KW 20
Erstmals seit 18 Jahren findet ein Gipfeltreffen des Europarats statt, dem nicht nur die EU-Mitglieder, sondern fast alle europäischen Flächenstaaten angehören und aus dem Russland schon zu Beginn des Krieges ausgeschlossen wurde. Die Versammlung bietet den europäischen Führungsmächten daher die Gelegenheit, eine Geschlossenheit gegenüber Russland zu organisieren, die über die NATO und die EU hinausgeht.
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Systematischer Katalog
Episoden des dementierten Russland-NATO-Kriegs
KW 20
Europarat beschließt Schadensregister
Erstmals seit 18 Jahren findet ein Gipfeltreffen des Europarats statt, dem nicht nur die EU-Mitglieder, sondern fast alle europäischen Flächenstaaten angehören und aus dem Russland schon zu Beginn des Krieges ausgeschlossen wurde. Die Versammlung bietet den europäischen Führungsmächten daher die Gelegenheit, eine Geschlossenheit gegenüber Russland zu organisieren, die über die NATO und die EU hinausgeht. Die Mitgliedsstaaten des Gremiums einigen sich mit großer Mehrheit auf die Einrichtung eines Schadensregisters, in dem alle von Russland in der Ukraine verursachten Schäden dokumentiert werden und das perspektivisch um eine neue internationale Institution ergänzt werden soll, die die künftigen Forderungen gegen das besiegte Russland abwickelt. Zur Finanzierung bringen sie die eingefrorenen russischen Vermögenswerte ins Spiel, behandeln sie also schon jetzt als Eigentum, das ihnen als der siegreichen Seite zusteht. Mitten im laufenden Krieg antizipiert die Mehrheit der versammelten Staaten so ein Stück Siegerjustiz: Sie treten mit dem Selbstbewusstsein der überlegenen Gewalt auf, die mit dem niedergerungenen Feind abrechnet. Damit dokumentieren sie nicht nur den unbedingten Siegeswillen des Westens, sondern machen zugleich dessen Anspruchshöhe deutlich: Die Niederlage, für die die NATO sorgen will und die der Europarat mit seinen Beschlüssen vorwegnimmt, soll Russland als Macht so gründlich zerstören, dass es sich die verlangte Zahlung von Reparationen gefallen lassen muss.
G 7-Gipfel
Für den G 7-Gipfel lädt der japanische Regierungschef die Führer der westlichen Industrienationen nach Hiroshima, um der „Welt die Schrecken eines Atomkrieges vor Augen zu führen“. Das passt. Schließlich sollte der damalige Atombombenabwurf durch die USA nicht nur ihren damaligen imperialen Gegner endgültig in die Kapitulation zwingen, sondern der ganzen Welt ihren künftigen Anspruch auf den Status eines absolut überlegenen, durchsetzungsfähigen und -willigen Weltgewaltmonopolisten vor Augen führen. Deswegen ist es genauso passend, wenn die mit dem menschlichen Leid im Krieg beschworene Verpflichtung auf eine ‚Vision von Hiroshima zur nuklearen Abrüstung‘ ausschließlich an andere Mächte adressiert ist, vor allem an die eine:
„Russlands verantwortungslose nukleare Rhetorik, durch die Rüstungskontrollregime untergraben werden, und seine erklärte Absicht, Atomwaffen in Belarus zu stationieren, sind gefährlich und inakzeptabel... Wir [bekräftigen] unseren Standpunkt, dass die Androhung des Einsatzes von Kernwaffen durch Russland, ganz zu schweigen von einem tatsächlichen Einsatz von Kernwaffen durch Russland, im Kontext von Russlands Aggression gegen die Ukraine unzulässig sind... Unsere Sicherheitspolitik beruht auf dem Verständnis, dass Kernwaffen, solange es sie gibt, der Verteidigung und Abschreckung dienen und Krieg sowie die Ausübung von Zwang verhindern sollen.“
Die G 7 meinen es also ernst, ihre gesamte „Sicherheitspolitik“ beruht darauf: Sie können und werden keinesfalls eine Erpressung durch russische Atomwaffen zulassen. Und was ist, wenn Russland seine Sicherheitspolitik auf genau das gründet, was die G 7 auf keinen Fall zulassen wollen? Darauf nämlich, dass es seinerseits die Länder des Westens davon abschreckt, ihren ausgreifenden Sicherheitsanspruch geltend zu machen? Was folgt daraus, dass die westlichen Atomwaffen ihren Sinn und Zweck insofern verfehlen, als sie diesen „Krieg“ und diesen „Zwang“ derzeit gerade nicht „verhindern“? Eben weil Russland sich durch sie nicht abschrecken lässt und seinen Sicherheitsanspruch in der Ukraine kriegerisch geltend macht?...
Für beide Seiten steht jedenfalls zweierlei fest: Ihre atomare Abschreckung ist nichts wert, wenn sie bei der Verteidigung des eigenen Sicherheitsanspruchs nicht glaubwürdig ist; und ihr eigener Sicherheitsanspruch ist nichts wert, wenn sie sich von dessen Einlösung abschrecken lassen. Eine spannende Episode in der Dialektik der nuklearen Abschreckung.
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Auch die Gastfreundschaft der G 7 kommt zu ihrem Recht: Zum zweiten Mal seit Kriegsbeginn werden einige Schwellenländer zum exklusiven Club-Treffen eingeladen, damit sie mit ihrer Anwesenheit den neuen „Umgang auf Augenhöhe“ beglaubigen können, den die G 7 sich nachsagen. Dort bekommen gerade die Länder, die entschieden auf Neutralität im Ukraine-Krieg bestehen, den Überraschungsgast Selenskyj als personifizierte Forderung nach tätiger Parteinahme im Krieg vor die Nase gesetzt. So werden sie diplomatisch für den Kriegskurs der G 7 vereinnahmt und können sich gleich die nicht zuletzt an sie gerichtete Drohung von Sekundärsanktionen bei der nächsten Eskalationsstufe des westlichen Wirtschaftskrieges gegen Russland abholen. Die Führer der G 7 greifen die Vorgaben aus dem Treffen ihrer Außenminister auf, machen ihre mehrgleisige Verschärfung des Angriffs auf die russische Ökonomie und deren Partner zur einheitlichen, verbindlichen Linie und reichen einige Verdeutlichungen nach, was sie in Zukunft alles als Kriegsunterstützung und ‚Dual-use‘-Güter werten werden:
„Aufbauend auf früheren Maßnahmen kündigten die G 7-Staaten an, alle Exporte zu sanktionieren, ‚die Russland zum Wiederaufbau seiner Kriegsmaschinerie nutzt‘, heißt es in der Gipfelerklärung. Konkret nennt die G 7 den Fertigungsbereich, das Baugewerbe, das Transportwesen sowie Unternehmensdienstleistungen. Man werde Russland bei ‚G 7-Technologie, -Industrieausrüstung und -Dienstleistungen aushungern‘. Staaten und Unternehmen, die Russlands Krieg unterstützen, drohte die G 7-Gruppe Konsequenzen an. Sie müssten mit ‚erheblichen Kosten‘ rechnen.“ (Handelsblatt, 19.5.23)
Was bleibt denn da eigentlich noch übrig? Ein großes Immerhin: Der amerikanische Vorstoß im Vorfeld des G 7-Treffens, das sektorale Exportverbot nach Russland in ein generelles Exportverbot – mit einzelnen Ausnahmen z.B. für Lebensmittel und Arzneien – auszuweiten, ist mit der G 7-Abschlusserklärung erst mal abgewendet. Dabei bleibt dieser Übergang natürlich als Drohung im Raum – an die globale Unternehmenswelt, an die staatlichen Standorthüter und nicht zuletzt auch an die europäischen G 7-Partner. Die ringen nämlich in ihren laufenden Verhandlungen über ein 11. Sanktionspaket um ihre Rolle im zugespitzten globalen Wirtschaftskrieg, vor allem in Bezug auf ihre ökonomischen Benutzungsverhältnisse mit China.
Apropos China: Einen Tunnelblick müssen sich die G 7 nicht nachsagen lassen. Sie haben neben dem Krieg mit Russland auch Zeit und Aufmerksamkeit für den breiter gefassten „Systemwettbewerb mit den Autokratien“. Parallel zu der expliziten Klarstellung an China, man werde sich gemeinsam gegen Änderungen des „Status quo eines freien und offenen Indopazifik“ durch China stellen, einigen sich die Führer der G 7 darauf, den Status quo ihrer eigenen Benutzung des Weltmarkts an dieser entscheidenden Stelle zu revidieren – zwar nicht mit einem „Decoupling“, dafür mit einem „De-risking“. Ein großzügiges Angebot an den chinesischen Rivalen: China darf ruhig weiterhin am globalisierten Weltmarkt teilnehmen, die Länder des Westens wollen schließlich vom Geschäft mit China profitieren. Sie verkünden gleichzeitig aber, dass China daraus keine ökonomische Macht erwachsen darf, die es als ökonomische Waffe gegen den Westen einsetzen kann. Dafür versprechen sie zu sorgen.
Einerseits mit industriepolitischer Selbstpflege:
„Ein wachsendes China, das sich an die internationalen Regeln hält, wäre von globalem Interesse. Wir setzen nicht auf Entkopplung oder Abschottung. Gleichzeitig erkennen wir an, dass für wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit Risikominderung und Diversifizierung erforderlich sind. Wir werden einzeln und gemeinschaftlich Maßnahmen ergreifen, um in unsere eigene wirtschaftliche Dynamik zu investieren. Wir werden übermäßige Abhängigkeiten in unseren kritischen Lieferketten verringern.“
Andererseits mit der Entschlossenheit, sich von China auch dieses Stück geistiges Eigentum – die Überführung von ökonomischem Reichtum in Mittel der zwischenstaatlichen Erpressung – nicht abkupfern zu lassen:
„Wir werden zusammenarbeiten, um sicherzustellen, dass Versuche, wirtschaftliche Abhängigkeiten als Waffe einzusetzen, indem G 7-Mitglieder und unsere Partner einschließlich kleiner Volkswirtschaften gezwungen werden, sich zu fügen und sich anzupassen, scheitern und Konsequenzen nach sich ziehen. Wir bringen unsere große Sorge hinsichtlich wirtschaftlichen Zwangs zum Ausdruck und rufen alle Länder auf, keinen wirtschaftlichen Zwang auszuüben, da dies nicht nur das Funktionieren des multilateralen Handelssystems und das Vertrauen darin untergräbt, sondern auch die internationale Ordnung verletzt, in deren Zentrum die Achtung von Souveränität und Rechtsstaatlichkeit steht, und letztendlich die globale Sicherheit und Stabilität untergräbt.“ (Erklärung der G 7 zu wirtschaftlicher Widerstandsfähigkeit und wirtschaftlicher Sicherheit, 20.5.23)
Auch darüber durften die eingeladenen Schwellenländer also in einen „offenen Dialog“ mit den Mächtigen treten. Und wem das wie ein Messen mit zweierlei Maß vorkommt, der kann sich beruhigen. Gerade darum geht’s ja der G 7 in ihrer Konkurrenz mit China: Sie wollen eben allein das Maß bestimmen, an dem sich alle anderen messen lassen müssen.
Noch so eine ‚rote Linie‘: die Gründung einer Kampfjet-Allianz
Großbritannien, Frankreich und Co kündigen die Bildung einer Allianz zur Unterstützung der Ukraine mit Kampfflugzeugen an. Die USA wollen die Ausbildung ukrainischer Kampfpiloten und die Lieferung von F-16 Kampfflugzeugen ermöglichen. Auf dem G 7-Gipfel in Hiroshima folgt dann die Ankündigung, dass das neben der notwendigen Genehmigung für andere Länder einschließen wird, dass die USA sich selber an der Schulung und Lieferung beteiligen werden. Damit steht dem westlichen Kriegsbündnis ein groß dimensioniertes Reservoir von über 2800 Fliegern westlicher Bauart zur Verfügung, aus dem es für die Unterstützung seines Stellvertreters schöpfen kann. Der kann also perspektivisch massenhaft neues Kriegsgerät einsetzen, das zur ukrainischen Lufthoheit beitragen und die Reichweite der ukrainischen Angriffsfähigkeit ausdehnen wird. Überwunden ist somit die Abwägung, mit der die bisherige Ablehnung begründet wurde:
„Biden hatte öffentlich nie ausgeschlossen, eine solche Genehmigung zu erteilen. Er hatte früher in diesem Jahr aber deutlich gemacht, dass er eine Lieferung von Kampfflugzeugen derzeit nicht anstrebe. Flugzeuge wären aus westlicher Sicht eher als andere Waffen geeignet, eine Eskalation des Kriegs herbeizuführen, weil die Ukraine sie auch für Angriffe auf russisches Territorium nutzen könnte.“ (faz.net, 19.5.23)
Jetzt leitet der Westen diese Eskalation des Kriegs ein und besteht dabei auf seiner Freiheit, alle Modalitäten dieses Fortschritts im Krieg gegen Russland nach eigenem Ermessen zu entscheiden:
„Während die Ausbildung in den kommenden Monaten stattfindet, wird unsere Koalition der daran beteiligten Staaten entscheiden, wann wir tatsächlich Flugzeuge liefern, wie viele wir liefern und wer sie liefert.“ (US-Regierungsvertreter, CNN, zitiert ebd.)
Dass die USA damit eine „politische Kehrtwende“ vollziehen, wegen der militärischen Qualität und Reichweite der Waffengattung womöglich Anlass bieten, von Russland als Kriegspartei ins Visier genommen zu werden, weist Jake Sullivan (Nationaler Sicherheitsberater von Präsident Joe Biden) am Rande des G 7-Gipfeltreffens entschieden zurück: „Es hat sich nichts geändert“, schließlich sei die Option vorher nie ausgeschlossen worden, bisher nur nicht der richtige Zeitpunkt gewesen und außerdem gelte nach wie vor die Vorgabe, westliche Waffen nur ‚eingeschränkt‘, d.h. auf ukrainischem Gebiet einzusetzen. Mit aktualisiertem Blick auf die langfristige Kriegsfähigkeit der eigenen Stellvertreterpartei „ist das Timing aus unserer Sicht stimmig“. Die Auskunft, dass die USA zu dieser Eskalation des Kriegs im Grunde immer schon bereit gewesen sind und nur auf den richtigen Moment gewartet haben, zeugt davon, dass die Führungsmacht der NATO den Ukraine-Krieg von Anfang an als Kampf gegen Russland in Angriff genommen und vorangetrieben haben. Die Regierung will das zugleich als Kontinuität bei der zurückhaltenden Einschätzung der jeweiligen Lage verstanden wissen: Sie stellt immer bloß das Nötige für die auf Dauer angelegte Selbstverteidigung der Ukraine bereit. Das ist gegenüber Russland die nächste risikofreudige Zumutung, es solle auch diesen Übergang bei der Aufrüstung des westlichen Stellvertreters hinnehmen, und nicht seinerseits zum Anlass einer Ausweitung des Kriegs auf die westliche Kriegsallianz nehmen. In der gängigen Manier, ‚rote Linien‘ zu definieren und mit Hinweisen zu überschreiten, die das Überschreiten verharmlosen, setzen die USA vor dem Hintergrund der ständig präsenten Drohung, dass der Westen seine Dominanz noch ganz anders unter Beweis stellen kann, so ihren Dauertest fort, welche Schädigung sich Russland in der Ukraine noch gefallen lässt.