kümmern, sich also an der Raubökonomie der libyschen Ölstaatsruine zu beteiligen.

II. Europas Mächte betreuen ihr Zerstörungswerk als Objekt ihrer Interessen und imperialistischen Ordnungsansprüche

Mit dem Desaster an ihrer „Gegenküste“, das sie mit ihrem Krieg angerichtet haben, pflegen die in dieser Frage wichtigen europäischen Mächte – die damals hauptkriegführende Macht Frankreich, das seinerzeit nur nolens volens mitbombende Italien [4] und auch das vor zehn Jahren entschieden kriegsabstinente Deutschland – ihren je eigenen Umgang, der dem gehobenen Anspruch dieser Nationen angemessen und daher an Zynismus nicht zu überbieten ist: Sie teilen sich ganz gepflegt ein, sorgen einerseits dafür, dass die ihnen unmittelbar wichtigen Interessen – im Wesentlichen Ölversorgung, Flüchtlingsabwehr, Terrorabwehr – bestmöglich zum Zuge kommen. Andererseits knüpfen sie daran unverdrossen Ansprüche auf Ordnung sowie – zwischen ihnen unterschiedlich bis gegensätzlich definierte – europäische Ordnungskompetenz und reproduzieren damit zugleich die Gründe dafür, dass die auf Dauer unerfüllt bleiben.

1. Europa sichert seine Interessen an dem kaputten Land

a) Öl und Gas

Den Beitrag Libyens zu ihrem jeweiligen nationalen Energiemix sichern sich die europäischen Nationen, so gut sie es vermögen; Staat und Ölkonzerne greifen dafür auf ihre jahrzehntelangen Geschäftsbeziehungen zu Libyen zurück. Die Ölkonzerne erbringen dabei in unermüdlicher Verfolgung ihres Geschäftsinteresses trotz – und teilweise auch dank – aller Widrigkeiten die national dienlichen Leistungen bei der Versorgung mit den strategischen Gütern Öl und Gas.

Die größten Anteile hat hier Italien mit seinem zu einem Drittel in Staatsbesitz befindlichen Petrokonzern Eni und den aus längst vergangener Zeit glücklich herübergeretteten und periodisch erneuerten Sonderbeziehungen zu seiner Ex-Kolonie Libyen. [5] Den nahezu kompletten Einbruch der libyschen Öl- und Gasproduktion in den Monaten des Krieges gegen Gaddafi haben Eni und all die anderen umtriebigen Konzerne zwar noch nicht vollständig, aber zu großen Teilen wettgemacht. [6] Produktionsausfälle und -schwankungen gibt es freilich angesichts der ungeordneten Gewaltverhältnisse immer wieder, durch Zerstörungen an Anlagen, aufgeschobene Reparaturen und Erneuerungen usw., was sich in der Gesamtbilanz in den entsprechenden Grafiken mit ihren auffällig unruhigen Kurven deutlich niederschlägt. Die in Bezug auf diese Kurven feinfühligen Manager von Eni und anderen Öl- und Gas-Kapitalen können darum nicht genauso feinfühlig sein, wenn es um die Methoden geht, die eigenen Geschäfte im Lande zu sichern, und um die „Ansprechpartner“, die sie sich dafür vor Ort suchen. Als solche kommen eigentlich alle Ganoven infrage, die Waffen und Mannschaften genug haben, um den technischen Ablauf von Exploration, Förderung, Transport und Verarbeitung des Öls und Gases zu stören, was im Prinzip damit zusammenfällt, dass sie all das in Reichweite ihrer Gewalt auch halbwegs sichern können, wenn sie mit genügend Geld dafür bezahlt werden. Allen voran Eni arrangiert auf diese Weise sein Geschäft und arrangiert sich mit der Lage, das heißt auch mit den jeweiligen Milizen, die mal da, mal dort die Oberhand gewinnen, mal als Abteilung der offiziellen Schutztruppen, mal gleich ganz offen auf eigene Rechnung. Da der Konzern die entscheidende Geldquelle jeder Gewalt ist, ist ihrerseits jede Miliz, die einer anderen die Bewachung eines Ölfelds abkämpft, schon bei der Übernahme daran interessiert, nicht gleich alles zu Klump zu hauen, sondern möglichst bald wieder in Betrieb nehmen zu lassen. All das summiert sich für Eni wie für seine Konkurrenten zu routiniert ausgerechneten und verbuchten Zusatzkosten. [7] Die können all diese Konzerne einigermaßen frei kalkulieren, weil sie als global agierende Unternehmen auf Libyen keineswegs so angewiesen sind wie umgekehrt die Libyer auf ihre Gelder. Diese einseitige Abhängigkeit der permanent kriegerisch um ihre Behauptung und selbst um ihre Existenz kämpfenden libyschen Ansprech- und Geschäftspartner sorgt auf ihrer Seite für eine Bescheidenheit in der Preisfrage, die – zusammen mit den anderen entscheidenden Kostenvorteilen durch die spezielle Qualität des libyschen Erdöls, die geringen technischen Schwierigkeiten der Förderung und für Eni die erfreulich kurze Entfernung ins italienische Stammland [8] – in den Kalkulationen der Ölkonzerne die eigentümlichen Zusatzkosten noch allemal aufwiegt.

In dieser herausfordernden Lage können sich Italiens Eni, Frankreichs Total, Spaniens Repsol und Konsorten darauf verlassen, dass sie bei ihren wichtigen und durch die unfriedlichen Zustände in Libyen bleibend unsicheren Beiträgen zur nationalen Energieversorgung von den staatlichen Energie- und Sicherheitsfunktionären gebührend unterstützt werden. Die Sicherung ihrer Geschäfte ist politisches Anliegen jeder Regierung in Rom, Paris und Madrid. Das gilt vor allem beim Umgang mit den wechselnden politischen Führern in der libyschen Hauptstadt, deren es zwischenzeitlich zwei gibt. Die Scheidelinie zwischen „international anerkannt“ und „selbsternannt“, an der alle offiziell festhalten, markiert jedenfalls nicht die Grenze, an der man, was die Anbahnung, Ausgestaltung und Sicherung von Geschäften des je eigenen Ölmultis anbelangt, von Staatsseite aus Halt macht. Zumindest inoffiziell kommen nicht nur die Energiemanager, sondern auch die Energiepolitiker mit allen libyschen Seiten ins Geschäft; auf wen es da jeweils vor allem ankommt, lassen sie sich entsprechend mitteilen. [9] Vor der größten anzunehmenden Katastrophe haben sie ihre in Libyen profitabel tätigen nationalen Petrokapitale so bis dato allemal bewahrt: Jedweden Übergriff der ortsansässigen Regenten auf das heilige Eigentum von Eni, Total et al. haben die Mutterländer streng verboten und fordern von jedem, der wo auch immer in Libyen mit ihrem Segen herrschen will, sich daran zu halten. [10] So wie die fürs Libyen-Geschäft verantwortlichen Konzernmanager wissen sich also auch die in der Sache tätigen Außenpolitiker zu arrangieren, wenn es die Lage geboten erscheinen lässt, und verhandeln erpresserisch mit allen Figuren vor Ort reihum und gleichzeitig, schon allein deshalb, weil die bis weit in den Süden liegenden libyschen Ölquellen sich in aller Regel im Einzugsbereich anderer Milizen und Koalitionen befinden als die küstennahen Raffinerien und die Umschlag- und Pumpstationen für die Verbringung von Öl und Gas außer Landes. [11]

Auch das nach den Usancen des Weltmarkts zum Petrohandel fest gehörende Recycling der Tantiemen lebt – zum Teil trotz, zum Teil wegen der umkämpften Verhältnisse in Libyen – schon seit längerem wieder auf. [12] Europäische Außenwirtschafts- und Sicherheitspolitiker tun das Ihre, um sich und ihre nationalen Industriegiganten als Aufbauhelfer für ein schönes neues Libyen in Stellung zu bringen. Dass der Aufbau, um den es dabei geht, sich in aller Regel darum dreht, mit entsprechend bemessenen Investitionen den technischen Zugriff auf die libyschen Bodenschätze auszuweiten und zu vervollkommnen, liegt dabei ebenso auf der Hand wie die sehr einträgliche Rolle, die der im Lande auf allen Seiten enorme Bedarf nach Waffen jeder Art und Wucht spielt. Um entsprechende Liefer-, Handels-, Rüstungs- und Investitionsabkommen kümmern sich italienische, französische, spanische ... Politiker rührend, verknüpfen im Rahmen ihrer erpresserischen Deals mit der bzw. den libyschen Gegenseite(n) das eine offen mit dem anderen und sind flexibel, wenn es um die Frage geht, mit welchen dritten oder vierten Interessenten sie dabei kooperieren.

So viel steht also mittlerweile fest: Auf die Etablierung einer wirklichen Staatsgewalt brauchen die alteingesessenen europäischen Handelsnationen und ihre Kapitale nicht zu warten, um die libyschen Kohlenwasserstoffvorkommen und die im Gegenzug fließenden Milliarden dauerhaft ihrer natürlichen Bestimmung zukommen zu lassen. Noch nicht einmal die zum staatskapitalistischen Kommerz gehörende Konkurrenz um Explorations- und Förderkonzessionen, Beteiligungen und dergleichen geben dessen Agenten auf, bloß weil ein irgendwie geartetes Äquivalent zur zerstörten Staatlichkeit von Gaddafis Libyen noch nicht zu haben ist. [13] Dass sie mit den unter die Kombattanten vor Ort verteilten Tantiemen, Tributen und Schutzgeldern deren zerstörerische, jeden Staatsaufbau verhindernde Auseinandersetzungen materiell befeuern, wissen sie und kalkulieren sie ein – die einen als Kosten, die anderen als Unkosten, die zwar unschön, also in der Perspektive aufgeräumter Verhältnisse in Libyen zu eliminieren, aber einstweilen zu zahlen sind für ein strategisches Geschäft, das auf jeden Fall sein soll.

b) Flüchtlingsabwehr

Auch die Bearbeitung ihres Flüchtlingsproblems mit Libyen überlassen die dafür in Europas Hauptstädten Zuständigen nicht den Konjunkturen der Machtkämpfe in Libyen, sondern widmen sich ihr gemäß der von ihnen national unterschiedlich definierten Dringlichkeit. Das sorgt zusammen damit, wie sie ihre Union in dieser Frage überhaupt organisiert haben, dafür, dass es hauptsächlich den Italienern überlassen bleibt, die europäische Flüchtlingsabwehr zum Schutz des heiligen italienischen Bodens und Volkes vor dem Elendsstrom zu organisieren, der vor allem in Italien anlandet.

Die im Prinzip funktionierende Zusammenarbeit mit Gaddafi in dieser Frage war mit dessen Sturz kaputt, stattdessen haben die das Land unter sich aufteilenden Milizen die Zahlungsbereitschaft der Migranten für Schlepperdienste als Verdienstquelle entdeckt, die sich unkompliziert mit anderen Arten des Einkommens aus Benzin-, Waffen-, Drogen- und sonstigem Schmuggel usw. kombinieren lässt. Die damit einreißenden Zustände erklären die europäischen Staaten unisono für untragbar, praktisch machen sie diese zum Problem Italiens. Dessen Innenminister Marco Minniti – als ehemaliger italienischer Geheimdienstkoordinator für Libyen mit der Lage und den Akteuren in Libyen bestens vertraut und vernetzt – setzt mit dem nach ihm benannten Abkommen 2017 genau da an und verwandelt die von ihm, seinem Amt gemäß, so definierte Ursache des Problems zum wichtigsten Hebel seiner Lösung: Wenn sich die Milizen mit und ohne Uniform zum Zwecke des Gelderwerbs als Flüchtlingshelfer betätigen, dann muss man sie eben einfach nur besser bezahlen und entsprechend ausrüsten, damit sie fürs Gegenteil aktiv werden. Im Rahmen des Minniti- und anderer Abkommen fließen seitdem dreistellige Millionenbeträge, werden Land- und Wasserfahrzeuge, Kommunikationsgerätschaften etc. zur Verfügung gestellt und die zu Lande und auf dem Wasser tätigen Mannschaften von Italienern ausgebildet.

In vorbildlicher Umsetzung realpolitischer Maximen wurde das Abkommen gleich mit den an der libyschen Südgrenze hausenden, miteinander rivalisierenden Stämmen geschlossen. Für die Abwehr der Flüchtlinge, die es doch bis an die Küste oder sogar aufs Meer schaffen, gibt es analoge Vereinbarungen, förmlich mit der offiziellen Mannschaft in Tripolis, in der Praxis läuft die Umsetzung aber großenteils mit den Ortsvorstehern an der Küste. Auch die EU findet sich bereit, in diesem Sinne tätig zu werden – auf ganz offiziellen Wegen versteht sich, nur im Verhältnis mit der GNA und unter Einhaltung aller verlogenen Floskeln erkennt sie mit den entsprechenden Geldbeträgen aus Brüssel und dem Einsatz der europäischen Grenzschutztruppe Frontex Italiens Flüchtlingsabschottung als Beitrag zur europäischen Grenzsicherung an. Italien sorgt seither dafür, dass der Großteil der Flüchtlinge gar nicht erst das Festland verlassen kann und der größte Teil des kleinen Rests, der das doch schafft, verlässlich abgefangen wird, bevor er europäische – italienische oder maltesische – Territorialgewässer bzw. die den jeweiligen Nationen zugeordneten Rettungszonen erreicht: Nach Inkrafttreten des Abkommens 2017 ist die Anzahl der in Italien anlandenden Flüchtlinge von zuvor über 100 000 pro Jahr auf einen Bruchteil gesunken.

Freilich gibt es auch hier Friktionen und Konjunkturen, die allesamt mit der absurden libyschen Ökonomie der Gewalt zu tun haben. Am schmerzlichsten macht sich hier bemerkbar, dass trotz der schönen Abschottungsabkommen mit einem Teil der dafür wichtigen Milizen die Flüchtlingsströme zwischenzeitlich doch wieder spürbar zunehmen, schlicht aus dem Grund, dass ein erfolgreich vermitteltes Waffenstillstandsabkommen zwischen den beiden libyschen Hauptkontrahenten einen erheblichen Teil der von ihnen bezahlten Banden arbeitslos macht und sie dazu anstiftet, zwecks Kompensation das Geschäft mit der Schlepperei wiederzubeleben. Machtlos ausgeliefert sind die EU und ihre italienische Grenzschutzspeerspitze zwar auch diesem Treiben nicht,[14] aber insgesamt beweist doch auch dieses Feld realpolitischer Interessenverfolgung, dass ein soliderer Zugriff auf geordnete staatliche Verhältnisse nicht auf Dauer bloßes Wunschdenken bleiben darf.

c) Terrorabwehr

Das gilt auch und noch viel mehr für die Abwehr der anderen unliebsamen Konsequenz des libyschen Staatszerfalls.

In der Abteilung Terrorismusbekämpfung betätigt sich vor allem Frankreich, das als ehemalige Kolonialmacht und mit seiner heutigen massiven politischen und ökonomischen Präsenz im Maghreb und in der arabischen Levante sowie mit einer ziemlich großen, ziemlich elenden arabisch-muslimischen Minderheit im eigenen Land das europäische Hauptziel des islamistischen Terrors darstellt. Und da gilt einerseits: Was zur Eindämmung dieser Gefahr zu tun ist, unternimmt Frankreich, und von irgendwelchen geschriebenen Regeln oder ungeschriebenen, aber deutlichen Interessen und Ansprüchen anderer lässt es sich dabei nicht groß abhalten. Auch hierfür werden Verbündete mit den beiden wichtigsten Mitteln Geld und Waffen gesucht und gefunden, und darüber hinaus wird das eigene Militär eingesetzt, wenn man sich auf die käuflichen Handlanger nicht verlassen will. Auf die auch von ihm mit aus der Taufe gehobene und als einzige legitime usw... anerkannte GNA will sich Frankreich von deren Gründung an schon nicht verlassen; die immer wieder namhaft gemachte Nähe der Truppe in Tripolis zu islamistischen Eiferern mit Hang zu antiwestlichem und antifranzösischem Aktivismus bestätigt den französischen Strategen die Richtigkeit ihrer Entscheidung, den ehemaligen Gaddafi-Militär Haftar mit seiner antiislamistischen Ausrichtung zum Erfüllungsgehilfen für ihre weit gesteckten Sicherheitskalkulationen zu machen, indem sie ihn militärisch und finanziell unterstützen, auch wenn das zur offiziellen Linie der EU und den Interessen Italiens und anderer Partner in Europa gar nicht passt.

Andererseits steht den Franzosen aber gerade auf diesem Feld deutlich vor Augen, dass sie sich mit diesem Stand der Dinge eben doch nicht zufriedengeben dürfen. Das ist ihnen schon aus dem Grunde klar, dass sie den Raum für ihren Antiterrorismus und für ihre Interessen an Libyen per se auf Libyen gar nicht beschränken: Spätestens wenn es um „Sicherheit“ für Frankreich in Libyen geht, wandert der Blick von Libyen aus gleich weiter auf alle Staaten ringsum – und von denen aus zurück nach Libyen, um dort eine Unordnung zu entdecken, mit der zwar umzugehen, die aber letztlich nicht zu dulden ist. [15]

Und das gilt im Prinzip, wie gesagt, auch für die beiden großen anderen europäischen Anliegen in und an Libyen, die Rohstoff- und die Flüchtlingsfrage: So unumgänglich und durchaus auch nutzbringend das Arrangement mit der Staatsruine und den um sie kämpfenden Banden ist, eine Herrschaft, die wirklich über das Land regiert und dabei auf Europas Ansagen hört, bleibt nötig und darum im Programm.

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In beiden Hinsichten lässt sich auch die deutsche Macht nicht lumpen, die sehr viel Wert auf den Schein legt, sie sei – anders als alle anderen – in Libyen vor allem aus den höheren Gründen einer schönen, staatlich geordneten Zukunft fürs libysche Volk und eines friedlichen Ausgleichs aller berechtigten Interessen an Libyen engagiert.

Erstens bezieht auch Deutschland einen Teil seines Öls aus Libyen – aber nicht in so großen Mengen wie Italien oder Spanien. Was da energiepolitisch geboten und geschäftlich lohnend erscheint, sichert sich Deutschland dadurch, dass es sich an der im Wesentlichen von Italien und Frankreich aufrechterhaltenen und abgesicherten Öl-Kriegswirtschaft beteiligt, und wenn deren Output zwischendurch immer wieder einmal an den Gegensätzen der streitenden Parteien leidet, dann hält sich für Deutschland der Schaden in überschaubaren Grenzen. [16] Zweitens definiert auch Deutschland Libyen als Hotspot des gewalttätigen internationalen Islamismus – aber nicht im Rahmen eines militant zu führenden „Kriegs gegen den Terror“ wie Frankreich. Seinen dadurch tangierten Sicherheitsinteressen kommt der Antiterror-Krieg Frankreichs – und Amerikas – zugute, und auf geheimdienstlicher und militärischer Ebene leisten die damit betrauten deutschen Organe ihre von den Partnern geschätzten Beiträge. Drittens betrachtet bekanntlich auch Deutschland die Tatsache, dass Libyen einen bedeutenden Sammel- und Transitpunkt für die Flüchtlingsströme aus Süden darstellt, als Problem für sich – aber nicht in der Dringlichkeit wie die südeuropäischen Mittelmeeranrainer. Was dies anbelangt, findet sich Deutschland in der schönen Situation, dass Italien et al. aus rein nationalem Grenzschutzinteresse auch den großen Partner nördlich der Alpen automatisch vor der Plage beschützen, die das mobile menschliche Elend nach allen gültigen Rechnungen für die zivilisierten europäischen Nationen darstellt; für das, was es dafür an europäischer Unterfütterung in materieller, diplomatischer und rechtlicher Form braucht, macht sich auch Deutschland stark, soweit es diese für angebracht hält.

Und auch Deutschland lässt es nicht dabei bewenden, unter den gegebenen Umständen und unter Ausnutzung des Wirkens von Frankreich und Italien auf den einschlägigen drei Feldern seine Interessen zu sichern: Wie diese beiden europäischen Partner besteht es darauf, dass es in Libyen, also vor der gemeinsamen europäischen Haustür, bei den unordentlichen, umkämpften, darum für die eigenen Interessen stets prekären Verhältnissen nicht bleiben darf.

2. Europas ambitionierte Mächte bestehen auf ihrer exklusiven Zuständigkeits- und Weisungskompetenz

Darum werden alle Formen, sich innerhalb der unbeherrschten Kriegslage die Erfüllung der unmittelbar drängenden Anliegen zu sichern, von den europäischen Mächten zugleich als Hebel dafür eingesetzt, es bei diesen unordentlichen Verhältnissen nicht auf Dauer zu belassen, sondern Libyen eine Ordnung zu verpassen, die es überhaupt erst zu ihrem Besitzstand macht, mit dem und von dem aus sich noch ganz anders ökonomisch und politisch wirtschaften lässt.

a) Politische und rechtliche Vorgaben für die innerlibyschen Auseinandersetzungen …

Das gilt, wenig verwunderlich, wiederum in der Hauptsache für Öl und Gas und die ziemlich großen Geldsummen, die im Zusammenhang mit deren Förderung und Abtransport fließen. Ihr zahlungskräftiges Interesse an diesen Rohstoffen betrachten und benutzen die europäischen Abnehmer darum immer auch als Hebel dafür, die auf diese Gelder angewiesenen libyschen Parteien aus dem allseitigen Kampf um die Tantiemen heraus- und in eine geordnete, auf Öleinnahmen fußende, so eigenständig wie berechenbar funktionierende Staatlichkeit hineinzubugsieren. Dazu dient den europäischen Staaten die nach dem Sturz Gaddafis unbeirrt weiterbetriebene kommerzielle Aneignung der libyschen Bodenschätze einschließlich der Vorgaben dafür, über welche Institutionen und Verfahren das Öl- und Gasgeschäft verbindlich abzulaufen hat. Ihre Geschäfte schließen die internationalen Konzerne bzw. staatlichen Vertreter des Auslands mit der in Tripolis ansässigen, förmlich der GNA unterstehenden NOC ab, in Form von Beteiligungen an Erschließungsprojekten oder anteiligen Geldzahlungen für den geförderten Stoff. Die so erzielten Revenuen zahlt die NOC dann an die Zentralbank (Central Bank of Libya – CBL), die sie an die dafür vorgesehenen Ministerien, regionalen und örtlichen Organe und Sachwalter des Staates weiterreicht. Bewirken soll das die Orientierung aller auf die Ölgelder erpichten Subjekte im Land auf die Zentrale in Tripolis, was der Ausgangspunkt dafür sein soll, dass dieser Zentrale als Verwalterin des entscheidenden Stoffes für jegliches Interesse im Lande automatisch die Rolle der anerkannten Instanz keineswegs bloß für die Verteilung der Ölrevenuen, sondern damit auch für die verbindlichen Vorgaben hinsichtlich deren Verwendung zuwächst. Das Ideal ist, dass schlicht der einseitig auf die Konten der NOC gerichtete Zahlungsstrom des Auslands, also das materielle Außenverhältnis der diesem Institut vorstehenden GNA den Status der anerkannten nationalen Machtzentrale verschaffen soll, an der vorbei zu wirtschaften nicht nur verboten ist, sondern tatsächlich unterbleibt. An der sollen sich die sie und einander bekämpfenden Kräfte im Land darum auch institutionell beteiligen. Die exklusive materielle Ausstattung der Zentrale in Tripolis und ihre ungeteilte politische Anerkennung von außen soll den Clan-, Stammes- und Regionalführern als alternativlose Notwendigkeit einleuchten, sich positiv auf sie zu beziehen, also sich in einen „Prozess“ einbinden zu lassen, an dessen Ende ein sauber von oben durchregierender Zentralstaat steht. Dafür machen sich die Europäer seit Jahren zu den Vorreitern eines von der UNO legitimierten und angeleiteten „Friedensprozesses“. Der hat bisher dafür gesorgt, dass unter Verschleiß mehrerer UN-Sondergesandter immer wieder aufs Neue „Einheits-“, „Übergangs-“ usw. -Regierungen ausgerufen, Verfassungskommissionen gebildet worden sind usf. Und schließlich sind sogar die Libyer als Volk schon zu den Wahlurnen gebeten worden, um sie per Stimmabgabe in ein positives Verhältnis zu einem Zentralstaat zu setzen, der dadurch zur Autorität über sie werden soll, der sie weder auskommen können noch wollen. Sodass die Europäer in dieser Instanz perspektivisch über ein Gegenüber verfügen, das einseitig von ihnen abhängig, für alle ihre Vorgaben also brauchbar ist und dabei im Lande so unangefochten regiert, dass auf die Erfüllung aller zugesicherten Dienste Verlass ist.

Analoges gilt für die Praxis der Neuformierung der relevanten bewaffneten Kräfte vor Ort zur Schutztruppe europäischer Grenzen vor Flüchtlingen. Auch das betreiben die Europäer nicht einfach nach den fälligen Opportunitätserwägungen bezüglich der Frage, wie die einzelnen verfeindeten Kräfte dafür am besten einzuspannen seien. Sie bestehen zugleich darauf, dass im Prinzip alles seine Ordnung hat – wiederum mit der Perspektive, dass die Verpflichtung der libyschen Beteiligten auf die von EU und UN vorgesehenen Verfahren und Institutionen langfristig dafür sorgt, dass sich der unhandliche Stammes- und Milizenmaterialismus daran hält und so im Innern anerkannte und von außen verlässlich ansprechbare gesamtlibysche Sicherheits- und sonstige Institutionen entstehen. Mitten in der libyschen Barbarei unterscheiden die auswärtigen Mächte zwischen den Milizen, die der Regierung in Tripolis zwar nicht unterstehen, aber von ihr bezahlt werden, daher „offizielle“ Kräfte des Grenz- und Küstenschutzes sind, und bloßen Milizen, die dasselbe tun, aber „illegal“. Die Internierungslager für Migranten in der libyschen Wüste, die ebenfalls in Auftragsarbeit von örtlichen Milizen betrieben und wegen der guten Bezahlung aus Tripolis ähnlich wie Ölfelder immer wieder zum Gegenstand bewaffneter Auseinandersetzungen werden, tun zwar ihren Dienst für die europäische Abschottungspolitik. Aber die EU besteht auch hier auf ihrem höheren Standpunkt, indem sie den offiziellen Betreibern einen Katalog von Standards vorhält, der einzuhalten sei, und regelmäßig offene oder verdeckte Inspektionen durchführt. Die beweisen zwar stets, dass da überhaupt nichts eingehalten wird, aber so liefern sie das Material dafür, dem in Tripolis residierenden offiziellen Oberhausherrn über alle KZ-ähnlichen Zustände[17] diplomatische Vorhaltungen zu machen, ihm also seine nachrangige Rolle gegenüber der EU und deren sehr vorbehaltliche Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit ihm vorzuführen.

Sogar diejenigen, die ihr Geld weiter mit Schlepperei verdienen, werden nicht einfach so bekämpft oder bestochen, sondern bekommen bei hartnäckigem Fehlverhalten allen Ernstes Strafanzeigen und Haftbefehle und werden bei Interpol zur Fahndung ausgeschrieben. Dass im Zuge des von ihr finanzierten Bestechungsprogramms der GNA für ehemalige Schlepperbanden inzwischen solche von Interpol wegen Menschenschmuggels und anderer Kapitalverbrechen gesuchten Unholde als uniformierte Angehörige der libyschen Küstenwache de facto im Solde der EU stehen, ist offiziell als Schönheitsfehler der gewünschten Kooperation anerkannt und sorgt, wenn schon für sonst nichts, so doch dafür, dass es die juristischen und moralischen Unkosten der guten Sache vergrößert, die Europa aber tapfer trägt. [18] So ergeht es auch dem Minniti-Pakt: Den nutzen zwar faktisch alle europäischen Staaten aus, weil er ihr Interesse an einem weit auf den afrikanischen Kontinent vorgeschobenen EU-Grenzschutz bedient, aber sie sind es sich – je nach nationaler Interessenlage und Konkurrenz mit Italien – schuldig, ihn zugleich als Pakt der Schande zu verurteilen und daran auch nach Belieben den Hang Italiens zu Alleingängen und die mangelnde europäische Werteorientierung mancher italienischer Regierungsparteien zu brandmarken. Die politische Perspektive für den Umgang mit diesem Stück autonom italienischer Realpolitik steht damit gleichfalls fest: Die EU bemüht sich ihrerseits um Abkommen mit den unmittelbaren und mittelbaren südlichen Nachbarstaaten Libyens – Mali, Niger, Tschad –, um das rechtlich und moralisch zweifelhafte und vor allem praktisch nur bedingt verlässliche Konstrukt der Italiener durch echte zwischenstaatliche Verträge überflüssig zu machen, die im besten Fall gleich noch dazu geeignet sind, nicht nur Libyen zu „stabilisieren“, sondern den Zugriff auf den Rest der Sahara und des Sahel zu optimieren. [19]

Auch für ihre Frontex stellt die EU detaillierte operative Regeln auf, die sie streng in Einklang mit internationalem humanitärem und Seerecht definiert, womit sie die Legitimität ihres Anspruchs demonstriert, Libyen als vorgeschobenen Grenzschutzstreifen Europas zu behandeln. Dafür mutet sie ihren Frontex-Leuten so manche Umständlichkeit zu, insbesondere was die erlaubte bzw. nicht erlaubte Koordination mit libyschen „Stellen“ anbelangt. Dass die Frontex-Beamten Methoden dafür suchen und finden, den Legalitätsanforderungen und dem Auftrag in der Sache zu genügen, und nach den allfälligen Kollisionen mit eindeutiger Priorisierung ihre routinierten Dementis ausspucken, [20] ändert nichts an dem hier ins Absurde gehenden, gleichwohl ernsthaften Anspruch der Europäer, dass sie mit Libyen einen nur einstweilen noch gestörten Fall für ihren rechtmäßigen und rechtsförmigen Zu- und Durchgriff vor sich haben, den sie von oben herab zu einem Staatswesen nach ihrem Bilde und zu ihrem Nutzen ordnen müssen und können.

Auch ihr eigenes als „Kampf gegen den Terror“ definiertes und damit schon hinreichend legitimiertes Eingreifen auf libyschem Territorium ordnen die Franzosen in den überwölbenden selbst erteilten Auftrag ein, Libyen zu einem funktionierenden Staat unter ihrer dort und international gefälligst anzuerkennenden Fuchtel zu machen, was ebenfalls nicht ohne Widersprüche zu haben ist. Denn praktisch heißt das einerseits, dass alle Aktionen, die sich außerhalb offizieller Regeln und Mandate bewegen, heimlich stattfinden, was dann peinlich ist, wenn sie auffliegen. [21] Andererseits, und das wiegt dann doch ein wenig schwerer, steht die offizielle französische Rolle als UN-Sicherheitsrats- und damit Garantiemacht der GNA in eklatantem – von den lieben europäischen Partnern je nach Bedarf nüchtern namhaft gemachten oder empört an die große Glocke gehängten – Gegensatz dazu, dass Frankreich den als säkularen Strong Man rubrizierten General Haftar in Ostlibyen unterstützt, der offen den Anspruch der international offiziell als Regierung Gesamtlibyens anerkannten westlibyschen GNA auf die Herrschaft über das ganze Land und seine im Ausland zu Geld zu machenden Reichtümer bestreitet.

Zugleich ist dessen Aufstieg einer der deutlichsten Beweise dafür, dass die von den Europäern je nach nationalen Prioritäten betriebene Doppellinie von tätigem Arrangement mit der Milizenkriegslage und dem dessen ungeachtet aufrechterhaltenen Anspruch auf einen endlich wieder geordnet funktionierenden Vasallenstaat in mehr als einer unerwünschten Hinsicht dann doch sehr wirkungsvoll ist.

b) … und ihre Wirkung: Verallgemeinerung und Politisierung aller Gegensätze im Land

Den „Frieden“ und die „nationale Einheit“, die Europa brauchen kann, hat diese doppelbödige Politik in Libyen zwar nicht gestiftet, aber ein Datum ist den großen und kleinen libyschen Rivalen um Anteile an der etwas anderen Art von politischer Rentenökonomie auf jeden Fall gesetzt, und auf das stellen sie sich – gemäß beschränkten oder weitergehenden Mitteln und Ambitionen – auch ein. Damit ist definitiv so einiges an „Orientierung“ aller kämpfenden Seiten Richtung Tripolis bewirkt, wenn auch nicht so, wie von Europa aus geplant.

Insbesondere die zumindest halbwegs durchgesetzte Monopolisierung der Petro-Geldströme aus dem Ausland hat – freilich neben anderen sich anbietenden Umgangsweisen [22] – dafür gesorgt, dass der für sich unpolitische Kampf der gegeneinander aufgestellten bzw. miteinander koalierenden Fraktionen sich darauf richtet, an den zentral verteilten Geldern teilzuhaben. Ihre ‚Autonomie‘ gegenüber der offiziellen Ölverwaltung samt angehängten Regierungsinstanzen und militärischen -kräften ergänzen sie daher um Bestrebungen, Teile der offiziellen Geldflüsse auf sich zu lenken, wofür es zwei einander ergänzende wie gegeneinander abzuwägende Methoden gibt: bezahlte Dienstleistungen für die mit den internationalen Interessens- und Aufsichtsinstanzen kooperierende GNA und die Beteiligung an deren Institutionen. Gerade Letzteres macht den eigenen, auch offen gegen die GNA gerichteten Gewaltgebrauch – ganz anders als von Europa vorgesehen – aber keineswegs überflüssig, sondern stellt dafür einen eigenen Anreiz dar. Denn nur die Potenz, sich in Tripolis störend bemerkbar zu machen, sorgt dafür, bei der Ausgestaltung von Verfahren und Institutionen und deren personeller Besetzung berücksichtigt zu werden. Und in dem Maße, wie dies gelingt, verfügt man nicht nur überhaupt über eine Einnahmequelle für seinen regional und / oder „clan-“ bzw. „stammesmäßig“ definierten Sprengel, sondern über eine aus dem zentralen Topf gespeiste und wegen ihres „offiziellen“ Charakters sogar vergleichsweise reichlich und verlässlich sprudelnde, was die eigenen gewaltsam untermauerten Ansprüche auf Teile vom großen Ganzen vermehrt. Neue Koalitionen, um die dafür nötige Wucht aufzubringen, sind die Folge. Und über das Verhältnis zur international exklusiv anerkannten Zentrale geraten nunmehr auch Stämme und Gruppen aneinander, die vorher wenig oder nichts miteinander zu tun hatten.

Auf der Basis lassen sich diese Mannschaften auch als Handlanger für einen gegen die GNA gerichteten Ehrgeiz einkaufen, der sich von dem nicht erlahmenden europäischen Bemühen in Sachen des libyschen ‚Nation-Building‘ hat wecken lassen und der sich darauf richtet, die von außen anerkannte, installierte und alimentierte Machtzentrale vollends zu übernehmen oder zu ersetzen. Diese Ambition verfolgt vom Osten des Landes her besagter Ex- und wieder General Haftar. Der demonstriert seinen Anspruch auf die ganze politische und ökonomische Beute dadurch, dass er die von ihm zusammengekaufte Allianz von Stammesmilizen auf den Namen Libyan National Army tauft und neulich in Libyan Arab Armed Forces umbenennt. Und er praktiziert ihn, indem er eine in Nord-Süd-Richtung das ganze Land teilende Front eröffnet und sich auch auf Schlichtungsangebote nicht einlässt, die von Versprechen auf einen größeren Anteil Ostlibyens an den von den internationalen Ölkapitalen auf die Konten der in Westlibyen gelegenen Regierung mit ihrer NOC und CBL fließenden Geldern begleitet werden. Er kann ja glaubhaft damit drohen und er macht zwischendurch die Drohung wahr, den Westlibyern die fast komplett auf seiner Seite der Front gelegenen Ölquellen abzudrehen. Nicht zuletzt dies macht Haftar wichtig genug für potente auswärtige Geldgeber, sodass er zusätzlich zu der von ihm erzwungenen Beteiligung an den über Tripolis organisierten Geldströmen noch über materielle Mittel in ganz anderen Dimensionen verfügen kann. So kommt insgesamt die kritische Masse dafür zustande, die vielen Scharmützel im Land zu einem veritablen Krieg gegen ebendiese Zentrale zusammenzufassen, der dann doch so etwas wie ein bisschen Übersichtlichkeit in die Wüstenlandschaft bringt: Westlibysche „Regierung“ unter dem vom Westen in den Sattel gehobenen as-Sarraj mit ihren Milizen [23] versus ostlibysche „Gegenregierung“ unter Haftar mit den seinen. Deren Großkonfrontation eskaliert zwischenzeitlich zu einem Gemetzel neuer Intensität im ganzen Land, einschließlich der damit wie üblich einhergehenden humanitären Katastrophen und einer Schlacht um die Hauptstadt. Das blamiert erneut den europäischen Anspruch auf ein in den überkommenen Grenzen einheitlich nach ihren Vorgaben regiertes Libyen und stellt darum die Europäer, die von diesem Verlangen freilich nicht einen Moment Abstand nehmen, neu vor die alten Fragen.

Die Antworten, die sie finden, entsprechen ihren unterschiedlich gelagerten Interessen in und an Libyen und damit auch der Konkurrenz, die sie untereinander führen, folgen also in unterschiedlichen Varianten stur dem gleichen, bisher schon gepflegten Prinzip: Beides soll sein – die Sicherung der unaufschiebbaren Interessen in Öl-, Flüchtlings- und Terrorfragen, die das Arrangement mit der Lage vor Ort notwendig macht, und der „Friedens-“ und „Versöhnungsprozess“ unter europäischer Aufsicht und Anleitung. Frankreich, das auf dem Primat seines autonomen Krieges gegen den islamistischen Terror vor allen anderen Fragen besteht, ist zwar inoffiziell, aber offensichtlich einer der wichtigsten Unterstützer für Haftar, der sich und ein von ihm beherrschtes Libyen als Garant für dieses Anliegen in Szene setzt. Seinem imperialistischen Anspruch auf den Status der wichtigsten Regelungs- und Aufsichtsmacht über Libyen ist Frankreich gleichwohl schuldig, die Legitimität fürs Regieren über Libyen und sein Öl weiterhin ausschließlich der GNA zuzuerkennen – was für Haftar ein gewichtiger Grund dafür ist, sich nicht auf französische Patronage allein zu verlassen, sondern sich gleichzeitig nach Kräften um andere Sponsoren und Schutzmächte zu kümmern. Die jedermann bekannte französische Kooperation mit dem erklärten Feind der GNA macht umgekehrt dieser Truppe in Tripolis und den Mitaufsichtsmächten klar, dass Frankreichs Festhalten an der offiziellen, in diversen UN-Resolutionen und Konferenzdokumenten paraphierten Alleinvertreterschaft der GNA für ganz Libyen kein Anspruch ist, den diese einklagen könnte, sondern ein Akt französischer Freiheit bleibt. Das bildet wiederum für die Westlibyer den bleibenden Stachel dafür, ihre Geschicke nicht bloß von den den UN-Prozess dominierenden EU-Mächten abhängig zu machen, sondern sich außereuropäische Paten- und Garantiemächte gewogen zu machen und zu halten. Den europäischen Gegenpol zu Frankreich bildet Italien. Das kooperiert mit der westlibyschen Regierungsmannschaft in den ihm wichtigen Angelegenheiten eines gesicherten Ölgeschäfts und einer dauerhaft kontrollierten Flüchtlingsabwehr und tritt daher als Hauptanwalt für die unteilbare Legitimität dieser ‚Partner‘ auf, womit es auch seine Kompetenz demonstriert, in diesem Sinne in Libyen für Ordnung zu sorgen, egal wie weit es damit on the ground tatsächlich her ist. Dabei beherrscht auch Italien so viel Realismus, dass es an den Stellen, wo es das für unerlässlich hält, mit dem einstweilen unhintergehbaren Haftar zusammenarbeitet, damit der von ihm dominierte Teil Libyens italienischer Kontrolle nicht vollends entgleitet. Gerade mit dieser Doppelgleisigkeit vermehrt auch Italien bei beiden großen Lagern in Libyen den Bedarf nach außereuropäischer Unterstützung und Rückendeckung. [24]

Auf dieses französisch-italienische Treiben und dessen Konsequenzen bezieht sich Deutschland und findet dabei zu seiner ganz speziellen Variante des für alle Europäer einschlägigen Nebeneinanders aus realpolitischem Opportunismus gegenüber den ‚libyschen Gegebenheiten‘ und anspruchsvollem Insistieren auf deren Überführung in eine solide geordnete, verlässlich adressierbare libysche Staatlichkeit: Neben der Abarbeitung seiner unmittelbaren Interessen, für die es sich sehr weitgehend auf die viel massiver involvierten Partner verlässt, stellt sich Deutschland von oben herab distanziert zu deren Ordnungsbemühungen. Wo ihm diese nötig und nützlich erscheinen, unterstützt es sie mit seinem politischen Gewicht, macht sich für die Deckungsgleichheit von UN-legitimierter libyscher Ordnungs- und europäischer Nachbarschaftspolitik stark und sorgt dafür, dass auch die EU als eigenes politisches, mit reichlichen Haushaltsmitteln ausgestattetes Subjekt gebührend zur Geltung kommt. Zugleich werden französische bzw. italienische „Alleingänge“ kritisiert; die für alle geltende Verpflichtung auf europäische bzw. internationale Einigung wird angemahnt, und wenn es die italienischen Grenzschutzorgane oder französische Spezialeinheiten bei ihrem Kampf gegen die Flüchtlinge resp. Terroristen an der Einhaltung der Verfahrensvorschriften fehlen lassen, dann sind deutsche Politiker offensiv empört. So bestreitet Deutschland diesen beiden wichtigen EU-Mächten den Anspruch auf europäische Richtlinienkompetenz (dies vor allem in Bezug auf Frankreich) bzw. auf innereuropäische Gleichrangigkeit (in Richtung Italien), den sie bezüglich Libyen mit ihrem Ordnungsengagement verbinden. In dem Gegensatz zwischen Frankreich und Italien, in den sich die beiden Mächte im Laufe der letzten zehn Jahre in den Fragen der Ordnungskompetenz für Libyen und der Definitionsmacht innerhalb der EU hineingewirtschaftet haben, verweigert Deutschland daher jede einseitige Parteinahme und trägt – als ökonomisch und politisch mächtigste Macht der Union – auf seine Weise dazu bei, dass dieser Streit unentschieden bleibt und samt allen zersetzenden Konsequenzen für Libyen immer weiter ausgetragen wird.

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So sorgen die Europäer mit ihren teils konzertierten, teils konkurrierenden Strategien, zugunsten ihrer konkreten Interessen und ihrer weitergehenden Ordnungsansprüche auf das shithole country einzuwirken, das sie aus dem Gaddafi-Staat gemacht haben, mit dafür, dass das Objekt dieser Politik der für sie unhandliche bis heikle Verhau bleibt. Anfang 2021 sorgt die Verstärkung der üblichen Manöver mit Geld und Ministerposten für eine neue Vermittlung zwischen der GNA und der Haftar-Mannschaft, in deren Resultat unter Beteiligung aller Kontrahenten aus der GNA eine GNU zusammengeschustert wird. Auch das läuft, was wirklichen Frieden und dauerhafte Stabilität angeht, absehbar auf kein anderes Ergebnis hinaus, wie auch. Und während die europäischen Aufsichtsmächte ihre sperrigen libyschen Ansprechpartner zu nunmehr wirklicher und ernsthafter Kooperation beim „Wiederaufbau Libyens“ mahnen, erinnern sie einander daran, dass die Grundvoraussetzung dafür, dass sich alles zum Guten – d.i. zum Nutz und Frommen Europas – wendet, die europäische Solidarität sei, die es endlich über die konkurrierenden Interessen an dem Wüstenstaat zu stellen gelte. Sie haben’s nötig.

Nicht nur, weil sie wissen, dass sie es untereinander mit dem Gegenteil halten. Sondern weil sie an allen Stellen und auf allen Ebenen ihres Einwirkens auf die südostmediterrane Wüstenei darauf gestoßen werden, dass sie zusammen mit den dauerhaft nicht auf Dienst nach Vorschrift zu verpflichtenden libyschen Freiheitshelden kein bisschen allein, sondern Teil einer Mächtekonstellation sind, an der sich ihr unverdrossen betriebener auswärtiger Ordnungsidealismus nunmehr schon seit einem Jahrzehnt bricht.

III. Multilaterale Rivalitäten neuer Art

Mit der Entmachtung Gaddafis und dem von ihnen dirigierten Nachkriegsprozess wollten die Europäer mit Frankreich an der Spitze sich den exklusiv-oberhoheitlichen Zugriff auf Libyen verschaffen und auf Dauer gegen alle anderen relevanten Mächte sichern, nicht zuletzt durch die UN-offizielle Anerkennung ihrer seit 2011 periodisch erneuerten und dabei fortlaufend neu definierten Libyen-Missionen. Tatsächlich haben sie alte Rivalen und neue Emporkömmlinge mit beidem dazu ermuntert, in und an Libyen ihre strategischen Ambitionen zu verfolgen. Der Grund dafür ist, dass in einer Hinsicht eine – wiederum insbesondere von Frankreich – schon lang gehegte Vorstellung wahr geworden ist; allerdings anders und mit anderen Resultaten als gedacht.

Die Rede ist davon, dass die USA die Mittelmeergegend überhaupt und auch ihren libyschen Abschnitt inzwischen als Region von vergleichsweise geringer strategischer Bedeutung für sich behandeln. An der geografischen Tatsache, dass das Mittelmeer die südliche Begrenzung der angestammten europäischen NATO-Landmasse ist, hat sich zwar nichts geändert. Nur hat dieses Faktum die Rolle des Gesichtspunkts eingebüßt, der lange Zeit entscheidend war und nicht weniger als einen geostrategischen Herrschaftsanspruch darstellte. Von dem aus war das Gewässer zuallererst Manövrierraum der NATO-Anrainer; zusammen mit ein paar weiteren interessanten Eigenschaften – Öl gibt es da in relevanten Mengen und in der Südostecke befindet sich mit dem Suezkanal ein Nadelöhr der christlichen und anderweitigen Seefahrt – ergab das den Status einer Region vitalen Interesses der USA. Die machten sich darum auch dort zur indispensable nation, d.h. alle Affären zwischen ortsansässigen Gewaltsubjekten zum Objekt ihrer Ordnungsvorgaben, und schritten immer dann zu praktischen, die Autorität Amerikas betreffenden Klarstellungen, wenn sie diese Vorgaben in nicht zu duldender Art missachtet sahen. Diese Zeiten sind nun schon eine ganze Weile vorbei.

Im Jahr 2011 zeigte sich die Herabstufung der Gegend innerhalb der Hierarchie amerikanischer Geostrategie zunächst daran, dass die Obama-Administration den Sturz Gaddafis von sich aus nicht als Recht Amerikas reklamieren, also nicht zur weltpolitischen Auftragslage für alle anderen machen wollte. Das Hauptproblem Amerikas mit Libyen – dessen Bemühung um eine autonome atomare Abschreckungswaffe – hatte sich mit Gaddafis offiziellem Verzicht auf Atom- und andere Massenvernichtungswaffen sowie den zugehörigen Demonstrationen politischer Verständigungsbereitschaft erledigt. [25] Die französischen Vorstöße, einen Krieg gegen Libyen zum geteilten Anliegen der westlichen Menschenrechtsmächte zu erheben, ließ die Weltmacht darum eine ganze Weile ins Leere laufen. Ihrer Führung reichte dann der erst diplomatisch und später militärisch durchgeführte Beweis, dass die französische Ambition, vor der eigenen Haustür einen Ordnungskrieg im Stile Amerikas, aber emanzipiert von dessen alles dominierender Führung anzuzetteln und durchzuziehen, sich nur blamieren kann. Dafür hielt sich Amerika in jeder Hinsicht und zu jedem Zeitpunkt immer so weit zurück, dass die französisch-europäische Unfähigkeit, selbständig einen kriegerischen Regime-Change in der eigenen Einflusszone durchzuführen, ausreichend klargestellt wurde; und es engagierte sich diplomatisch und militärisch stets so weit, dass umgekehrt eine Chance für den übrig gebliebenen Antiimperialisten Gaddafi, den auch Amerika dann doch lieber gestürzt als weiter an der Macht sehen wollte, oder für einen Erfolg der Einsprüche der antiwestlichen Rivalen Russland und China zu keiner Zeit bestand. [26]

Seither macht sich dieser Status relativierter Bedeutung der Mittelmeerregion für die globalstrategischen Kalkulationen Amerikas darin geltend, dass die USA noch unter Obama auf jeden konstruktiv, geschweige denn verbindlich gemeinten politischen Beitrag zu der Frage verzichten, wie eine angemessene Ordnung für das neue Libyen auszusehen habe. Sein Nachfolger Trump weiß dann endgültig nicht mehr, was our boys in der Region zu suchen haben, wohingegen er umso sicherer weiß, dass deren Einsätze immer vom amerikanischen taxpayer viel zu teuer bezahlt werden. Die einzige praktische Ansage, die Amerika zu machen hat, besteht darin, dass selbstverständlich auch von dem in den Status eines failed state gebombten Libyen keine Terrorgefahr für Amerika ausgehen darf – und für die Umsetzung dieses Gebots macht sich die Weltmacht weder von irgendeiner ‚Entwicklung‘ in Libyen abhängig noch vom Stand der Kooperationsbereitschaft oder -unwilligkeit der dort engagierten staatlichen Mächte; das erledigen die dafür zuständigen US-Militärs und Geheimdienste schon ganz allein; was sie dafür an Zusammenarbeit brauchen, organisieren sie, und die Konsequenzen ihrer Terroristenhatz per Drohne oder Spezialeinheiten gehen sie einfach nichts an.

Das generelle Desinteresse der USA am Verfall Libyens und das dem geschuldete Unterscheidungsvermögen zwischen den vielen Sachen, die für die Weltmacht unwichtig, und den paar Angelegenheiten, die allenfalls von – in der Regel negativer – Bedeutung sind, stellen die entscheidende allgemeine Prämisse für die Gewaltverhältnisse in Libyen und für alles äußere Einwirken auf Libyen dar – das bekommen die Europäer zu spüren: in der negativen Weise nämlich, dass der praktische Rückzug Amerikas auf den Standpunkt des Vorbehalts, unter den sie jede Entwicklung dort gleichwohl stellen, ihrem regionalen Auftritt den Charakter raubt, ein Stück exekutierter westlicher Weltherrschaft zu sein, gegen die keine andere Macht der Welt ankommt. Das heißt positiv, dass eine Reihe von Staaten sich erstmals oder in neuer Weise dazu herausgefordert sieht, Libyen zum Gegenstand eigener Ambitionen zu machen, die sie nicht per se an der zwingenden Übermacht der von den USA angeführten westlichen Allianz zu relativieren brauchen. Es wirft in der Folge ein weiteres bezeichnendes Licht auf diese Welt, wie schnell da ein halbes oder ganzes Dutzend zu allerlei Zerstörungstaten wild entschlossener und dazu bestens gerüsteter Mächte auf der Matte steht, um per Intervention in die libysche Verwüstung alte Rechnungen zu begleichen oder auch gänzlich neue zu eröffnen.

1. Arabische Mächte mutieren zu Subjekten rivalisierender regionalstrategischer Ambitionen und machen Libyen zu deren Schauplatz

Die libysche wie alle anderen Varianten der 2011 im Westen „Arabischer Frühling“ getauften Protestbewegungen ruft die mit westlichem Geld und Rüstungsgut vollgepumpten Ölmonarchien am Arabischen Golf auf den Plan.

In der Bestreitung von Gaddafis Macht über Libyen entdecken sie die willkommene Gelegenheit, einen ewigen Störenfried innerhalb ihres arabisch-islamischen Staatenklubs loszuwerden. Der war ihnen jahrzehntelang ein Dorn im Auge, weil er seine Herrschaft über ein bisschen arabischen Boden samt wenig Volk darauf und viel Öl darunter dem Projekt eines mit Petrodollars finanzierten Antiamerikanismus widmete, mit dem er nicht nur sein Volk beglückte, sondern hinter dem er die arabischen Massen überhaupt versammeln wollte. Das brachte ihn in Gegensatz zu den Ölmonarchien, den er entschlossen aufnahm. Diese Herrscherhäuser waren – mit noch weniger Volk und noch mehr Öl gesegnet – mit der Rolle als willige Öllieferanten lange Zeit sturzzufrieden, von der sie ökonomisch prächtig lebten, und ihre begrenzten Sicherheitsbelange sahen sie bei den westlichen Vormächten ebenfalls lange Zeit gut aufgehoben. Ihren außenpolitischen Kurs als Vasallen des Westens bekämpfte Gaddafi darum genauso heftig wie ihre monarchischen Herrschaftsformen und die damit verbundenen dynastischen und religiösen Legitimationsansprüche. Der libysche Revolutionsführer hetzte gegen den Proamerikanismus der Ölmonarchien genauso wie gegen ihre feudalen inneren Verhältnisse und ihre reaktionären Sitten, die er mal mehr an den Idealen des Arabischen Sozialismus, mal mehr an der Tradition des Beduinentums oder an seiner Auslegung des Islam blamierte. Der alles zusammenfassende, unter stolzen Arabern schärfstmögliche Vorwurf, den er ihnen machte, war der der Kollaboration mit den USA und damit mit dem zionistischen Erzfeind Israel [27] – und er führte den so angesprochenen arabischen Massen auch praktisch vor, was die gebotene und durchaus machbare Alternative war: Offensiv und ostentativ unterstützte er radikale Palästinenserfraktionen, bündelte – teilweise durch förmliche staatliche Vereinigungen, die nie lange hielten – mit anderen sozialistischen Regimes von Algerien über Syrien bis Jemen und legte sich zusammen mit denen oder im Alleingang auch und gerade mit den übermächtigen USA an. Dafür rüstete Gaddafi sein Land vor allem mit sowjetischen Waffen aus und nahm sich sogar den Aufstieg Libyens zur autonomen Atommacht vor, was – solange er dieses Programm betrieb – nicht nur der wichtigste Anklagepunkt der USA gegen Gaddafi, sondern auch die ernsthafteste Form der Bedrohung des Herrschaftsanspruchs der proamerikanischen Ölmonarchien war. Auch wenn Gaddafi seine besten antiamerikanischen und antimonarchistischen Zeiten 2011 schon eine Weile hinter sich und auch sein Atomprogramm da schon komplett eingemottet hat – gekündigt, geschweige denn vergessen ist der überkommene Gegensatz seines libyschen „Volksmassen-Sozialismus“ zu den Königen, Prinzen und Emiren von der Arabischen Halbinsel von keiner Seite.

Also betätigen sich Staaten wie Katar, die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) und Saudi-Arabien seit Beginn der Unruhen 2011 auf der Seite der Scharfmacher gegen den verhassten libyschen „Revolutionsführer“, der zu ihrer größten Genugtuung zum Jagdobjekt der bewaffneten „Volksmassen“ wird, die sie gegen ihn aufhetzen. Aber vor allem: Dabei belassen sie es angesichts der von Europa initiierten Entmachtung unter der neuen von Amerika gesetzten Prämisse nicht. Diesen, zunächst ganz von anderen, größeren Mächten gesetzten Umständen entnehmen einige dieser jahrzehntelang weltpolitisch und vor allem in Kriegsfragen abstinenten Mächte die Gelegenheit zu einem völlig neuen Auftritt: Sie trauen sich erstmals, selbst militärisch zu intervenieren – zwar an der Seite der westlichen Kriegsmächte und im Rahmen der Koalition der von denen aus der Taufe gehobenen Freunde Libyens, aber unübersehbar nicht als Hilfssheriffs für westliche Kriegsziele, sondern als Vollstrecker in eigener Sache. Diesen weit außerhalb ihrer Staatsgrenzen gelegenen Teil der „arabischen Welt“ machen sie so zum Objekt ihrer neu gefassten Ansprüche auf die Definitions-, Kontroll- und Exekutionshoheit in Sachen arabisch-islamischer good governance. Die exekutieren sie, wie es sich gehört: Mit dem Einsatz ihrer über die Jahre erworbenen, inzwischen beachtlichen Fähigkeiten, vor allem ihrer Luftwaffen im Rahmen der NATO-Kampagne 2011 gehen insbesondere Katar und die VAE voran und von der Scheckbuch-Beteiligung an westlichen Kriegen – wie noch 1991 und 2003 gegen Irak oder in den 1990ern auf dem Balkan – zu eigener Kriegsführung über, die ihren Teil zu Gaddafis schnellem Ende beiträgt. Und auch dabei machen sie nicht Halt.

Kaum ist der alte Herrscher über Libyen gestürzt, ‚stellt sich‘, stellen nämlich alle interessierten Mächte einander die ‚Frage‘, wer von da an das Regiment über das Land übernehmen soll. In diese Auseinandersetzung mischen sich die arabischen Kriegsmächte selbstbewusst ein – wie selbstbewusst, das zeigt sich vor allem daran, dass sie keine Scheu haben, sie gegeneinander auszutragen: Sie machen Libyen in der Folge zum Schauplatz ihrer internen Konkurrenz darum, wer von ihnen die von ihnen allen beanspruchte Großregion vom arabischen Mittelmeer bis zum Golf als Vormacht dominiert. Den einen entscheidenden Gesichts- und Ansatzpunkt für diese strategische Konkurrenz liefert ihnen die zu ihrer Art von Herrschaft gehörende, immer heikle Frage nach der islamischen Legitimität ihres heimischen und des von da aus zu exportierenden Regiments. Der eine Hauptexponent dieses autochthonen Streits ist die saudische Dynastie, die über den nach ihr benannten Teil Arabiens und damit über ein ansehnliches Territorium mit gigantischen Erdölvorräten herrscht. Mit ihrer öldollargefütterten Herrschaft über die zentralen Heiligtümer des Islam, die sie im Namen aller Muslims behütet, und mit ihrer ultrastrengen Religionsauslegung, die sie sich von einer eigenen dynastischen Sippschaft von Rechtsgelehrten vorgeben lässt, beansprucht sie die Identität von erstens ihrer Hoheit über diese Landmasse, zweitens der Art, wie sie diese Hoheit ausübt, als restlos gottgewollt und drittens ihrer Führerschaft über die arabische und islamische Welt. Damit trifft sie auf so manche fromme Gegnerschaft; die überall in der arabischen Welt aktiven Muslimbrüder mit ihrer entschieden antidynastischen Variante von Islam gehören dazu. [28] Die haben in Katar ihren staatlichen Hauptsponsor. Dieser Zwergstaat hat sich an seiner Rolle als einer der größten Erdgasexporteure der Welt finanziell und militärisch in einem Umfang gemästet, dass sich dessen Führung inzwischen mit der von Saudi-Arabien beanspruchten Führungsrolle überall in der arabisch-islamischen Welt anlegt. Diesen entlang von Spielarten des Islamismus ausgetragenen strategischen Vorherrschaftsstreit tragen Katar einerseits und die Koalition um Saudi-Arabien mit den VAE als effektiv hochgerüsteter Speerspitze andererseits selbstbewusst nach Libyen und tragen ihn dort seit zehn Jahren aus. Mit der Machtübernahme der Muslimbrüder im mit Libyen benachbarten Ägypten eskaliert diese bewaffnet ausgetragene Konkurrenz noch einmal deutlich. Die verfeindeten arabischen Seiten treiben die Spaltung Libyens zwischen dem Westen des Landes, der von der GNA formell regiert, von Muslimbrüdern und mit ihnen verbündeten Islamisten dominiert wird, und dem Osten unter Haftar voran, den Saudi-Arabien und die VAE als Verbündeten gegen Katar und die Muslimbrüder ausstatten. Nachdem die kurze Regierungszeit der Muslimbrüder in Kairo mit viel auswärtiger Obstruktion und ein paar Massakern der Armee unter ihrem Oberbefehlshaber as-Sisi beendet ist, zählt auch Ägypten zur Koalition um Saudi-Arabien. As-Sisi erklärt die Verhinderung der Machtübernahme der Katar-Schützlinge in Libyen zur Frage der nationalen Sicherheit Ägyptens, wird entsprechend unterstützerisch tätig und droht auch mit einem offenen Einmarsch der ägyptischen Armee in Libyen. Den immer wieder neu hergestellten Zwischenständen ihrer Konfrontation entnehmen die arabischen Kontrahenten vor allem eines: die Notwendigkeit ebenso wie die Freiheit, Libyen immer noch gründlicher ihrem Gegensatz zu unterwerfen. Katar aufseiten der GNA und die VAE auf der Gegenseite sind die inzwischen mit zweistelligen Milliardensummen engagierten, größten Finanzsponsoren des jeweiligen Lagers und haben ihre libyschen Protegés in Besitz auch moderneren und größeren Schießgeräts gebracht als alles, worüber der unterdrückerische Oberst Gaddafi jemals verfügte. Die VAE verstärken mit den Jahren auch ihr eigenes militärisches Engagement, vor allem im Bereich der Luftstreitkräfte bzw. Luftverteidigung, und führen inzwischen relativ selbständig einen Drohnenkrieg, der in Umfang und Intensität nur noch von der Türkei getoppt wird.

Auf das Treiben dieser – von ihnen aus gesehen nach wie vor minderwertigen – Mächte reagieren die Europäer in der gleichen anspruchsvoll-uneindeutigen Art, mit der sie ihren libyschen failed state überhaupt bearbeiten: Italien kooperiert sehr weitgehend mit Katar auf der Seite der GNA, Frankreich erweitert seine ohnehin massive Militärzusammenarbeit mit seinem besten Rüstungskunden VAE um die gemeinsame Unterstützung für Haftar, was zu allerlei hässlichen Vorwürfen, die europäische Solidarität betreffend, Anlass bietet. Die ist aber nicht bloß der verlogene Titel ihrer Konkurrenz, sondern in dem Sinne tatsächlich auch ein Anliegen, als keine der EU-Mächte von dem Anspruch abrückt, dass die Lenkungs- und Leitungshoheit über das Kriegs- und Nachkriegsgeschehen eigentlich ausschließlich in ihre Hände gehört. Neben ihrer Konkurrenz gegeneinander, die sie an der Seite ihrer neuen oder auch nicht so neuen arabischen Alliierten führen, betreiben Italien, Frankreich und auch die EU als ganze den Versuch, mit einem bei der UNO durchgebrachten, mit diversen „Missionen“ zur Überwachung versehenen Waffenembargo die Kontrolle über die Gewaltlage in Libyen wiederzuerlangen. Das Embargo wiederum ist, was das offizielle Mandat zu seiner Überwachung und Erzwingung angeht, ein einziges großes Schlupfloch, und zu dessen wirklicher und das Kriegsgeschehen wirksam beeinflussender Durchsetzung finden sich die Europäer erst recht nicht bereit. Zugleich wahren sie den ihren übergeordneten Ansprüchen geschuldeten Schein, indem sie die anrüchigen Abteilungen ihrer Kooperation mit den arabischen Verbündeten wenigstens nicht ganz offiziell betreiben, usw. [29]

An einem Punkt wird Frankreich aber plötzlich doch ernsthaft, was die Erzwingung der international vereinbarten Liefersperre für Waffen nach Libyen anbelangt: als ein türkisches Schiff verdächtigt wird, Kriegsgerät für die GNA-Milizen nach Libyen zu bringen. Das liegt, so viel wird und so viel stellt Frankreich klar, eindeutig am Absender. Das Waffenembargo wird für Frankreich zum Stoff dafür, den Gegensatz zur Türkei in Bezug auf die strategischen Macht- und Besitzverhältnisse im östlichen Mittelmeer voranzutreiben, den diese ihrerseits aktiv betreibt.

2. Die Türkei betreibt an Libyen ihren strategischen Unvereinbarkeitsbeschluss mit dem europäischen Vormachtanspruch übers Mittelmeer

Für die Türkei ist Libyen – zusammen mit Syrien – das wichtigste Feld für ihren Anspruch auf Größe und strategische Mitbestimmung in der Nachbarschaft.

Den Krieg gegen Libyen setzt Frankreich 2011 gegen den vehementen Einspruch und zum massiven ökonomischen Schaden der Türkei auf die Tagesordnung. [30] Dem französischen Kriegswillen versucht sie zunächst die Spitze zu nehmen, indem sie Gaddafi zu Verhandlungen mit der Opposition zu bewegen versucht, damit der einen Abgang hinbekommt, der den erreichten Stand der Zurichtung Libyens für türkische Interessen nicht gefährdet. [31] Sehr schnell wird klar, dass sich Frankreich zusammen mit den bis dahin um sich gescharten Koalitionären nicht, schon gar nicht von der Türkei, von seinem Krieg abbringen lässt. Also schickt sich die Türkei ins Unvermeidliche, beteiligt sich an der kriegerischen Entmachtung Gaddafis und verfolgt von da an das Programm, durch massive Präsenz vor Ort wenigstens die weitere Ausrichtung des neuen Libyen mitzubestimmen. Strategische Orientierung und legitimatorischer Titel dafür liegen im islamistischen Staatsprogramm der AKP Erdoğans fertig vor, mit dem sich die Türkei in Ost und West als moderne Vorbild- und Vormacht praktisch betätigt und ideologisch anpreist. Damit mischt sie sich seit geraumer Zeit schon zum einen in den entlang der Varianten islamischen guten Regierens sortierten innerislamisch-arabischen Machtkampf auf der Seite der Muslimbrüder und Katars ein; zum anderen stinkt sie gegen den Ausgrenzungs- und Unterordnungsanspruch Frankreichs an, [32] den dieses als europäische Linie fürs „Mare Nostrum“ verankern will. In Libyen macht sich die Türkei daher als wuchtiger Teil der westlibyschen Allianz mit der GNA, Italien und Katar zum erbittertsten Gegner Frankreichs und seiner Partner.

Dabei macht sich für die Türkei die in Amerikas Rückzug liegende Prämisse in der Form geltend, dass ihre NATO-Mitgliedschaft sie vor keinen französischen bzw. französisch initiierten Feindseligkeiten anderer westlicher Staaten schützt, aber eben auch, dass sie sehr weitgehend ihren antifranzösischen Kurs verfolgen kann, ohne mit Amerika zu kollidieren, der einzigen westlichen Macht, von der sie sich noch beeindrucken lässt. Der Zerfall des als NATO weiterexistierenden westlichen Bündnisses kommt auf diese Weise im Mittelmeer ein gutes Stück voran, denn beide Seiten verknüpfen ihr feindseliges Ringen auf dem innerlibyschen Schlachtfeld mit dem Ringen um die strategische Dominanz im östlichen Mittelmeer, was den überkommenen, praktisch geltenden Schein der zivilen Verbindlichkeit der Abmachungen über Seegrenzen, Nutzungsrechte im Mittelmeer und die Institutionen und Verfahren zur Austragung und Beilegung von Streitereien ziemlich gründlich auflöst. Die Türkei schließt einen Vertrag mit der GNA über die gemeinsamen Seegrenzen, der ihr das Recht auf große Erdgasfelder zuspricht, und macht dafür umfangreiche militärische und ökonomische Zusagen an die GNA, die sich davon nicht zuletzt eine neue Stärke gegenüber ihren westlichen Vormunden verspricht. Das rührt prompt – was beabsichtigt ist – den Streit um die Hoheitsrechte in der Ägäis auf, der spätestens damit nicht mehr auf die Türkei, Griechenland und Zypern beschränkt ist. Frankreich erklärt sich umgehend zum Schutzpatron aller Nationen, die es als von der türkischen Expansionspolitik betroffen definiert, also aller anderen Anrainer des östlichen Mittelmeers, und zur Schutzmacht des internationalen Seerechts. Mit diesem selbsterteilten Mandat schließt es ein informelles Bündnis mit anderen Anrainermächten, beginnt eine Militärzusammenarbeit mit dem NATO-Partner Griechenland und mit Zypern innerhalb, aber vor allem auch außerhalb der NATO-Strukturen und lässt nach Zusammenstößen seiner mit der türkischen Marine vor Libyen seinen Außenminister andeuten, dass ein Rausschmiss der Türkei aus der NATO kein Ding der Unmöglichkeit ist. Auf dem Höhepunkt ihrer Konfrontation, die von der libyschen Küste bis in die Ägäis reicht und bis an eine unmittelbare militärische Auseinandersetzung heranreicht, lassen sich beide Seiten auf eine Vermittlung durch Deutschland ein, das den Kontrahenten die Frage aufdrängt, wie viel ihnen ihr Grundsatzstreit am konkreten Objekt wert ist, was die Sache dann tatsächlich entschärft – bis zur nächsten Eskalation.

Für die Frontstellung in Libyen entscheidend ist aber die Tatsache, dass dort noch eine Macht auftritt, die mit ihren Manövern an jeder Eskalation und Deeskalation mitwirkt und ihrerseits den europäischen Anspruch auf die alleinige Oberhoheit über libyschen Krieg und Frieden bestreitet.

3. Russland pflanzt sich als unhintergehbare Macht ins libysche Kriegsgeschehen, um die Berücksichtigung seiner Interessen dort und seines Machtstatus überhaupt zu erzwingen

Von noch ganz anderer Warte aus und mit anderen Perspektiven als die arabischen Mächte und als die Türkei macht Russland das libysche „Chaos“ zu seiner Sache und damit sich zu einer wichtigen Bestimmungsmacht darüber.

Der westliche Krieg gegen Gaddafi bringt Russland um einen Verbündeten, kostet es vertraglich paraphierte und eingeplante zivile und militärische Exporteinnahmen in zweistelliger Milliardenhöhe, [33] zerstört die Perspektive einer mit Gaddafi 2008 vereinbarten ständigen russischen Marinepräsenz in Libyen und vergrößert mit dem Aufwind, den Islamisten unterschiedlicher Provenienz im Zuge des Sturzes von Gaddafi erfahren, auch für Russland die Gefahr, die es vom internationalen islamistischen Terror für sich ausgehen sieht, weil dessen Aktivisten Russland umstandslos in die Abteilung gottlos-westlicher, also mit allen Mitteln zu bekämpfender Mächte einordnen. Vor allem aber führt ihm das von Frankreich angeführte Kriegsunternehmen vor, dass Europa in seinem Mittelmeer keinen Platz für eine strategische Präsenz Russlands oder für die Berücksichtigung von dessen Einsprüchen sieht und das Mittelmeer zu seinem russenfreien Vorfeld zu machen gedenkt: Es scheitern sämtliche russischen Versuche, mit begrenzter Kooperation bei der Verurteilung der innerlibyschen Gewalt zwischen Gaddafi und Gaddafi-Gegnern im UN-Sicherheitsrat zu verhindern, dass die Westmächte die innerlibysche Konfrontation zum Auftakt und die UN-Resolution zum offiziellen Titel für einen Regime-Change machen. Damit sieht Russland zusätzlich zu und jenseits von jedem ökonomischen und militärischen Schaden im Einzelnen, den es mit der Zerstörung Libyens durch die NATO und ihre arabischen Alliierten erleidet, einmal mehr sich düpiert: als globale Macht, die – mit dem weltweit zweitgrößten Atomarsenal ausgestattet und mit der förmlichen Anerkennung als eine von fünf ständigen Sicherheitsratsmächten versehen – bei den wichtigen Gewaltfragen auf der Welt Augenhöhe mit den USA beansprucht und darum von Europa entsprechenden Respekt verlangt.

Gründe, es dabei nicht bewenden zu lassen, sind für die russische Großmacht damit hinreichend vorhanden – ihr Führer kritisiert seine Beschwichtigungspolitik gegenüber den kriegsversessenen Westmächten und Konsorten als Fehler [34] und schreitet zur Revision der hergestellten Lage. Auch die russische Führung preist die neue Stellung Amerikas zu dieser Weltgegend bei ihrem Vorgehen ein, mit dem sie die verletzten russischen Interessen an Libyen reparieren und Russland darüber hinaus den generellen Respekt verschaffen will, den ihm die westlichen Mächte von sich aus verweigern. Dafür und so baut sich Russland im Mittelmeer neu auf und greift in Libyen ein: 2013 wird eine ständige Marine-Task-Force „Mittelmeer“ aktiviert. Deren erster Einsatzschwerpunkt ist Syrien, das Russland mit einer direkten militärischen Intervention, die den Sturz seines letzten verbleibenden Bündnispartners Assad verhindert, zum ersten Schauplatz seiner nunmehr belehrten Außenpolitik macht. Dies dient ihm als Auftakt und Basis dafür, auch ins libysche Kriegsgeschehen einzugreifen – an der Art, wie es das tut und wie es seine militärischen Aktionen diplomatisch begleitet, wird kenntlich, welche weltpolitisch übergeordneten Zwecke Russland neben seinen Interessen da fest im Blick hat und permanent gegeneinander abwägt.

Entlang der Front zwischen islamistisch unterwanderter bzw. dominierter West- und mehr säkularer Ost-Libyen-Fraktion interveniert es aufseiten Haftars und macht damit diese Frontlinie endgültig zu derjenigen, die das Kriegsgeschehen bestimmt. Auf der anderen Seite der Front begegnen die Russen immer deutlicher der Türkei als Hauptmacht, und darauf stellen sie sich in doppelter Hinsicht ein: Zum einen bemessen sie ihren Einsatz daran, dass der Türkei und ihren Verbündeten zumindest verwehrt bleibt, die Konfrontation zugunsten der westlibyschen GNA auf dem Schlachtfeld zu entscheiden; militärisch bleibt Russland dabei noch stets weit von der Grenze seiner Eskalationspotenzen entfernt, und die Allianz mit den zahlungskräftigen, für ihre Zwecke entschlossen eintretenden VAE & Co relativiert die leidige Preisfrage für Russland erheblich, erhöht also von dieser Seite her seine Handlungsfreiheit. Zum anderen testet Russland permanent aus, inwieweit sich die Türkei angesichts schwindender Perspektiven eines wirklichen Sieges zu einem Arrangement nötigen lässt. Analog zu ihrem Auftritt in Syrien ergänzen beide Mächte ihre teils direkte, zum größten Teil durch heimisches oder importiertes Kanonenfutter betriebene Konfrontation um die wechselseitige Anerkennung als ernstzunehmende Kriegs- und also Nachkriegs- und Friedensmächte, die sie von Amerika sowieso und auch von Europa nicht erhalten.

Insofern ist das russische Interesse an der Figur Haftar eine relative Angelegenheit – entscheidend ist für Russland nicht dessen erfolgreiche Durchsetzung in ganz Libyen, sondern die Sicherstellung des russischen Einflusses auf Libyen, egal von wem genau und von welcher „Hauptstadt“ aus es regiert wird.[35] Wenn es die Verständigung mit der Türkei vorteilhaft erscheinen lässt, wird die militärische Unterstützung für Haftar ein bisschen – oder ein bisschen mehr – eingeschränkt; und umgekehrt. Auch der Einsatz der „Gruppe Wagner“ tut da seinen Dienst – so wie stets, wenn anspruchsvolle Mächte auf der Freiheit bestehen, sich per Einsatz Private Military Contractors oder einer Légion étrangère distanziert zu dem Krieg zu stellen, den sie selber gerade führen: Diese Söldnertruppe ist einer der militärischen Hebel, die Russland ansetzt, um sich für alle anderen kriegführenden Mächte unhintergehbar in Libyen aufzubauen; es verschafft und erhält sich so die Freiheit der militärischen Abwägung, den Krieg entweder weiter zu eskalieren oder den Preis für zu hoch zu befinden; und sich je nach diplomatischer Kalkulation von den Glanztaten dieser Truppe zu distanzieren und Vorwürfe in Bezug auf diese an sich abperlen zu lassen.

Freilich ist auch die Türkei nicht der letzte entscheidende Adressat der russischen Bemühungen – der demonstrative Charakter, mit dem Russland seinem türkischen Gegenpart die Ehre des Verhandlungspartners erweist, zielt immer auch auf die Europäer. Denen wird auf diese Weise die doppelte Botschaft übermittelt, dass sie sich ohne eine Einigung mit Russland die von ihnen angemaßte Rolle des Dirigenten, Platzanweisers und Schiedsrichters fürs libysche Schlachtfeld abschminken können und dass umgekehrt mit Russland durchaus ins Geschäft zu kommen ist, wenn sie ihm endlich den Status der unbedingt zu berücksichtigenden Mitregelungsmacht zugestehen. Von daher ist es den inzwischen imperialistisch gut geschulten Russen kein Problem, zeitgleich einen Stellvertreterkrieg mit der Türkei zu führen, mit ihr unter demonstrativem Ausschluss der Europäer und ansonsten mit viel Trara eine Gipfeldiplomatie zu zelebrieren und parallel dazu den türkeifeindlichen Franzosen in Aussicht zu stellen, bei der Lösung ihres Türkei-Problems ein bisschen behilflich zu sein, wenn sie nur einsehen, dass sie die fixe Idee eines Mittelmeers als russenfreies „Mare Nostrum“ Europas aufgeben. Dass eine solche Perspektive für Russland ganz und gar nicht tragbar ist, hat wiederum seinen letzten Grund nicht in den bedingt aussichts- und erfolgreichen französischen Vorstößen in diese Richtung, sondern liegt am ganz großen Kontext, in den Russland – auch – das Mittelmeer und das Gezerre um Libyen stellt: Gegen Amerika ringt Russland um den Respekt als zweite Weltmacht. Den verweigert die erste Weltmacht, deren Führungen sich fortgesetzt darum bemühen, Russland militärisch zu erdrücken – mit immer neuen Rüstungsanstrengungen und geostrategischen Einschnürungsinitiativen. Die Verhinderung der Möglichkeit, dass Amerika innerhalb dieser Auseinandersetzung auf dem global höchsten Niveau unter Zuhilfenahme europäischer Hinterhofordnungsansprüche das Mittelmeer zur Aufmarschbasis gegen Russland macht, ist für Russland der ganz übergeordnete Gesichtspunkt und Zweck seiner Einmischung in den „Libyen-Konflikt“.

*

Mit diesem doppelten und dreifachen Bezug auf Libyen ist die Weltmacht Russland ersichtlich nicht allein. Alle dort aktiven Mächte, je weiter oben sie sich selbst in der Hierarchie der Staaten einordnen, umso mehr, kämpfen an Libyen nicht nur ihre dort angesiedelten Interessen und ihre darauf bezogenen Ordnungsvorstellungen aus, sondern haben es längst zum Stoff für Auseinandersetzungen gemacht, die mit Libyen exakt so viel oder wenig zu tun haben, wie die betreffenden Mächte es sich angelegen sein lassen, sie eben auch an diesem Land auszutragen.

Auf der Ebene und in dem Sinn bringt sich auch Deutschland ins Spiel, das sich die militärische Einmischung in Libyen erspart, mit Ermahnungen der Art Gewalt kein Mittel ... und die völkerrechtlichen Institutionen ..., reihum an alle Beteiligten, aber sein politisches Interesse an dem Streitfall unüberhörbar geltend macht. In der Welt der Diplomatie stehen solche Stellungnahmen generell für den Anspruch auf übergeordnete Regelungskompetenz; Manöver wie die Inszenierung einer Libyen-Konferenz in Berlin, die alle Streitparteien an einem deutschen Tisch versammelt, verlangen von den Eingeladenen einen Respektserweis vor diesem Anspruch, der allein schon durch die Teilnahme erbracht, durch den diplomatischen Rang der entsandten Delegierten freilich zugleich relativiert wird. Speziell markiert Deutschland auf die Art unter anderem eine zurückhaltende Absage an den Anspruch des unverzichtbaren EU-Partners Frankreich, am Fall Libyen für die Union eine imperialistische Linie vorzugeben, nämlich die Strategie für die Indienstnahme des Mittelmeerraums und zugleich darüber hinaus Perspektiven europäischer Weltordnungspolitik überhaupt zu definieren. Insoweit liegt die Bedeutung der deutschen Libyen-Diplomatie in dem Dauerstreit zwischen den Führungsmächten der EU um den Vorrang in Sachen Richtlinienkompetenz, zu dem sie nicht mehr und nicht weniger als ein Beitrag ist. Im Allgemeinen ist sie – gleichfalls – nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein Schritt im zähen Unterfangen deutscher Weltpolitik, die ökonomische Weltmacht, über die die Nation, speziell als Hauptnutznießer und maßgeblicher Gestalter der EU und Garant ihrer Einheitswährung, unbestreitbar verfügt, weltpolitisch wirksam werden zu lassen: im Respekt vor – gerne als moralische Belehrungen vorgetragenen – Machtworten aus Berlin, den zu versagen kleine wie größere Mächte sich nicht leisten können.

Auch für Großbritannien – um diesen Antreiber im damaligen Anti-Gaddafi-Bombenkrieg auch noch zu würdigen – hat Libyen als Nebenschauplatz im Ringen um respektierte Weltordnungsmacht eine gewisse Bedeutung behalten. Um kriegerische Einmischung, mit der London sich zum maßgeblichen Friedensstifter qualifizieren könnte, ist es der britischen Atom- und UN-Sicherheitsratsmacht ersichtlich nicht zu tun, aber schon um die Aufrechterhaltung von Ansprüchen auf Herrschaft über die Wellen des Mittelmeers. Die werden mit und gegen Akteure des libyschen Kriegsgeschehens verfolgt; tendenziell mit und im Sinne von Italien und der Türkei, nicht wirklich und direkt gegen Frankreich, auf jeden Fall eigenständig, respektlos gegen mittelmeerstrategische Ordnungskonzepte der EU, dafür im Rahmen der NATO und in Kooperation mit den USA...

Und so weiter.

In diesem generellen Sinn ist Libyen ein Beispiel für – moralisch gesehen – den Zynismus, sachlich bestimmt: für die ganz unterschiedlich begrenzte Freiheit all der erwähnten honorigen Mächte, in ihren imperialistischen Streitereien alles mit allem zu verknüpfen und auch wieder voneinander abzutrennen, wenn es ihnen passt. Alles können sie in die letzten Fragen ihres wechselseitigen Respekts und ihrer abstrakten Geltung als Mächte überführen und von dort aus wieder herunterbrechen auf ihr mit dem Einsatz von Geld und Waffen unterfüttertes Gefeilsche um ihre konkreten Interessen. In Libyen oder ganz woanders.

[1] Was genau Frankreich und andere fürs richtige Regieren auf der Welt zuständige Mächte gegen Gaddafis Herrschaft hatten und mit welchen sehr viel weitergehenden Kalkulationen sie zu dem Entschluss gekommen sind, dass ein Krieg gegen den Autokraten fällig sei, ist im Artikel Krieg in Libyen in Heft 2-2011 dieser Zeitschrift nachzulesen.

[2] Dass sich eine Reihe dieser frühen Ansprechpartner des westlichen Umsturzwillens später als unhandlich, teilweise unerfreulich radikal erwiesen, gehörte auch in diesem Fall zu den einkalkulierten Reibungsverlusten, um die sich in späteren Etappen Politik, Geheimdienste und gegebenenfalls die zuständigen Antiterror-Einheiten zu kümmern hatten.

[3] Neu entstanden sind diese „vormodernen Strukturen“ mit der „Arabellion“, Abteilung Libyen, nicht. Näheres zu ihrem Charakter und ihrer Rolle innerhalb der politischen Ökonomie von Herrschaft und Gesellschaft in Libyen ist nachzulesen im Artikel Das Lebenswerk Gaddafis: Der Missbrauch von Petrodollars für Anti-Imperialismus und islamischen Sozialismus, ebenfalls veröffentlicht in Heft 2-2011 dieser Zeitschrift.

[4] Italien war anfangs entschiedener Gegner eines gewaltsamen Eingreifens in Libyen, weil es seine massiven materiellen Interessen und seine auf der Basis geknüpften politischen Sonderbeziehungen nicht gefährden wollte. Als sich abzeichnete, dass Frankreich sich mit seiner kriegerischen Linie durchsetzen würde, machte sich Italien für ein Vorgehen im Rahmen der NATO stark und versuchte mit der strategischen Wichtigkeit, die es in einem solchen Rahmen hatte, sich die Mitbestimmung über das Geschehen und die zukünftigen Perspektiven zu sichern. Verantwortliche Koordinationsstelle war das in Bagnoli bei Neapel gelegene NATO-Kommandozentrum, in Italien gelegene Flughäfen waren wichtige Start- und Landepunkte für beteiligte Flugzeuge etc.

[5] Eni ist in Libyen nicht nur ein sehr erfolgreicher Geschäftemacher. Der italienische Konzern ist die materielle Grundlage dessen, wovon das Land lebt: Er trägt mit seinen Zahlungen zu einem Großteil der Petrogelder bei, die 90 % dessen ausmachen, was nach Libyen überhaupt an Geld fließt. 80 % der im Lande verbrauchten Treibstoffe werden von Eni produziert. Über sein eigenes Geschäft hinaus organisiert er mit seiner Dominanz das ökonomische Leben und die Stromversorgung des Landes.

 Nach Italien sind Frankreich und Spanien die beiden nächstwichtigen europäischen Nationen bei der Ausbeutung der libyschen Rohstoffe unter Kriegsbedingungen. Für Spanien ist Libyen – wieder – der drittwichtigste Öllieferant.

[6] Vor dem NATO-Krieg produzierte Libyen vor allem für die europäischen Kapitalstandorte mit einer Leistung von fast 1,5 Mio bpd. Ende 2020 betrug diese immerhin schon wieder 1,2 bpd.

[7] In entsprechenden Verlautbarungen des Konzerns figuriert das als „Schwierigkeiten mit der Produktivität bei unseren libyschen Standorten“.

[8] Seit dem Jahr 2004 kann Eni eine 520 km lange Pipeline von der libyschen Küste nach Sizilien benutzen.

[9] Das italienische Außenministerium hat permanent bei Eni installierte Diplomaten, die die fürs libysche Chaos nötige inneritalienische Absprache garantieren.

[10] Das Damoklesschwert von Nationalisierungen sieht der Präsident des italienischen Ölindustrie-Verbandes gleichwohl über dem laufenden Kommerz inmitten der unentschiedenen Gewaltlage schweben, die er selbstredend für den einzig möglichen Grund hält, sich am heiligen Eigentum von Eni zu vergreifen. Der Versuch, die italienische Präsenz [in Libyen] zu schwächen, ist offensichtlich, aber Eni darf nicht angerührt werden. In einer so chaotischen Situation wie in Libyen existiert das Risiko, dass es zu Nationalisierungen kommt, was uns schwer beschädigen würde. Und dann gibt es da noch das konkrete Risiko, dass Russland, die Türkei oder Frankreich, wichtige Akteure in dieser Krise, unsere nationale Ölgesellschaft herausdrängen wollen. (Il Giornale, 15.1.20)

[11] Auch nach ihrem Aggregatzustand verteilen sich die Kohlenwasserstoffe ungleichmäßig unterm libyschen Territorium – Ölfelder mehr im Osten, Gasfelder mehr im Westen und Südwesten –, was es bei den politisch anzubahnenden und dann militärisch abzusichernden Unternehmungen der Konzerne im Verhältnis zu den Milizen zu beachten gilt.

[12] Denkbar direkt betreibt Eni dies mit seiner Förderung libyschen Öls, das es in Italien zu Treibstoff raffiniert, der dann gleich wieder zurück nach Libyen geht, um dort mit schönem Profit verkauft zu werden.

[13] Im oben zitierten Interview malt der FederPetroli-Präsident die Gefahr an die Wand, die für Italien und Eni unter anderem von Frankreich ausgeht, dem er nachsagt, unsere nationale Ölgesellschaft herausdrängen zu wollen. Der An- und Verkauf von Unternehmen und Unternehmensteilen im Bereich der Öl- und Gasförderung und der dazugehörigen Zuliefer- und Infrastrukturbranche sowie von Beteiligungen an Investitionen und Schürfrechten zwischen den internationalen in Libyen aktiven Kapitalen läuft wie stets auf Hochtouren, wenn das Geschäft insgesamt gut geht, unbeschadet der strittigen Hoheitsfrage, wer für diese Geschäftsbeziehungen das zuständige Gegenüber vor Ort ist.

[14] Auch das ist zum einen vor allem eine Preisfrage und wird entsprechend gehandhabt, direkt oder indirekt über Gelder, die wofür auch immer an offizielle Stellen bezahlt werden – letztlich immer für irgendetwas mit „Aufbau“ – und dann von denen unter wohlwollender Duldung der Zahlstellen in Brüssel oder Rom an die Milizen weitergereicht werden. Wo das den Flüchtlingsstrom immer noch nicht genügend eindämmt, da helfen gewisse unbürokratische Umstellungen bei der Zusammenarbeit mit den libyschen Kräften weiter.

[15] Frankreich betrachtet Libyen als einen bedeutenden Nachbarn seiner ehemaligen Kolonien und traditionellen Alliierten in Afrika, zu denen Tschad, Niger und Mali ebenso gehören wie Tunesien und Algerien. Es befürchtet das Überschwappen des Libyen-Konflikts durch Waffenschmuggel in diese Länder, was deren Stabilität und dadurch Frankreichs Interessen in dieser Region bedrohen könnte. Trotz seines Werdegangs und obwohl es verfehlt ist, sieht Frankreich Haftar mehr oder weniger als Mittel, um Stabilität sowohl in Libyen als auch in der weiteren Umgebung zu schaffen, sodass seine Verbündeten in der Region, Tschad, Niger und Mali, unterstützt und die französischen Interessen in diesen Ländern besser abgesichert würden. (G. Al-Gamati, „Al-Araby“, 21.5.19)

[16] Die deutsche Wintershall AG war bis 2011 der zweitgrößte ausländische Ölkonzern in Libyen. Nach der zwischenzeitlich weitgehenden Stornierung des Ölgeschäfts und jahrelangem Rechtsstreit mit der in libyschem Staatsbesitz befindlichen National Oil Company (NOC) über Vereinbarungen aus der Gaddafi-Zeit haben beide Seiten das Joint Venture SOO gegründet. An dieses Unternehmen ist 2020 die „Betriebsführerschaft“ für die bis dahin von den Deutschen ausgebeuteten Ölfelder übergegangen, die in diesem Modus ihr Libyen-Geschäft auf Sparflamme weiterbetreiben.

[17] Dies die Einschätzung in einem offiziellen EU-Inspektionsbericht.

[18] Seit 2019 ist die Sache in Den Haag anhängig, nachdem Vertreter von NGOs beim Internationalen Strafgerichtshof Anzeige gegen die Europäische Union erstattet haben.

[19] Frankreich entdeckt nicht zufällig sofort, dass sich Italien da anheischig macht, sicherheitsmäßig und ökonomisch relevante Beziehungen zu Staaten zu knüpfen, die es zusammen mit dem arabischen Maghreb als Bereich seiner „traditionellen“ nationalen Sonderansprüche behandelt.

[20] Frontex hat noch nie direkt mit der libyschen Küstenwache kooperiert, behauptet z.B. steif und fest deren Chef Fabrice Leggeri auf Nachfragen von investigativen Journalisten, die ihm diese Frage stellen, weil sie herausgefunden haben und ihm nachweisen können, dass das Gegenteil der Fall ist. Beiden Seiten – derjenigen, die den Vorwurf der „Rechtsbeugung“ erhebt, wie der anderen, die ihn zurückweist – ist also der anspruchsvolle Maßstab geläufig, dass europäische Grenzschützer im Mittelmeer als Organ einer höheren Ordnung agieren und sich darum selber an Recht und Ordnung zu halten haben.

[21] So geschehen beispielsweise beim Absturz einer Spezialeinheit, die offiziell nicht in Libyen operiert.

[22] Zu denen gehört u.a. der ziemlich umfänglich stattfindende Schmuggel von Öl per Pipeline nach Tunesien, von wo aus es aufs offene Meer transportiert, einfach oder mehrfach umgeladen und fässerweise nach Malta transportiert und dort weiterverarbeitet wird. Eine andere lukrative Bereicherungsquelle besteht darin, die vor allem von Italien nach Libyen gepumpten Treibstoffe, die von der GNA für den Inlandsverbrauch erheblich subventioniert werden, billig zu erwerben und dann mit satten Aufschlägen auf dem inländischen oder auswärtigen Schwarzmarkt zu verhökern.

[23] Mitte 2020 standen offiziell knapp 30 Milizen im Sold der GNA, an die offiziell 50 Millionen US-Dollar pro Monat ausgezahlt wurden.

[24] Quella che era una buona iniziativa politica si trasforma in un mezzo flop – so und ähnlich lauten die bedauernden Kommentare mitdenkender italienischer Journalisten angesichts der nicht anspruchsgemäßen Resultate der Doppelschiene Italiens gegenüber der GNA und Haftar. Analog enttäuscht bilanziert so manch französischer Kommentator das erfolg- und würdelose double jeu, das seine zu Höherem berufene Nation in Libyen und Umgebung spielt.

[25] Unter Bush Jr. sind Libyen und die USA über das Ende aller libyschen A-, B-, C-Waffenprogramme und -ambitionen übereingekommen. Diplomatisch begleitet worden war das mit Gesten wie einem offiziellen Schlussstrich unter diverse Terrorattacken Libyens in der Vergangenheit samt Entschädigungszahlungen und der Auslieferung mittelrangiger Tatbeteiligter.

[26] Wer mag, soll sich zum Zwecke der Verdeutlichung dieser neuen, von Obama seinerzeit mit der Parole Leading from behind versehenen Stellung Amerikas zu dieser Region und ihren Gewaltverhältnissen an die beiden amerikanischen Kriege gegen den Irak erinnern, mit denen die USA vorgeführt hatten, wozu sie willens und in der Lage sind, wenn sie sich einmal dazu entschließen, den Krieg gegen einen staatlichen Störenfried ihrer Weltordnung zum Fall zu erklären, an dem sich nicht weniger als die Glaubwürdigkeit ihrer Weltmacht beweisen und entscheiden soll: Da hatten sie eine monatelange Vorkriegs- und Frontbildungsdiplomatie parallel zu gigantischen Aufmärschen mit mehreren Hunderttausend Soldaten betrieben, mit denen sie die gesamte staatliche Umwelt zum Heerlager, Aufmarsch- und rückwärtigen Versorgungsgebiet ihrer Streitkräfte machten und die Führungen aller beteiligten und auch aller erst einmal nicht beteiligten Staaten mit dem kriegerischen Für uns oder gegen uns!-Imperativ terrorisierten und entweder zu Kriegsdiensten oder mindestens zum Wegducken zwangen.

[27] In den 1960er bis 80er Jahren kursierte auch anderswo in der arabischen Welt die Losung, dass „der Weg nach Palästina über die arabischen Hauptstädte“ führe, also eine ‚Befreiung‘ Palästinas den Sturz der reaktionären, mit Amerika paktierenden Herrschaften zur Bedingung habe. Gaddafi war eine Zeitlang ein Exponent davon.

[28] Näheres über die Muslimbrüder bzw. über ihren ägyptischen Zweig, der der historisch älteste und bis heute bedeutendste dieses übernationalen Vereins ist, findet sich im Artikel Der Kampf zwischen religiösen Sanierern und militärisch-säkularen Bewahrern eines unhaltbar gewordenen Staatsprojektes in Heft 3-2013 des GegenStandpunkt.

[29] Das UN-offizielle, mehrfach verlängerte Waffenembargo gilt allgemein: in Bezug auf alle Parteien in Libyen, in Bezug auf alle Kriegswaffen und in Bezug auf alle Lieferanten und Lieferwege. Die zur Durchsetzung des Embargos beschlossene und angeleierte Mission „Irini“ hat ein Mandat nur zur Überwachung der Küste. Die Luftbrücken für die libyschen Kriegsparteien funktionieren ohne Unterbrechung weiter und insbesondere Haftar erhält in dem von ihm beherrschten östlichen Landesteil auf dem Landweg Unterstützung über die Grenze des mit ihm verbündeten Ägypten.

[30] Die Türkei mit ihrem seinerzeit massiv aufwachsenden und entsprechend massiv ins nähere Umland expandierenden Kapitalismus ist 2011 einer der größeren ausländischen Investoren in Libyen. Mit entsprechenden Investitionsabkommen in den einschlägigen Bereichen nationaler Infrastruktur- und sonstiger Erschließungsprojekte profitiert sie kräftig davon, dass Libyen einen Großteil der westlichen Sanktionen losgeworden und entsprechend zahlungskräftig ist. Vor allem fasst die Türkei Libyen als Baustein ihrer anspruchsvollen Energiestrategie ins Auge. Diese Perspektive ist mit dem Krieg erst einmal zerstört, ein paar Milliarden schon investierten Kapitals müssen mit unklarer Perspektive als abgeschrieben gelten und ein Großteil der immerhin 25 000 in Libyen tätigen und bezahlten türkischen Arbeitskräfte muss in die Türkei zurückverfrachtet werden.

[31] Für den Verbleib Gaddafis an der Macht macht sich die Türkei zu keinem Zeitpunkt wirklich stark. Dessen Antiimperialismus hat nämlich auch sie gestört, vor allem an ihrer empfindlichsten Stelle: Gaddafi war bis zum Schluss ein Gegner der türkischen Kurdenpolitik und Pate diverser kurdischer Oppositionsvereine und -foren.

[32] Schon sein Projekt einer Mittelmeer-Union hat Frankreich seinerzeit unter Ausschluss der Türkei angelegt. Die als ehemaliger NATO-Frontstaat militärisch schlagkräftige Türkei ist nach den strategischen Kalkulationen des französischen Imperialismus schlicht zu groß und zu unhandlich, um sie durch Integration in Bündnisse dem Anspruch auf eindeutige französische Dominanz unterzuordnen.

[33] Noch kurz vor dem Untergang des Gaddafi-Regimes unterzeichneten Tripolis und Moskau zahlreiche Lieferverträge über Rüstungsgüter für rund 3,5 Milliarden Dollar, etwa über Suchoi-Kampfjets und Transportflugzeuge von Iljuschin – doch geliefert wurden sie nie. Wenn das UN-Waffenembargo einmal beendet wird, hofft der Kreml auf die Erfüllung dieser Verträge und neue Deals. Experten zufolge kann Gaddafis Sturz dem staatlichen Rüstungsexporteur Rosoboronexport bis zu 6,5 Milliarden Dollar gekostet haben. Dazu kommen Umsätze in Höhe von 2,5 Milliarden Euro, welche der staatlichen Eisenbahngesellschaft RŽD entgangen sind. RŽD sollte für Gaddafi eine Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Tripolis und Benghasi bauen. Auch im Energiesektor des Landes mit den größten Erdölreserven des afrikanischen Kontinents liegen Deals auf Eis, nicht nur mit dem staatlichen Riesen Gazprom, sondern auch mit Russlands sechstgrößter Ölgesellschaft Tatneft, die im vergangenen Jahr ihr zuvor ausgesetztes Abkommen zur Exploration und Produktionsaufteilung mit der libyschen National Oil Corporation in Tripolis wiederaufgenommen hat. (Die Welt, 14.4.19)

[34] Wir haben aus den letzten Jahren die Lehre gezogen, dass wir uns nur auf uns selbst verlassen können, weil unsere westlichen Partner nicht zuverlässig sind. (S. Lawrow im Interview mit der kroatischen Zeitung „Večernji List“, veröffentlicht am 27.10.20)

[35] Das gilt selbstverständlich auch für die GNA selbst: Wenn die sich für russische Anliegen zugänglich zeigt, dann soll eine Anerkennung zwecks Zusammenarbeit an Russland nicht scheitern: Auch mit Fajes as-Sarradsch und der Regierung der Nationalen Einheit pflegt Moskau enge Kontakte, schließlich kontrolliert diese die National Oil Corporation. Man verhandelt etwa über die Wiedereröffnung der russischen Botschaft in der libyschen Hauptstadt. So will sich Moskau langfristig seine Präsenz in Libyen sichern – unabhängig davon, wer am Ende in Tripolis regiert. (Die Welt, 14.4.19)