Kriegs-Chronik aus der Ukraine
Episoden des dementierten Russland-NATO-Kriegs

In der Ukraine sind die drei aktiven Kriegsparteien mit der zielstrebigen Eskalation des kriegerischen Tötens und Verwüstens befasst; alle nach der Maxime, den Feind darin immer wieder zu überbieten, bis der nicht mehr mitgehen will oder kann – und auf keinen Fall derjenige zu sein, der irgendwann einlenkt. Dabei machen Russland und die USA mit ihren wechselseitigen Warnungen vor dem Einsatz von Atomwaffen deutlich, welche letzten Konsequenzen sie sich vorbehalten.

Wir haben für diese Ausgabe des GegenStandpunkt Momente des laufenden Kriegsgeschehens, der dazu verabreichten Erklärungen und der diplomatischen Begleitaktionen notiert, erläutert und in die Form einer Chronik gebracht, um exemplarisch festzuhalten, wie diese Eskalation vonstattengeht: in größeren und kleinen Schritten, die über die unmittelbaren Kriegsparteien hinaus auch den ganzen Rest der Welt in die Auseinandersetzung hineinziehen und schon dabei sind, im nationalen und internationalen Staatsleben alltäglich zu werden.

Gründe zur Parteinahme auch nur in dem Sinn, dass die Kriegszwecke und -aktionen einer der engagierten Parteien für die einer anderen – „immerhin“ – ein gewisses Verständnis wecken könnten, haben wir dabei nicht gefunden.

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Kriegs-Chronik aus der Ukraine

1.

Kriegschroniken werden verfasst, um am Leitfaden der Frage, wer angefangen hat, Täter und Opfer zu unterscheiden, so den Schuldigen zu ermitteln, dementsprechend Partei zu nehmen und sich damit das ganze grauenhafte Geschehen zu erklären. Dabei folgt die Parteinahme, wenn sie mit praktischen Konsequenzen von Staaten, nämlich deren Machthabern getroffen wird, nicht der Moral und auch nicht irgendeiner Rechtslage, sondern dem politischen Interesse, das – es ist ja eines der höchsten Instanz – als Recht, folglich mit Gewalt geltend gemacht wird. Beim zweckmäßig agitierten Publikum ist sie moralischer Natur, orientiert sich regelmäßig an den Entscheidungen, die in der Nation praktisch gelten, und lebt als privates Urteil – ohne andere Folgen als solche für den persönlichen Gefühlshaushalt – von der Dummheit, gerade in größeren zwischenstaatlichen Gewaltaffären den als Opfer eingestuften Staat, also einen jedes menschliche Maß überschreitenden Herrschaftsapparat, wie eine menschliche Person anzusehen, der man als redlicher Zeitgenosse gegen einen Überfall beizustehen hätte; und das bei näherer Überlegung auch noch ausgerechnet deswegen, weil die wirklichen Menschen mit ihrem ganzen Dasein diesem Herrschaftsapparat als seine Verfügungsmasse unterworfen, quasi inkorporiert sind.

Im Fall Ukraine-Krieg ist die Sache einfach und sofort erledigt: Mit dem Stichwort „Angriffskrieg“ – bei Bedarf mit Zusätzen wie „Putins“ „brutaler“ „unprovozierter“ – ist für nahe an 100 Prozent der freiheitlich-demokratischen Öffentlichkeit die Kriegsschuld geklärt, die Frage nach dem Kriegsgrund beantwortet: Allein und absolut Schuldiger ist Russland; als besondere Gründe kommen „Imperialismus“, „Angst vor Demokratie“, „postsowjetischer Phantomschmerz“ oder überhaupt nur „böse“ in Betracht. Auf Chronologien des Kriegsgeschehens wird deswegen natürlich nicht verzichtet. Sie geben den Kriegsverlauf wieder, gerne anhand so wertneutraler Fragestellungen wie: Wie sehr hat Putin sich verzockt? Warum dauern westliche Waffenlieferungen an die Ukraine so lange? Zerfällt die russische Armee? Was fehlt noch für eine erfolgreiche Offensive der Ukraine? Oder auch: Warum ist der ‚globale Süden‘ noch nicht auf antirussischer Linie? Auch da, wo der Informationsteil der Berichterstattung sich mit gekonnter Empörung über russische Missetaten, Genugtuung über russische Opfer, Häme im Fall russischer Niederlagen, Hoffnung auf ukrainische Siege etc. zurückhält, beherrscht die moralische Verurteilung Russlands als allgegenwärtige Prämisse jede ‚Erzählung‘ aus dem Kriegsgebiet.

2.

Die Penetranz dieser dezidiert antirussischen Berichterstattung provoziert manche alte Russland-Freunde zu dem Plädoyer, der Gegenseite doch auch einmal wenigstens Gehör zu schenken. Sie machen geltend, dass die Politik des Westens – die Osterweiterung der NATO, die ökonomische Annexion der ehemaligen Sowjetrepubliken durch die EU, die Förderung ‚farbiger‘ Revolutionen in Russlands ‚nahem Ausland‘ – in der Vorgeschichte des Krieges nicht außer Acht gelassen werden dürfe, dass also zumindest von „unprovoziert“ nicht ernsthaft die Rede sein kann. Dabei wird das alles im Rahmen der liberal-pluralistisch antirussischen Meinungsbildung gar nicht ignoriert oder verschwiegen. Da leistet man sich vielmehr ganz unbefangen den Widerspruch, aus erster und zweiter Hand wiederzugeben und auch selbstständig daran zu erinnern, dass, seit wann, in welchem Umfang, mit welchen Mitteln, sogar mit welcher weitreichenden Zielsetzung die USA und europäische NATO-Mächte die Ukraine auf einen Krieg mit Russland vorbereitet haben, den Krieg, wie er jetzt stattfindet, als ihre Sache betreiben – und zugleich das alles und insbesondere die antirussischen Kriegsziele des Westens als Lügengespinst zurückzuweisen, wenn auch nur etwas davon in offiziellen russischen Stellungnahmen zur Erklärung des eigenen Vorgehens erwähnt wird. Russland hat angefangen – wem damit nicht gleich alles klar ist, der macht sich nicht bloß als Abweichler verdächtig, sondern der Befürwortung eines Verbrechens schuldig.

3.

Tatsächlich hat eine alternative Chronologie, die den Blick auf das Geschehen einmal über den Februar 2022 hinaus nach rückwärts ausweitet, einiges für sich: Im besten Fall lernt man die imperialistischen und die antiamerikanischen, die speziell euroimperialistischen und die nationalistischen Berechnungen genauer kennen, die von den drei Kriegsparteien seit über einem Jahr so unerbittlich in die Tat umgesetzt werden.[1] Und weil alle Kriegsparteien unter Verweis auf die Kriegsziele und Kalkulationen ihrer Feinde für sich in Anspruch nehmen, im Sinne der rechtfertigenden Unterscheidung von Opfer und Täter in Wahrheit der angegriffene Teil zu sein, der sich verteidigen muss und dazu auch alles Recht der Welt hat, kann man diese Berechnungen durchaus auch mal als Stoff für eine sachliche Erklärung hernehmen, was die Kriegsparteien tatsächlich so unbedingt zu verteidigen haben, i.e. welcher Räson ihrer Herrschaft sie folgen, wenn sie daraus die Unvereinbarkeit ihrer staatlichen Macht mit der ihrer Gegner folgern. Das hat immerhin den Vorteil, dass man – im besten Fall – auf die politische Notwendigkeit ihres Krieges zu sprechen kommt: auf die wirklichen Kriegsgründe, an denen sich jede moralische Bewertung blamiert.

Die „historische Wahrheit“ über die Vorgeschichte des Ukraine-Krieges, so wie sie etwa von linken Friedensfreunden zwecks Korrektur der offiziellen und auch inoffiziell allgemeinverbindlichen Hetze ins Feld geführt wird, hat darin ihren entscheidenden Mangel: Aus der Dummheit der Schuldfrage führt sie nicht wirklich heraus. Am Ende ist sie nur die alternative Fassung des Fehlers, den Krieg per Schuldzuschreibung, nur eben nicht so einseitig antirussisch oder womöglich andersherum, zu erklären. Und etwas anderes kann die Frage, wer wirklich angefangen hat und wer zu Recht den Opferstatus für sich reklamieren kann, auch gar nicht erbringen, weil der historische Regress nach dem Schema von Reiz und Reaktion immer da stehen bleibt, wo entweder ein parteiliches Interesse sich ins Recht gesetzt sieht oder ein überparteilicher Standpunkt auf unentschieden plädiert – beides das Gegenteil einer Erklärung.

4.

In der Ukraine sind die drei aktiven Kriegsparteien mit der zielstrebigen Eskalation des kriegerischen Tötens und Verwüstens befasst; alle nach der Maxime, den Feind darin immer wieder zu überbieten, bis der nicht mehr mitgehen will oder kann – und auf keinen Fall derjenige zu sein, der irgendwann einlenkt. Dabei machen Russland und die USA mit ihren wechselseitigen Warnungen vor dem Einsatz von Atomwaffen deutlich, welche letzten Konsequenzen sie sich vorbehalten.

Wir haben für diese Nummer Momente des laufenden Kriegsgeschehens, der dazu verabreichten Erklärungen und der diplomatischen Begleitaktionen notiert, erläutert und in die Form einer Chronik gebracht, um exemplarisch festzuhalten, wie diese Eskalation vonstattengeht: in größeren und kleinen Schritten, die schon dabei sind, im nationalen und internationalen Staatsleben alltäglich zu werden.

Gründe zur Parteinahme auch nur in dem Sinn, dass die Kriegszwecke und -aktionen einer der engagierten Parteien für die einer anderen – ‚immerhin‘ – ein gewisses Verständnis wecken könnten, haben wir dabei nicht gefunden.

[1] In diesem Sinne war der Kampf zwischen Russland und dem Westen in der und um die Ukraine in dieser Zeitschrift seit dem Umsturz 2014 immer wieder Thema. Eine Sammlung der einschlägigen Artikel aus den letzten Jahren findet sich hier.