KW 19
Während Mitte Mai die Weltöffentlichkeit noch gespannt rätselt, ob die ukrainische Gegenoffensive nun schon begonnen habe, und deren Erfolgsaussichten diskutiert, demonstriert die Ukraine mit ihrem Angriff auf die hundert Kilometer hinter der Frontlinie liegende Stadt Luhansk die neue Reichweite ihrer Verteidigungsfähigkeit.
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Episoden des dementierten Russland-NATO-Kriegs
KW 19
Die Ukraine bekommt eine neue militärische Reichweite
Während Mitte Mai die Weltöffentlichkeit noch gespannt rätselt, ob die ukrainische Gegenoffensive nun schon begonnen habe, und deren Erfolgsaussichten diskutiert, demonstriert die Ukraine mit ihrem Angriff auf die hundert Kilometer hinter der Frontlinie liegende Stadt Luhansk die neue Reichweite ihrer Verteidigungsfähigkeit. Großbritannien hatte zuvor die Lieferung von Storm-Shadow-Marschflugkörpern – in Sachen Reichweite vorherigen ‚Gamechangern‘ wie dem Mehrfachraketenwerfer-Artilleriesystem HIMARS weit überlegen – bestätigt. Es setzt damit in der Debatte unter den westlichen Sponsoren um die Langstreckenangriffsfähigkeit der Ukraine Fakten – nicht ohne sich vorher der Zustimmung der US-Führungsmacht zu versichern. Mit den Storm Shadow liefert Großbritannien eine weitere Waffengattung aus dem Hightech-Arsenal der NATO-Mächte, die es in der nun anstehenden Kriegsphase des Stellvertreterkrieges zur Überwindung der russischen Luftabwehr für notwendig erachtet: „Storm Shadow wird es der Ukraine ermöglichen, russische Streitkräfte innerhalb des ukrainischen Hoheitsgebietes zurückzudrängen.“ (britischer Verteidigungsminister Ben Wallace, 11.5.23) Die Ukraine erhält die militärische Potenz, Ziele (Nachschubwege, Versorgungslager, Kommandozentralen etc.) weit hinter dem Frontverlauf und damit auch auf russischem Territorium anzugreifen; auch die Krim liegt nun in ihrer Reichweite. Mit dem Einsatz ihrer Luftangriffs- und -abwehrsysteme fordern sich die Hauptmilitärmächte auf dem Kriegsschauplatz der Ukraine wechselseitig heraus, in der Verfolgung ihrer Kriegsziele zunehmend ihre modernsten konventionellen Waffengattungen gegeneinander einzusetzen. Die begleitende Kriegspropaganda reflektiert mit ihren Erfolgsmeldungen auf diese Eskalation als Leistungsvergleich der „Superwaffen“: „Russland hat an einem einzigen Tag sieben Storm-Shadow-Raketen abgeschossen“ (TASS, 15.5.23), „Russische Kinschal-Rakete von der Luftverteidigung über Kiew abgeschossen“ (NYT, 16.5.23), „Kinschal-Rakete löscht Patriot-Luftverteidigungssystem in Kiew aus“ (TASS, 16.5.23) – ein dauerhaftes militärisches Experimentierfeld für die führenden Militärmächte ist der Ukraine-Krieg nebenbei eben auch noch.
Selenskyj zu Besuch bei den europäischen NATO-Führungsmächten: Demonstrationen der Geschlossenheit des Willens zu einer Wende im Krieg
Den Anfang macht Italien mit seiner Ministerpräsidentin Georgia Meloni, die den Besuch des ukrainischen Kollegen für eine erneute Klarstellung gegenüber ihren rechten Koalitionspartnern nutzt: Die Frontfrau der Brüder Italiens besteht ausdrücklich auf ihrer Linie, sich der von der NATO praktisch seit 2022 ausgefochtenen Russlandfeindschaft anzuschließen. Nicht ohne Grund: Sowohl die Lega wie auch die Forza Italia hatten und haben mit den Beziehungen zu Russland andere nationale Kalkulationen verbunden. Nicht nur im Hinblick auf den gedeihlichen ökonomischen Verkehr entdecken Salvini und Berlusconi in der Beteiligung an der Sanktionsfront gegen Russland eine Abstandnahme von italienischen Interessen; aus ihrer Sicht verfügt Italien auch nicht über die nötigen Potenzen, um sich zu einem federführenden Subjekt im Kriegsgeschehen zu machen: Melonis Juniorpartner sehen Italien in einen Krieg hineingezogen, der nicht der seine ist. Mit den Ankündigungen, der Ukraine nicht nur die schon zugesagten Waffen demnächst wirklich liefern zu wollen, sondern sie mit dem französisch-italienischen SAMP/T-Luftabwehrsystem zu unterstützen, sowie sich für eine schnelle Aufnahme der Ukraine in die EU starkzumachen, demonstriert die Chefin erstens nach innen, wer in der rechten Regierungskoalition wirklich das Sagen hat und zweitens nach außen, dass Italien Mitentscheider über den weiteren Kriegsverlauf sowohl in der NATO wie auch in der EU sein will.
Es folgt eine Audienz Selenskyjs beim Papst. Der sieht sich als Vertreter der hohen Werte Frieden und Versöhnung herausgefordert und bringt sich gegenüber dem ukrainischen Präsidenten als Vermittler für Friedensverhandlungen ins Spiel. Selenskyj weist das christliche Oberhaupt respektvoll zurecht:
„Bei allem Respekt für Seine Heiligkeit, wir brauchen keine Vermittler. Wir brauchen einen gerechten Frieden. Wir laden den Papst ebenso wie alle anderen Führer ein, für einen gerechten Frieden einzutreten, aber vorher müssen wir alles Übrige erledigen.“
So stellt Selenskyj das Verhältnis von Wert und Wirklichkeit klar: Er ist der Kriegsherr, der mit seinen Entscheidungen den hohen Werten ihren Platz zuweist. „Gerechter Frieden“ besteht – ohne dass eine Erläuterung notwendig wäre – im bedingungslosen Sieg über Russland. Diesem Wert kann sich der Papst gerne anschließen, ansonsten hat er nichts zu sagen.
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Bei seinem nächsten Zwischenstopp in Berlin darf der ukrainische Präsident neben wiederholter Bekräftigung der staatlichen Solidarität – „Wir unterstützen euch so lange, wie es nötig sein wird“ (Scholz) – ein gigantisches Geschenk entgegennehmen. Deutschland verspricht ihm Waffen im Wert von 2,7 Milliarden Euro, darunter vier der modernsten Luftabwehrsysteme, 30 Leopard-Panzer, 20 Schützenpanzer, 18 Haubitzen, 100 gepanzerte Gefechtsfahrzeuge, 200 Aufklärungsdrohnen und jede Menge Munition – das alles möglichst schnell. Summa summarum ein Geschenk in der Größenordnung der gesamten bisherigen direkten militärischen Unterstützung, was Deutschland gleich nach den USA den festen zweiten Platz der Sponsoren verschafft. Das ist nicht nur gut für die Ukraine, sondern auch für Deutschland, nämlich ein Ausdruck der militärischen Potenz, über die es verfügt. Betont wird, dass diese neueste Waffenzusage nicht mehr aus den Beständen der Bundeswehr genommen werden muss, sondern direkt aus Produktion und Lagerhaltung der Industrie beschafft werden kann. Eine Leistungsschau deutscher Militärproduktion, gerade im Unterschied zu den EU-Partnern, deren Unterstützung immer noch mehr oder weniger mit einer (zeitweisen) Schwächung des eigenen Militärs einhergeht.
Diese Lieferungen werden von einem Fortschritt ganz neuer Qualität begleitet: „Die Ukraine profitiert von einem umfassenden Technologietransfer sowie einer kurzfristigen Zulieferung von militärischer Ausrüstung aus Deutschland.“ (Rheinmetall-Chef Papperger) Der „Technologietransfer“ meint die Neugründung eines Gemeinschaftsunternehmens von Rheinmetall und dem ukrainischen Staatskonzern Ukroboronprom. In bestehenden oder neu zu bauenden Fabriken des ukrainisch-deutschen Rüstungskonzerns sollen möglichst bald moderne deutsche Militärgeräte gewartet, repariert und produziert werden. Für die Produktion kommt als Erstes der Radpanzer Fuchs in Frage, für den dauert die Ausbildung der Techniker und die Installation der Produktionstechnik nicht so lange, es soll schnell gehen; insgesamt ‚keine Raketenwissenschaft‘, mit einer projektierten Stückzahl von 400 im Jahr allerdings ein wesentlicher Kriegsbeitrag des deutschen Militärunternehmens. Bei diesem ‚Einstieg‘ soll es nicht bleiben, in Aussicht gestellt ist die Produktion modernster Panzer. Flankiert von weiteren Gemeinschaftsprojekten in Sachen mobiler Flugabwehr und Munition soll der Ukraine mittels Vor-Ort-Produktion eine komplett topmoderne Armee auf NATO-Niveau verschafft werden – mitten im Krieg, in der Ukraine und ganz ohne Befürchtung, damit von Russland wirklich zur Kriegspartei erklärt zu werden.
Mit der ‚kurzfristigen‘ milliardenschweren Waffenhilfe, der schon laufenden Nutzung der Ostländer als militärisches Vorfeld, wie mit der projektierten Waffenproduktion in der Ukraine stellt Deutschland klar, wie deutscher Militarismus heute aussieht: Es benutzt seine kapitalistische Potenz, seine Finanzmacht und seine Verfügungsmacht über die Produktion dieser strategisch wichtigen Kampfgeräte, um sich als Ausstatter mit den Gewaltmitteln der Souveränität zum bestimmenden europäischen Subjekt für den Fortgang des Krieges in der Ukraine und darüber hinaus für eine kriegsgeprägte Zukunft zu machen. Für diesen Aufstieg nutzt Deutschland den Ukraine-Krieg, in dem es selbst nicht direkt kämpft, sondern kämpfen lässt.
Weil sich das ukrainische Volk dafür benutzen lässt, hat es sich den deutschen Respekt und den Karlspreis, eine Auszeichnung für besondere Verdienste um die europäische Einigung, den Selenskyj am Nachmittag in Aachen in Empfang nehmen darf, wirklich verdient: „Die Ukraine ist hier und die Ukraine ist Europa. Slawa Ukrajini! [Ruhm der Ukraine!]“ (Scholz)
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Nach dem Doppelpack aus Deutschland wird der ukrainische Präsident von Macron in Paris empfangen. Auch hier erhält er weitere militärische Unterstützung: Zusätzlich zur Ausstattung mehrerer Bataillone mit einigen leichten Panzern, gepanzerten Fahrzeugen, Waffen und Ausbildung der Soldaten vermeldet Frankreich Fortschritte bei der Lieferung der französisch-italienischen Luftabwehrsysteme. Zwar liefert Frankreich (noch) keine Kampfflugzeuge, definitiv zurückgewiesen wird die Forderung aber nicht, sondern der ukrainische Bittsteller so beschieden: Man habe erstens noch keine ukrainischen Piloten an den französischen Modellen fertig ausgebildet und zweitens die möglichen Kampfjets noch nicht ausgemustert; deswegen sei die Lieferung der Mirage-Kampfflugzeuge „zu diesem Zeitpunkt“ nicht geplant. Selbstbewusst präsentiert die französische Regierung die Entscheidung über diesen Eskalationsschritt also als rein technische Frage und macht deutlich, wie wenig sie sich dabei von Rücksichten auf mögliche russische Reaktionen abhängig macht.
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Zum Abschluss der Reise überquert Selenskyj den Ärmelkanal und lässt sich von seinem englischen Kollegen empfangen. Als militantester Unterstützer prescht Großbritannien mit den kürzlich gelieferten Marschflugkörpern vom Typ Storm Shadow sowie den nun beschlossenen Langstrecken-Angriffsdrohnen im Bündnis voran und setzt gleich einen noch viel weitreichenderen Schritt auf die Tagesordnung. Es kündigt die Bildung einer westlichen Kampfjet-Koalition an, mit der die mangelnde Kampfkraft am ukrainischen Himmel überwunden werden soll: Mit den westlichen, mobilen Luftabwehrsystemen macht die Ukraine den russischen Vorteil, mit Kampfjets ihre Stellungen zu bombardieren, in weiten Teilen zunichte; eigene, durchschlagende Potenzen in der Luft, mit denen die Ukraine zum Angriff übergehen kann, hat sie jedoch kaum. Das soll sich ändern; dafür setzt sich der englische Premier Sunak offensiv im Bündnis ein.
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Mit seiner Europarundreise zu den vier wichtigsten europäischen NATO-Mächten bereitet Selenskyj die geplante Gegenoffensive politisch vor, die den erhofften Befreiungsschlag aus dem Abnutzungs- und Stellungskrieg bewerkstelligen soll. Mit seinem Beharren auf dieser angestrebten Wende im Kriegsgeschehen bietet er die Ukraine dem Westen als entschlossenen Protagonisten der offensiven Entmachtung russischer Militärmacht an, an der auch ihren Sponsoren gelegen sein muss. Mit Erfolg: Im Ergebnis nimmt Selenskyj nicht nur eine deutliche Aufstockung der militärischen Hilfen von seiner Reise mit in die Ukraine, sondern auch das politische Bekenntnis seiner europäischen Ausstatter, dass sie als europäische Front hinter der geplanten Gegenoffensive stehen. Europas Führungsmächte demonstrieren einander sowie gegenüber Russland ihren festen Willen, den Kriegsfanatismus ihres Stellvertreters noch für so manche Eskalation ihrerseits zu nutzen.