KW 12

Die Kleinstadt Bachmut im Osten der Ukraine wird im Frühjahr 2023 endgültig berühmt. Ganze Armeen bringen sich auf Befehl von oben gegenseitig um. Die interessierte Fachwelt weiß das einzuordnen.

Aus der Zeitschrift
Siehe auch
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Gliederung

Episoden des dementierten Russland-NATO-Kriegs
KW 12

Sachliche Auskünfte über die Schlacht um Bachmut

Die Kleinstadt Bachmut im Osten der Ukraine wird im Frühjahr 2023 endgültig berühmt:

„Bei der Schlacht um Bachmut handelt es sich ... mit mittlerweile [Stand Mitte März] mehr als 200 Tagen um eine der längsten Schlachten in der Weltgeschichte. Sie ist zu einer reinen Abnutzungs- und Materialschlacht bzw. zu einem Stellungskrieg geworden; keiner Seite gelang es bisher, relevante Gebietsgewinne zu erzielen... Die Schlacht ist die verlustreichste seit dem Zweiten Weltkrieg.“ (Wikipedia) „Seit die ehemalige 70.000-Einwohner-Stadt im September zur Frontstadt zwischen russischen Invasionstruppen und der ukrainischen Verteidigungsarmee wurde, ist sie zum berühmt-berüchtigten Symbol des Abnutzungskriegs geworden.“ (Bild) „Die durchschnittliche Lebenserwartung eines Frontsoldaten in der Ostukraine betrage vier Stunden, sagte ein US-amerikanischer Marinesoldat. Besonders tödlich seien die Kämpfe in der vom Krieg zerrissenen Stadt Bachmut, die auch als ‚Fleischwolf‘ bezeichnet wird.“ (FR)

Ganze Armeen bringen sich auf Befehl von oben gegenseitig um. Die interessierte Fachwelt weiß das einzuordnen. Zum Beispiel in die Weltgeschichte; überhaupt oder seit dem 2. Weltkrieg. Oder in mehr sachliche Zusammenhänge: gehört zur Gattung der „reinen Materialschlachten“. Ja klar, dort geht massenhaft Material kaputt. Ist deswegen auch ein Fall von „Abnutzungsschlacht“: Was da kaputt geht, ist ein – wessen? – Gebrauchsgegenstand. Gebraucht wofür? Für einen irgendwie wohl naheliegenden Zweck, der aber nicht erreicht wird: Keine „relevanten Gebietsgewinne“. Auch das kennt man schon: Materialverschleiß ohne Gewinn ist „Stellungskrieg“. Auch das hat seinen militärischen Zweck: So geht eben „Abnutzungskrieg“. Die Toten zählen mit als Materialverluste; wem sie vorher als Verschleißteile gehört haben und wozu gedient, versteht sich von selbst. Interessant, mitteilenswert ist das Tempo der Verluste, das sich am Personal als „durchschnittliche Lebenserwartung eines Frontsoldaten“ ausdrücken lässt: so viel linksliberales Mitgefühl muss in der Frankfurter Rundschau schon sein.

Was für eine Geisteshaltung ist hier eigentlich am Werk, bei einem solchen Blick auf die „Schlacht um Bachmut“? Die reine Sachlichkeit? Jedenfalls eine, die mit der ‚Sache‘ geistig umzugehen weiß. Die über ein Repertoire an fertigen Antworten verfügt, die eine Sinnfrage voraussetzen und auf ein geistig befriedigtes ‚Ach so ist das!‘ abzielen. Eine Sachlichkeit, die für jedes Interesse, das damit noch nicht fertig bedient ist, einen nächstschärferen Blick anzubieten hat:

„Sowohl für die ukrainischen als auch die russischen Streitkräfte hat Bachmut große strategische Bedeutung, sagt Marina Miron, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Zentrum für Militärethik am King’s College London. Die Eroberung der Stadt würde einen weiteren Vormarsch russischer Truppen bedeuten – etwa in Richtung Kramatorsk. ‚Sie würden dann wichtige Straßen kontrollieren, die ukrainischen Streitkräfte abschneiden und ihnen die Verteidigung erheblich erschweren‘, sagt sie.“ (dw.com)

Angesprochen und bedient wird die Nachfrage nach einem verständlichen – im Sinne von plausibel nachvollziehbaren – Zweck des großen Umbringens. „Wichtige Straßen kontrollieren“ – das kann auch der Laie als sinnvoll abnicken; inwiefern und für wen ‚wichtig‘, das ist gleich klar. Das Gleiche gilt für die entgegengesetzte Auskunft:

„Bachmut hat an sich wenig strategischen Wert. Es geht um Symbolik. Wenn Russland die Stadt erobert, erringt es seinen ersten klaren Sieg seit der Einnahme der Industriestadt Sewerodonezk im Juni 2022 – um den Preis mehrerer Toter pro Meter bei zwei Kilometern Geländegewinn im Monat. Wenn die Ukraine Bachmut hält, zeigt sie, dass sie auch den massivsten Angriffen widerstehen kann – beste Voraussetzung für die geplante Großoffensive gegen die russische Besatzung insgesamt.“ (taz.de)

„Symbolik“ tut es auch: Wenn ein Sieg sonst nichts bringt, gibt der Sieg als solcher dem „Preis“ einen Sinn, den Russland zu zahlen hat und der diesmal überschlägig mit toten Frontsoldaten „pro Meter Geländegewinn“ angegeben wird, was immerhin Zweifel am Verhältnis zwischen Aufwand und Ertrag weckt und in dem Fall auch durchaus hämisch klingen darf. Nicht weniger sinnvoll vom Standpunkt der anderen Seite eine vermiedene Niederlage, die immerhin – da endet die überparteiliche Sachlichkeit, die sich affirmativ mitdenkend in das mutmaßliche Kalkül beider Kriegsparteien einmischt – zu unausdrücklicher Hoffnung auf antirussische Erfolge in naher Zukunft berechtigt. Und wenn daraus nichts wird und aus russischen Geländegewinnen auch nichts, dann ist die Suche nach Sinn und Zweck dennoch nicht am Ende:

„Reisner zieht den Fleischwolf-Vergleich: Bei Bachmut werde versucht ‚von russischer Seite die Ukraine anzusaugen, genau in die Reichweite ihrer Artillerie, und sie dann zu zerstören‘.“ (rtl.de)

Das Interesse an der Funktion einer Angelegenheit für einen verständlichen, theoretisch akzeptablen Zweck, der Gesichtspunkt des von einem solchen Zweck her gedachten zweckmäßigen Gelingens: das hört bei der Begutachtung von Kriegsereignissen offensichtlich nicht auf. Die Sitte des auf rein immanente Kritik programmierten, insofern grundsätzlich affirmativen Nachdenkens über Gott und die Welt wird auch mit der ‚Schlacht um Bachmut‘ locker fertig. Die Parteilichkeit für die ukrainische Sache – worin auch immer die wirklich bestehen mag, auf jeden Fall ‚Verteidigung‘ gegen die „russischen Invasionstruppen“ – kommt dabei nicht zu kurz. Natürlich sind – oder wären – ukrainische Geländegewinne erwünscht, russische eine Gefahr und von Übel. Natürlich werden tote Russen als gerechte Strafe für den Verbrecher Putin verbucht. Natürlich sind tote ukrainische Frontsoldaten heldenhafte Zeugen für die Güte des Zwecks, dem sie nicht von ihren Befehlshabern geopfert werden, sondern sich opfern. Doch offenbar pflegt die liberale Öffentlichkeit daneben auch in Sachen Krieg eine kaltblütige Sachlichkeit, die sich noch in jede staatliche Veranstaltung verantwortungsbewusst hineindenkt und für alles einen – verfehlten oder glücklicherweise realisierten, aber auf jeden Fall – guten Grund schon allein deswegen findet, weil sie nach nichts anderem sucht.

Das ist die eine Sache: Die öffentliche Meinung denkt unerbittlich konstruktiv mit.

Die andere Sache ist die:

„Bei einem im Fernsehen übertragenen Treffen mit Verantwortlichen seines Ministeriums erklärte Schoigu, die Kontrolle über Bachmut werde ‚neue offensive Einsätze in der Tiefe gegen die Verteidigung der Streitkräfte der Ukraine ermöglichen‘.“ (n-tv.de)
„Die strategische Rolle von Bachmut ist nicht so groß... Einerseits ist Bachmut Teil dieser Festung, andererseits wird die Einnahme von Bachmut selbst keinen schnellen Sieg über die Ukraine, keine Straße zum Dnjepr oder gar die Einnahme des Donbass sicherstellen... Bachmut ist für uns äußerst vorteilhaft, wir zermalmen die ukrainische Armee dort und halten ihre Manöver auf.“ (Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin auf Telegram)
„Die Kämpfe um Bachmut werden immer heftiger, einen Rückzug lehnt Wolodymyr Selenskyj jedoch entschieden ab. Der Präsident betont, ‚kein Teil der Ukraine‘ könne ‚aufgegeben‘ werden.“ (zdf.de)
„Am Anfang war Bachmut eine Falle für die Russen, jetzt ist es eine Falle für uns geworden. Wir töten sie im Verhältnis 1:7 – das ist der einzige militärische Grund, Bachmut zu halten. Aber die Truppen hätten vor drei Wochen abgezogen werden müssen... Die Entscheidung, Bachmut zu halten, war gut, aber sie haben es übertrieben.“ (Ein ukrainischer Militärberater, zitiert nach n-tv.de)

Was die Öffentlichkeit kritisch einfühlsam begutachtet, setzen die politische Obrigkeit und ihre ausführenden Militärorgane ins Werk. Und zwar nach dem einzigen Kriterium, das sie im Umgang mit ihrem „Material“ praktisch gelten lassen und das der politischen Meinungsbildung als selbstverständlicher Leitfaden dient: Es muss sich lohnen, wofür sie ihre Armeen losschicken; dann wird losgeschlagen und ‚verschlissen‘. Und es muss gelingen; der Militärapparat kümmert sich darum, dass die Rechnung aufgeht. Alternativen gibt es nur innerhalb dieser Zielsetzung unter dem Kriterium der Effizienz. Auch die Schlacht um Bachmut ist für ihre Veranstalter ein Handwerk, das sauber erledigt werden muss.

Am Ende steht folgerichtig eine vorbildlich sachliche Manöverkritik von maßgeblicher Seite: Lob für die Performance, leichte Zweifel, ob die Investition die maximal lohnende war:

„Ich will die enorme Arbeit, die die ukrainischen Soldaten und die ukrainische Führung in die Verteidigung von Bachmut gesteckt haben, nicht schmälern, aber ich denke, dass es sich dabei eher um einen symbolischen Wert handelt als einen strategischen und operativen Wert.“ (US-Verteidigungsminister Lloyd Austin)

Ein cooler Nachruf auf zehntausende Tote. Ohne Pathos – es sind ja nicht die eigenen.

Internationaler Strafgerichtshof erlässt Haftbefehl gegen Putin

Die europäischen Staatenlenker landen einen kriegsdiplomatischen Treffer: Der Internationale Strafgerichtshof ergänzt das Verdikt „Putins Angriffskrieg“ um einen internationalen Haftbefehl gegen Putin. Verhaftet werden soll er wegen eines Aktes, den die russische Seite als humanitäre Tat verstanden wissen will. Die Anklage lautet auf Verschleppung und Umerziehung ukrainischer Jugend. Dieses von allen möglichen Vorwürfen in der ukrainischen Schlächterei eher unspektakuläre Kriegsverbrechen wird zum Anklagepunkt aus dem einfachen, praktischen Grund, weil hier die juristische Beweislage so günstig ist: Die russische Führung streitet die Verbringung der Kinder nicht ab; sie hat sie sogar publik gemacht, natürlich unter dem Motto, es ginge hier um die „Rettung unschuldiger Kinder vor Kriegsschäden“, die man auch wieder zurückschicken kann, sobald sich ihre Eltern finden. Die juristische Akribie, einschließlich des Vorbehalts des Gerichtshofs, dass es sich erst um eine Anklage handle, die in einem Verfahren noch geprüft und als Tatbestand bestätigt werden müsse, verleiht der feststehenden Einordnung des russischen Krieges als Verstoß gegen die guten Sitten der Kriegführung zwischen zivilisierten Staaten Seriosität. Noch vor einer Festnahme, geschweige denn einer Auslieferung Putins, erbringt allein die offizielle Anklage schon die propagandistische Leistung: Sie macht aus dem Präsidenten der Russischen Föderation nicht nur einen diplomatisch geächteten Kriegspräsidenten, sondern einen im Prinzip weltweit gesuchten Verbrecher.

Dieser kriegsdiplomatische Akt bekommt seinen weltpolitischen Stellenwert freilich nicht durch die Winkelzüge des juristischen Handwerks. Eine diplomatische Ansage an alle Staaten bzw. eine nicht ohne Weiteres zu übergehende internationale Rechtslage wird die Fahndungsausschreibung darüber, dass die führenden europäischen Staatsgewalten ausdrücklich dahinterstehen – und zur Freude der Europäer nicht nur die: Die mächtigen USA – die den IStGH ausdrücklich nicht als verbindliche völkerrechtliche Instanz anerkennen und sich Anklagen gegen ihre Soldaten sanktionsbewehrt verbitten – mahnen an, dass der schriftlichen Anordnung aus Den Haag durch alle Staaten Folge zu leisten ist. [1] Ausnahms- und fallweise spendiert das Weiße Haus dem IStGH seine Anerkennung, weil die juristische Qualifizierung Putins als Verbrecher die amerikanische Ächtung Russlands schön untermalt, mit der es seinen antirussischen Stellvertreterkrieg ins Recht setzt. Dafür lässt die Supermacht gerne mal großzügig die Durchsetzungsfähigkeit ihrer Gewalt ein bisschen auf die Glaubwürdigkeit und Seriosität des Weltgerichts abfärben. Und so ergeht ganz nebenbei eine Klarstellung, wer für das Völkerrecht letztinstanzlich zuständig ist.

Das Treffen von Xi und Putin

Kurz nach dem Haftbefehl gegen Putin reist Xi nach Moskau, um auf diplomatischer Ebene öffentlich die westliche Isolierung Russlands als Paria-Staat zurückzuweisen. Dieser Beistand kommt aus Sicht Russlands zur rechten Zeit, schließlich haben westliche Sanktionen, diplomatische Ächtung und vor allem die vielen gelieferten Waffen eine zerstörerische Wirkung entfaltet, die einen Partner vom Schlage Chinas äußerst willkommen und notwendig macht. Putin lobt deswegen die „objektive Haltung“ Xis, die er dessen Friedensplan entnimmt, und verspricht die Prüfung auf Übereinstimmung mit russischen Interessen.

Beim Austausch von Solidaritätsbekundungen bleibt es aber nicht. Beide Staatsführer erklären ihre strategische Partnerschaft mit ihren gemeinsamen Aufgaben und Zielen: Die bestehen zuallererst in einer massiven Ausweitung des bilateralen Austauschs in den Bereichen „Handel und Investitionen, Logistik und Verkehrswege, Finanzen (insbesondere Ausbau der Verwendung ihrer Währungen), Energiewirtschaft und ‚globale Energiewende‘, Grundstoffe und Bodenschätze, Technologie und Innovation, industrielle Kooperation sowie Landwirtschaft“ auf ein angepeiltes Volumen im Wert von ca. 200 Milliarden Euro. Strategisch ist diese Absicht nicht nur im Hinblick auf die gegenseitige wirtschaftliche Stärkung, die für Russland den Charakter eines teilweisen ökonomischen Ausgleichs für die durch die westlichen Sanktionen angerichteten Schäden hat, sondern auch und insbesondere, weil China und Russland sich darauf einigen, den Anteil des in ihren eigenen Währungen abgewickelten bilateralen Handels von ca. 65 % schrittweise auf 100 % auszuweiten – eine aus der aktuellen Lage geborene, deutliche Absage an die Alternativlosigkeit der Weltwährungen Dollar und Euro.

Der Ausbau der ökonomischen Beziehungen ist aber erst der Anfang. Ihre Partnerschaft soll in einem ganz neuen Sinn ausgerichtet werden: Beide Staaten entdecken nämlich „Entwicklungen“, die „das internationale Kräftegleichgewicht tiefgreifend verändern“. Diesen entnehmen sie den Auftrag, ihre „natürliche Verantwortung“ als ständige Mitglieder des Weltsicherheitsrats wahrzunehmen und die Welt in eine Richtung zu lenken, die den „Erwartungen der internationalen Gemeinschaft“ entspricht. Damit beanspruchen Russland und China eine alternative Richtlinienkompetenz über den Rest der Staatenwelt. In deren Mittelpunkt steht die „Förderung einer multipolaren Weltordnung, der wirtschaftlichen Globalisierung und der Demokratisierung der internationalen Beziehungen, um die Entwicklung einer gerechteren und rationelleren globalen Ordnung zu fördern“. So machen Russland und China der restlichen Staatenwelt mit ihrer militärischen Macht und ihrem ökonomischen Gewicht das Angebot, sich ihnen anstatt den USA zuzuordnen.

Einen bedeutenden Beitrag zu diesem antiwestlichen, gegen das Weltordnungsmonopol der USA gerichteten Konkurrenzprojekt stellt die von China erreichte diplomatische Aussöhnung der Erzrivalen Iran und Saudi-Arabien dar. Mit dem Angebot, per Ölexport und Zugehörigkeit zu BRICS+ am künftig weltweit größten Wachstumsraum zu partizipieren, versucht China, die beiden Regionalmächte für sein multipolares Gegenprogramm zu gewinnen. Währenddessen wird die Wiederanerkennung Syriens durch Saudi-Arabien vermittelt, was die chinesische Ambition flankiert. Gegen „die Kolonialpolitik der USA und Europas“ findet zeitgleich zum Besuch Xis ein Treffen mit afrikanischen Staaten statt, in dem vereinbart wird, dass Russland und die Staaten Afrikas ihren Handel trotz Sanktionen und diplomatischer Ächtung ausbauen. Kurz: China und Russland bemühen sich darum, ihren Einfluss auf andere Länder auszuweiten, darüber einen Block von verbündeten Staaten zu schaffen und so die eingerichteten Machtverhältnisse zu untergraben, womöglich zu ersetzen.

Das stuft Amerika sofort als das ein, was es ist: als Kampfansage an das Weltordnungsmonopol der USA. Besorgt zeigt sich Amerika deswegen aber nicht, sondern tritt mit dem Selbstbewusstsein einer Macht auf, die ihresgleichen sucht:

„Hier sind zwei Länder, die enger zusammenwachsen und einander als nützliche Partner beim Kampf gegen eine regelbasierte Weltordnung ansehen. Sie wollen die Regeln dieses Spiels ändern. Sie wollen, dass der Rest der Welt nach ihren Regeln spielt und nicht nach denen, die in der UN-Charta verankert sind und nach denen sich alle anderen richten.“ Aber „keine andere Nation in der Welt – keine – hat ein solches Netz von Bündnissen und Partnerschaften wie die Vereinigten Staaten. Niemand hat so viele Freunde in der ganzen Welt mit den gleichen Zielen wie wir. Verteidigungsminister Austin hat vor etwa einer Woche die 10. Ukraine Defense Contact Group abgehalten, an der mehr als 50 Nationen teilgenommen haben – ich wiederhole: mehr als 50 Nationen an jeder einzelnen Veranstaltung. Und dabei ist die Teilnahme freiwillig. Es ist nicht so, dass wir die Leute unter Druck setzen, damit sie der Ukraine helfen. Das ist die Macht der amerikanischen Führungsrolle. Und diese Macht haben weder Russland noch China.“ (Kirby@Whitehouse Pressekonferenz, 21.3.23)

Mit der Arroganz der überlegenen Supermacht, für die es zwischen ihren Ansagen und den allgemein anerkannten Regeln, ihrer Herrschaft über die Welt und dem freiwilligen Mitmachen des Rests der Staatenwelt keinen Unterschied gibt, sagt Amerika dem chinesisch-russischen Konkurrenzprojekt den Kampf an; und die erste Maßnahme ist, dem Treffen die Irrelevanz zuzusprechen, für die die USA sorgen wollen.

Weitere Waffenlieferungen an den Stellvertreter

Der lautstarke ukrainische Bedarf nach mehr Waffen trifft im Westen auf Gehör. Mit dem Beschluss, der Ukraine moderne Panzer zu spendieren, sind die Drangsale des Erhalts des eigenen Stellvertreters nämlich noch gar nicht erledigt. Das fängt Mitte März mit den Amerikanern an, die ihre Waffenhilfe um weitere 350 Millionen Dollar an Munition, HIMARS-Systemen etc. erweitern und ankündigen, die Abrams-Panzer, die sie als Zugeständnis an die Deutschen der Ukraine irgendwann liefern und vorher erst einmal bauen wollten, jetzt in der älteren Version aus eigenen Beständen zusammenzustellen. Kurze Zeit später werden die Munitionslieferungen um 2,6 Milliarden Dollar auf mittlerweile insgesamt 35,1 Milliarden Dollar aufgestockt. Aufgrund der großen Eile zum Teil direkt aus den Beständen des US-Militärs.

Auch andere Staaten wie Spanien versprechen zusätzliche Panzerlieferungen. Das ist gut, rückt aber zusammen mit den Munitionslieferungen das Problem in den Fokus, dass die westlichen Bestände zunehmend ausgedünnt werden und eine rasche Ausweitung der Kriegsproduktion nottut. Die EU mobilisiert dafür ihre Marktmacht und verabschiedet in einem demonstrativen Kraftakt ein Munitionspaket, eine gemeinsame EU-Beschaffung von NATO-Granaten im Wert von zwei Milliarden Euro. Teils direkt für die Ukraine, teils um leere Depots ihrer eigenen Armeen aufzufüllen.

Währenddessen wird eine weitere rote Linie relativiert. Polen und die Slowakei liefern, wie angekündigt, die ersten Exemplare ihrer alten sowjetischen MiG-29-Kampfflugzeuge an die Ukraine. Im Unterschied zu früheren Versuchen wird das dieses Mal von den Führungsmächten nicht unterbunden. Die schließen sich diesem Übergang aber auch nicht direkt an, sondern beharren darauf, dass solche Lieferungen – jedenfalls für sie selbst – nicht in Frage kommen; der wird als Entscheidung einzelner Staaten definiert, sodass von einer Überschreitung einer roten Linie keine Rede sein kann. Getrennt von der Führungsmacht läuft das dennoch nicht: Die USA spendieren der Slowakei neue Bell-Hubschrauber zum Spottpreis, sodass dieser Eskalationsschritt wieder als Ringtausch läuft.

Die Engländer überlegen laut, der Ukraine abgereicherte Uran-Munition zu liefern, die „aufgrund ihrer Dichte und anderer physikalischer Eigenschaften leichter Panzer und Panzerungen durchdringen kann“. Die Provokation sitzt: Russland werde die Lieferung von „Waffen mit einer nuklearen Komponente“, die es also als Einstieg in eine atomare Kollision definiert, nicht hinnehmen. Dem stellt Großbritannien eine vierfache Belehrung entgegen: Erstens strahlt abgereichertes Uran deutlich weniger, Krebsrisiko hin oder her. Zweitens setzt seine Armee solche Munition schon seit Jahrzehnten (!) ein. Drittens ist die Gleichsetzung dieser Standardkomponente konventioneller Kriegführung mit einer nuklearen Waffe also nichts als ein weiterer Fall russischer „Desinformationsverbreitung“. Weswegen es selber viertens der einzige nukleare Eskalationstreiber ist: „Das einzige Land der Welt, das über Nuklearfragen spricht, ist Russland.“ (Außenminister Cleverly) Großbritannien liefert und schweigt.

Russland stellt sich dem Panzerkrieg

Die Eskalation des Westens nimmt Russland offensiv an. Es verkündet, 1600 Panzer fertigzustellen, was die Anzahl der westlichen gelieferten Panzer um ein Vielfaches ausstechen soll. Auch die Munitionsproduktion soll auf die dreifache Menge der westlichen Lieferungen an die Ukraine ausgeweitet werden. Putin stellt in dieser Demonstration russischer Ressourcenmacht heraus, dass die russische Wirtschaft schon umfassend auf Kriegswirtschaft umgestellt ist und noch zu viel mehr militärischer Produktion fähig sei. Er beantwortet das westliche Panzerpaket also mit einer Ausweitung des Kriegs der Ressourcen, traut seinem Land damit demonstrativ zu, einen militärisch-industriellen Komplex aufrechtzuerhalten bzw. aufzubauen, der mehr militärische Waffenmacht produziert, als die 30 NATO-Staaten zusammen der Ukraine liefern werden, um diese Abnutzungsschlacht mittels Masse zu gewinnen. Passend dazu wird das Einberufungssystem für Wehrpflichtige neu aufgestellt, digitalisiert und ausgeweitet. Zusätzlich wird der Aufbau weiterer Söldnerarmeen nach Vorbild der Wagner-Gruppe angekündigt. Elendsgestalten und Häftlinge, für die bei geringer Überlebenschance – und ganz getrennt von Wehrpflicht, Soldatenehre und Patriotismus – etwas Geld oder Straffreiheit ein Angebot darstellen, soll es in Russland ja genug geben.

Der zweite Eskalationsschritt ist nuklearer Art. Russland verkündet die Stationierung taktischer Atomwaffen mit einer Reichweite von mehreren hundert Kilometern und einer Sprengkraft zwischen einer und fünfzig Kilotonnen TNT in Belarus. Putin begründet diesen Schritt zunächst mit seiner Legitimität: Er sei rechtskonform, das Abkommen zur Nichtverbreitung von Atomwaffen würde dadurch nicht verletzt, weil Russland das Oberkommando über die Waffen behalte. Zudem sei er eine Antwort auf die fortlaufende Stationierung von US-Atomwaffen in Europa. Und zu guter Letzt komme er damit nur der Bitte Lukaschenkos um Schutz vor der NATO nach. Die Rechtfertigung ist auch hier nicht der Grund der Stationierung: Mit dieser komplettiert Russland vielmehr seine Abschreckungsmacht auf der untersten atomaren Stufe, demonstriert seine Möglichkeit und Bereitschaft, die atomare Auseinandersetzung gegen die NATO zu führen, und erweitert das durch seine Atomwaffen geschützte Gebiet explizit auf den Verbündeten Belarus.

Der Internationale Währungsfonds: Eine Waffe im Wirtschaftskrieg des Westens

In den Nachrichten eher eine Randnotiz, aber durchaus kein unerheblicher Beitrag zum Krieg:

„Der IWF hat mit der Ukraine eine Vereinbarung über ein Finanzierungspaket im Umfang von etwa 15,6 Milliarden US-Dollar erzielt. Die Laufzeit beträgt vier Jahre.“ (Tagesschau, 22.3.23) „Der IWF hatte zuletzt seine Regeln geändert, um Kreditprogramme für Länder zu ermöglichen, die mit ‚außergewöhnlich hoher Unsicherheit‘ konfrontiert sind. Es handelt sich um den ersten Kredit an ein Land im Krieg.“ (Spiegel, 31.3.23)

Damit machen die Nationen, die hier das Sagen haben – streng nach Satzung sind das die G7, weil sie mit Abstand die meisten Dollars einzahlen –, aus diesem Institut des globalen Finanzsystems ein Kriegsinstrument des Westens. „Außergewöhnlich hohe Unsicherheit“: So trocken vermelden die mächtigen IWF-Staaten, dass sie da ihre Kriegspartei finanzieren. Weil sie mit einem Angriff auf ihre Weltordnung konfrontiert sind, den sie als maßgebliche Sponsoren der Ukraine beantworten, fließen 15,6 Milliarden Dollar an Kiew: Das Geld zielt auf das Durchhaltevermögen des Stellvertreters, der zur Zeit besonders hohe Ausgaben bei nahezu null Einnahmen hat („Die Wirtschaft steht still, die Armut steigt“), und stiftet ihm eine Karikatur von einem Staatshaushalt, mit dem er seine Armee bezahlen und sogar auswärtige Gläubiger bedienen kann.

Stadtbesuche

Putin reist in die letztes Jahr eroberte Hafenstadt Mariupol – es war die erste große blutige und siegreiche Stadtschlacht in der Auseinandersetzung mit der Ukraine – und begrüßt dort das neue Russland. Dort findet er nämlich nicht nur Soldaten und militärische Feldlager vor, sondern lässt sich von den Gastgebern den zivilen Wiederaufbau der Stadt, also den Erfolg seines Feldzugs zeigen. Von einer Frau lässt er sich sagen, dass er der Bevölkerung ein „Paradies“ geschenkt habe. Zwar ist die Stadt praktisch komplett zerstört, aber die ersten Neubauten sollen symbolisieren, was mit der Eroberung im Prinzip schon geleistet ist, die Befreiung von der Fremdherrschaft und die helle Zukunft im russischen Vaterland. Und deswegen steht der Erfolg in Mariupol auch für die Güte des Krieges in den Gebieten weiter nördlich. Weil dort dasselbe erkämpft wird, was in Mariupol schon erreicht worden ist, gehen die russischen Opfer um Bachmut und Co in Ordnung. Dort wie hier geht es um die Befreiung alles Russischen – Volk und Gelände – von ukrainischer Unterdrückung.

Weil Putin dort einen Erfolg demonstriert, kann die westliche Öffentlichkeit das nicht stehen lassen. Da gibt es einiges klarzustellen: Es wird aufgedeckt, dass die Stadt bis auf die paar gezeigten Neubauten total zerstört ist, ein Potemkin’sches Dorf, ganz in russischer Tradition. Auch die Dankbarkeit der Bevölkerung kann nicht echt sein. Zudem ist er unangekündigt und im Schutz der Dunkelheit nur für ein paar Stunden dort gewesen – bzw. sein Doppelgänger, denn der echte Putin ist für so was viel zu feige. Eine souveräne Inbesitznahme der Stadt ist das nach den Maßstäben westlicher Öffentlichkeit jedenfalls nicht gewesen; eher ein Fake.

Bei Selenskyj ist alles echt. Teilnahmsvoll wird berichtet, dass er mutig in umkämpfte Städte ganz nah an der Front fährt, Soldaten besucht und die Truppenmoral aufrechterhält, indem er an alte Kriegserfolge von Charkiw und Cherson erinnert, neue Erfolge beschwört und Orden verleiht. Der hohe Sinn, den er seinem Menschenmaterial vermittelt, macht aus dem brutalen Einsatz fürs Vaterland die höchste Form der Pflichterfüllung. Dass er die Tapferkeit und Opfer der Soldaten anerkennt, adelt wiederum ihn. Seine Befehle sind die Imperative der heiligen Pflicht, er als Kriegsherr ist nur der gemeinsamen guten Sache dienstbar. Von einem Gegensatz von Führung und todgeweihten Soldaten kann nicht die Rede sein; das kann unsere Öffentlichkeit nur bestätigen.

Den guten Sinn der ukrainischen Soldatenopfer verbürgen nicht zuletzt die Leichen von Butscha. Dieser Ort, an dem sich das russische Böse anschaulich identifizieren lässt, ist mittlerweile zum Wallfahrtsort für befreundete Außenpolitiker geworden. Das lässt Selenskyj nicht ungenutzt und bekräftigt wieder und wieder die Gleichung von moralischem Verbrechen und gerechter Gegengewalt. Aus gutem Grund: Als abhängiger Stellvertreter ist er es sich schuldig, nicht nur die Kriegsbegeisterung in der Ukraine zu befeuern, sondern auch permanent die Erneuerung des Schulterschlusses mit seinen westlichen Sponsoren einzufordern. Eine mögliche Kriegsmüdigkeit darf dort gar nicht erst aufkommen. Diesmal bekommt er Zuspruch aus Fernost, Japans Premierminister Kishida beglaubigt mit seinem Besuch, seiner demonstrativen Empörung über die Leichen und seinen tiefen Verbeugungen, dass die Ukraine im Krieg kein Einzelkämpfer ist, sondern die Weltgemeinschaft im Rücken hat und auf der guten, also richtigen Seite der Geschichte steht. Dafür bekommt Selenskyj dann auch eine Einladung zum nächsten G7-Gipfel, den Japan als Anti-Russland-Treffen gestalten will, um sich so als Mitsubjekt in die westliche Front im Kampf gegen Russland einzureihen. Auch hier: Die wechselseitige Inszenierung gelingt, alles ist echt.

[1] „US-Außenminister Antony Blinken hat am Mittwoch alle Mitglieder des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) aufgefordert, dem Haftbefehl nachzukommen, den das Gericht gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin erlassen hat.“ (Reuters, 22.3.23)