„Al-Aqsa-Flut“ und Gaza-Krieg: Hamas gegen Israel
Auf einen militärischen Sieg gegen Israel ist der Überfall der Hamas auf das israelische Umland des Gaza-Streifens nicht berechnet – mit ein paar Hundertschaften Bewaffneter und ein paar Tausend Raketen ist ein Krieg gegen Israel, die stärkste Militärmacht der Region, nicht zu gewinnen; ein regulärer Krieg ist von einer Truppe wie der Hamas noch nicht einmal zu führen. Das und erst recht die Tatsache, mit welcher zielgerichteten Grausamkeit die Hamas-Leute über die Zivilisten herfielen, derer sie habhaft wurden, bestätigt allen, die es sowieso schon wissen, dass es sich bei dieser Truppe um Terroristen handelt. Um Terror handelt es sich bei der Gewalt der Hamas auch ohne jede Frage. Interessiert falsch ist es aber, das Terror-Urteil damit zu verknüpfen – im Prinzip besteht es üblicherweise aus gar nichts anderem als –, die Gewalt ihres politischen Gehalts zu entkleiden, ganz so, als ob jede mikroskopische Spur eines solchen gleichbedeutend damit wäre, der schlimmen Aktion dann doch einen gewissen Respekt nicht versagen zu können. Die gewollte Fassungs- und Begriffslosigkeit, die mit schlichtem menschlichem Entsetzen nicht zu verwechseln ist, lässt keinen Platz dafür, den Zusammenhang zwischen dieser Gewaltaktion und dem Inhalt und Stand des politischen Programms zu ermitteln.
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„Al-Aqsa-Flut“ und Gaza-Krieg: Hamas gegen Israel
1. „Al-Aqsa-Flut“
Am 7.10.2023 unternehmen mehrere Hundert bis über eintausend Bewaffnete der Hamas von dem militärisch durch Israel land- und seeseitig bewachten Gazastreifen aus einen Ausfall und greifen im israelischen Umland des Streifens fast über die gesamte Länge der Grenze Siedlungen sowie Militär- und Polizeistellungen an – zu Land, über das Meer und mit Gleitschirmen auch aus der Luft. Sie töten Soldaten und Zivilisten – insgesamt fast anderthalb Tausend; vereinzelt dauern die Gefechte auf israelischem Gebiet über 72 Stunden an. Im Zuge des Angriffs bringen sie ca. 250 Israelis, ebenfalls Soldaten und Zivilisten, lebend in ihre Gewalt und dann in den Gazastreifen zurück. Unmittelbar danach beginnt die Hamas aus dem Innern des Gazastreifens und auch vom Süden Libanons aus, Israel mit Raketen zu beschießen. Von denen wird zwar die größte Zahl abgefangen, sie richten jedoch trotzdem Schäden an und veranlassen die israelische Regierung zur Evakuierung der von palästinensischem Raketenbeschuss am meisten bedrohten Gebiete.
Auf einen militärischen Sieg gegen Israel ist der Überfall nicht berechnet – mit ein paar Hundertschaften Bewaffneter und ein paar Tausend Raketen ist ein Krieg gegen Israel, die stärkste Militärmacht der Region, nicht zu gewinnen; ein regulärer Krieg ist von einer Truppe wie der Hamas noch nicht einmal zu führen. Das und erst recht die Tatsache, mit welcher zielgerichteten Grausamkeit die Hamas-Leute über die Zivilisten herfielen, derer sie habhaft wurden, bestätigt allen, die es sowieso schon wissen, dass es sich bei dieser Truppe um Terroristen handelt. Um Terror handelt es sich bei der Gewalt der Hamas auch ohne jede Frage. Interessiert falsch ist es aber, das Terror-Urteil damit zu verknüpfen – im Prinzip besteht es üblicherweise aus gar nichts anderem als –, die Gewalt ihres politischen Gehalts zu entkleiden, ganz so, als ob jede mikroskopische Spur eines solchen gleichbedeutend damit wäre, der schlimmen Aktion dann doch einen gewissen Respekt nicht versagen zu können. Die gewollte Fassungs- und Begriffslosigkeit, die mit schlichtem menschlichem Entsetzen nicht zu verwechseln ist, lässt keinen Platz dafür, den Zusammenhang zwischen dieser Gewaltaktion und dem Inhalt und Stand des politischen Programms zu ermitteln.
a)
Letzteres ist überhaupt kein Geheimnis – die Hamas macht jedenfalls keines daraus. Sie will einen palästinensischen Staat, mindestens auf dem Gebiet der heutigen Palästinensergebiete und Jerusalems, programmatisch überhaupt in dem Land „zwischen Fluss und Meer“. Sie erkennt den Staat Israel nicht an; dafür, dass keine Koexistenz mit ihm möglich sei, führt sie alle möglichen hohen und höchsten Gründe an, und am einschlägigsten sind die Verweise darauf, dass Israel einen islamisch-arabischen Staat der Palästinenser niemals dulden werde – siehe den Umgang Israels mit den Palästinensern und ihren Versuchen, einen solchen zu gründen bzw. überhaupt die Voraussetzungen dafür aufrechtzuerhalten.
Im Rahmen der palästinensischen Autonomie gewinnt sie zu Beginn des Jahres 2006 die Wahlen für alle Autonomiegebiete, was international und von ihren innerpalästinensischen Widersachern nicht anerkannt wird. Mit denen überwirft sie sich 2007 endgültig so weit, dass der geografischen seither eine politische Spaltung der Palästinensergebiete entspricht: Der Gazastreifen ist Hamas-Land, im Westjordanland regiert die von Israel irgendwie offiziell noch anerkannte Autonomiebehörde unter der Führung der kompromissbereiten Fatah-Fraktion.
Seither ist der Gazastreifen Basis für den weiteren Kampf der Hamas – denn den hat sie keinesfalls aufgegeben, nur weil sie sich in ihrem Heiligen Krieg für ein wirklich souveränes Palästina noch nicht einmal gegenüber allen ihren Landsleuten durchsetzen kann. Dabei hat sie damit zu tun, dass das Gebiet von Israel engmaschig abgeriegelt wird; regulärer Grenzverkehr ist nur über sehr wenige Übergänge, zwischendurch gar nicht möglich. Die Landverbindung nach Ägypten taugt für die Erhaltung, Erneuerung, womöglich die Erweiterung der materiellen Basis, die der Gazastreifen samt seinen Bewohnern für die Hamas darstellt, gemäß den politischen Konjunkturen in Ägypten und den von Kairo angestellten, allemal widersprüchlichen Kalkulationen mal mehr, mal weniger. [1] Aber insgesamt kommt mit den zunehmend spärlicheren Überweisungen von Gaza-Palästinensern, die in Israel oder woanders arbeiten, den Mitteln der supra- und internationalen Armutsbetreuung und der massiven materiellen Unterstützung Irans so viel zusammen, dass es überhaupt ein Zivilleben im Gazastreifen gibt, über das die Hamas mit ihren militärischen Mitteln und zivilen Institutionen herrschen und das sie zur Basis ihres Programms machen kann, eine wirklich souveräne palästinensische Staatsgewalt gegen Israel zu erringen.
Die Praxis dieses Programms besteht zum einen in der zunehmend schwierigeren Behauptung der Hoheit über den Gazastreifen, dessen Bewohner ihr ganzes, in aller Regel total ärmliches arabisches Dortsein mit der Loyalität zum Hamas-Kommando über ihr Leben gleichzusetzen haben. Dafür liefert ihnen und sich die Hamas neben der alltäglichen Administration des Gazastreifens regelmäßig per Gewaltaktionen eine höhere Begründung eigener Art: Pur durch das Stattfinden von antiisraelischen Gewaltaktionen praktiziert, demonstriert und beglaubigt die Hamas ihren Anspruch, mehr zu sein als die Inhaberin des zivilen Kommandos über Gaza und die Organisatorin der für dessen Bewohner unabdingbaren Lebensnotwendigkeiten. Sich selbst und ihrer aktiven Basis schuldet sie den Beweis, dass ihr autonomer Staatsanspruch gilt und dass sie an ihm festhält. Und gerade weil seine Verwirklichung so komplett außer Reichweite ist, bleibt der Beweis eine dauernde Notwendigkeit. Von allen anderen Palästinensern unter ihrem Kommando verlangt sie wie jede gute, volksfreundliche Anführerschaft nicht nur Aus- und Durchhalten, sondern patriotische Zustimmung dafür. Denen führt sie auf diese Weise vor, dass sie nicht bloß elende Gaza-Bewohner sind, eingesperrt in dem, was manche in polemischer Absicht ein Freiluftgefängnis nennen, sondern an etwas Größerem teilhaben: an einem Projekt namens „Widerstand“ in ihrem Namen. Wenn dann zu den Opfern, die ‚das Leben‘ dort sowieso verlangt, regelmäßig noch solche kommen, die die israelischen Schläge auf das Gaza-Territorium produzieren, dann sprechen diese Opfer gemäß derselben Logik für die Höhe und Güte der Sache, für die sie von den Gaza-Bewohnern erbracht und von der Hamas verlangt werden; die Toten bezeugen das gerade durch ihren Tod – denn der bedeutet, dass ihre: „die palästinensische Sache“ lebt. [2]
b)
Die politische Bedeutung der terroristischen Gewalt der Hamas gegen den israelischen Feind enthält zugleich ein paar entscheidende, an ihn adressierte Botschaften, auf die es bei Terror – anders als bei einem regulären Krieg – ja stets vor allem ankommt. Die erste Botschaft, vor der der israelische Gegner dem Wortsinn von Terror entsprechend erschrecken soll, ist dieselbe wie die, die damit von der Hamas an die eigenen Reihen und die restliche Gaza-Bevölkerung ergeht: Die überlegene praktische Abwehr jedes palästinensischen Staatsanspruchs durch Israel, erst recht die israelische Verweigerung jeder Form von politischer Anerkennung der Hamas als einen auch nur potenziellen Vertreter oder Repräsentanten dieses Anspruchs, beantwortet die Hamas mit der gewaltsamen Klarstellung, dass Israel den Anspruch auf eine autonome palästinensische Staatlichkeit zwar unterdrücken, aber nicht beseitigen kann und sich stattdessen eine bewaffnete Feindschaft einhandelt, die ihm nicht gleichgültig sein kann. Zu diesem Beweiszweck gehört daher – das war bei allen vorherigen Aktionen der Hamas so, und das wird nun im Zusammenhang mit dem Überfall vom 7. Oktober bis zum Abwinken wiederholt –, dass die Hamas-Propaganda sehr viel Wert darauf legt, dass Kämpfer, Waffen und vor allem die politisch-strategische und militärisch-taktische Entscheidungshoheit echt palästinensisch sind: „Die im Gazastreifen belagerten Leute haben es vermocht, mit ihren eigenen Händen Waffen zu produzieren, um sich der Besatzung entgegenzustellen.“ (Khaled Mashaal, einer der Auslandsführer der Hamas) Das ist die echt autonome Gewalt, die sie beansprucht, in Aktion.
Auch die Tatsache, dass sich ihre Gewalt am 7. Oktober ff. in neuer Größenordnung gegen israelische Zivilisten richtet, ist weder mit Verzweiflung noch mit Ohnmacht zu erklären, wie verständnisvolle Kommentatoren es manchmal tun. Die Hamas bestreitet an den Menschen der israelischen Staatsgewalt deren Hoheit über sie, indem sie anderthalbtausendmal das staatliche Schutzversprechen für die Leute praktisch blamiert. Denn dessen wirklicher Gehalt ist der herrschaftliche Besitzanspruch auf diese Leute: Wenn sich der Staat Israel damit beauftragt und sich zugutehält, sein Volk gegen jeden feindseligen An- und Übergriff zu schützen, dann geht es um die Verteidigung dieses herrschaftlichen Besitz- und Zugriffsanspruchs. Das gehört sich für jede richtige Staatsgewalt – die Staatstheoretikerin Baerbock fasst es so: „Israel hat nicht nur das Recht, sondern wie jeder Staat die Pflicht, seine Bürger zu schützen.“ Zum Rechtsbewusstsein, mit dem die israelische Staatsgewalt ihre Herrschaft über die Leute mit deren Leben gleichsetzt, gehört ganz prominent der Verweis auf die Geschichte der Ausgrenzung und Verfolgung der Juden in Europa, die in dem Vernichtungswillen der deutschen Faschisten gipfelte, den die in aller bürokratischen Akribie zu einem staatlichen Endlösungsprogramm ausgearbeitet haben. Gründungszweck Israels war der Wille, den Juden eine staatliche Heimstatt zu verschaffen, die sie zu einem regulären, wehrhaften, nötigenfalls kriegsfähigen Staatsvolk macht. Den zeitgenössischen Bezugspunkt der gewaltsam durchgesetzten Gleichsetzung von jüdischem Leben mit einer Staatsgewalt, die Juden zur Basis und zum Mittel ihrer Machtentfaltung macht, bilden die Anfeindungen, denen Israel im Rahmen der Etablierung, Verteidigung und Ausweitung seiner staatlichen Existenz auf dem Boden des von den Zionisten einst auserkorenen Landes ausgesetzt ist. Der wird zum Teil von anderen Staaten beansprucht, teils von Aktivisten eines noch gar nicht existenten palästinensisch-arabischen Staates reklamiert und auf jeden Fall von Leuten bewohnt, die Israel seinerseits gar nicht als eigene Bürger haben will. Der grundsätzliche Gegensatz, in dem der israelische Staat damit zu seiner staatlichen Nachbarschaft und zu dem von ihm ausgegrenzten palästinensischen Menschenschlag steht, setzt seine Bürger permanent der Gefahr aus, vor der er sie permanent schützen muss und will. Die seitens Israels inzwischen praktisch hergestellte und gewaltsam behauptete Gleichung zwischen israelischer Staatsexistenz, Schutz der Juden und Unverträglichkeit mit einem palästinensischen Staatswesen westlich des Jordans greift die Hamas auf und wendet sie gegen Israel: Sie beweist ihren Staatsanspruch im terroristischen Widerstand gegen Israel; dem bestreitet sie die Souveränität dadurch, dass sie demonstriert, nämlich praktisch dafür sorgt, dass er seine schutzbefohlenen Bürger nicht auf Dauer und im Prinzip gar nicht gegen den zutiefst berechtigten und noch dazu göttlich beglaubigten Widerstand zu schützen vermag.
Den umfassenden Überraschungsangriff, alle Opfer und Schäden, die der in kurzer Zeit an israelischem Leben und Material angerichtet hat, feiert die Hamas daher mit den üblichen Übertreibungen als Beweis der Verwundbarkeit des weitaus überlegenen Gegners – „Der Verkauf der Illusion einer unbesiegbaren Armee und der überlegenen Geheimdienste ist vorbei.“ (Abu Ubaida) –, und in ihrer negativen Version der israelischen Gleichung von totaler Überlegenheit und Bestand Israels heißt das für sie: „Die Besatzung hat nun wirklich begonnen zu verschwinden.“ (Ismail Haniyeh)
Dass sie auch diesmal wieder auf ihre Gewalt eine israelische Gegengewalt erntet, die alles überschreitet, was die Hamas aufzubringen vermag, überrascht sie offensichtlich nicht nur nicht. Sie sieht darin vor allem keine praktische Widerlegung ihrer größenwahnsinnigen Umdrehungen der souveränen Gleichungen, die Israel für sich aufgestellt und die sie mit ihrer Gewalt punktuell beschädigt hat.
c)
Zum einen nimmt und propagiert die Hamas den Krieg, den sie sich als Antwort einfängt, als Beweis für ihren Standpunkt, dass der israelische Staat nicht nur dann und wann Verbrechen begeht, sondern qua Existenz ein Verbrechen am Recht des palästinensischen Volkes ist. Zum tausendsten Mal sieht sie „entlarvt“, dass ihr Feind ihre Feindschaft verdient, weil er skrupellos all die Opfer anrichtet, mit denen sie selbst ausweislich ihrer umfangreichen und auch nach Aussagen israelischer Fachleute raffinierten Tarnungs-, Schutz- und sonstigen Vorsichtsmaßnahmen für ihre Kämpfer und ihre militärische Infrastruktur kalkuliert hat. Moralisch gesehen sind auch alle nun während der israelischen Gegenoffensive produzierten Opfer nicht nur dies, sondern ihrerseits „Zeugen“, Märtyrer für die absolute Güte und das unbedingte Recht dessen, wofür die Hamas kämpft.
Zum anderen ‚bedeutet‘ für sie – deutet sie nämlich selbst öffentlich in dieser Weise – jede Bombe und Rakete, die Israel abwirft bzw. -schießt, dass ihr der große, fraglos überlegene Gegner, der ihr jeden politischen Anspruch verweigert, den kriegerischen Respekt offensichtlich nicht verweigern kann. Nicht nur sie selbst mit ihrer betont autonom entfalteten, unterlegenen Gewalt, auch und gerade ihr Gegner mit seiner überlegenen Gegengewalt beglaubigt demnach, dass sie ein nicht zu leugnender, nicht zu ignorierender Vertreter ihrer damit ebenfalls nicht zu ignorierenden ‚Sache‘ ist. Einen Staat in dem Sinn stellt die Hamas zwar noch nicht dar, aber die feine Logik dieser Art von Gewaltsubjekten beherrscht sie – ersatzweise – bereits perfekt, dass nämlich wechselseitiger Respekt zwischen ihnen eine Gewaltfrage und sonst nichts ist. Diese Logik beherzigt sie und dreht sie dahingehend um, dass das Maß an bewaffneter Feindseligkeit beweise, wie weit sie es in dieser Frage bereits gebracht habe; und – das ist die andere Seite derselben Medaille – wie sehr der Gegner es offensichtlich nötig habe, sie zu bekämpfen. Täglich erneuert ergehen in Hamas-freundlichen arabischen Medien daher die Meldungen über den in Dollar bemessenen Wert der von Israel verfeuerten Anti-Raketen-Raketen und über die aufsummierte, bald schon die Hiroshima-Atombombe übersteigende TNT-Sprengkraft der über Gaza niedergegangenen Sprengmittel. Und auch in diesem Zusammenhang kommen die zivilen Opfer auf palästinensischer Seite zu eigener Ehre und Bedeutung: Sie taugen der Hamas auch zu der Botschaft, dass sich die angeblich haushoch überlegene, technisch raffiniert ausgestattete israelische Armee wohl nicht anders zu helfen weiß als mit diesem Luftkrieg gegen ganz Gaza, weil sie der Hamas anders nicht habhaft wird und sich eine Bodenoffensive offensichtlich nicht traut.
Die gibt es aber dann doch – und für die Hamas stellt sie folgerichtig die nächste Stufe ihres Existenz-, Stärke- und Rechtsbeweises dar: Die Zeit zwischen der Ankündigung der Bodenoffensive und ihrem Beginn begleitet sie mit höhnischen Gebärden Richtung Israel – „Wir erwarten euch!“ – und sieht die Karenz als erneuten Beweis dafür, wie feige der Feind ist, der als Ersatz für den Kampf, den er sich nicht traut, pausenlos kleine Kinder aus der Luft tötet... Der Beginn des Bodenkrieges stellt dann für die Hamas die nächste praktische Bewährungsprobe dafür dar, wie sehr sie ihren israelischen Gegner zu so etwas wie einem wirklichen militärischen Kräftemessen zwingen kann. Jeder Tag, an dem sie die israelische Kriegführung nicht einfach irgendwie aushält und aussitzt, sondern ihrerseits einen Bodenkampf führt; jeder der von ihren Kämpfern getöteten Soldaten und abgeschossenen Panzer – alle wiederum fein säuberlich dokumentiert und registriert – beweist ihr selbst den eigenen Status als quasi regulärer Kriegsgegner und konterkariert die üble Nachrede als „Terrormiliz“.
d)
Freilich ist – und macht die Hamas – von Anfang an klar, dass die genannten praktischen und begleitenden propagandistischen Klarstellungs- und Beweisanliegen nicht nur selbstbezüglich, an die eigene Kämpferschar und zivile Basis im Gazastreifen, sowie an Israel adressiert sind, sondern einen weitergehenden Kreis von Empfängern haben.
Erstens sollen die gelungene Überrumpelung der israelischen Abschnürungs- und Überwachungssysteme um den Gazastreifen herum und der nachfolgende Luft- und Bodenkrieg die aktiven und auch die nicht so aktiven Palästinenser außerhalb des Gazastreifens aufrühren, sie zum Festhalten an ihrem bisherigen Widerstand bzw. zu neuem Widerstandswillen ermuntern und ihnen zugleich klarmachen, wer der berufene und einzige Vertreter ihrer, also der gesamt-palästinensischen Sache ist. Dafür spielt neben allem anderen insbesondere die Forderung der Hamas nach Entlassung einer großen Anzahl von palästinensischen Gefangenen aus israelischen Gefängnissen eine zentrale, für die palästinensische Community in allen besetzten Gebieten und in Israel überragende Rolle: [3] Dass sie zwischenzeitlich ein „Alle-gegen-alle“-Geschäft vorschlägt – Freilassung aller von ihr gefangen Gehaltenen gegen Freilassung aller palästinensischen Häftlinge –, beweist, dass sie nicht nur der ‚selbst ernannte‘ und in Wirklichkeit bloß terroristische, sondern der berechtigte, weil wirkmächtige Vertreter aller Palästinenser gegenüber der sie unterdrückenden, einsperrenden, ausgrenzenden Macht Israel ist. Ausdrücklich getrennt davon, ob die Einsitzenden Anhänger der Hamas oder anderer, auch verfeindeter palästinensischer Polit-Fraktionen sind, schreibt sie sich eine quasi-staatliche Schutzaufgabe zu, deren Wahrnehmung sie zur Inanspruchnahme der Loyalität aller Palästinenser berechtigt. Auch in diesem Fall ist es die Hamas ihrem Standpunkt schuldig und gelingt es ihr, die Tatsache, dass ihr Kampf praktisch mit der Bewältigung der Konsequenzen ihrer Bekämpfung durch Israel zu tun hat, wie defensiv er also der Sache nach ist, als Beleg und Bestandteil ihres optimistischen Rechtsbewusstseins zu deuten.
Zweiter Adressat, auf dessen Reaktion die gesamte, das Geschehen interessiert beobachtende Welt gespannt geschaut hat und weiter schaut, ist der libanesische Hisbollah. Der kämpft unter etwas anderen politischen Vorzeichen und mit etwas anderen politischen Perspektiven auch gegen Israel, steht im Libanon und vom Libanon aus ebenfalls dafür, dass etwas anderes als bewaffnete arabisch-islamische Feindschaft gegen Israel keine Option ist, definiert sich daher zusammen mit der Hamas, weiteren palästinensischen Organisationen, Iran, Syrien und ein paar anderen als Bestandteil der „Achse des Widerstands“. Praktisch setzt die Hamas auf Hisbollahs Eingreifen, dem in den Kategorien regulärer Kriegführung kalkuliert die Rolle eines Entlastungsangriffs zukommen würde. Den braucht sie, um die Zeitdauer zu verlängern, in der sie es überhaupt vermag, dem übermächtigen israelischen Gegner etwas entgegenzusetzen. Wirklich in der Hand hat die Hamas aber nicht, ob überhaupt und wie sich der Hisbollah zur Eröffnung einer solidarischen Nordfront bereitfindet. Zwar kann sie sich auf der Ebene der brüderlichen Propaganda aller warmen Glück- und Segenswünsche ihrer Kampf- und Glaubensgenossen sicher sein, und auch auf der militärischen Ebene testet der Hisbollah Israels Bereitschaft zum einstweiligen Frieden an der Nordfront zwecks zügiger Bereinigung des Gaza-Hamas-Problems mit vermehrten Scharmützeln aus; [4] aber zum großen ultimativen Krieg gegen Israel sieht der Hisbollah ganz offensichtlich doch Alternativen. Er steht ja mit seinem von ihm mitregierten Libanon als Basis und Hinterland für seine militärischen Potenzen und Optionen tatsächlich etwas anders da als die Hamas mit ihrer fundamentalistischen Gleichung von terroristischem Überlebenskampf und Staatsgründungswillen. Dass sich dann auch die 2000 km südlich um ihren jemenitischen ‚failed state‘ kämpfenden Huthis per Drohnen und ballistischen Raketen einmischen, erfüllt im Wesentlichen ebenfalls die Funktion der moralischen Beglaubigung des Kampfes, den die Hamas in eine ultimative Phase überführt hat, deren Ausgang sie nicht selbst bestimmt.
Drittens richtet sich die gewaltsam praktizierte Botschaft der Hamas an die arabischen und islamischen Völker, deren Solidarität unterstellt und beansprucht wird. Per Dankesadressen an die prompt einsetzenden propalästinensischen Kundgebungen von Marokko über Jemen und Iran bis nach Malaysia werden islamisch bzw. arabisch-nationalistisch inspirierte Volksmassen dazu ermuntert, auf die Straße zu gehen und ihren Volkswillen pro Palästina contra Israel deutlich zu machen. Wem? Vor allem ihren Regierungen, Königen, Emiren, vor allem dort, wo diese in Verfolgung ihrer politischen Kalkulationen sich zunehmend auf einen Kurs der Verständigung, der Aussöhnung mit Israel begeben haben und keinen Nutzen mehr darin sehen, sich zu Paten einer „gerechten Lösung“ für die Palästinenser zu machen. Die sollen nun, wenn schon nicht aus Einsicht, dann wenigstens aus der opportunistischen Kalkulation mit dem heimischen Volkszorn zu einem Kurswechsel bewegt werden.
Für diesen Kurswechsel gibt ihnen die Hamas – viertens – noch eine ausdrückliche Botschaft mit auf den Weg. Zum Beispiel in dieser Form:
„Wir sagen allen Staaten, darunter auch den arabischen Brüdern, dass dieses Gebilde, das nicht in der Lage ist, sich vor diesen Widerstandskämpfern zu schützen, euch keinen Schutz gewähren kann... All die Normalisierungsverträge, die ihr unterzeichnet habt, werden es nicht schaffen, unseren Kampf zu beenden.“ (Ismail Haniyeh, Rede vom 7.10.23)
Auch dafür lohnen sich in den Augen der Hamas-Führer offensichtlich die Opfer, die sie ihre lieben Landsleute in dem israelischen Krieg gegen sie erbringen lassen: Ihrer deutlichen Unterlegenheit gegenüber Israel eingedenk setzen die Strategen der Hamas darauf, dass ihre Gewalt immerhin dazu ausreicht, Israels totalen staatlichen Überlegenheitsanspruch so weit zu blamieren, dass die Führer der anderen staatlichen Gewalten in der Region neu kalkulieren, zu wie viel von der israelischen Militärmacht erzwungenem Arrangement sie weiterhin bereit sein wollen, wie viel Anerkennung sie Israels Souveränität und regionalem Hegemonialanspruch zollen wollen, weil sie meinen, damit ihre eigenen Machtambitionen besser voranbringen zu können als durch eine unzivile Feindschaft. Moralisch können Hamas und Anhänger den kalkulierenden Umgang der arabischen Staaten mit Israel als Verrat beschimpfen, was sie ja auch pausenlos tun. Zugleich sind die palästinensischen Staatsgründer so realistisch, dass sie sich in ebendiese Kalkulationen neu einbringen wollen. Und zwar vor allem mit Blick darauf, dass die als „Bruderstaaten“ adressierten Mächte neben ihrem Verhältnis zu Israel noch lauter andere Rivalitäten und Feindschaften pflegen, für die ihnen die Rückversicherung bei, womöglich eine Allianz mit dem regional größten staatlichen Zerstörungsapparat nützlich erscheint. Dass sich das vor allem auf die Staaten bezieht, die ihre strategische Rivalität mit der iranischen Republik dadurch vorantreiben wollen, dass sie sich durch zivile Beziehungen mit Israel stärken, ist dabei ebenso wenig ein Geheimnis wie die Tatsache, dass die Hamas einen wesentlichen Teil ihrer nun offen ausgespielten militärischen Potenz ihrem Bündnis mit der schiitischen Macht verdankt. In diesem Sinne, für diesen Zweck bringt sie ihren Status als Verbündeter Irans in Anschlag, um dessen arabische Rivalen zu einer Neugewichtung ihrer widersprüchlichen Kalkulationen mit den beiden regionalen Hauptfeindmächten Israel und Iran zu bewegen und sie so zu beeinflussen, dass die eigenen Staatsgründungsambitionen beim gewaltträchtigen bzw. gewaltsamen Gerangel um regionale Wichtigkeit und Hegemonie wieder eine Rolle spielen.
Dass die damit nicht unter sich sind, weiß die Hamas fünftens freilich auch, und auch das hat sie auf der Rechnung. Ihr Verbündeter Nasrallah vom libanesischen Hisbollah verkündet es so:
„Nicht in der UNO, nicht im UN-Sicherheitsrat, nicht in der Organisation der Islamischen Zusammenarbeit, nicht in der Arabischen Liga, nicht in der Europäischen Union, nicht in all den bekannten internationalen Machtblöcken war die palästinensische Sache ein Thema, diese Sache und alles, was mit ihr zusammenhängt, war auf den letzten Posten der Tagesordnung degradiert, wenn es überhaupt noch vorhanden war – und im Gegenzug wurde die Politik des Feindes immer unverschämter, arroganter, unterdrückerischer, verkommener, ungerechter, demütigender. Es brauchte also ein großes Ereignis, das dieses räuberische Gebilde erschüttert, das die arroganten Unterstützer erschüttert, insbesondere in Washington und London, und das all die ad acta gelegten, menschlich berechtigten Anliegen neu zum Thema macht und die Sache des besetzten Palästina und seines unterdrückten Volkes und seiner bedrohten heiligen Stätten zur wichtigsten Angelegenheit der Weltpolitik macht.“ (Nasrallah-Rede vom 3.11.23)
Das ist ein paar Tausend tote Israelis und ein paar Zehntausend tote Palästinenser unbedingt wert: die von der Hamas national-religiös definierte „Sache der Palästinenser“ zurück auf die Tagesordnung der Mächte zu bringen, die für all die anderen Punkte auf ihrer umfangreichen „Tagesordnung“, von den Unterpunkten ihrer zivilen Konkurrenz und bis hin zu ihren bewaffneten Gegensätzen, es für nicht mehr förderlich gehalten haben, einander mit der leidigen Palästinenser-Frage zu kommen. Mit der nachhaltigen Erschütterung des in einen hypertrophen staatlichen Unverwundbarkeitsanspruch überführten Schutzversprechens des Staates Israel für seine jüdischen Bürger und mit der Aufrechterhaltung einer inzwischen wochenlangen Kampf- und Kriegslage will die Hamas genau das ekelhafte Interesse an Gewalt und fremden Gewaltfragen wecken und auf sich ziehen. Und das ist bei allen politischen Gewaltsubjekten dieser Welt erstens überhaupt vorhanden, zweitens umso dringlicher, je größer die Gewaltaffäre ist, auf die es sich richtet, und je größer die Macht ist, die sie selber haben, also der Status, den sie sich in Form der Zuständigkeit für jedes veritable Gemetzel zuschreiben. Diese feinen Subjekte und ihre ehrenwerten außenpolitischen Vielflieger, die in allem amtsgemäßen Zynismus mit dem Elend eines Staatsvolkes ohne Staat, zu dem die Palästinenser durch die ansässigen Staatsgewalten und deren auswärtige Unterstützer verdammt sind, in letzter Zeit sehr gut leben konnten, sollen nun auf die einzige Weise, durch die einzige Sprache, die sie verstehen, beeindruckt und dahin gebracht werden, von ihrem Standpunkt aus, von dem aus der ganze Globus Sphäre, Gegenstand und Mittel ihrer Interessenverfolgung und Machtprojektion ist, jetzt auch wieder an Palästina nicht vorbeisehen zu können.
Dazu trägt die Hamas das Ihre bei – soweit eben ihre Waffen, ihre darauf beruhende Kriegführung und ihre mutige Entschlossenheit zum Hinmetzeln und Hinmetzeln-Lassen reichen. Den anderen, viel größeren Part dafür, dass diese Berechnung aufgeht, soll auch in den Kalkulationen der Hamas Israel selber übernehmen: Dessen wuchtige Antwort, die schiere Dimension eines wirklichen von der regionalen Supermacht geführten Krieges braucht es schon, damit nicht nur irgendwie „die Weltöffentlichkeit“, sondern die Gemeinde der Weltmächte es spannend bis unumgänglich findet, sich der Sache anzunehmen.
2. Israel im Krieg
„Bürger Israels,
Wir befinden uns im Krieg, nicht in einer Operation oder in einer neuen Runde von Kämpfen, sondern im Krieg. Heute Morgen hat die Hamas einen mörderischen Überraschungsangriff gegen den Staat Israel und seine Bürger gestartet. Wir befinden uns seit den frühen Morgenstunden in diesem Krieg.
Ich habe die Leiter des Sicherheitsapparats einberufen und angeordnet, zunächst einmal die von Terroristen infiltrierten Gemeinden zu räumen. Dies wird derzeit durchgeführt. Gleichzeitig habe ich eine umfassende Mobilisierung der Reserven angeordnet. Wir werden das Feuer in einem Ausmaß erwidern, wie es der Feind noch nie erlebt hat. Der Feind wird einen noch nie dagewesenen Preis zahlen. Ich rufe die Bürger Israels auf, sich strikt an die Weisungen der IDF und des Heimatfrontkommandos zu halten. Wir befinden uns im Krieg und wir werden ihn gewinnen.“ (Israels Premierminister B. Netanjahu am 7.10.23)
Der israelische Staat hat es genauso wenig wie alle seinesgleichen mit menschelnden Verwechslungen: In Person seines Vorsitzenden gibt er zu Protokoll, dass er verstanden hat und bestätigt, dass der blutige Anschlag der Hamas ihm: seiner Souveränität gilt; in Person der Bürger bestreitet die Hamas dem Staat Israel seine Unverletzlichkeit – die Tötung und Entführung der schutzbefohlenen Bürger Israels fordert deren Schutzmacht heraus. Die lässt sich herausfordern, und ihre Führer behaupten nun ihrerseits, dass ihre Existenz als unangreifbare Schutzmacht ihrer Bürger auf dem Spiel steht. Die Praxis, die durch solche Beschwörungen angekündigt wird, steht damit fest: Krieg.
a)
Den ordnet der oberste politische Kriegsherr Israels in Form einer vorauseilenden Absage gleich selbst in eine Kontinuität ein: Mit der Betonung, dass diesmal keine der üblichen Runden militärischer Operationen gegen den palästinensischen Gegner anstehe, sondern ein richtiger Krieg, erinnert er sich und alle seine Adressaten an den Stand der Dinge. Der besteht seit über einem Jahrzehnt darin, dass Israel mit der im Zuge des innerpalästinensischen Machtkampfs an die Macht im Gazastreifen gekommenen Hamas so verfährt, dass es nicht nur deren politischen Staatsgründungsanspruch vehement bestreitet, sondern überhaupt ablehnt, sich politisch mit ihr ins Benehmen zu setzen. Das ist die Praxis des in der Staatsräson Israels verankerten Widerspruchs, die arabischen Bewohner dieses Gebietes als Fremdvolk auszugrenzen und gleichwohl die Bestimmungshoheit über das von ihnen bewohnte Gebiet zu beanspruchen. Für den Gazastreifen bedeutet das seit dem Abzug der israelischen Siedler und Truppen im Jahr 2005: Das Landstück ist einerseits in einen dauerhaften Belagerungszustand versetzt, der aber andererseits nicht das Vorspiel zu einer Eroberung sein soll; die Hamas wird einerseits als Terrortruppe definiert und bekämpft, die man aber andererseits als territorial eingrenzbares und eingegrenztes Problem unter Kontrolle halten und aushalten kann; ihren Existenzgrund und damit ihre Existenzberechtigung bestreitet Israel einerseits fundamental, andererseits arrangiert es sich mit ihrer gewaltsam eingehegten Existenz als Mittel der Kontrolle des ansonsten komplett unkontrollierbaren Landstücks; die über 2 Millionen Gazawis werden einerseits als Basis der Hamas für jede ordentliche und außerordentliche Form von deren Bekämpfung haftbar und zum Opfer gemacht und andererseits mit aller brutalen Konsequenz als leidiges humanitäres Problem behandelt, dessen Handhabung Israel an die zuständigen internationalen Instanzen abgetreten hat, mit denen es sich darüber verständigt, wo die allein von ihm zu ziehenden Grenzen zwischen Lebenshilfe und Terrorunterstützung liegen. Die Entschlossenheit zu dieser Trennung leugnet nicht, sondern geht davon aus, dass sie der Sache nach gar nicht zu machen ist. Genau darum gibt es die periodischen größeren Kriegskampagnen, durch die alle paar Jahre wieder, vorzugsweise im Sommer, die Welt kurz ins Grübeln über den vertrackten Nahost-Konflikt gerät, und dazwischen findet der in Israel offiziell so genannte „war between wars“ statt.
Ultimative Bestreitung des politischen Existenzrechts eines staatlichen palästinensischen Gemeinwesens als Modus Vivendi: als für Israel dauernd präsente Bedingung eines davon nicht gestörten zivilen Lebens [5] – das unterstellt eine militärische Überlegenheit, die ernsthafte Bedrohungen und Herausforderungen ausschließt.
Das ist und das sieht der israelische Staat mit dem gelungenen Überfall der Hamas grundlegend bestritten. Er hat es – so wird ihm vorgeworfen und wirft er sich selbst vor – zugelassen, dass die Hamas aus dem Dauerszenario eines territorialen Belagerungszustands mit gelegentlichen, durch die technischen Abwehrmöglichkeiten auf ein gut handhabbares Schadensrisiko reduzierten Raketenkampagnen ausgebrochen ist. Für ein paar Stunden haben sich die feindlichen Palästinenser auf seinem Territorium aufgehalten, haben die militärischen und polizeilichen Schutzvorkehrungen überwunden, deren Personal getötet, sind in die von diesem Personal bewachten Ortschaften eingedrungen und haben die mit der mörderischen Konsequenz ‚gesäubert‘, die einer Truppe eigen ist, die mit dem Ethos der Befreiung ihres Landes von feindseligen Fremden agiert. Also kündigt Israel seinerseits den bisherigen Modus der Existenzbestreitung für das von der Hamas auf dem Gazastreifen beanspruchte palästinensische Staatswesen: Jetzt ist Krieg. Es begibt sich praktisch in den Kriegszustand. Der offiziell verkündete Kriegszweck lautet diesmal Vernichtung des Gegners Hamas. [6] Das ist nur konsequent. Denn die israelische Definition der Hamas als Terrortruppe ist ja nichts anderes als der Anspruch, dass die Hamas mit nichts von dem, was sie will, irgendein Recht hat und bekommen darf. Deren Existenz und Aktivitäten nimmt der Staat, das ist der ganze Inhalt dieser Definition, als Anschlag auf sich, den er nicht dulden darf, will und wird. Von daher ist, anders als andere Fälle staatlich definierter Illegalität, Terror an der Wurzel zu bekämpfen, sein Sumpf auszutrocknen und jeder irgendwie berechnende Bezug darauf zu unterbinden. Insofern ist die Ankündigung der israelischen Führung, die Hamas nun wirklich zu vernichten, nur der verkündete Vollzug dessen, dass Israel deren Gewalt per se als politisches Verbrechen definiert, mit dem es keinesfalls leben will.
Die Einordnung der Hamas-Aktion als den für Juden tödlichsten Anschlag seit dem Holocaust markiert überdies die Dimension, die Israel selbst dem Ereignis gibt, also die Dimension aller Konsequenzen, die seine Führer daraus folgen lassen. Denn mit dieser Einordnung erklären sie die nationale Staatsräson in ihrer idealen Fassung – nämlich dem weltweit verfolgten Judentum die Sicherheit einer eigenen militärisch unangreifbaren Herrschaft zu bieten – für grundsätzlich angefochten. Das gibt diesem antiterroristischen Vernichtungskampf seine höchste moralische Rechtfertigung als welthistorische Pflicht.
b)
Zugleich ist die Eliminierung der Hamas als Terrorverein nicht einfach als Vollstreckung eines höchst- resp. allerhöchstrichterlichen Urteils zu haben. Denn die Hamas ist eben mehr als ein Haufen gewalttätiger Politdesperados, die eine Staatsmacht in ihrem Innern nach den Regeln der antiterroristischen Kunst verfolgt, isoliert, stellt und zur Strecke bringt. Sie verfügt über einen militärischen Apparat mit einer Personalstärke von 30 000 bis 40 000 Mann, die mit leichten bis schweren Waffen, diversen militärischen Fahrzeugtypen, Raketen von unterschiedlicher Präzision und Reichweite usw. ausgerüstet sind. Eine souveräne Staatsgewalt ist und repräsentiert die Hamas zwar nicht, aber den Gazastreifen zur Basis ihrer antiisraelischen Gewaltentfaltung zu machen, ist ihr über die Jahre gelungen. Ihrer totalen Unterlegenheit gegenüber dem wirklich souveränen Israel und seinem überlegenen Militär hat sie dadurch Rechnung getragen, dass sie ihre militärischen Strukturen quasi klandestin in und unter die zivile Infrastruktur des Gazastreifens eingebaut hat. Dessen Bewohner sind das virtuelle Volk ihres zukünftigen Staates und die Rekrutierungsbasis für ihren gegenwärtigen Kampf – um sie kümmert sich die Hamas darum zugleich mit Schulen, Armenbetreuung, Gesundheitsversorgung usw. All das gerät nun folgerichtig ins Visier der israelischen Macht bei der kriegerischen Vernichtung der Hamas, das gibt der Aktion die Dimension eines richtigen Krieges mit den zu einem solchen gehörenden Mitteln. Die setzt Israel so ein, wie es seinem verkündeten Kriegszweck entspricht. In der Kombination aus absoluter Präzision und gigantischer Zerstörungswirkung ihrer Waffen macht die israelische Militärmacht Ernst mit der Vernichtungsankündigung: Sie will keinen gegnerischen Willen beeindrucken, den in das Eingeständnis einer totalen Niederlage, also in eine Kapitulation treiben, sondern dessen leibhaftige Vertreter eliminieren. Weil die sind, wo sie sind, ist das der Zerstörungsbeschluss für alles, was ihre Umgebung ausmacht, also das Todesurteil für alle, die sich dort aufhalten. Wer es schafft, dem gibt das israelische Militär die Gelegenheit, davor wegzulaufen und nicht weiter dabei zu stören.
Diese Variante von asymmetrischem Krieg geht ihren Gang. Dabei halten sich die befehlenden und ausführenden Handwerker nicht mit juristischen Erwägungen über die Anwendbarkeit oder Nichtanwendbarkeit des Kriegsvölkerrechts auf die von ihnen zu vollziehende spezielle Kriegskonstellation Staat vs. Möchtegern-Staat mit Bevölkerung auf; auch die moralische Frage, ob es schlimmer ist, sich hinter „menschlichen Schutzschilden“ zu verstecken oder auf letztere draufzuschlagen, ist ihre Sache nicht. Und auch ihre politischen Oberbefehlshaber stört an solchen vor allem im Ausland laut werdenden Debatten, wenn überhaupt irgendetwas, dann etwas ganz anderes als deren juristischer oder moralischer Inhalt. Interessant sind solche Wortmeldungen für Israels Führung in praktischer Hinsicht nur, insofern sich darin das politische Interesse fremder Mächte äußert, das die an Israels Krieg haben. Denn das ist die andere Seite davon, dass die ultimativ angelegte Bekämpfung der Hamas sich eben doch gegen etwas anderes als eine Terrortruppe richtet, die jeder Staat als innere Angelegenheit abwickelt. Unbehelligt zu sein von auswärtiger Einmischung im Kampf gegen die Hamas mit ihrem feindlichen, auf einem Territorium eingehausten Staatsgründungswillen, das international und ja auch von Israel selbst gar nicht als israelisches Hoheitsgebiet betrachtet und behandelt wird, das vielmehr nahe wie ferne Nachbarn als eigenen Zuständigkeitsbereich behandeln – und die Einwohnerschaft als interessante Manövriermasse ihrer Politik –, diese Freiheit muss sich Israel eigens verschaffen. Das macht es zum einen mit genau der überlegenen Militärgewalt, die es nun gegen die Hamas einsetzt: Es ist die militärische Dominanz gegenüber allen in der Region angesiedelten Staaten, mit der Israel die davon abschreckt, sich störend einzumischen. Der „qualitative military edge“, den sich Israel denen gegenüber ausbedingt, sich mithilfe der USA verschafft hat und sich sogar schriftlich von denen hat garantieren lassen, ist die seit Jahrzehnten aufrechterhaltene und immer weiter ausgebaute Grundbedingung dafür, mit den Palästinensern – nicht nur – im Gazastreifen auf die absurde Weise zu verfahren, die diese zu einem Nichtstaatsvolk macht, das stört. Die wirklich eigene Qualität erhält der Vorsprung zu den anderen Staatsgewalten aber zum andern nicht einfach durch das überlegene konventionelle Potenzial, von dessen gewaltiger Zerstörungswirkung man nun einen Teil im Gazastreifen vorgeführt bekommt. Es ist seine Atomwaffe, die Israel den Status einer regionalen Militärsupermacht verleiht. Damit die ihren Zweck als Abschreckungsmittel gegen die feindseligen Staaten in der Umgebung entfalten kann, beansprucht Israel gleich auch noch ein regionales Atomwaffenmonopol. Das tut seine Wirkung auch für den gegenwärtigen Krieg. Und dass Netanjahu seinen Minister Amihai Eliyahu sofort zurückgepfiffen und suspendiert hat, der die Option eines Einsatzes dieses auf andere Staaten gemünzten Abschreckungsmittels für die Vernichtung der Hamas ins Spiel gebracht hat, ist in dem Sinne nur folgerichtig: In der Freiheit, die sich Israel für seinen Gaza-Krieg nimmt, ist „die Bombe“ längst erfolgreich im abschreckenden Einsatz.
Dass es dabei auch bleibt, will die wirkliche, globale Militärsupermacht Amerika eigens sicherstellen. Und zwar auf die einzige Art, in der das zu haben ist: Sie pflanzt sich mit einem riesigen Militäraufmarsch in die Region und begleitet das mit der bündigen Klarstellung: „Let me say again – to any country, any organization, anyone thinking of taking advantage of this situation, I have one word: Don’t. Don’t.“ Damit hat der Antiterrorkrieg Israels definitiv und offiziell die Dimension eines regionalen Krieges von internationaler Bedeutung. Amerika vollendet die israelische Freiheit zur Eliminierung der Hamas dadurch, dass es die Frage der Abschreckung aller anderen an sich reißt und damit alle Kalkulationen auf sich lenkt und bezieht. Die USA zwingen alle Interessenten an dem wüsten Geschehen, dabei zuzusehen, also sich gefallen zu lassen, wie Israel gegen die Hamas vor- und dabei über tausende Leichen geht und dass es dafür vom ersten Tag an umfangreiche Hilfen von seiner großen Schutzmacht bekommt.
Das macht die Gewaltaffäre für alle interessierten Mächte allerdings nur umso interessanter. Gerade der Eindruck, den Amerika auf sie in Sachen „Don’t!“ macht, stachelt sie dazu auf, es – nunmehr im Verhältnis vor allem zur amerikanischen Weltmacht – dabei nicht einfach zu belassen. Je nach Interessenlage und Betroffenheit bringen sie ein, was sie teils einzeln, teils im Verein an Macht haben und sich an Wichtigkeit zusprechen, und testen aus, wie weit sie damit kommen, als Mitspracheberechtigte bezüglich Krieg, Kriegspausen, der Perspektive für ein Kriegsende und eine Nachkriegsordnung anerkannt zu werden. Die internationalen Diplomaten haben also – wie bei jedem richtigen Krieg – wieder einmal viel zu besprechen, und die Opfer des Krieges damit endgültig ihren guten Sinn.
[1] Einerseits haben die Regenten in Kairo Interesse an einem halbwegs stabilen Gazastreifen, wozu ein bisschen Grenzhandel ganz nützlich ist; zugleich sind den ägyptischen Militärs die mit heimischen Muslimbrüdern verbandelten Hamas-Islamisten politisch verhasst, sodass sich ihr Interesse an einem wirtschaftlich irgendwie funktionierenden Gazastreifen auch wieder extrem in Grenzen hält. Außerdem wollen sie jede Armuts- und Terrormigration aus dem Elendsstreifen auf die Sinai-Halbinsel verhindern, die nicht nur ein wunderbarer Tauchspot, sondern auch Schauplatz militärischer Terrorismusbekämpfung ist. Was es an Tunnelschmuggel gibt, behalten sie daher im Auge, begrenzen es beizeiten, und inzwischen ist der ägyptisch-palästinensische Schmuggel so gut wie ausgetrocknet. Nicht zuletzt wird Ägyptens Blick auf den Gazastreifen auch davon bestimmt, sich unerwünschte Gegensätze mit Israel vom Halse zu halten.
[2] Vgl. dazu: „Gaza-Krieg 2014: Israels Kampf um die Einstaatenlösung“ in GegenStandpunkt 3-14.
[3] Bereits 2012 sind laut offiziellen Statistiken seit Beginn der israelischen Okkupation 20 % der palästinensischen Bevölkerung und 40 % der männlichen Palästinenser mindestens einmal in israelischen Gefängnissen eingesessen. Spezielle Statistiken gibt es auch für Kinder, für Gefangene ohne Anklage etc. pp. Im kollektiven national-palästinensischen Hass auf Israel nimmt das einen prominenten Platz ein, mit allen Facetten kultureller Verarbeitung, eigenen Literaturgattungen usw.
[4] In seiner großen Ansprache vom 3.11.23 hat Hisbollah-Generalsekretär Nasrallah sehr viel Wert darauf gelegt, wie wirksam die Hilfe seiner Truppen für die palästinensischen Brüder und Schwestern allein durch den massiven Aufmarsch im Südlibanon ist: Seinen Worten zufolge bindet der nämlich bis dato ein Drittel der israelischen Bodentruppen, die Hälfte der israelischen Marine, ein Viertel der israelischen Luftverteidigung; der Beschuss Nordisraels durch den Hisbollah habe schon zu der umfangreichen Evakuierung von Zivilisten aus den Ortschaften in diesem Gebiet geführt, was erstens diese nunmehr zu legitimen militärischen Zielen mache, zweitens für eine Vergrößerung der Schäden für die israelische Wirtschaft sorge und drittens – auch der Hisbollah beherrscht diese Logik, und sie ist ja auch nicht einfach eine kontrafaktische Erfindung – zeige, wie sehr Israel, das angeblich unbesiegbare, damit zu tun habe, seiner Feinde Herr zu werden.
[5] Ausführungen zu den Besonderheiten eines so definierten zivilen Innenlebens in Israel finden sich in dem Artikel „Israel 2019: Imperialistische Musterdemokratie in zionistischer Mission“ in GegenStandpunkt 4-19.
[6] Der verletzte Rechtsstandpunkt, mit dem Israel nun auch diesen Krieg führt, erstreckt sich ausdrücklich auf alle Juden weltweit. Denen drängt sich Israel, egal wo und unter welchen Bedingungen sie leben, als alternative Heimat und Zufluchtsstätte auf. Und sie werden für den aktuellen Krieg, dessen Zweck Vernichtung der Hamas lautet und mit allen Konsequenzen Schritt um Schritt umgesetzt wird, als Berufungsinstanz zitiert, ob ihnen das nun passt oder nicht. Aufgegriffen wird diese von Israel machtvoll beanspruchte Identität vielerorts auf der Welt zugleich und mit bedrückender Folgerichtigkeit genau umgekehrt: Unter arabischen bzw. islamischen Mehr- oder Minderheiten ist es üblich, die moralische Empörung über den Krieg mit einer Welle von Feindseligkeiten gegen die Juden zu quittieren, die vor Ort wohnen. Auch die aufgeregten Palästinafreunde und Israelfeinde wollen eben wieder einmal nichts auseinanderhalten: Sie machen die Juden, die weder ihnen noch irgendeinem Gaza-Bewohner eine Bombe aufs Haus geworfen haben, für den Krieg Israels verantwortlich, und servieren damit israelischen Politikern die nächste Vorlage, ihre ausgreifende Schutzmachtbehauptung zu erneuern: Allen Ernstes versichert z.B. der israelische Präsident den Juden in aller Welt in einer Ansprache, dass sie jederzeit nach Israel kommen können, wenn ihnen die nationalistische Gewalt zu bedrohlich erscheint, der sie sich im Zuge des israelischen Krieges ausgesetzt sehen, für den sie von beiden Seiten moralisch verhaftet werden. Ausgerechnet den dürfen sie sich nun umgekehrt als Dienst an ihnen zurechtlegen: Um ihnen jederzeit als sichere Zufluchtsstätte zur Verfügung stehen zu können, darf und muss Israel sich entschlossen gegen seine Feinde zur Wehr setzen, wofür es ihre Solidarität beanspruchen darf: „Israel ist für euch da, und ihr seid für Israel da... Zusammen werden wir stärker daraus hervorgehen. Dessen bin ich sicher.“