KW 17

Wieder mal rückt eine ehemalige Sowjetrepublik in den Fokus der ausgreifenden EU. Sie verleiht der Republik Moldau den Kandidatenstatus mit der bezeichnenden Begründung, das sei eine „geostrategische Investition in ein starkes und geeintes Europa“. Das kleine Land liegt zwischen Rumänien und der Ukraine und ist durch den Krieg dort zum sehr wackeligen Frontstaat des EU-Bereichs geworden. Um es zu dieser Rolle zu befähigen, wird eine Vielzahl von Maßnahmen mit Hochdruck vorangetrieben.

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Episoden des dementierten Russland-NATO-Kriegs
KW 17

Republik Moldau – eine „Lücke“ in der Osterweiterung der EU wird geschlossen und als Kriegsfront zugerichtet

Wieder mal rückt eine ehemalige Sowjetrepublik in den Fokus der ausgreifenden EU. Sie verleiht der Republik Moldau den Kandidatenstatus mit der bezeichnenden Begründung, das sei eine „geostrategische Investition in ein starkes und geeintes Europa“. Das kleine Land liegt zwischen Rumänien und der Ukraine und ist durch den Krieg dort zum sehr wackeligen Frontstaat des EU-Bereichs geworden. Um es zu dieser Rolle zu befähigen, wird eine Vielzahl von Maßnahmen mit Hochdruck vorangetrieben.

Das Land ist nämlich politisch zerrissen. Ein Teil der Elite lehnt wegen der ökonomischen Angewiesenheit auf Russland eine Anbindung an Europa ab, der andere Teil sieht in einem proeuropäischen Kurs die einzige nationale Perspektive. Die im Osten an die Ukraine angrenzende Region Transnistrien gehört „völkerrechtlich“ zwar zu Moldau, ist aber seit 1992 abgespalten als „ein international nicht anerkanntes, ausschließlich von Russland gestütztes De-facto-Regime“ (Wikipedia, s.v. Transnistrien). Sie ist aufgrund ihrer wirtschaftlichen Verflochtenheit mit und finanziellen Abhängigkeit von Russland – in Transnistrien befindet sich der Großteil der Industrie der ehemaligen moldauischen Sowjetrepublik (einschließlich Schwer- und Rüstungsindustrie) – politisch prorussisch und beherbergt einen russischen Militärstützpunkt.

Im Inneren verlangt die europäische Aneignung des in sich uneinigen Landes den Abbruch der wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland, die Verdrängung, Entmachtung, Kriminalisierung der Russland zugeneigten Teile der politischen oder wirtschaftlichen Elite, das Verbot ihrer Parteien und Medien. Zu ihrem Glück hat die EU es schon dahin gebracht, dass inzwischen eine pro-europäische Fraktion an der Macht ist. Ihrem selbstverständlich demokratischen Machtkampf gegen den inneren Feind spricht sie nicht nur alles Recht zu:

„Die derzeitige Führung der Republik Moldau hat bei ihrer Reformagenda bedeutende Fortschritte erzielt. Gleichzeitig ist sie zunehmend mit unmittelbaren Bedrohungen für ihre Stabilität konfrontiert, die sowohl von internen Gruppen mit eigenen Interessen als auch von Russland ausgehen, wobei diese wiederum häufig miteinander konspirieren, um das Land von seinem Reformkurs abzubringen.“ (Rat der EU, Pressemitteilung vom 28.4.23)

Sie stärkt ihr mit eigenen Interventionen ganz praktisch den Rücken:

„Der Rat hat heute einen neuen Rahmen für gezielte restriktive Maßnahmen angenommen, der es der EU ermöglicht, Sanktionen gegen Personen zu verhängen, die für die Unterstützung oder Umsetzung von Handlungen verantwortlich sind, die die Souveränität und die Unabhängigkeit der Republik Moldau sowie die Demokratie, die Rechtsstaatlichkeit, die Stabilität oder die Sicherheit des Landes untergraben oder bedrohen.“ Sanktionen umfassen „das Einfrieren von Vermögenswerten und das Verbot der Bereitstellung von Geldern für Personen und Organisationen sowie ein Einreiseverbot für natürliche Personen in die EU“ (ebd.).

Nach außen wird die glücklicherweise von sich aus scharf russenfeindliche Regierungsmannschaft, die den transnistrischen Landesteil „demilitarisieren“ und heimholen will und ihn dafür von allem Möglichen abschneidet und drangsaliert, „sicherheitspolitisch unterstützt“. So verhilft man diesem Staatsgebilde zu seiner Selbstbehauptung gegen russischen Einfluss.

„Am 24. April 2023 hat die EU die zivile Mission in Moldau (EUPM Moldova) im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik eingeleitet, um die Widerstandsfähigkeit des moldauischen Sicherheitssektors in den Bereichen Krisenbewältigung und hybride Bedrohungen, einschließlich Cybersicherheit und Bekämpfung von Informationsmanipulation und Einflussnahme aus dem Ausland, zu stärken.“ (Rat der EU, Pressemitteilung vom 24.4.23)
„Auch militärisch bekommt Moldau weitere Unterstützung. Mit vierzig Millionen Euro soll die Radarüberwachung modernisiert werden; dazu gab es schon im vorigen Jahr ein Pilotprojekt. Das Geld kommt aus der Europäischen Friedensfazilität, einem Sondertopf, aus dem auch die Ukraine unterstützt wird.“ (FAZ, 25.4.23)

Mit einer kleinen Truppe von europäischen Cyber-Kriegern und neuen Radarsystemen ausgestattet, wird Moldau in die NATO-Luftüberwachung des ukrainischen Raumes eingebaut und für den dortigen Krieg instrumentalisiert. Als direkt an der ukrainischen Grenze gelegener Frontstaat – Nicht-NATO- und Noch-Nicht-EU-Gebiet – wird Moldau militärisch immer interessanter. Und wenn es dann zum richtigen Kriegsgebiet wird, hat natürlich wieder der Russe angefangen.

Lawrow in New York: Russland verletzt nicht die Prinzipien der UNO, sondern verteidigt sich und die Welt gegen den westlichen Imperialismus

Der Zufall will es, dass am „Internationalen Tag des Multilateralismus und der Diplomatie für Frieden“, den die UNO seinerzeit gegen Donald Trump als Bekenntnis der Mitgliedsländer zu einem gleichberechtigten Miteinander für den 23. April ausgerufen hatte, der russische Außenminister turnusmäßig den Vorsitz im UN-Sicherheitsrat führt. Er nutzt die Gelegenheit für eine Rede an den Rat und die Welt, in der er den Vorwurf, Russland verstoße gegen Grundprinzipien der UN-Charta, und den damit begründeten Ausschluss aus dem Kreis der respektablen Nationen zurückweist, den Krieg seines Landes vielmehr als Dienst am „effizienten Multilateralismus“ und der Freiheit souveräner Staaten vorstellt, die in Wahrheit aus einer ganz anderen Ecke bedroht werden.

„Jetzt erlebt das UN-zentrische System eine tiefe Krise. Der Grund ist das Streben einzelner Mitglieder unserer Organisation, das Völkerrecht und die UN-Charta mit einer ‚auf Regeln beruhenden Ordnung‘ auszutauschen. Diese Regeln hat niemand gesehen, sie waren nicht Gegenstand transparenter internationalen Verhandlungen... Washington und der sich ihm unterordnende restliche Westen setzt seine ‚Regeln‘ jedes Mal ein, wenn man illegitime Schritte gegen jene rechtfertigen will, die ihre Politik gemäß dem Völkerrecht aufbauen und sich weigern, den Interessen der ‚goldenen Milliarde‘ zu folgen.“

Wenn Russland die Souveränität und die Landesgrenzen seines ukrainischen Nachbarn verletzt haben soll, dann – so das erste Argument der Vorwärtsverteidigung nach dem Muster ‚What about you‘– müsse die Welt doch sehen, dass gerade die Ankläger das Gleiche in viel höherem Maße tun und aus ganz schlechten Gründen:

„Vor dem Hintergrund der Hysterie, die die USA und die EU gerade vorantreiben, stellt sich die Frage: Und was haben Washington und die Nato in Jugoslawien, im Irak, in Libyen getan? Gab es dort Gefahren für ihre Sicherheit, Kultur, Religion, für ihre Sprachen? An welchen multilateralen Normen richteten sie sich aus, als sie wider die OSZE-Prinzipien die Unabhängigkeit Kosovos ausriefen und wirtschaftlich eigenständige Staaten wie Irak und Libyen zerstörten, die Zehntausende Meilen weit weg von der US-Küste liegen?“

Außerdem hat Russland keine UN-Regel verletzt, denn der heilige Respekt vor fremder Staatsgewalt kennt auch Bedingungen ihrer Respektwürdigkeit:

„In der ‚nach wie vor in Kraft bleibenden UN-Erklärung über die Prinzipien des Völkerrechts von 1970 ist die Notwendigkeit klar und deutlich verankert, die Souveränität und territoriale Integrität der Staaten zu respektieren, die ‚das Prinzip der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker einhalten und Regierungen haben, die das ganze Volk, das auf diesem Territorium lebt, vertreten‘. Für jeden unvoreingenommenen Beobachter ist es offensichtlich, dass das Kiewer Nazi-Regime keineswegs als Vertreter der Einwohner der Territorien gelten darf, die sich geweigert haben, die Ergebnisse des blutigen Staatsstreiches im Februar 2014 zu akzeptieren, und gegen die die Putschisten den Krieg entfesselt haben.“

Genau genommen hat Russland also gar nicht angefangen mit der Gewalt. Moralisch sind die Herren in Kiew sowieso – „offensichtlich“ – im Unrecht. Und zwischen den UN-Prinzipien der staatlichen Souveränität und des Selbstbestimmungsrechts der Völker besteht ein dialektisches Verhältnis, das in Lawrows Lesart Russlands Eingreifen voll legitimiert – und in Wahrheit wieder einmal nur das Eine zeigt: Was das Völkerrecht erlaubt und verbietet und vor allem wem, das ist eine Frage seiner Interpretation und diese eine Frage der Macht, der eigenen Rechtsprechung Geltung, nämlich den Respekt der Staatenwelt zu verschaffen.

Dass Russland hier erkennbar in der Defensive ist, liegt laut Lawrow daran, dass die USA und ihre Verbündeten die Welt neuen Regeln unterwerfen wollen, mit denen sie den Staaten ganz grundsätzlich ihr Allerheiligstes, nämlich ihre Souveränität bestreiten:

„Mit dem Aufdrängen der ‚auf Regeln beruhenden Ordnung‘ lehnen ihre Autoren das wichtigste Prinzip der UN-Charta ab – die souveräne Gleichheit der Staaten.“

Und das ist es, wozu Russland mit seinem militärischen Eingreifen in der Ukraine antritt: nicht nur gegen Kiewer Nazis und deren westliche Unterstützer, sondern für eine Weltordnung, deren Grundlagen USA und Co in der Ukraine gerade zerstören:

„Heutzutage ist allen klar (obwohl nicht alle das laut sagen): Es geht gar nicht um die Ukraine, sondern darum, wie sich die internationalen Beziehungen künftig entwickeln werden – durch einen stabilen Konsens auf Basis der Interessenbalance oder durch aggressive und explosive Förderung der Hegemonie. Die ‚Ukraine-Frage‘ darf nicht separat vom geopolitischen Kontext betrachtet werden.“

Lawrow spricht Russlands Krieg in der Ukraine eine exemplarische geostrategische Bedeutung zu, stellt „Interessenbalance“ etc. gegen „Hegemonie“ und benennt alle Maßnahmen, die die USA und ihre Verbündeten als Gegenschlag gegen sein Land ergreifen, als Beispiele für die Aggressivität, mit der die nicht nur gegen Russland, sondern – ganz von sich aus, böswillig – gegen eine gedeihliche Entwicklung der internationalen Beziehungen vorgehen:

„Sie [die selbstgesetzten Regeln] werden zur Bekämpfung natürlicher Prozesse der Bildung neuer selbstständiger Zentren der Entwicklung, die gerade einen objektiven Multilateralismus darstellen, genutzt. Man versucht, sie mit illegitimen einseitigen Maßnahmen aufzuhalten, darunter Sperrung des Zugangs zu modernen Technologien und Finanzdienstleistungen, Verdrängen aus Lieferketten, Beschlagnahmung des Eigentums, Vernichtung der kritischen Infrastruktur der Konkurrenten, Manipulationen mit allgemein abgestimmten Normen und Verfahren. Als Ergebnis – Fragmentierung des Welthandels, Zerstörung der Marktmechanismen, Lahmlegung der WTO und endgültige Verwandlung des IWF in ein Instrument zum Erreichen der Ziele der USA und ihrer Verbündeten, darunter militärische Ziele.“

Was Lawrow da an Kampfmitteln des Westens aufzählt, sind in der Sache Zeugnisse des Regimes, das die USA plus Partner tatsächlich über die Staatenwelt errichtet, mit dem sie eine für sie brauchbare Ordnung im zwischenstaatlichen Verkehr durchgesetzt haben, sodass sie die jetzt militant nutzen können. Was er dem als das positive Gegenstück gegenüberstellt, ist ein „objektiver Multilateralismus“, den er als Resultat „natürlicher Prozesse“ etc. beschwört, den er aber – die Beschwörung selbst macht das deutlich – in Wahrheit gar nicht als real existierende Weltlage auf seiner Seite hat. Was er der UNO-Vollversammlung vorträgt, ist aber mehr als eine diesem Forum gemäße, auf eine vorgestellte Weltöffentlichkeit berechnete Rhetorik.

Die erste Wahrheit der behaupteten Bedeutung des Ukraine-Kriegs besteht schlicht in der Tatsache, dass keine geringere Macht als Russland ihn unnachsichtig und eskalationsbereit schon über anderthalb Jahre führt, das zur Befreiung vorgesehene Land verwüstet, eigene Armeen und nationalen Reichtum in Massen opfert; das zwar nicht für einen „natürlichen Prozess“ hin zu einem „objektiven Multilateralismus“, aber für nichts Geringeres als dafür, dass sie sich als Antithese gegen die reale „Hegemonie“ des Westens behauptet. In seinen idealistischen Phrasen über eine „Demokratisierung der internationalen Beziehungen auf Basis des Respekts für die souveräne Gleichheit der Staaten“ präsentiert Lawrow sein Land als geostrategischen Gegner der USA, den Krieg als einen am Fall Ukraine und unter Beschränkung auf dieses Land geführten, aber blutig ernst gemeinten, auf Entscheidung zielenden Einspruch gegen das Regime des Westens über den Globus; positiv: als Anspruch auf Respektierung durch die westliche Weltmacht und auf entscheidende Mitwirkung an der „künftigen Entwicklung“ der „internationalen Beziehungen“. Die zweite Wahrheit dieses Ein- und Anspruchs ist die Tatsache, dass der Westen ihn auch genau so wahrnimmt, nämlich auf sich bezieht und so ernst nimmt, wie er gemeint ist; davon zeugt seine massive Reaktion inklusive der „illegitimen einseitigen Maßnahmen“ gegen Russland, die Lawrow anklagt. Dazu gehört auch die wichtige Rolle, die den vollversammelten Nationen von beiden Seiten in Bezug auf den Ukraine-Krieg beigelegt wird. Denn das ist die dritte Wahrheit der Beschwörungsformeln, mit denen Lawrow vor die Versammlung tritt, bevor oder nachdem die unvermeidlichen MinisterInnen des Westens mit ihren Beschwörungsformeln dort antreten: Die Gesamtheit der Staaten ist nicht nur zu beifälligen Stellungnahmen für die eine oder andere Seite aufgefordert; durch die von Lawrow zitierten „Maßnahmen“ des Westens sind alle betroffen. Die Werbung von russischer Seite um die Souveräne der Welt, sie sollten und müssten doch Russlands Krieg als Einsatz für ihre Sache nehmen, hat wirkliche „geopolitische“ Bedeutung für die Staaten insgesamt, weil sie alle a) durch die hergestellte Lage auf den Weltmärkten, an denen ihre Existenz hängt, b) durch eskalierende amerikanische und europäische Erpressungen zu prowestlich-antirussischem Wohlverhalten praktisch involviert sind in den Großkonflikt, der in und an der Ukraine ausgetragen wird. Was Lawrow ihnen vorträgt, ist die Tatsache – dies die vierte Wahrheit seiner UNO-Rede –, dass der Ukraine-Krieg, obwohl als brutal blutiger Schlagabtausch auf seinen osteuropäischen Schauplatz eingegrenzt, in einer Hinsicht bereits die Qualität eines Weltkriegs hat: Das Ringen der in jeder Hinsicht abschreckenden großen Atomkriegsmächte in der und um die Ukraine mischt – von Beginn an und je länger, umso gründlicher – die herrschende „Weltfriedensordnung“ auf.

„Obwohl nicht alle das laut sagen.“ Zu spüren kriegen es alle.

Telefonat Xi – Selenskyj

Der chinesische Präsident Xi telefoniert einige Wochen nach seinem Besuch in Moskau mit seinem ukrainischen Kollegen. Er unterstreicht damit, dass China als neue Weltordnungsmacht im Ukraine-Krieg über den Parteien steht, also nicht nur an Russland, sondern auch an dessen Feind Interesse hat. So sehr es Russland für seine Selbstbehauptung gegen die USA an seiner Seite braucht, so wenig gehen seine imperialistischen Interessen in diesem Bündnis auf. Indem Xi sich auch die ukrainische Rechtsposition anhört, lässt er dem ukrainischen Standpunkt eine bedingte Anerkennung widerfahren, ohne sich hinter bestimmte Forderungen und Ansprüche Selenskyjs zu stellen. Damit relativiert er die russische Rechtsposition, dass die Ukraine sich russischen Sicherheitsinteressen unterzuordnen hat, und stellt China als Macht auf, die mitzubestimmen hat, was aus der Ukraine wird – gerade auch gegen den Anspruch der EU auf Inbesitznahme ihrer osteuropäischen Peripherie. Dass Selenskyj sich offen zeigt für chinesische Vermittlungsbemühungen, wo es seiner Ansicht nach nichts zu vermitteln gibt, weil der einzige Ausgang des Krieges nur die vollständige Rückeroberung ukrainischer Gebiete, also die Aufgabe aller russischen Ansprüche sein kann, zeugt erstens vom Gewicht Chinas. Es ist der einzige Staat, der auf Russland – auch vor und unterhalb einer militärischen Niederlage – im Sinn einer Beendigung des Krieges Einfluss nehmen kann. Zweitens hält sich Selenskyj damit eine kleine Option auf nationale Selbstständigkeit gegenüber seinen Sponsoren und Schutzmächten im jetzigen Krieg offen: China war schon vor dem Krieg der größte Handelspartner seines Landes, hat nach wie vor Investitionsprojekte dort laufen und offeriert ihm die Rolle einer Station der neuen Seidenstraße. Die Freiheit, die er gegen Russland für sein Land erkämpft, soll darin bestehen, dass die totale Unterordnung unter EU- und NATO durch eine gewisse Abhängigkeit von China ergänzt und ausgeglichen wird. Also stimmt Selenskyj der Entsendung eines chinesischen Sondergesandten zu, der Chinas Zuständigkeit für den Krieg und seinen Einfluss auf die Kriegsparteien vorantreiben soll. Ein paar Wochen später lässt er den Sondergesandten Li Hui mit dem Infrastruktur-, Energie- und Verteidigungsministerium sprechen, um Handels-, Investitions- und auch Rüstungsverträge für später vorzubereiten.

Einig Volk im Kriegsgebiet

Präsident Putin hat per Dekret alle in ‚Neu-Russland‘ lebenden Personen aufgefordert, spätestens bis zum 1. Juli 2024 die russische Staatsangehörigkeit anzunehmen. Wer dem nicht nachkommt, muss damit rechnen, als illegaler Ausländer betrachtet und abgeschoben zu werden. Die Leute in den besetzten Gebieten müssen willentlich anerkennen, was die russische Eroberung ihrer Gebiete aus ihnen gemacht hat: einen menschlichen Besitzstand Russlands. So, mit dem aufgenötigten Bekenntnis, zum russischen Staat gehören zu wollen, stellt der die Einheit des russischen Volkes her.

Auch der ukrainische Staat beansprucht die Menschen in den von Russland eroberten Gebieten als die Seinen: Auch wenn er aktuell die Verfügungsmacht über sie nicht hat, besteht er darauf, dass sie Ukrainer sind und ihm gehören. Der Menschenrechtsbeauftragte Kiews ist großzügig: Er unterstellt den Leuten, dass sie auch unter russischer Hoheit wissen, wohin sie gehören, und erzwungene Anpassung an die Machtverhältnisse eben nur erzwungen ist. Er versichert ihnen, dass sie nach dem Krieg nicht belangt und der Kollaboration bezichtigt werden, wenn sie jetzt den falschen Pass annehmen, um nicht schikaniert oder vertrieben zu werden. Sie müssen sich – so seine frohe Botschaft – vor der ukrainischen Rückeroberung nicht fürchten. Sofort widerspricht die Vizeregierungschefin und stellt klar, wie berechtigt diese Furcht ist: Sie fordert die Leute in den besetzten Gebieten auf, „auszureisen oder auf die ukrainische Armee zu warten“. Sie beharrt darauf, dass die sich auch unter der russischen Fremdherrschaft als loyale Ukrainer zu betätigen und ihrer Staatsangehörigkeit die eigenen Überlebensnotwendigkeiten unterzuordnen haben. Sonst gilt: Wehe dem, der sich mit dem Feind einlässt!

Die Staatenwelt vor der Wahl: right or wrong… Diesmal: Südafrika

Südafrika ist im August Gastgeber des BRICS-Gipfels und erwartet den Besuch des russischen Präsidenten. Als Vertragsstaat des Internationalen Strafgerichtshofs ist es zugleich in der Pflicht, den internationalen Haftbefehl gegen Putin bei Einreise zu vollstrecken.

Südafrika hat bislang auf seiner Neutralität in der Ukraine-Frage bestanden und sich nicht an dem westlichen Ächtungs- und Sanktionierungs-Regime gegen Russland beteiligt; es arbeitet im Gegenteil daran, die guten Beziehungen zu dem einstigen Unterstützer im Kampf gegen die Apartheid und heutigen BRICS-Partner wirtschaftlich, politisch und militärisch zu vertiefen. Umgekehrt hat es ein substanzielles Interesse, die Kooperation mit den maßgeblichen Mächten des Westens, zu denen es Handelsbeziehungen von großem Gewicht unterhält, auszubauen.

Die Regierungspartei ANC fällt eine Entscheidung und der Präsident verkündet, die südafrikanische Mitgliedschaft im IStGH „wegen eines angeblich unfairen Umgangs mit manchen Ländern“ (Der Spiegel, 25.4.23) beenden zu wollen. Kurz darauf der Rückzieher: Ramaphosa lässt seinen Sprecher mitteilen, es habe sich um einen „bedauerlichen Fehler“ gehandelt, der ANC habe den Austritt nicht beschlossen, allerdings ernsthaft in Betracht gezogen für den Fall, dass „andere Optionen ‚nicht zu den gewünschten Ergebnissen in Bezug auf Fairness und Kohärenz bei der Anwendung des Völkerrechts führten‘“ (FAZ, 26.4.23). Der Grund des Sinneswandels lässt sich der Zeitung entnehmen: Die USA, zweitgrößter Handelspartner und unentbehrliche Dollardevisenquelle, erpressen Südafrika damit, ihm den privilegierten Marktzugang zu streichen. Es wird berichtet, dass der nationale Sicherheitsberater des Präsidenten

„an der Spitze einer Delegation in Washington ist, die Lobbyarbeit bei der Biden-Regierung und den Kongressführern betreibt... Das Team von Sydney Mufamadi wird seine Bemühungen wahrscheinlich darauf konzentrieren, sicherzustellen, dass Südafrika nicht vom Africa Growth and Opportunity Act (AGOA) ausgeschlossen wird, einem US-Gesetz, das ausgewählten afrikanischen Ländern, einschließlich Südafrika, zoll- und kontingentfreien Zugang zum US-Markt gewährt.“ (Daily Maverick, 27.4.23)

Die ANC-Regierung befindet sich, wie die nationale Presse messerscharf analysiert, in einer „Zwickmühle“, sie wird genötigt, sich auf eine Seite in der Konfrontation zwischen dem Westen und Russland zu schlagen. Südafrikas Öffentlichkeit geht die Handlungsoptionen durch und kommt zu dem Schluss, dass angesichts des Eigensinns der nationalen Justiz Putin freies Geleit beim BRICS-Gipfel nicht zuverlässig garantiert werden kann. Gehofft wird nun, dass Putin der Regierung den Offenbarungseid ihrer Souveränität erspart und sich mit einer virtuellen Teilnahme begnügt.

Die Ukraine vor der Frühjahrsoffensive: Krieg führen, um an Kriegsgerät zu kommen

Anfang Mai warten immer noch alle auf die ukrainische Frühjahrsoffensive. Man hört, dass das Wetter Schwierigkeiten macht, und hofft, dass der Frühjahrsmatsch trocknet, damit – endlich wieder – losgeschlagen werden kann. Zugleich weist die ukrainische Führungsmannschaft nachdrücklich auf „Hindernisse“ ganz anderer Art hin: An ihr, womöglich gar an mangelndem Kriegswillen, liegt es nicht, wenn ‚es‘ noch nicht losgeht. Es fehlt ihrer Truppe an Ausrüstung, und die muss der Westen spendieren. Von ihm hängt ab, was die Ukraine sich militärisch vornehmen kann. Mit ihm führt sie deshalb einen Dauerstreit darüber, was es braucht, um nach monatelangem Stellungskrieg wieder größere Geländegewinne zu erzielen. Die Ukraine dringt nicht nur auf zügige Lieferung zugesagter Waffen – man werde bereit sein, „den Angriff zu starten, ‚sobald die mit unseren Partnern vereinbarten Waffen vollständig geliefert sind‘“ (Selenskyj, Washington Post, 6.5.23) –, sondern auch auf die Bereitstellung von Gerät, das der Westen bislang nicht liefern will.

Mangel an benötigter Ausrüstung ist laut Selenskyj „der Grund, warum die ukrainischen Streitkräfte nach der Rückeroberung der südlichen Stadt Cherson im November nicht in der Lage waren, die russischen Streitkräfte aus dem von ihnen kontrollierten Gebiet auf der anderen Seite des Dnjepr zu verdrängen. Von diesen Stellungen am Fluss aus feuern russische Streitkräfte regelmäßig Granaten auf die jetzt von der Ukraine kontrollierte Stadt ab. Dutzende Zivilisten wurden in den Monaten seit Chersons Befreiung durch solchen Artilleriebeschuss getötet.“ (Ebd.) „‚Sie können von dort Truppen abziehen und sie nach Osten oder Süden verlegen. Und trotzdem werden sie immer stärker‘, sagte Selenskyj. ‚Warum? Weil sie wissen, dass wir sie nicht erreichen können ... und wir leiden jeden Tag, weil sie die Fähigkeit haben, auf unsere Leute zu schießen.‘“ (Ebd.) Verteidigungsminister Resnikow fordert deshalb „etwas Interessantes mit einer Reichweite von 150 Kilometern“, um „sie immer tiefer zurücktreiben“ zu können (ebd.). „Ohne moderne Kampfflugzeuge sei es unmöglich, gute Erfolge in der Offensive oder in der Verteidigung zu erzielen, sagt der Sprecher der ukrainischen Luftwaffe, Jurij Ignat. ‚Wir werden auf jeden Fall auf die Flugzeuge warten.‘“ (n-tv, 30.4.23)

Wenn der Westen es der Ukraine nicht ermöglicht, den Feind und seine Nachschublinien zu beschießen, wo immer sie sich befinden, verhindert er das militärisch Notwendige und gefährdet unnötig ukrainische Bürger. Dagegen bestehen die NATO-Mächte darauf, das Ihre getan, nämlich alles geliefert zu haben, was es für die anstehende Offensive braucht. Jetzt ist es an der Ukraine, das reichlich vorhandene Tötungsgerät einzusetzen:

„Die Verbündeten haben der Ukraine beispiellose militärische Unterstützung gewährt, sowohl Ausrüstung als auch Waffensysteme, aber auch gewaltige Mengen an Munition. Und das tun wir auch weiterhin... Insgesamt verfügen die Ukrainer ... über neun Brigaden, die nun gut ausgebildet, gut ausgerüstet und gut besetzt sind. Und das ist es, was ihnen die militärische Unterstützung und die Fähigkeiten verschafft, die sie brauchen, um weitere Gebiete zurückzuerobern.“ (Stoltenberg, 27.4.23)

Die geforderte Langstreckenangriffsfähigkeit wird Selenskyjs Truppe verweigert, weil „eine solche Ausrüstung für Angriffe innerhalb Russlands verwendet werden könnte – was möglicherweise eine größere Eskalation von Seiten Moskaus auslösen könnte“, das sich weiter seine Zermürbung im Stellvertreterkrieg gefallen lassen soll. Zwar erklären die Sponsoren Übergriffe auf russisches Territorium zunehmend zu einer Frage souveräner ukrainischer Entscheidung, insoweit zu einem Stück Normalität des von ihnen geförderten Kriegs; [1] modernes westliches Gerät, das vor allem dafür taugt, verweigern sie aber [2] – die ukrainische Führung mag noch so sehr darauf bestehen, dass das die Erreichung der lokalen Kriegsziele behindert, und geloben, die Vorgaben des Unterstützerklubs einhalten zu wollen. [3] Ihre erkennbare Differenz zum ukrainischen Stellvertreter, der jeden Quadratmeter Territorium zurückerobern will, praktizieren die Waffenlieferanten in bewährter Manier, ohne lange Diskussionen über die Kriegszielfrage. [4] Sie bestimmen, was auf dem Schlachtfeld geht, schlicht durch Qualität und Quantität ihrer – immer umfangreicheren – Lieferungen.

Die Kriegspartei, deren militärische Potenzen vollständig das Produkt auswärtiger Förderung sind, nimmt, was sie kriegt, verspricht den Vollzug, den sie ohnehin will, und versucht, ihren Krieg zum Mittel für weiterreichende Forderungen zu machen. „Bedeutendes Territorium zurückzuerobern“ führt so gesehen nicht einfach dazu, dass die Ukraine es hat. Es dient dem Beweis, „dass sie es wert ist, fortgesetzt unterstützt zu werden“, dass der Westen jeden Grund hat, nicht nur den Krieg am Laufen zu halten, sondern sich auch hinter die Eskalationen zu stellen, die die ukrainische Kriegspartei sich vornehmen will. Selenskyj drückt das demonstrativ hoffnungsfroh als Prognose aus:

„Ich glaube ehrlich gesagt, je mehr Siege wir auf dem Schlachtfeld erringen, desto mehr Menschen werden an uns glauben, was bedeutet, dass wir mehr Hilfe bekommen werden.“ (Washington Post, a.a.O.)

Ein Werben mit ebenden Erfolgen, für die sich die Ukraine so mangelhaft ausgestattet sieht, mit dem man es also auch nicht übertreiben darf. Der Verteidigungsminister schraubt an den Maßstäben:

„‚Die Erwartungen, die unsere Gegenoffensive erfüllen kann, werden weltweit überschätzt‘, sagte ... Oleksij Resnikow... ‚Die meisten Menschen ... warten auf etwas Großes‘, fügte er hinzu, was seiner Meinung nach zu ‚emotionaler Enttäuschung‘ führen könnte.“ (Ebd.)

Denn letztlich bleibt der Ukraine ja nichts, als aus den gelieferten Waffen herauszuholen, was geht: Geländegewinne erzielen und dabei und dadurch erreichen, dass der Westen nicht die Lust am Krieg verliert, für den er sie ausstattet. Dafür lohnt sich das Sterben der Soldaten allemal.

[1] So der neue deutsche Verteidigungsminister: „Pistorius hatte in der ZDF-Sendung Maybrit Illner auf die Frage nach möglichen roten Linien im Ukraine-Krieg gesagt, er halte begrenzte Angriffe der Ukraine auf russisches Territorium im Kampf gegen die Invasion für akzeptabel. Es sei ‚völlig normal‘ in solch einer militärischen Auseinandersetzung, ‚dass auch der Angegriffene ins gegnerische Territorium vorgeht, um beispielsweise Nachschubwege zu unterbinden‘, sagte der SPD-Politiker... ‚Solange keine Städte, keine Zivilisten, keine zivilen Bereiche attackiert werden, wird man das notgedrungen akzeptieren müssen‘, erklärte Pistorius weiter. ‚Nicht gern, aber es gehört dazu, um Nachschubwege beispielsweise zu unterbinden.‘“

[2] Schon wieder so eine rote Linie, über deren Verfallsdatum diskutiert wird. „Die Niederlande beraten zurzeit mit Dänemark und Großbritannien über die Lieferung von Kampfflugzeugen an die Ukraine. Die Lieferung der Kampfjets F-16 sei ‚kein Tabu‘, sagt Premier Mark Rutte in Den Haag bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und dem belgischen Premier Alexander De Croo. Eine Einigung sei dabei noch nicht erzielt worden. Doch das sei eine Frage der Zeit, sagt Rutte.“ (n-tv Ukraine-Ticker, 4.5.23)

[3] „‚Ich werde ehrlich sagen, ich verstehe nicht ganz, warum wir keine Artillerie mit großer Reichweite bekommen können‘, sagte er [Selenskyj] und bestand darauf, er habe versichert, dass die Ukraine solche Ausrüstung nicht für Angriffe innerhalb Russlands einsetzen würde, wie einige Verbündete befürchten.“

[4] Gelegentlich ist den Ukrainern schon ein gewisser Realismus nahegelegt worden: „US-Außenminister Antony Blinken schließt langfristig Verhandlungen über die künftigen Grenzen der Ukraine nicht aus. Die Entscheidung darüber liege aber bei den Ukrainern, sagte er vor einem Parlamentsausschuss in Washington. Jeder eventuelle Friedensschluss müsse ‚gerecht und dauerhaft‘ sein. ‚Ich glaube, dass es Gebiete in der Ukraine gibt, bei denen die Ukrainer entschlossen sind, am Boden darum zu kämpfen. Und eventuell gibt es Gebiete, bei denen sie beschließen, dass sie versuchen wollen, sie auf anderen Wegen wiederzuerlangen‘, sagte Blinken. Beobachtern zufolge ließ Blinken damit durchblicken, dass die USA eine Rückeroberung aller von Russland besetzten ukrainischen Gebiete – vor allem der Krim – durch ukrainische Truppen für nicht wahrscheinlich halten.“ (Zeit Online, 24.3.23)