KW 9-11
Ende Februar veröffentlicht China einen Friedensplan für die Ukraine. Nach einem Jahr, in dem hierzulande ‚Frieden‘ als Synonym für den ‚Sieg‘ unserer Ukraine galt, sorgt dieser Vorschlag für einigen Argwohn.
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KW 9-11
Chinas Friedensplan
Ende Februar veröffentlicht China einen 12-Punkte-Friedensplan für die Ukraine. Nach einem Jahr, in dem hierzulande ‚Frieden‘ als Synonym für den ‚Sieg‘ unserer Ukraine galt, sorgt dieser Vorschlag für einigen Argwohn. Die unbedingte Parteinahme für den Erfolg der Ukraine, die der Westen überall fordert, bleibt China schuldig, wenn es beide Parteien und deren Unterstützer dazu auffordert, keine weiteren Eskalationsschritte mehr zu unternehmen und auf sofortige Friedensverhandlungen hinzuwirken. Kein Wunder also, dass die US-Diplomatin Nuland schon vor der Veröffentlichung des Plans bekannt gibt, was sie von ihm erwartet:
„Es kann nicht einfach ein zynischer Waffenstillstand sein, der den Russen Zeit gibt, nach Hause zu gehen, sich auszuruhen und gestärkt zurückzukehren...“
China hat auch noch die Stirn, sich auf das Völkerrecht und die UN-Charta zu berufen, und gibt, ohne auch nur eine Kriegspartei beim Namen nennen zu müssen, Russland und der Ukraine glatt gleichermaßen die Schuld an der fortschreitenden Eskalation; die westlichen Waffenlieferungen und Sanktionen gegen Russland stuft es sogar als unrechtmäßige Kriegsbeteiligung ein. Das Reich der Mitte geht noch weiter und erklärt das Prinzip für verletzt, wonach die Sicherheit eines Staates nicht auf Kosten der Sicherheit eines anderen Staates gehen darf – was jeder richtig zu deuten weiß: Die Osterweiterung der NATO beschädige die Sicherheitsinteressen Russlands und sei in diesem Sinn völkerrechtswidrig. Was dieser empörenden Stellungnahme erst so richtig ihre Schärfe verleiht, ist die Stellung, die China damit für sich reklamiert: Es nimmt sich das Recht heraus, sich nicht bloß als unbeteiligte und unparteiliche, sondern als überparteiliche Instanz aufzuführen; als Richter über den Krieg, der die Staaten daran misst, ob sie im Sinne der chinesischen Lesart des Völkerrechts handeln, also zu ihren Taten berechtigt sind oder nicht.
Das hat für die verschiedenen Parteien verschiedene Bedeutungen. Der Friedensplan bestreitet zwar Russland sein selbst definiertes Recht auf Kriegführung gemäß den eigenen Sicherheitsinteressen, rehabilitiert es jedoch als Macht, die auf der Geltung solcher Sicherheitsinteressen bestehen darf. Auch gegenüber dem Westen ist der chinesische Friedensplan und insbesondere die Warnung vor der Mentalität des Kalten Krieges eine Ansage: Ihm wird halb implizit, halb explizit das selbstdefinierte Recht abgesprochen, darüber zu entscheiden, was im Sinne des Völkerrechts ist und was nicht, womit China mehr als nur die Definitionshoheit des Westens über diesen Krieg angreift: Mit seinem Auftritt als besserer, weil absolut überparteilicher Weltordner und Friedensbringer stellt China das Recht der USA diplomatisch in Frage, als alleinige Weltmacht den anderen Staaten ihren Platz und ihr Recht im Verhältnis zum Rest der Welt zuzuweisen.
Der Kanzler erklärt „1 Jahr Zeitenwende“: eine deutsche Erfolgsstory
Vor den Kollegen im Bundestag zieht Scholz eine positive und vorwärtsweisende Bilanz. Der Umbau der Nation zu einer weltpolitisch ernstzunehmenden Militärmacht ist im vollen Gang; die dank Ukraine-Krieg erreichten Fortschritte sowie einige auftretende Defizite verbucht er als Auftrag zur noch konsequenteren Fortsetzung. Seiner patriotisch-kritischen Öffentlichkeit – „Wo bleibt sie denn, die schöne Zeitenwende?“ – erteilt Scholz die kongeniale Antwort: Sie ist längst da und eine einzige Erfolgsstory.
Den menschlichen Opfern in der Ukraine, mit deren Leid die Rede beginnt, wird der Stellenwert zuteil, die sie vom ersten Kriegstag an verdienen: als moralischer Auftraggeber für das deutsche Engagement an der Seite ihrer politischen Herrschaft. Unsere Solidarität gilt dem Kampf dieses „tapferen Volkes gegen Aggression und Unrecht des russischen Angriffs“. Es kämpft zugleich für den Frieden, den Deutschland braucht, weshalb der Kampf noch lange nicht aufhören darf:
„Ein Diktatfrieden gegen den Willen der Opfer verbietet sich aber nicht nur aus moralischen Gründen, sondern auch, wenn wir das Wohl unseres eigenen Landes, die Sicherheit Europas und der Welt im Auge haben: die zivilisatorischen Errungenschaften, auf die auch unser Friede baut.“
Letzteres geht an die Adresse der Kritiker mit ihrer schon wieder enttäuschten Hoffnung auf ein deutsches ‚Nie wieder Krieg!‘ Ihnen erklärt Scholz, dass Frieden nichts anderes sein darf als die Durchsetzung der überlegenen Gewalt des Westens: „Unser ‚Nie-wieder!‘ bedeutet, dass der Angriffskrieg niemals zurückkehrt als Mittel der Politik. Unser ‚Nie-wieder!‘ bedeutet, dass sich Putins Imperialismus nicht durchsetzen darf.“ Ein echt wirksamer, nachhaltiger Sieg über Russland, den der ach so „besonnene“ Scholz natürlich nie so nennt, muss also her, wenn der Frieden ein gerechter werden soll. Vom Bundeskanzler anschaulich gefasst in dem meistzitierten Satz der Rede: „Mit der Waffe an der Schläfe lässt sich nicht verhandeln, außer über die eigene Unterwerfung!“ Also muss eine friedliebende Republik für die gewaltsame Unterordnung der anderen Seite sorgen: Sie muss der ukrainischen Staatsführung immer mehr und bessere Waffen in die Hand drücken, damit die unter heldenhaftem Einsatz ihres uniformierten Menschenmaterials die Zurückdrängung Russlands in Angriff nehmen kann.
Dieses ‚Nie wieder Krieg!‘ heißt für die BRD erstmal ‚100 Milliarden Euro Sondervermögen‘ für die Aufrüstung der eigenen militärischen Potenzen, damit die Bundeswehr nicht nur nicht ‚blank‘ dasteht, sondern fähig ist, dem russischen Imperialismus ein ‚Nicht-mit-uns!‘ entgegenzusetzen. „Deutschland ist im Lichte der Zeitenwende widerstandsfähiger geworden. Am deutlichsten wird das, wenn man auf die Bundeswehr blickt.“ Der Kanzler will nicht nur, er kann sich das leisten: Die Mittel, die der viertgrößte Kapitalismus der Welt für seinen zivilen Staatshaushalt ausspuckt, reichen nicht nur für die eigenen Streitkräfte, sondern auch für stetig erweiterte Waffenlieferungen an den Partner in der Ukraine. Und da „haben wir schon mehr erreicht, als viele uns zutrauten“ – nicht zuletzt mit erstklassigen Gebrauchswerten aus westlichen, europäischen und deutschen Rüstungsfabriken. Der Krieg gibt die Gelegenheit zu Scholz’ kleiner Leistungsschau nationaler Wehr- und Produktivkraft: Die umfasst „das Patriot-Luftabwehrsystem, den Schützenpanzer Marder, die Kampfpanzer Leopard 1 und 2“ sowie das „Luftverteidigungssystem IRIS-T“, „Haubitzen“, „den Flakpanzer Gepard“ usw. Er betont mit den maßgeblichen Leistungen dieser Geräte für den Krieg der Ukrainer die Leistungen für wachsende deutsche Weltgeltung in der Konkurrenz der Rüstungsproduzenten.
Kriegsansagen
- Russland zieht sich aus dem internationalen Atomwaffenkontrollvertrag „New START“ zurück – und zwar so lange, bis die USA ihren Zweck aufgeben, Russland in der Ukraine eine „strategische Niederlage“ zufügen zu wollen. Von der russischen Ankündigung, sich mit der Aussetzung des Atomabkommens für die USA unberechenbarer zu machen, zeigen sich diese am Rande des G 20-Gipfels demonstrativ unbeeindruckt: Erstens wird die Ukraine so lange unterstützt wie nötig, zweitens hat sich Russland unabhängig vom Krieg in der Ukraine an den Atomwaffenkontrollvertrag zu halten und drittens hat es gefälligst einen inhaftierten US-Bürger freizulassen.
- „Es macht den Eindruck, als seien all diese Länder damit beschäftigt, alte unnötige Geräte zu entsorgen“ (Kreml-Sprecher Peskow): So will Russland die angekündigten MiG-29-Lieferungen aus Polen und der Slowakei also nehmen: als eine zwar eindeutige Eskalation, aber eine, die Russland mit einer eigenen gar nicht zu beantworten braucht. Dank seiner Überlegenheit auf dem Schlachtfeld kriegt es die neuen Waffen nämlich auch so kaputt: „Im Laufe der speziellen Militäroperation wird all diese Ausrüstung zerstört.“ Etwas anders sieht die Sache bei moderneren Kampfflugzeugen aus: Der frühere Kreml-Chef und jetzige Vizesekretär des russischen Sicherheitsrats Medwedew, ein russischer Hardliner, erklärt eine Übergabe von NATO-Kampfflugzeugen und deren Wartung in Polen zu einem direkten Kriegseintritt der NATO gegen Russland. „Jeder, der über die Lieferung (Reparatur) solcher Ausrüstungen oder Zerstörungsmittel sowie über ausländische Söldner und Militärausbilder entscheidet, müsste als legitimes militärisches Ziel betrachtet werden.“ Medwedew rechne zwar nicht damit, dass seine Drohung – bei der Feindschaft – die Lieferungen langfristig unterbindet, „denn die Versuchung, Russland zu vernichten, ist groß“. Aber auch dagegen weiß sich Russland zu wehren – mit welchen Waffen, braucht er wohl nicht noch einmal zu erwähnen.
- Der Kreml ist dabei „zu einer diplomatischen Lösung“ bereit. Dafür muss der Westen die „neuen Realitäten“ anerkennen: Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson sind russisches Staatsgebiet. Dieses oberste Kriegsziel, das Russland auf die Ebene eines „Existenzkampfes“ (Putin) hebt, ist zwar nur mit Waffengewalt erreichbar: „Wir müssen unsere Ziele erreichen. Aufgrund der aktuellen Position des Kiewer Regimes ist dies derzeit nur mit militärischen Mitteln möglich“ (Peskow). Aber dafür ist man jetzt besser gerüstet als 2014, als Russland es nur zu einer Annexion der Krim bringen konnte: „Wir hatten damals keine Hyperschallwaffen, aber jetzt haben wir sie.“ (Putin)
- Für eine Verhandlungslösung ist der Westen auch. Der deutsche Bundeskanzler Scholz stellt auf seiner USA-Reise klar, wie sie aussehen könnte: Russland hat als Vorbedingung alle Truppen abzuziehen, dann kann man weitersehen. Und weil ihm völlig klar ist, dass das für Russland unzumutbar ist, sagt er – obwohl er sich „jeden Tag wünscht, dass das anders wäre“ – einen langen Krieg an. Was dessen Ausgang angeht, ist er ganz optimistisch. Triumphierend erläutert er, dass sein Feind den Kriegswillen von Nato und Partnern unterschätzt hat: „Er hat die Einigkeit Europas, der Vereinigten Staaten und aller Freunde der Ukraine sowie die ständige Lieferung von Waffen, die wir der Ukraine zur Verfügung stellen, falsch eingeschätzt.“ Die Ukrainer können dank der Macht, zu der ihre mächtigen Freunde sie gemacht haben, ihr Land verteidigen „und sie werden auch in Zukunft in der Lage sein, dies zu tun“. Die russische Niederlage, die allein den deutschen Wunsch nach Frieden zu befriedigen vermag, wird kommen.
Absturz einer US-Drohne über dem Schwarzen Meer
Seit Kriegsbeginn setzen die USA Drohnen im Luftraum über dem Schwarzen Meer ein, um nachrichtendienstliche Informationen für die ukrainische Seite zu sammeln. Gegenüber Russland betreiben sie mit der demonstrativen Missachtung der Grenzen des von Russland definierten „Sondereinsatzgebietes“, die es bis ins Schwarze Meer hinein gezogen hat, den permanenten Test darauf, inwieweit es sich dieses Stück Kriegsbeteiligung gefallen lässt. Dem begegnet Russland mit dem Einsatz von Kampfflugzeugen, die die Aufklärung der Drohnen stören, ohne sie dabei direkt anzugreifen. Mitte März wird dabei erstmalig eine der amerikanischen Drohnen von zwei russischen Kampfjets zum Absturz gebracht. Beide Staaten bestellen wechselseitig ihre Botschafter ein, und die Verteidigungsminister sehen sich zum ersten Telefonat seit Oktober veranlasst.
Die USA stellen klar, dass sie mit ihren Drohnen im „internationalen Luftraum“ über „internationalem Gewässer“ agieren, sich also jedes Recht zusprechen, das auch in Zukunft zu tun. Sie definieren das Abdrängen der Drohne als Bruch des Völkerrechts, zu dem sich Russland zu bekennen hat, und untermauern ihren Anspruch durch die Veröffentlichung von Videomaterial, das die russische Schuld belegen soll. Indem sie ihre Spionage als legitimen Akt präsentieren, fordern sie Russland auf, diese unwidersprochen hinzunehmen. Das weist Russland entschieden zurück. Nicht nur besteht es darauf, dass die Drohne ganz ohne direkten Eingriff der russischen Kampfjets abgestürzt sei, es teilt den USA auch mit, dass es die Drohnenflüge als unzulässige Unterstützung der Ukraine, zudem als unrechtmäßige Übertretung seiner Grenzen nimmt und gegen derartige „Provokationen“ weiterhin vorgehen wird. Um seiner Entschlossenheit bei der Abwehr amerikanischer Einmischung Nachdruck zu verleihen, zeichnet der russische Verteidigungsminister die Piloten mit einem „Mut-Orden“ aus, der sie dafür ehrt, die Grenzen des Luftraums verteidigt zu haben. So teilen sich die Weltmächte ihre entgegengesetzten, unversöhnlichen Ansprüche mit.
Dabei bringen beide Seiten erneut die Frage ins Spiel, die seit Beginn des Krieges permanent auf dem Tisch liegt: Sie beschwören die Gefahr eines direkten, bewaffneten Konflikts, drohen also mit diesem Übergang – und geben gleichzeitig zu Protokoll, auch diesen Fall nicht als Anlass nehmen zu wollen, ihn zu vollziehen. Die USA nehmen sich die Freiheit, den Zusammenstoß als individuellen Fehler einzelner Piloten zu definieren, der aus bloßer Inkompetenz, d.h. ohne direkte Absicht begangen wurde und daher nicht als kriegerischer Akt zu werten ist. Und auch Russland beteuert, kein Interesse an der Eskalation zu haben, während es sich vorbehält, weiter gegen die amerikanischen Drohnen vorzugehen. So bestehen beide Seiten bei ihrem direkten Aufeinandertreffen darauf, dass der Krieg ein ukrainisch-russischer bleiben soll. Obgleich sie sich weiter die Gründe dafür liefern werden, soll eine direkte Konfrontation nicht sein.