KW 18

Am 3. Mai kursiert ein Video, das Rauchwolken über dem Kreml zeigt. Das russische Militär berichtet, dass es zwei Drohnen kurz vor dem Einschlag abgeschossen hat. Eine Aktion des ukrainischen Militärs, wie die Russen behaupten? Oder waren russische Kriegsgegner am Werk? Ukrainische Freiwilligenverbände mit selbst erteiltem Auftrag? Oder – „false flag“ – die russischen Kriegsherren selbst? Die allgegenwärtigen Russland-Experten wissen es auch nicht. Aber im Wettbewerb um die gehässigste Interpretation des Vorfalls, der sofort anhebt, lässt sich jeder Variante etwas abgewinnen.

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Episoden des dementierten Russland-NATO-Kriegs
KW 18

Anlässlich zweier Drohnen über dem Kreml: „Kommt der Ukraine-Krieg jetzt nach Russland?“ – Eskalieren mit Augenmaß!

Am 3. Mai kursiert ein Video, das Rauchwolken über dem Kreml zeigt. Das russische Militär berichtet, dass es zwei Drohnen kurz vor dem Einschlag abgeschossen hat.

Eine Aktion des ukrainischen Militärs, wie die Russen behaupten? Oder waren russische Kriegsgegner am Werk? Ukrainische Freiwilligenverbände mit selbst erteiltem Auftrag? Oder – „false flag“ – die russischen Kriegsherren selbst? Die allgegenwärtigen Russland-Experten wissen es auch nicht. Aber im Wettbewerb um die gehässigste Interpretation des Vorfalls, der sofort anhebt, lässt sich jeder Variante etwas abgewinnen. Spricht er für Unfähigkeit in Sachen Flugabwehr und beweist einmal mehr die Dämlichkeit des Feindes? Oder eher die Zerrissenheit von Volk und/oder Führung? Hat sich die russische Bosheit Vorwände für eine weitere Eskalation gesucht? Oder unterschätzt Putins Infamie, wer glaubt, dass er Eskalationen für begründungsbedürftig hält? Zutrauen kann man den Russen alles, weil man es will.

Die unklare Beweislage gibt der Presse Anlass, an Ereignisse zu erinnern, die etwas weniger im Dunkeln liegen. Hiesige Medien lassen Revue passieren, was in Sachen ukrainischer Angriffe auf russisches Territorium bislang schon gelaufen und in ihrer Berichterstattung, eher beiläufig, auch erwähnt worden ist:

„Das Datenprojekt Acled zählte bis Ende Februar 2023 mehr als 300 offenbar ukrainische Angriffe auf Ziele innerhalb Russlands. Mindestens 27 Angriffe galten Militärbasen, Flughäfen oder Energieinfrastruktur, schrieb die Washington Post. Am 26. Dezember 2022 etwa wurden zwei bombentragende Drohnen über dem Hunderte Kilometer von der Ukraine entfernten Militärflughafen Saratow Engels-2 abgeschossen, Basis der mit Atombomben bestückten Langstreckenbomber Russlands.“ Mit ihrer Drohne UJ-22 „soll die Ukraine Ende Februar einen gescheiterten Angriff auf eine Gasinstallation in Kolomna geflogen haben, 110 Kilometer südöstlich von Moskau“ (SZ, 4.5.23).

Unbefangen wird über die Unbefangenheit berichtet, mit der die Ukraine sich über die roten Linien hinwegsetzt, die Russland seinen Kriegsgegnern zieht: Auch sie beschießt das Territorium des Feindes, zerstört kriegswichtige Infrastruktur und zielt am „Hunderte Kilometer von der Ukraine entfernten Militärflughafen Saratow Engels-2“ auch schon mal ein bisschen auf den Kern von dessen Militärmacht. Angriffe finden mittlerweile „weit hinter der russischen Front“ statt, offenbar unter Zuhilfenahme der tatkräftigen Unterstützung der NATO-Freunde wie etwa „der Aufklärung der Schwachstellen“ Russlands „durch Satellitenbilder“ (ebd.).

Wenn Präsident Selenskyj mit einer „Attacke Kiews auf den Kreml“ gleich noch etwas mehr dementiert, nämlich die längst durchgezählten Angriffe auf das russische Kernland – „Wir greifen Putin oder Moskau nicht an, wir kämpfen auf unserem Territorium, unsere Dörfer und Städte verteidigend. Wir haben nicht einmal genug Waffen, um dies zu tun“ (ebd.); wenn das eine Mal Sprecher der ukrainischen Seite behaupten, Zerstörungen im Feindesland nur mit klammheimlicher Freude aus der Ferne zu verfolgen; [1] wenn ein andermal Führungskräfte aus der zweiten Reihe sich zu Angriffen bekennen, die die erste bestreitet – dann entdeckt die Öffentlichkeit hinter den offensichtlichen Lügen nur die gute diplomatische Absicht.

Denn eine ernste Frage wirft der ukrainische Wagemut ja auf. Die ist nicht, ob „der Ukraine-Krieg jetzt nach Russland kommt“ (FR, 3.5.23), sondern die ganz andere, ob Russland die Weise, in der der Krieg sich auf russisches Territorium ausweitet, als entscheidenden Eskalationsschritt einstuft und – vor allem – mit dem westlichen Förderer seines ukrainischen Feindes kurzschließt. Solange Russland „rätselhafte Brände“ als Sabotageakte oder ukrainische „Nadelstiche“ verbucht und entsprechend militärisch bestraft, ist das ein Problem der ukrainischen Freunde und geht in Ordnung. Aber dabei soll es auch bleiben.

Dass es das nicht muss, geben die Russen nach dem Drohnen-Abschuss zu Protokoll:

„‚Wir wissen, dass die Entscheidung über solche Handlungen und Terrorakte nicht in Kiew getroffen wird, sondern in Washington. Und Kiew führt aus, was ihnen gesagt wird‘, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow der Nachrichtenagentur Interfax zufolge, ohne dafür irgendwelche Beweise vorzulegen. ‚Die Bemühungen Kiews und Washingtons, jegliche Verantwortung [für den Angriff] zu leugnen, sind völlig lächerlich.‘“ (n-tv, 4.5.23)

John Kirby, Kommunikationsdirektor des amerikanischen Nationalen Sicherheitsrats, antwortet im heimischen Fernsehen, die USA wüssten „nicht einmal genau, was hier passiert ist“ (ebd.). Und überhaupt – auf die Taten, zu denen sie die Ukraine befähigen, lassen die USA sich nicht ansprechen. Es handelt sich um souveräne Entscheidungen eines selbstständig handelnden politischen Subjekts; davor hat Amerika bekanntlich höchsten Respekt:

„Auf die Frage, ob die USA die Ukraine kritisieren würden, sollte sie sich entscheiden, auf russischem Gebiet zurückzuschlagen, antwortete Blinken, dies seien Entscheidungen, die die Ukraine treffen müsse.“ (BR24, 3.5.23)

Die westliche Führungsmacht will, wie es so wunderbar maßvoll heißt, keine unkontrollierte Eskalation. Sie ist also für jede Eskalation zu haben, die Russland an die Grenzen seiner lokalen Spezialoperation treibt, tut, als Unterstützer und Waffenlieferant, was sie kann, um die Ukraine dazu in die Lage zu versetzen, und besteht dabei darauf, nicht selbst in den Krieg ‚hineingezogen zu werden‘. So definiert sie die Grenzen der ukrainischen Kriegführung und macht den Stellvertreter, der ihre Mäßigungsgebote offiziell anerkennt und praktisch immer wieder durchkreuzt, im Wechselspiel von Gewährenlassen und Zurückpfeifen zum Mittel des eigenen Austestens der feindlichen Atommacht.

„Der Grund für die selbst auferlegte Zurückhaltung leuchtet ein: Die Nuklearmacht Russland verfügt über die ultimative Eskalationsdominanz und hat stets signalisiert, dass sie zum Einsatz einer taktischen Atomwaffe bereit ist, wenn russisches Territorium angegriffen wird.“ (SZ, 3.5.23)

Bei der Missachtung dieses Signals will Amerika nicht leichtsinnig vorgehen...

Ukrainische Flaggen verboten – ein Berliner „Gipfel der Taktlosigkeit“ ( Bild )

Am 8. und 9. Mai wird in Berlin an den sowjetischen Ehrenmälern mit öffentlichen Feierlichkeiten des Zweiten Weltkriegs gedacht. Aufgabe der Berliner Polizei ist es, nicht nur die öffentliche Ordnung sicherzustellen, sondern auch dafür Sorge zu tragen, dass die „Denkmäler, die den sowjetischen Opfern des Krieges und der Gewaltherrschaft gewidmet sind, geachtet werden“. So sieht es ein Passus im „Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit“ vor, der mit der UdSSR geschlossen und in Vereinbarungen mit Russland und der Ukraine überführt wurde. Vorausschauend stellt sich die zuständige Behörde der Tatsache, dass das ehrende Gedenken an die sowjetischen Soldaten auch diesmal wieder von zwei Kriegsparteien reklamiert und praktiziert wird. Erfahrungen mit Menschen, die sich die Zugehörigkeit zu ihrer staatlichen Zwangsgemeinschaft zur zweiten Natur, also die Ehre ihrer Nation zum Herzensanliegen werden lassen, sind ihr nicht fremd. Realistisch stellt sie die Unversöhnlichkeit beider Seiten in Rechnung, hält gewaltsame Übergänge für nicht unwahrscheinlich und nimmt das, wie es sich im demokratischen Rechtsstaat gehört, als Auftrag, ihre überlegene Gewalt zur Geltung zu bringen. Diesem Auftrag kommt sie mit einer „Allgemeinverfügung“ nach, die für zivilisiertes Verhalten und ungestörte Erinnerungskultur „im Umfeld der drei großen Ehrenmale“ sorgen soll:

„Der Akt des Erinnerns sowie die Achtung dieser Gedenkstätten und Mahnmale ist auch vor dem Hintergrund des unverändert andauernden Russland-Ukraine-Krieges zu wahren. Dieser Krieg darf sich in Berlin, speziell im Hinblick auf das symbolträchtige Datum, nicht über den demokratischen Diskurs hinaus in Konflikten oder Auseinandersetzungen Bahn brechen.“ (Polizeimeldung vom 5.5.23)

Die Polizei verbietet, in den Berliner Problemzonen russische und ukrainische Nationalsymbole vorzuzeigen, „Marsch- bzw. Militärlieder abzuspielen“ und

„Ausrufe zu tätigen, die aufgrund der aktuellen Situation geeignet sind, den Krieg in der Ukraine zu billigen, zu glorifizieren oder zu verherrlichen“.

Die deutsche Öffentlichkeit ist entsetzt. Mit dem ansonsten heiligen Gut der öffentlichen Ordnung darf man ihr in diesem Fall, in dieser Lage nicht kommen. Den Krieg der Ukraine „zu billigen, zu glorifizieren oder zu verherrlichen“ muss einfach immer und überall erlaubt sein!

Der Bild-Kommentar zu diesem „Gipfel der Taktlosigkeit“ kürzt das allgemeine Verbot gleich auf das zusammen, was daran nicht hinnehmbar ist:

„Die Berliner Polizei hat Ukraine-Flaggen beim Gedenken an den Sieg über den Nationalsozialismus am 8. und 9. Mai verboten.“ (Bild, 5.5.23)
Dabei kann es nicht bleiben, steht die ukrainische Flagge doch „spätestens seit Beginn des russischen Angriffskriegs auch für Europas Freiheit und Demokratie“.

Ein Berliner Ukraine-Verein klagt auf Ungleichbehandlung. Das Berliner Verwaltungsgericht gibt ihm recht und hebt das Verbot ukrainischer Flaggen an den Sowjetischen Ehrenmalen auf. Die lernfähige Polizei widerspricht nicht, und die Kläger äußern sich zufrieden. Dann, am nächsten Tag, fällt auch das Verbot russischer Symbole für eine Veranstaltung am 9. Mai. Erneuter Aufschrei. Die Polizei erhebt Beschwerde bei der nächsten Instanz. Endlich, am 8. Mai, entscheidet das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg,

„dass weder St.-Georgs-Bänder, St.-Georgs-Fahnen, russische Fahnen und Flaggen noch die Flagge der UdSSR am 9. Mai 2023 vor dem sowjetischen Ehrenmal im Tiergarten gezeigt werden dürfen“. Der 1. Senat gibt der Polizei darin recht, „dass die Symbole angesichts des fortdauernden Angriffskrieges gegen die Ukraine geeignet seien, Gewaltbereitschaft zu vermitteln“ (Pressemitteilung des OVG, 8.5.23).

Dass Fahnenschwenken als „Sympathiekundgebung für die Kriegsführung“ verstanden werden „könnte“, reicht den Richtern als Argument, es so zu nehmen, und macht aus dem symbolischen Akt einen Fall von „Gewaltbereitschaft“ – jedenfalls im Fall der Kriegspartei, die keine Sympathie verdient.

„Über die Verwendung ukrainischer Symbole hatte der Senat nicht zu entscheiden.“

Hat sich ja niemand darüber beschwert.

[1] Im Fall des „mysteriösen Brands“ des Gebäudes des Föderalen Sicherheitsdienstes in Rostow am Don twittert ein Berater von Präsident Wolodymyr Selenskyj: „Die Ukraine mischt sich nicht ein, sondern schaut mit Vergnügen zu.“