Die Ukraine wird verwüstet, der Westen kämpft um eine geeignete Fortsetzung

Das zweite Kriegsjahr darf beginnen

Nach einem Jahr Krieg in der Ukraine sieht das Land entsprechend aus.

Zu Beginn des letzten Quartals sind zum bisherigen Zerstörungswerk der beiden Seiten flächendeckende russische Raketen- und Drohnenangriffe auf die ukrainische Infrastruktur dazugekommen. Sie zielen auf die Kampf- und Widerstandsfähigkeit der Ukraine und treffen oft genug, um die Bewohnbarkeit etlicher Teile des Landes, die Funktionsfähigkeit seiner Ökonomie wie seiner Herrschaft infrage zu stellen.

Am Kriegsziel der ukrainischen Regierung hat sich trotz alledem nichts geändert: Die vollständige territoriale Integrität des Landes, die Rückeroberung aller von Russland annektierten und besetzten Gebiete inklusive der Krim bleibt das heilige Recht ukrainischer Nation. Auch die nötige Opferbereitschaft für die Befreiung bzw. Wiedergeburt als ein endlich (russen-)freies, im europäischen Westen vollständig ‚verankertes‘ Volk steht für die Leitungsebene nach wie vor fest. Zur aktuellen Kriegslage steht dieser ehrgeizige Anspruch freilich in einem denkbar eklatanten Missverhältnis.

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Die Ukraine wird verwüstet, der Westen kämpft um eine geeignete Fortsetzung
Das zweite Kriegsjahr darf beginnen

I. Die Lage in der Ukraine

Nach einem Jahr Krieg in der Ukraine sieht das Land entsprechend aus.

Zu Beginn des letzten Quartals sind zum bisherigen Zerstörungswerk der beiden Seiten flächendeckende russische Raketen- und Drohnenangriffe auf die ukrainische Infrastruktur dazugekommen. Sie zielen auf die Kampf- und Widerstandsfähigkeit der Ukraine und treffen oft genug, um die Bewohnbarkeit etlicher Teile des Landes, die Funktionsfähigkeit seiner Ökonomie wie seiner Herrschaft infrage zu stellen. [1] Die ukrainischen Streitkräfte hat Russland auf breiter Front in einen Stellungskrieg verwickelt, der kundigen Beobachtern gewisse französische und belgische Ortsnamen in Erinnerung ruft; die Ukraine erleidet zuletzt zwar nur kleine Gebietsverluste im Osten, aber umso größere Verluste an Mensch und Material. [2] Zur Freude der Anhänger ukrainischen Heldenmuts und einer intakten europäischen Friedensordnung verzeichnet zwar auch die russische Armee enorme Todeszahlen und Materialverluste, wenn sie Welle an Welle von frisch mobilisiertem Menschenmaterial in die Schlacht wirft. Sorgen macht freilich der Umstand, dass sie von beidem viel, viel mehr hat als die Ukraine. Ihr militärisches Übergewicht bringen die Russen nun in einer Weise zur Geltung, die nicht bloß weitere ukrainische Offensiverfolge à la Charkiw und Cherson auf längere Sicht ausschließt, sondern die ukrainische Armee an den Rand einer Niederlage bringt.

Am Kriegsziel der ukrainischen Regierung hat sich trotz alledem nichts geändert: Die vollständige territoriale Integrität des Landes, die Rückeroberung aller von Russland annektierten und besetzten Gebiete inklusive der Krim bleibt das heilige Recht ukrainischer Nation. Auch die nötige Opferbereitschaft für die Befreiung bzw. Wiedergeburt als ein endlich (russen-)freies, im europäischen Westen vollständig ‚verankertes‘ Volk steht für die Leitungsebene nach wie vor fest. Zur aktuellen Kriegslage steht dieser ehrgeizige Anspruch freilich in einem denkbar eklatanten Missverhältnis. Das weiß niemand besser als Selenskyj selbst, dessen Forderungen an seine Sponsoren im potenten und spendierfreudigen westlichen Werte- und Waffenkollektiv entsprechend dringend und umfassend ausfallen: mehr Munition, mehr Waffen, bessere Waffen. Dazu gehören zwar auch einige völkerrechtlich geächtete, i.e. Streu- und Phosphorbomben, die nicht zu knapp in westlichen Arsenalen lagern, aber vor allem solche mit besserem Leumund, i.e. Kampfpanzer, Kampfjets, Raketen von einer Reichweite und einer Potenz, die es den ukrainischen Streitkräften ermöglichen, die russische Kriegsmacht überall auf ukrainischem Boden sowie auf russischem Territorium wirkungsvoller zu treffen.

Mit alledem fordert Selenskyj von seinen Partnern zugleich mehr, nämlich nicht weniger als den Entschluss, den Krieg der Ukraine im Wortsinne und endgültig zum Krieg des Westens zu machen. Zur einschlägigen Überzeugungsarbeit gehört die Beschwörung – insbesondere bei Hausbesuchen in Washington, London, Paris und Brüssel – eines gemeinsamen Wertehimmels: Die Ukraine kämpft hier nicht nur fürs Recht aller Ukrainer auf eine Wiedervereinigung unter der Herrschaft einer im Westen beheimateten ukrainischen Staatsgewalt, sondern auch für Heiligkeiten des Westens – für seine Friedensordnung, seine freiheitlichen Werte, sogar seinen Lebensstil. Er hilft nach mit Beweisen der gemeinsamen, unmittelbaren Betroffenheit, erklärt den Einschlag einer danebengegangenen ukrainischen Abwehrrakete auf polnischem Boden zu einem gezielten russischen Raketenanschlag aufs NATO-Gebiet sowie den – von Rumänien dementierten – Überflug einer russischen Rakete über rumänisches Territorium zu einem Angriff auf dasselbe... Keine Frage: So lauten die selbstbewussten Argumente einer ohnmächtig abhängigen Kriegspartei.

II. Die Antwort des Westens

Die Antwort, die die Ukraine aus den westlichen Hauptstädten bekommt, lautet nach wie vor:

„Die Ukraine bekommt alles, was sie braucht, solange, wie sie es braucht.“ (z.B. Scholz)

Die Zusicherung zeugt insofern vom fortschrittlichen Zustand westlicher Kommunikationskultur, als kein Empfänger der Botschaft sie als eine Einwilligung des Westens missversteht, sämtliche Materialwünsche der Ukraine vollständig und nachhaltig zu erfüllen. Die Bekundung der ungebrochenen kriegerischen Unterstützungsbereitschaft wird allseits ungefähr genau so gedeutet, wie der Sender sie meint: Die westlichen Sponsoren selbst und niemand sonst – weder die Ukraine noch Russland noch die moralisch aufgebrachte Kriegslust großer Teile der hiesigen Opposition und Öffentlichkeit – machen die Vorgaben dafür, was die Ukraine wann und wie lange braucht. Was der deutsche Bundeskanzler „Besonnenheit“ nennt, heißt im Weißen Haus auch so ähnlich und steht in der Sache für das Beharren darauf, dass die Versorgung der Ukraine mit Kriegsmitteln sich danach richtet, was die Lieferanten vom Abwehrkampf der Ukraine „brauchen“.

Vom Standpunkt der westlichen Solidargemeinschaft aus buchstabiert sich die drastische Wirkung des Abnutzungskriegs auf die Ukraine insofern von Haus aus anders: als eine akute Gefahr für den Fortbestand ihres antirussischen Kriegskalküls, für das sie die Ukraine überhaupt zu einer funktionsfähigen – i.e. zu einer gegen die russische Übermacht kampffähigen – Armee ausgerüstet hat und für das die Ukrainer mit allem nationalistischen Eigenantrieb, also in geradezu idealer Weise kämpfen. Damit wäre das Experiment am Ende, der Atommacht Russland per Stellvertreterkrieg eine Niederlage zuzufügen, von der sie sich nicht ohne Weiteres erholen kann, und zwar auf die imperialistisch gesehen sehr zweckmäßige Tour einer Schlacht auf fremdem Territorium und ohne eigene ‚boots on the ground‘. Der tapfere Kampf der Ukraine – zusammen mit dem großangelegten Wirtschaftskrieg des Westens – hat zwar zu einem erfreulich massiven Verschleiß der russischen Kriegsmacht geführt, [3] aber eben auch zu einem existenziellen Verschleiß des dafür so nützlichen Stellvertreters. Damit der seinen westlichen Sponsoren nicht abhandenkommt, steht eine Rettungsaktion an: Die Ukraine muss dazu befähigt werden, den Abnutzungskrieg weiter auszuhalten, an dem sie gerade zugrunde geht.

Aber was heißt da eigentlich ‚weiter‘? Angesichts dessen, was ein Jahr Krieg an der ukrainischen Armee angerichtet hat und was ihr russischer Gegner bei allem eigenen Verschleiß immer noch an Kriegsmacht auf die Beine stellt, gebietet schon die bloße Fortsetzung des notwendigen und nützlichen Kriegs eine entschiedene Eskalation. ‚Rote Linien‘, die der Westen bei seinen Waffenlieferungen einmal gezogen hat, damit die Entmachtung Russlands auf die soeben erwähnte imperialistisch bequeme Tour, kontrolliert und auf ukrainischem Boden abgewickelt wird, müssen aus dem gleichen Grund überschritten werden, weil auf ukrainischem Boden die Entmachtung Russlands abgewickelt werden soll. Damit die Ukraine diese Leistung erbringen kann, braucht es Boden-Luft-Raketen der leistungsfähigeren Art, Späh-, Schützen- und Kampfpanzer im Verbund samt Luftabwehr, eventuell auch Kampfjets und genug Munition für alles... Im Grunde ist die Aufstellung einer Panzerarmee samt dazugehöriger Luftwaffe geboten. Jedenfalls eigentlich.

Das vergangene Quartal zeugt nämlich zugleich davon, dass das Gebotene sofort Gegenstand von Bedenken und Konkurrenzveranstaltungen wird: Kaum mündet die ach so ewige ‚Hängepartie‘ um Leopard- und andere Kampfpanzer in eine zelebrierte ‚Panzerwende‘, schon geht sie als die Schwierigkeit weiter, auch nur ein einziges Panzerbataillon zustande zu bringen. Die mit diesem Beschluss gestiftete ‚Dynamik‘ führt zwar sofort zu Signalen der Bereitschaft, mit der Lieferung von Kampfjets weiterzumachen, aber nur, um sie sogleich zu relativieren und schließlich zu vertagen. [4] Der Übergang, vor den das aktuelle Kriegsergebnis den Westen stellt, hat offenbar besondere Tücken:

  • Die einschlägigen Herausforderungen sind zunächst kriegstechnischer Art: Die Bedienung des edlen Geräts erfordert lange Ausbildungszeiten, eigentlich viel zu lang, um die ukrainische Armee rechtzeitig vor der russischen Frühjahrsoffensive fit zu machen; die Bewältigung der damit verbundenen Logistik (Transport, Betankung, Munitionsnachschub, Reparatur etc.) erfordert mehr oder weniger deren Neugründung auf NATO-Niveau. Das dauert. Das muss aber jetzt sein. [5]
  • So dringend die Lieferung von alten und neuen Gerätschaften mitsamt Munition, so fraglich ihre Verfügbarkeit: Das westliche Militärbündnis hat die Ukraine an seinen eigenen Waffen- und Munitionsbeständen schon so großzügig teilhaben lassen, dass manche NATO-Länderchefs darin sogar eine zunehmend inakzeptable Minderung ihrer eigenen Wehrfähigkeit sehen. [6] Was das über das Ausmaß der bisherigen Kriegsbeteiligung von Nicht-Kriegsparteien sagt, ist das eine. Das andere ist die Konsequenz, die für die einzelnen NATO-Mächte wie für ihren Generalsekretär nun daraus folgt: nicht weniger als die Notwendigkeit, ihre jeweiligen Rüstungsindustrien, eigentlich den gesamten westlichen militärisch-industriellen Komplex in den Kriegszustand zu versetzen. [7] Den Schützling als kampffähige antirussische Kriegsmacht aufzubauen und zu erhalten, ohne die Schutzmacht darüber militärisch zu schwächen: dieser Anspruch der NATO-Mächte an das Kriegsprogramm, das sie bislang als die Fiktion eines bloßen Hilfsprogramms abgewickelt haben, gerät damit an eine Grenze. Schon um den massiven Waffenverbrauch der Ukraine zu kompensieren, erst recht um die eigene Kampfkraft darüber nicht zu schmälern, ist der Übergang zu einem Stück Kriegswirtschaft fällig. Mit der fälligen Um- und Aufstellung ihrer Rüstungsindustrien gemäß den Erfordernissen wirklich wahrer Kriegsparteien kommt also eine umso größere Herausforderung an die Haushalte und Ökonomien der NATO-Mächte hinzu; die werden in neuer Schärfe vor die Frage gestellt, welchen Aufwand ihnen der Krieg in der Ukraine eigentlich noch wert ist. Und unabhängig davon, ob und wie viele NATO-Mächte sich zu diesem Schritt entschließen, gilt auch hier: Die Produktion des Benötigten dauert – zu lange jedenfalls für die Rettung des Stellvertreters, für den auch dieser freundliche Übergang zu spät käme.
  • Damit stellt der für jetzt sofort geboten gehaltene Eskalationsschritt das Grundprinzip, Motto und Mantra der so überaus ‚besonnenen‘, weil für den Westen so lohnenden Kriegsführung auf eine sehr harte Probe: Die ‚indirekte‘ Kriegsführung der NATO-Nicht-Kriegsparteien, die stets bekräftigte Trennung zwischen Lieferanten und Anwendern westlicher Waffen kollidiert mit der Notwendigkeit, vor die die Notlage des ukrainischen Stellvertreters seine Sponsoren stellt. [8] Diese Notlage gebietet die Ausrüstung der Ukraine mit qualitativ neuen Waffen, was ohne die dazugehörigen technischen Unterstützungsleistungen und Bedienungsmannschaften nicht zu haben ist: ein militärisches Engagement, das den offiziellen Standpunkt des Westens, nicht Kriegspartei zu sein, sondern nur der Ukraine zu helfen, endgültig unhaltbar machen, in die direkte Konfrontation von NATO-Soldaten mit russischen Soldaten münden würde.

Doch das kommt zu Beginn des zweiten Kriegsjahrs offenbar immer noch genauso wenig infrage wie eine Niederlage der Ukraine. Darüber wird die kritische Entscheidung, vor der der Westen steht, zwar nicht weniger dringlich; die schiebt er aber umso entschiedener vor sich her. Er beharrt auf beiden Seiten seines Kriegsprogramms: zum einen auf dem Interesse, Russland so effektiv zu bekämpfen, dass seine Kriegsmacht nachhaltig geschädigt wird, zum anderen auf dem Interesse, diesen Kampf nicht als direkte Kriegspartei zu vollziehen, sondern vermittels des ukrainischen Stellvertreters. Gerade in dem Maße, wie dieses Kriegsprogramm voranschreitet, erweist es sich als zunehmend widersprüchlich, aber zugleich so produktiv und aussichtsreich, dass der Westen davon nicht abrücken will.

Für die Ukraine selbst bedeutet das praktisch: Das Stellvertretermodell wird als die Zumutung an sie fortgeschrieben, als die Kriegsmacht, zu der der Westen sie schon gemacht hat, so lange durchzuhalten, sich mit ihren Kriegszielen und -mitteln so lange einzuteilen, bis ihre Sponsoren sie zu einer Macht von dem Kaliber machen, das in der Lage ist, sich mit eigenen kriegerischen Fortschritten, mit eigenen Offensiven und Rückeroberungen nützlich zu machen. Fürs Erste müssen die russischen Kriegsfortschritte kaputtgemacht werden: durch lokale Gegenoffensiven, durch die die Ukraine aus dem ruinösen Stellungskrieg herauskommt, und an ausgewählten Schauplätzen, die den Zusammenhang der Front für Russland unhaltbar machen. Die einschlägigen Waffen heißen moderne Artillerie, Raketen mit hoher Reichweite – aber in begrenztem Umfang; Kampfpanzer – aber nicht in den modernsten, sprich kampfstärksten Varianten, nicht in einer kriegsentscheidenden Größenordnung und ohne die ergänzenden Kriegsmittel für den Kampf im Verbund, mit denen sie die volle Wirkung auf dem Schlachtfeld entfalten würden. Die Ukraine bekommt mehr Munition, dazu noch Schießunterricht, weil die knappe Ware länger halten muss, sowie strategische Anweisungen in der Frage, wo und wofür ihre Waffen und ihr Menschenmaterial am effektivsten einzusetzen sind, weil auch diese kostbaren Waren länger halten müssen. [9] Es ist ja auch für einen guten Zweck: Auf die Art soll der Krieg für Russland ein Stück kostspieliger, materialintensiver und verlustreicher gemacht, in eine nächste Etappe hinein verlängert werden, die die Verluste auf ukrainischer Seite für das westliche Sponsorenkollektiv brauchbar macht. [10] Kurz: ein kriegerisches Experiment, das im wertneutralen Duktus der Militärwissenschaft so lautet: Die Ukraine muss die russische Kriegsmacht und deren neue Offensive erst einmal ‚absorbieren‘ – mit der hoffnungsvoll verkündeten Perspektive, dass sich so viel ‚strategische Geduld‘ in Form einer erneuten Erschöpfung der russischen Armee bezahlt macht. Dann wäre womöglich sogar eine erneute Gegenoffensive zu haben, mit der die Ukraine mehr ukrainisches Land und die Herzen ihrer westlichen Anhänger erneut erobern könnte.

III. Der Beitrag der westlichen Führungsmacht: Eskalation, Abschreckung und Ansagen in alle Richtungen

Die Regierung Biden tut, was sie für notwendig erklärt hat: Russland die Fähigkeit zu eigenmächtigen Kriegen nehmen. Und sie erklärt, was sie tut, damit die Welt weiß, woran sie ist, wenn Amerika für die Pax Americana sorgt.

Klarstellungsbedarf verspürt sie zunächst nach innen, insbesondere gegenüber den Republikanern im Kongress. Die hegen seit einigen Monaten den Verdacht, Amerika wäre mal wieder dabei, vom Koch zum Kellner zu geraten, von seinem ukrainischen Schützling und seinen europäischen Trittbrettfahrern ausgenutzt und so in einen Krieg verwickelt zu werden, der sich für Amerika nicht lohnt. Der Verdacht ist zwar definitiv ungerecht. Mit der wiederholten Warnung, keinen ‚Blankoscheck‘ an die Ukraine mehr ausstellen zu lassen, wird aber auch bloß offensiv und explizit auf dem bestanden, was ohnehin der grundsätzliche Leitfaden der amerikanischen Kriegsbeteiligung unter Biden ist: Amerika lässt in der Ukraine Krieg führen, hat ihn also stets nach eigenem Kalkül und gemäß eigenen Zielen zu lenken. Angesichts des inzwischen erreichten Ausmaßes dieser Kriegsbeteiligung, ihrer gestiegenen Kosten und Risiken nimmt dieses abstrakte, prinzipielle Bedenken der Opposition neue Schärfe an: Verlangt sind konkrete Beweise, dass Amerika nicht knietief in einem Kriegssumpf steckt, der es daran hindert, breitbeinig über seinen Konkurrenten – und das sind alle anderen – zu stehen. Eine kleine, aber lautstarke und wachsende Minderheit von Trump-Republikanern fordert schon jetzt eine Einstellung der Hilfen für die Ukraine, eine etwas größere Gruppe äußert das konstruktivere Bedenken, ob die USA mit ihrem Kampf gegen Russland in der Ukraine nicht die Hauptsache aus den Augen verlieren: den chinesischen Hauptfeind.

Die Antwort der Biden-Regierung, noch sekundiert durch die Mehrheit der Kongressabgeordneten: Der Krieg in der Ukraine ist der entscheidende Schauplatz für den Kampf der USA um ihre Suprematie. Dort werden die Regeln der Weltordnung verteidigt, die sich vor allem dadurch auszeichnet, dass Amerika sie mit seiner Gewalt garantiert und alle anderen Mächte sich daran halten. Die nennt sich dann ‚internationale Friedensordnung‘. An dieser Bewährungsprobe, vor die der russische Einmarsch die USA stellt, kommen sie nicht vorbei; also muss dafür gesorgt werden, dass Russland an seiner Ruinierung nicht vorbeikommt. Von einer Ablenkung von dem Kräftemessen mit der großen, chinesischen Herausforderung – darauf legt Biden sehr großen Wert – kann keine Rede sein. Erstens deswegen, weil die Biden-Regierung neben dem Stellvertreterkrieg in der Ukraine sich nun wirklich nicht zu knapp darum kümmert. [32] Zweitens deswegen, weil der Krieg in der Ukraine eben die derzeit entscheidende Schlacht ist in der größeren, epochemachenden, durch China bestimmten Auseinandersetzung um die Regeln der Weltordnung, also um die Autorität, sie zu setzen und durchzusetzen. Das ist schon eine imperialistische Klarstellung sehr grundsätzlicher Art: Für den Beweis von überlegener Fähigkeit und Bereitschaft zur kriegerischen Gewalt – und das ist nun einmal die Gretchenfrage, wenn von ‚Rivalität der Großmächte‘ die Rede ist – gibt es keinen Ersatz für den erfolgreichen Einsatz dieser Gewalt. Das ist – gerade bei einem Gegner wie Russland – zwar teuer, das muss aber sein; den Preis muss Amerika sich abverlangen, das ist es sich als Weltmacht schuldig.

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Dass die USA mit ihrem jüngsten Eskalationsschritt die atomare Einsatzbereitschaft Russlands neu und schärfer herausfordern – damit kalkuliert die Regierung. Inoffiziell und mit bemerkenswerter Coolness heißt es aus den Außen- und Verteidigungsministerien, Putin blieben eigentlich kaum noch nennenswerte konventionelle Eskalationsmöglichkeiten übrig. Das ist für die US-Regierung erst einmal sehr schön; um die Auszehrung und Überforderung der russischen Militärmacht in der Ukraine geht es ja gerade. Damit fordert sie sich freilich selbst als Nuklearmacht heraus: zur umso effektiveren, glaubwürdigen nuklearen Abschreckung, damit Russland sich auf eine konventionelle Erledigung seiner Kriegsmacht in der und durch die Ukraine festnageln lässt, ohne sich zum – und sei es bloß zum ‚taktischen‘ – nuklearen Ausgang zu begeben. Was dafür alles an diskreten bis geheimen Drohungen auf den Weg gebracht wird, ist das eine; das andere sind die sehr offiziellen Grußworte, die Amerika im letzten Quartal ausrichtet, z.B. in der frisch veröffentlichten Neuausgabe der nationalen „Nuclear Posture Review“:

„Der Einmarsch Russlands in die Ukraine unterstreicht den Fortbestand und die Zunahme von nuklearen Gefahren in einer zunehmend wettbewerbsorientierten und unbeständigen geopolitischen Landschaft. Der unprovozierte und unrechtmäßige Einmarsch der Russischen Föderation in die Ukraine im Jahr 2022 ist eine deutliche Erinnerung an die nuklearen Risiken in den Konflikten der Gegenwart.“ (NPR, S. 1)

Woran der russische Einmarsch da „erinnert“, das haben die USA natürlich keine Sekunde lang vergessen. Umgekehrt erinnern sie Russland – und alle anderen – abermals daran, dass es keinen Grund gibt, an der Atomkriegsfähigkeit und -bereitschaft der USA zu zweifeln. Beglaubigt wird die Versicherung erstens durch die angekündigte Modernisierung der gesamten nuklearen Triade, zweitens durch die explizite Absage an Gedankenspiele bezüglich einer Politik des „no first use“ oder „sole purpose“, mit der die USA sich – zumindest „deklaratorisch“ – auf einen nuklearen Zweitschlag beschränken würden. Das Experiment, was diese amerikanische Abschreckungsmacht alles hergibt, wird in der Ukraine auf höherer Stufenleiter fortgesetzt.

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Was Amerika sich als einzigartig überlegene Supermacht schuldig ist; die Bewährungsprobe, vor der es sich sieht: das macht eine Supermacht zur Bewährungsprobe für alle anderen in diese Affäre verstrickten Staaten, also für alle; die lässt sie wissen, was sie Amerika schulden.

Das gilt zuallererst für den chinesischen Hauptrivalen, von dessen Geld und weltpolitischem Gewicht Russland für seine Kriegsfähigkeit nun mehr denn je abhängt. Umso mehr hat China zur Belastbarkeit der Abschreckung Russlands, zur Neutralisierung seiner nuklearen Abschreckungsmacht beizutragen. Die chinesische Verurteilung der russischen Nukleardrohungen auf dem G20-Gipfel im vergangenen November war in der Hinsicht durchaus erfreulich gewesen – als Ergänzung des amerikanischen Abschreckungsregimes, als Beitrag dazu, die Atommacht Russland auf den begrenzten Kriegsschauplatz Ukraine und seine Militärmacht auf ein für sie ruinöses Kräftemessen mit ‚konventionellen‘ Waffen festzunageln. Inakzeptabel ist es aber, dass China seine Parteinahme für den globalen Frieden eben nicht als gutwilligen Beitrag zum Krieg des Westens leistet. Im Gegenteil wird Letzterem glatt eine Teil-, wenn nicht sogar die Hauptschuld am Unfrieden in Europa, am Bruch der weltweiten Friedensordnung gegeben und für diesen Standpunkt auch noch in der restlichen Staatenwelt agitiert. Das ist für die USA im Grunde schon eine Parteinahme für die falsche Seite in diesem Krieg; die ist gerade deswegen so ärgerlich, weil die USA den kooperativen Willen ebendieser Staatenwelt jetzt besonders strapazieren: durch die Wirkungen ihres globalen Wirtschaftskriegs gegen Russland wie durch die an alle Staaten gerichtete Forderung nach Beiträgen dazu. Für die Erfüllung dieses Anspruchs ist zwar kein Staat zu klein und unbedeutend; auch der letzte ‚failed state‘ kann und muss seine nicht weiter gewichtige UNO-Stimme zur Verurteilung eines russischen Verstoßes gegen die internationale Friedensordnung beisteuern. Das gilt aber insbesondere für die wirklich ziemlich mächtigen Partner Russlands im BRICS-Club wie auch für etliche nicht unwichtige ‚Schwellenländer‘: Von denen erwartet sich die ‚indispensable nation‘ entschieden mehr als nur korrektes Stimmverhalten, nämlich auch ökonomische und in manchem Fall – Brasilien z.B. – militärische Beiträge zur Schädigung Russlands. Dass sich gerade diese Länder eine neutrale Stellung zum Krieg in Europa gönnen, bedeutet gemäß dem imperialistischen Anspruch der USA, dass sie die Welt spalten: Sie untergraben die von Amerika längst veranschlagte Einheitsfront gegen Russland. Entsprechend werden sie bearbeitet, bilateral und auf Gipfeltreffen bedrängt; ihnen werden Sekundärsanktionen, manchen aber auch sogar Angebote in Aussicht gestellt.

Was die dabei wichtigste, weil gewichtigste Macht China betrifft: Gerade weil die US-Regierung überhaupt keinen Zweifel hat, vor welche Herausforderungen sie und ihr Militärbündnis mit ihrem aktuellen Eskalationsschritt Russland stellen, eskaliert sie zeitgleich ihre Auseinandersetzung mit China. Die Ächtung von atomaren Drohungen reicht bei weitem nicht; die Volksrepublik hat der russischen Nuklearmacht auch jede konventionelle Militärhilfe zu versagen, eben weil Russland sie mehr denn je brauchen wird. Wenn China das nicht tut und ausgerechnet der Seite Waffen liefert, deren Kriegsmacht Amerika jetzt umso wirkungsvoller verschlissen sehen will, dann mag der chinesische Friedensplan noch so viele Punkte haben: Die Volksrepublik hat offensichtlich keinen Friedenswillen, macht sich damit vielmehr – wer wüsste das besser als die USA? – zur Kriegspartei, die den Krieg willentlich in die Länge zieht.

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Freundlicher, partnerschaftlicher, aber genauso anspruchsvoll tritt die US-Regierung an ihre europäischen Partner heran: Biden unterstreicht die Wertschätzung der Führungsmacht für ihre wichtigsten Verbündeten mit der Ermunterung zu mehr selbstständigem Einsatz im Bündnis, zur Übernahme von mehr Führungsverantwortung für europäische Sicherheit und eine regelbasierte Weltordnung. Das gilt – erstens überhaupt und zweitens bei den besonderen waffentechnischen Anforderungen der jetzt anstehenden Eskalationsstufe – zuallererst für die deutsche Führungsmacht. Die Führung, die Amerika da verlangt, deckt sich vollständig mit der Gefolgschaft, die es von Europa und speziell Deutschland fordert: als gepanzerte Speerspitze für den Eskalationsschritt zu fungieren, den Amerika schon praktisch einleitet. Wenn Biden einige seiner eigenen sonderangefertigten Panzer versprechen und in einem Dreivierteljahr womöglich nachschicken muss, damit Deutschland sich dafür hergibt, dann geht das zwar. Aber gerade die europäische Führungsmacht muss bereit sein, von sich aus und auch auf eigene Rechnung aktiv zu werden. Das ist er, der wieder zum Leben erweckte Geist der transatlantischen Waffenbrüderschaft.

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Es ist also nicht gerade wenig, was das Post-Trump-Amerika – unter Biden zur weltweiten Leadership zurückgekehrt – durch diesen Krieg vorangebracht haben will: ein ruiniertes Russland und eine Staatenwelt, die durch gute, d.h. amerikadienliche Taten beweist, dass sie auf Linie ist. Was das für den ukrainischen Schützling und Stellvertreter heißt, wird durch die im vorigen Kapitel erläuterte Art der Eskalation deutlich gemacht: Er bekommt mehr und bessere Waffen, zugleich Anweisungen, die klarmachen, dass allein die USA – gemäß ihrer politischen Willensbildung und den dazugehörigen Konjunkturen – über Ausmaß und Ende des ukrainischen Kriegseinsatzes entscheiden. Was die Ukraine dafür wie lange braucht, wird ihr rechtzeitig mit- und dann zugeteilt. Das schließt neuerdings die schlechte Nachricht ein, dass die Skepsis unter amerikanischen Machthabern und ihren Wählern wächst; der Selenskyj-Regierung wird daher – zwar inoffiziell, aber unüberhörbar – bedeutet, sie müsse sich zumindest mit dem Gedanken anfreunden, dass ihr tapferer Kampf zwar keinesfalls mit einer Niederlage, aber auch nicht unbedingt mit einem Sieg nach ihren Maximalvorstellungen, sondern realistischerweise irgendwann mit Verhandlungen zu Ende gehen wird. Die gute Nachricht für Kiew: Auf der feindlichen Seite, bei Putin, will man von Verhandlungsbereitschaft noch partout nichts sehen. Es wird also erst einmal eskaliert. Zu den neuen und besseren Waffen kommen die einschlägigen, demonstrativen Beteuerungen standhafter Solidarität, überbracht vom Chef persönlich, und zum Versprechen ganz viel Gerät, damit die ukrainische Armee für den guten Zweck ihr Land weiter mit verwüsten kann.

IV. Die europäischen Staaten sehen sich durch den Krieg in der Ukraine doppelt herausgefordert: als NATO-Mitglieder und als Mitgliedsstaaten der Europäischen Union

1. Die europäischen Staaten als NATO-Mitglieder mit Deutschland als europäischer Führungsmacht

Die europäischen Mitglieder der NATO sind sich – bis auf einen ungarischen Quertreiber – einig: Sie machen die Forderung der USA, die Ukraine mit Kampfpanzern aufzurüsten, zu ihrer Sache. Der ukrainische Stellvertreter droht in der ihm zugedachten Funktion zu versagen, die strategische Position der russischen Weltmacht durchgreifend zu schwächen. Dadurch sehen die europäischen Mächte sich herausgefordert: als Teilhaber und Nutznießer der „regelbasierten Weltordnung“ des Westens und noch einmal eigens als die maßgeblichen Subjekte der „europäischen Friedensordnung“, die Russland mit seinem Einmarsch in die Ukraine nachhaltig gestört hat. In den Augen des europäischen Blocks darf Russland diesen Krieg nicht gewinnen; durch den soll vielmehr sichergestellt werden, dass die EU-Staaten sich Russland gegenüber jetzt und auf Dauer als die bestimmenden Ordnungsmächte des Kontinents behaupten. Angesichts der prekären Lage auf dem ukrainischen Schlachtfeld sehen sie sich daher in der Pflicht, der Ukraine die Kampfpanzer zu stiften, die als Hauptwaffe für die aktuelle Kriegsphase für nötig befunden werden, deren technische Einsatzfähigkeit zu garantieren und die Tauglichkeit des ukrainischen Bedienungspersonals durch entsprechende Ausbildung in den liefernden Nationen zu gewährleisten.

Die Entscheidung, mit diesem gravierenden militärischen Übergang die Eskalation im Ukraine-Krieg voranzutreiben, haben – wie alle anderen wesentlichen Entscheidungen über Kriegseintritt und Kriegsverlauf – die USA getroffen und mit ihren Bündnispartnern verbindlich ausgemacht. Die europäischen Staaten haben sich aus ihren Gründen entschlossen, den Einsatz in der Ukraine einschließlich aller Eskalationen, die die USA für nötig halten, mitzumachen. Sie haben sich damit auf eine Konfrontation zwischen den beiden nuklear gerüsteten Weltmächten eingelassen, die das Potenzial hat – davor wird von beiden Seiten immer wieder gewarnt, also damit gedroht –, in einen Atomkrieg hineinzuführen, dem sie weder einzeln noch als europäisches Kollektiv gewachsen sind. Sie sind also unbedingt auf Amerika als Schutzmacht angewiesen, die mit ihrer stets einsatzbereiten strategischen Kriegsmacht allein in der Lage ist, Russland von atomkriegerischen Übergängen glaubhaft abzuschrecken. Also wirksam genug, um den Krieg auf dem Niveau der „konventionellen“ Schlächterei auf dem Boden der Ukraine zu halten. Daneben verlassen sich die Europäer für die Durchführung und erst recht für die sachgerechte Fortsetzbarkeit dieses Krieges auf die üppigen militärischen Arsenale und die rüstungsindustriellen Ressourcen der USA. Denen fällt darum der Status der Kommandomacht über die europäischen Partner zu.

Dieses Kommandoverhältnis zwischen transatlantischer Führungsmacht und europäischem Pfeiler der Allianz verbürgt die Haltbarkeit des Bündnisses und – darin eingeschlossen – die Einigkeit der Europäer in ihrer Bereitschaft, den Ukraine-Krieg zu ihrer Sache zu machen. Dieser Krieg setzt – mit dem atomaren Risiko, das er enthält – die Bündnisdisziplin, die die NATO einst als antisowjetischen Verein ausgezeichnet hat, neu in Kraft; jetzt eben als Prämisse dafür, dass Europa sein friedenspolitisches Kriegsziel gegen Russland verfolgt und dafür keiner in Amerika und im Kollektiv beschlossenen Konfrontation aus dem Weg geht. Die ebenso nötige wie freiwillige Unterordnung unter Amerikas Oberkommando per Allianz schließt für die souveränen Staaten diesseits des Atlantiks selbstverständlich ein, dass sie in diesem Bündnis um die Geltung ihrer jeweiligen Besorgnisse und Bedürfnisse als nationale Mächte ringen, also um eine gewichtige Rolle als beteiligtes Subjekt konkurrieren. Der durch das militärische Engagement der NATO begründete aktuelle Inhalt dieser Konkurrenz besteht darin, sich einerseits mit den eigenen Beiträgen zum und Funktionen für das Kriegsgeschehen im Rahmen der westlichen Allianz wertvoll zu machen; andererseits darauf zu achten, dass die eigene Nation nicht am zugleich aufgestellten NATO-Postulat der langfristigen „Durchhaltefähigkeit“, die Konfrontation mit Russland betreffend, irreparablen Schaden nimmt. Das betrifft sowohl die nationale militärische Ausstattung wie die staatlichen Haushaltsmittel, die ab sofort in ganz neuer Weise für die beschlossene Aufrüstung strapaziert werden. Das beinhaltet für jedes einzelne Mitglied im Gewaltverbund die Notwendigkeit, seine Beiträge und seinen Eigenbedarf entsprechend zu kalkulieren; dies durchaus auch in dem Interesse, sich vermittels der kalkulierten Beiträge die Anerkennung vor allem seitens der maßgeblichen transatlantischen NATO-Macht zu verschaffen. Das ist die Bedeutung der vielfältigen Streitigkeiten – darüber, ob, wer, wann, welches Kriegsgerät liefert, künftig herstellt oder was an logistischen oder Ausbildungsleistungen beiträgt etc. –, die sich die Partner auf Basis ihrer antirussischen Einigkeit leisten.

Der Hauptakteur und das Hauptobjekt von Kritik: Deutschland mit seiner Führungsrolle

Die deutsche Regierung gerät in die Kritik wegen „Zögerlichkeit“ beim Waffenliefern. Schon das macht deutlich, dass und wie entscheidend es für die Partner auf die Potenzen Deutschlands ankommt. Deswegen wird diese Beschwerde auch besonders nachdrücklich in der Form vorgetragen, Deutschland solle „endlich seine Führungsrolle in Europa“ ausüben. Die Ermunterung zum Anführen zielt natürlich darauf ab, die deutschen Machtmittel für die Berechnungen in Beschlag zu nehmen, auf die es die Kritik übende Nation jeweils abgesehen hat. Neben dem Stellvertreter Ukraine – berüchtigt dafür ihr Ex-Botschafter Melnyk – tun sich hier besonders die östlichen NATO-Frontstaaten hervor, die Balten und Polen, die sich von Russland am meisten bedroht sehen und die Kriegskonstellation in der Ukraine als Gelegenheit wahrnehmen, ihre spezielle antirussische Staatsräson als definitive und irreversible Handlungsmaxime des transatlantischen Bündnisses zu verankern. [12] Solche Instrumentalisierungsversuche sind das Eingeständnis, dass sie auf die ökonomischen, politischen und militärischen Fähigkeiten angewiesen sind, die in Europa allein die deutsche Führungsnation zu bieten hat. Deutschlands Wirtschaftsmacht, die, siehe die 100 Milliarden für die Bundeswehr, jetzt massiv für die Aufrüstung seiner militärischen Macht eingesetzt wird, und seine darauf gegründete politische Macht in der EU machen diese Nation zum entscheidenden Beiträger für die Erfüllung der Aufgaben, die dem „europäischen Pfeiler“ der NATO beim Ukraine-Krieg und über diesen hinaus gestellt werden.

Das ganze Hin und Her bei den Lieferungen für Kampfpanzer an die Ukraine legt hiervon Zeugnis ab: Da kommt es entscheidend auf die Position an, die Deutschland einnimmt. Die beruht materiell auf seiner führenden Kompetenz in Sachen Panzerbau. Es hat mit seinem Leopard 2 nicht nur ein Kriegsmittel erster Güteklasse in seinen Bundeswehrbeständen. Sein militärisch-industrieller Komplex hat dieses Schmuckstück auch mit freundlicher Genehmigung sämtlicher Bundesregierungen in großer Zahl an ziemlich viele Länder Europas geliefert, sodass diese jetzt ihrerseits Exemplare der Ukraine zur Verfügung stellen können. Damit obliegt es Deutschland auch, eine belastbare Logistikkette für Ersatzteile und Wartung in Kriegsnähe aufzubauen und zu unterhalten. Ebenso ist es Sache seiner Rüstungsindustrie, gebrauchswertmäßig und finanziell den Aufwand für den nötigen Nachschub für verschlissene Ware und verschossene Munition zu erbringen. Auch für die Ausbildung ukrainischer Kämpfer am neuen Gerät in den Gaststaaten ist Deutschland die hauptzuständige Instanz. Und so weiter.

Effektiv als Führungsmacht mit besonderen materiellen Ressourcen in Anspruch genommen wird Deutschland freilich nicht durch seine unzufriedenen Allianzpartner oder durch die Regierung in Kiew. Die Zusammenstellung zweier Panzerbataillone für die Ukraine kommt mit dem Eskalationsbeschluss in Gang, der maßgeblich in Washington gefasst wird. Der ist keine Anfrage, sondern kommt einem amerikanischen Auftrag an die Deutschen gleich, ihre Vorräte und Fähigkeiten in Sachen Kampfpanzer zu aktivieren und den Kriegsschauplatz damit adäquat, nämlich der NATO-Beschlusslage gemäß zu bestücken.

Der Auftrag aus Amerika setzt für die deutsche Regierung zwei generelle Problemlagen auf die Tagesordnung, die den eskalierenden Einsatz der NATO im Ukraine-Krieg überhaupt begleiten und die sich eben mit der jüngsten Initiative für ukrainische Kriegserfolge verschärfen.

Die erste besteht darin, dass die beschleunigte Zulieferung nicht nur von Kampfpanzern, sondern auch von allem möglichen anderen Schießgerät, um die Ukraine zum Durchhalten im Abnutzungskrieg zu befähigen, in Widerspruch gerät zu den aktuellen wie den künftigen Erfordernissen der Bündnisverteidigung gegen den großmächtigen Feind selber, nämlich zu dem Programm, von Europa aus Russland perspektivisch als siegfähige konventionelle Macht gegenübertreten zu können. Die NATO-Staaten haben ihre Arsenale immer weiter für den Stellvertreterkrieg in der Ukraine geöffnet. Mittlerweile kommt die Notwendigkeit prompter Belieferung des unter Druck stehenden Stellvertreters zunehmend mit der anderen Notwendigkeit in Konflikt, den bezweckten Ertrag des Stellvertreterkriegs, die konventionelle Entmachtung Russlands, auf Dauer zu stellen und dafür die eigenen militärischen Potenzen massiv aufzurüsten; die Meldungen etwa über ausgegangene Munitionsvorräte sind nicht abzubuchen als übertriebenes Lamento von Rüstungslobbyisten und Bundeswehrgenerälen. [13]) Folgerichtig ist immer häufiger davon die Rede, dass man sich allmählich mit Übergängen zu einer Kriegswirtschaft zu befassen habe und dafür die Wirtschafts- und Finanzmacht der Nation langfristig in Anspruch zu nehmen sind. [14] Der Ehrgeiz Deutschlands an dieser doppelten Front zielt darauf ab, einmal mehr stärker aus einer ‚Problemlage‘ – diesmal einer eskalationsträchtigen Kriegslage – herauszukommen, als es hineingegangen ist.

Das zweite Problem, mit dem sich die deutsche Regierung wegen des Kampfpanzer-Deals zu befassen hat, besteht darin, dass die führende Stellung, die Deutschland sich hierbei erworben hat, ihm auch eine führende Stellung in der Skala der Bedrohung einträgt, die von der östlichen Großmacht gegen die westlichen Beiträger zum Ukraine-Krieg ausgeht. Der Kanzler hat für die Bewältigung des Risikos, dem er sein Land damit aussetzt, den Weg einer deutsch-amerikanischen Sonderbeziehung eingeschlagen und auf diese Weise die Botschaft umgesetzt, die er am 17.2.23 auf der Münchner Sicherheitskonferenz so aufgesagt hat:

„Zugleich tragen wir Sorge dafür, dass es nicht zu einem Krieg zwischen der NATO und Russland kommt. Daher lautet meine dritte Botschaft: Die Balance zwischen bestmöglicher Unterstützung der Ukraine und der Vermeidung einer ungewollten Eskalation werden wir auch weiterhin halten. Und ich bin froh und dankbar, dass Präsident Biden und viele andere Verbündete das genau so sehen wie ich. Denn der Kurs, den wir gemeinsam eingeschlagen haben, verläuft durch unkartiertes Gelände.“

Der deutsche Kanzler hat seine Bereitschaft, dem amerikanischen Auftrag zur Ausstattung der Ukraine mit einer schlagkräftigen Panzerabteilung aus deutschen und europäischen Leo-Beständen nachzukommen, mit dem Junktim versehen, dass die USA selber eine Anzahl ihrer eigenen Abrams-Panzer an den Kriegsschauplatz liefern. So buchstabiert er vor, wie seine Regierung ihre stereotype Beteuerung verstanden haben will, dass sie Eskalationsschritte „nur im Bündnis und in Abstimmung mit den Partnern“ unternehmen will. Die US-Panzer, auf deren Lieferung an die Ukraine Scholz besteht, sind das materielle Unterpfand für das Verhältnis, das die cisatlantische Führungsmacht Deutschland mit der Führungsmacht des transatlantischen Bündnisses jetzt eingeht: Deutschland macht sich zum europäischen Protagonisten der anstehenden Eskalationsstufe, dies aber nur unter der Bedingung, dass die USA als Schutzmacht für diese deutsche Subjektrolle bereitstehen und eine praktische Haftung dafür übernehmen. Die Zusage von Abrams-Panzern steht für die Rückversicherung, dass Amerika die Abschreckungsleistung garantiert, die Deutschland wegen der Forcierung seines Kriegsbeitrags benötigt.

Die US-Regierung lässt sich von diesem Akt bündnisinterner Diplomatie beeindrucken und verspricht, irgendwann ein paar Tanks beizusteuern. So viel ist den USA daran gelegen, dass sich die europäische Führungsmacht zur Notwendigkeit des anstehenden Eskalationsschritts bekennt und dessen Organisation aufseiten der europäischen NATO-Mitglieder zu ihrer Sache macht.

Damit erkennt Amerika Deutschland als korrespondierende (Unter-)Führungsmacht auf der europäischen Seite des Atlantiks an. [15] Auf der Basis, mit Amerika im Rücken, übernimmt die Regierung mit ihrem neuen zuständigen Minister tatsächlich die Position des maßgeblichen Anführers, und zwar eine Führerschaft nach eigenem Kalkül; ganz anders, als sie ihr von subalternen Partnern angetragen worden ist – so, mit etwas plumper Ironie, Scholz in seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz:

„Dazu gehört, dass alle, die solche Kampfpanzer liefern können, dies nun auch wirklich tun. Dafür werben Verteidigungsminister Pistorius, Außenministerin Baerbock und ich – auch hier in München – intensiv. Was Deutschland beitragen kann, um unseren Partnern diese Entscheidung zu erleichtern, das werden wir tun, etwa indem wir ukrainische Soldaten hier in Deutschland ausbilden oder bei Nachschub und Logistik unterstützen.
Übrigens: Für mich ist das ein Beispiel für die Art von Leadership, die jede und jeder von Deutschland erwarten kann und die ich unseren Freunden und Partnern ausdrücklich anbiete.“

Nach der Zusage der USA zur Rückversicherung des von Berlin gemanagten qualitativen Fortschritts bei der Waffenausstattung der Ukraine sieht Deutschland sich ermächtigt und imstande, das Geschehen im ukrainischen Stellvertreterkrieg an maßgeblicher Stelle mitzubestimmen und als „leader“ dafür zu sorgen, dass minder mächtige Bündnisstaaten ihren Verpflichtungen endlich nachkommen.

Nicht wenig Ertrag, den ein ewiger „Zauderer“ und notorisch „Getriebener“ aus einem bedeutenden Eskalationsschritt im Ukraine-Krieg herausgewirtschaftet hat.

2. Die europäischen Staaten als EU-Mitglieder

a) Die EU macht sich im Schulterschluss mit den USA zum strategischen Subjekt gegen Russland: Sie setzt ihre ökonomische und politische Macht ein, um ihr Regime über Europa zu sichern und auszuweiten

Auf den Angriff Russlands auf die „europäische Friedensordnung“ und damit auf die europäischen Führungsnationen als Ordnungsmächte – für sie die Quintessenz der russischen Invasion in die Ukraine – reagieren diese nicht nur im Rahmen der NATO als Mitmacher in einer militärischen Konfrontation, die vom Hauptmacher, den USA, bestimmt und an führender Stelle betrieben wird. Betroffen und herausgefordert sehen sie sich – im Verein mit den nachrangigen Mitgliedern der EU – auch in ihrer eigenständigen Rolle als Subjekte des Staatenkollektivs EU. Russlands Einmarsch greift den Zweck ihres Zusammenschlusses an: den Machtbereich der EU kontinuierlich auf den gesamten Kontinent auszuweiten und die Union zur bestimmenden Macht über Europa zu machen, d.h. vor allem die noch nicht endgültig in die EU eingemeindeten Staaten im Osten Europas ihrem als Binnenmarkt supranational organisierten Kapitalismus zu subsumieren und dafür wesentliche Bereiche der souveränen Gestaltungshoheit dieser Staaten der Rechtshoheit der EU zu unterwerfen. Dieses ausgreifende Annexionsprogramm mit dem Ziel, sich diese Länder exklusiv ökonomisch und politisch zuzuordnen und Russlands Einfluss zu entziehen, wird in und an der Ukraine von Russland militärisch durchkreuzt und infrage gestellt. Damit steht auch Europas Weltgeltung auf dem Spiel. Denn den Fortgang der ‚friedlichen Osterweiterung‘ hat die EU als ihren notwendigen Machtzuwachs fest eingeplant, um sich als weltweit agierendes Machtsubjekt in der Staatenkonkurrenz gegen die USA, China und Russland behaupten zu können. [16]

Als Teilhaber dieses ausgreifenden Machtprojekts sind alle EU-Mitglieder – so unterschiedlich ihr nationaler Nutzen aus dieser Teilhabe auch ausfällt – von Russlands Einmarsch herausgefordert, haben also einen ganz eigenen Grund, Russlands Entmachtung zu betreiben. Die gehen sie offensiv an.

Im Wirtschaftskrieg, den die NATO-Mächte als eine regelrechte zweite Front zur Zerstörung der Macht Russlands etabliert haben und in dem sie auf Basis des westlichen Regimes über die Weltwirtschaftsordnung die Eingemeindung Russlands in den globalen Kapitalismus gegen dessen Befähigung zum Kriegführen in Anschlag bringen, sehen sich die zum EU-Kollektiv versammelten europäischen Nationen besonders gefragt und vor allem bereit und in der Lage, zu zeigen, was sie dabei vermögen. Die passende Voraussetzung dafür haben sie dank ihrem politökonomischen Erfolgsweg – an führender Stelle: Deutschland – in den Jahrzehnten zuvor geschaffen. Sie haben sich den Bedarf Russlands, als kapitalistische Macht voranzukommen, zunutze gemacht und sich als bevorzugter Wirtschaftspartner in den russischen Kapitalismus eingenistet: als Abnehmer russischen Öl- und Gasreichtums; als Warenlieferant nicht nur, aber vor allem von Hightech-Gütern; mit Niederlassungen deutschen Kapitals in Russland, die ausgiebig auf billige russische Arbeitskraft und materielle Ressourcen zugreifen; als Kreditgeber und als Finanzplatz für anlagewilliges russisches Finanzkapital und staatliche Devisenschätze. Den Krieg, den Russland in der Ukraine eröffnet hat, nehmen die EU-Staaten als Sachzwang zu einer dem Zweck der eigenen Bereicherung entgegengesetzten Benutzung ihrer Wirtschaftsbeziehungen zu Russland. Sie gebrauchen ihre ökonomische Macht als Waffe zur Zerstörung des ökonomischen Unterbaus der russischen Staatsgewalt. Mit dem von ihnen organisierten Wirtschaftskrieg trauen die Europäer sich eine Rolle zu, zu der sie auf militärischem Gebiet nicht fähig sind: Mit ihrem überlegenen Kapitalismus betätigen sie sich als machtvolles Subjekt in Sachen Niederringen Russlands. Diese Rolle reizen sie offensiv aus und steigern ihre Wirtschaftssanktionen immer weiter; inzwischen sind sie beim zehnten Sanktionspaket angelangt. [17]

So verfolgt die EU die Zerstörung der ökonomischen Basis russischer Macht und macht mit ihrem maßgeblichen Beitrag zum Wirtschaftskrieg den Übergang zu einem weltpolitischen Subjekt, das seine europäischen Ordnungsansprüche gegen den mächtigen strategischen Rivalen mit den zivil-ökonomischen Machtmitteln aktiv vorantreibt, über die die EU autonom verfügt.

Für diesen Übergang setzt die EU ihre Wirtschaftsmacht nicht nur negativ als entscheidendes Mittel für eine umfassende ökonomische Schädigung Russlands ein. Sie bringt sie positiv in Anschlag, um die Ukraine unwiderruflich zu ihrem Besitzstand zu machen. Sie legt erstmalig – unter kreativer Umgehung der EU-Verträge, die eine Mittelverwendung für militärische Zwecke ausdrücklich ausschließen – einen von den Mitgliedsländern finanzierten Fonds mit dem schönen Titel „Friedensfazilität“ auf, der es selbst Nationen mit vielen alten Sowjetwaffen und kleinen Militärbudgets ermöglicht, sich als Ausstatter der Ukraine zu betätigen:

„In der Zwischenzeit hat die Europäische Union auf die Invasion mit Wirtschaftssanktionen gegen Russland, erheblicher Finanzhilfe und einem Fonds – jetzt bei 3,6 Milliarden Euro oder etwa 3,9 Milliarden Dollar – reagiert, um die Mitgliedstaaten für ihre Militärbeiträge an die Ukraine zu entschädigen. Die gesamten Militärbeiträge der Mitgliedstaaten an die Ukraine werden auf 12 Milliarden Euro und die Gesamthilfe auf fast 50 Milliarden Euro geschätzt.“ (New York Times, 4.2.23)

Außerdem mobilisiert die EU supranational und in Form von nationalen Beiträgen ihrer Mitgliedsstaaten in erheblichem Umfang Gelder, mit denen der Haushalt der Ukraine finanziert, die Nation überhaupt am Leben erhalten wird. Diese Mittel sind nicht nur für die Aufrechterhaltung der Kriegstauglichkeit dieses zerstörten Landes gedacht, sondern als „Wiederaufbauprogramme“ etikettiert, ein ausdrücklicher Beitrag für die über den Krieg hinausreichende Friedensperspektive, dass die Ukraine „zu uns“, also uns gehört, d.h. dem polit-ökonomischen Regime der EU unterworfen ist und bleibt. [18]

In diesem Sinne wird auch die im Rahmen der „Östlichen Partnerschaft“ [19]der EU verfolgte Arrondierung vorangetrieben, mit der sich die EU respektive ihre Führungsmächte über den Einspruch Russlands offensiv hinwegsetzen. Um den Ausschluss Russlands von strategischer Einflussnahme auswärts zu vervollkommnen, arbeiten die EU-Staaten an der weiteren Isolierung Moskaus: Über das Beitrittsangebot an das Duo Ukraine/Moldawien hinaus bringen sie neue politökonomische Kooperationsangebote an Georgien und andere Länder bis nach Zentralasien hinein auf den Weg, die Russland als sein „nahes Ausland“ veranschlagt. [20] Die Westbalkanstaaten, die, ob als Mitgliedsstaat oder als Beitrittskandidat, dem eigenen exklusiven Besitzstand zugerechnet werden, werden politisch unter Druck gesetzt. Irgendwie neutrale, erst recht russenfreundliche Positionen in ihren Völkern und vor allem bei ihren amtierenden Machthabern oder oppositionellen Anwärtern auf die Ausübung der Staatsmacht werden von der EU bekämpft. Sie besteht auf der verbindlichen Übernahme der neuen antirussischen Staatsräson, die sie allen Staaten, die Vollmitglieder der EU werden wollen, verordnet.

b) Das europäische Bedürfnis nach autonomer Kriegstüchtigkeit – und seine Realität in der EU als Bündnis miteinander konkurrierender Nationen

Gerade weil sich die europäischen Staaten entschlossen haben, ihre zivile, auf einen Binnenmarkt und ein gemeinsames Geld gegründete Wirtschaftsmacht als strategische Waffe gegen ‚Putins Russland‘ einzusetzen, sind sich die EU-Führung und die Führungsmächte Deutschland und Frankreich darin einig, dass es diesem Feind gegenüber mit der ökonomischen Waffe allein nicht getan ist. Die militärische Gewalt zur Durchsetzung wie Absicherung der EU-eigenen imperialistischen Ambitionen gibt es zwar in Gestalt der NATO, also dank der amerikanischen Vormacht; das heißt aber: Sie steht nicht unter ihrer autonomen Verfügung. So fällt den Führungseliten der EU eine europaeigene Souveränität in Kriegsdingen als dringendes Desiderat auf:

„Die zentralen Ziele der Erklärung, wonach Europa ‚souverän‘ und ‚strategisch autonom‘ werden müsse, hätten vor wenigen Jahren noch als ‚französische Phantasie‘ gegolten, sagte Macron. Jetzt, angesichts des Kriegs in der Ukraine, seien diese Ziele ein ‚europäischer Imperativ‘.“ (FAZ, 11.3.22)
„Wann, wenn nicht jetzt, schaffen wir ein souveränes Europa, das sich behaupten kann in einer multipolaren Welt? Wann, wenn nicht jetzt, überwinden wir die Differenzen, die uns seit Jahren lähmen und spalten?“ (Scholz, SZ, 29.8.22)

Die EU-Führungsmächte konstatieren so die unbedingte Notwendigkeit, als EU endlich ein in Sachen Krieg selbstständig handlungsfähiges Subjekt zu werden. Erst das macht ihren Aufwuchs zu einer weltpolitisch zurechnungsfähigen Macht so richtig komplett. Dieses Bedürfnis, sich von der Militärmacht der NATO und den strategischen Berechnungen seiner amerikanischen Führungsmacht zu emanzipieren, treibt die ambitionierten Mitglieder dieses Bündnisses schon seit Beginn der Gründung ihres Wirtschaftsblocks um. Der Krieg in der Ukraine verleiht diesem grundsätzlichen Leiden der Europäer einen aktuellen Anschub. Und zwar sowohl in der Hinsicht, dass der bezweckte Verschleiß von Russlands konventionellen Kriegsführungskapazitäten auch die Kriegsführungskapazitäten der europäischen Waffenlieferanten an die Ukraine verschleißt und damit den Status Europas als ein militärisch – an Weltmachtmaßstäben gemessen – nicht vollwertiges Subjekt bloßlegt. Als auch in der umgekehrten Hinsicht, dass die nicht geringen Fortschritte bei der Zerstörung von Russlands konventioneller Militärmacht den EU-Staaten die Perspektive eröffnen, das Kräfteverhältnis gegenüber Russland auf dem Feld konventioneller Militärmacht umzukehren; eine Konstellation, die unbedingt aus eigenen Kräften hergestellt und dauerhaft haltbar gemacht sein will. Erfordert ist dafür eine forcierte kollektive Aufrüstung.

Wie dieser dringende Bedarf nach autonomer europäischer Militärgewalt in der existierenden Union der europäischen Staaten praktisch verfolgt wird, erfüllt diesen Zweck aber in keiner Weise. Die freie Verfügung über die nationalen militärischen Potenzen an eine übergeordnete supranationale souveräne Instanz zu übertragen: dazu war und ist kein Mitgliedsstaat bereit, erst recht nicht die militärisch potenten unter ihnen. Wozu sie bereit sind, bestimmt der deutsche Kanzler so:

„‚Das vielleicht drängendste Problem in Europa sei die völlig unübersichtliche Zahl an Waffensystemen und Rüstungsgütern und die Konkurrenz unterschiedlicher Rüstungsunternehmen‘, sagte Scholz. ‚Nur der koordinierte Aufwuchs europäischer Fähigkeiten führt zu einem handlungsfähigen Europa‘, betonte er. Ihm sei dabei besonders die Luftverteidigung wichtig.“ (Spiegel Online, 16.9.22)

Vom Standpunkt eines „handlungsfähigen Europa“ aus konstatiert Scholz den Sachverhalt, dass der Zustand der Armeen wie der Rüstungsindustrien der EU-Einzelstaaten weit mehr vom Willen zu eigener nationaler Verfügung als vom Willen zu supranationaler Kooperation geprägt ist. Über diesen Zustand will der deutsche Kanzler hinauskommen, zugleich gibt er aber einen Hinweis darauf, wie in der EU der Wille zu Fortschritten in Sachen eines militärisch „handlungsfähigen Europa“ überhaupt nur existiert: Die beschworene Notwendigkeit, eine autonome supranationale konventionelle Kriegsfähigkeit Europas zu schmieden, dividiert er runter auf die Aufgabe, operationalisierbare Teilfortschritte für eine forcierte zwischenstaatliche Zusammenarbeit bezüglich der für wünschenswert erachteten Kriegsmittel zu erzielen: ein gemeinsames Beschaffungswesen für Munition, das Schmieden eines europäischen militärisch-industriellen Komplexes, eine europäische Luftverteidigung usw. Dabei geht er selbstverständlich davon aus, dass Deutschland als einer der maßgeblichen Militärmächte in Europa – zusammen mit und in Konkurrenz zu Frankreich – in diesem Programm eine herausragende Rolle zukommt: als entscheidender Motor, solche Kooperationen überhaupt anzustoßen und anderen Nationen das Angebot zu machen, sich den Anträgen aus Berlin zu- und damit der deutschen Richtlinienkompetenz unterzuordnen; und als maßgebliche Instanz dafür, das EU-typische Gefeilsche der Nationen um die für sie günstigsten Bedingungen einer Beteiligung zu moderieren, um zu einem für alle, vor allem für Deutschland, tragbaren Kompromiss zu kommen. Oder eben auch nicht. So kommen im vereinten Europa Fortschritte in Richtung militärischer Zusammenarbeit im Wesentlichen als Resultat der Kooperation und Konkurrenz zwischen Deutschland und Frankreich zustande. Und wie immer die Initiativen dann auch im Einzelnen aussehen mögen: Beiden Führungsmächten geht es darum, über die Organisierung einer verstärkten rüstungspolitischen und militärischen Zusammenarbeit ihre Nation als führende Militärmacht der EU zu verankern. [21]

So, als permanenter Streit und permanentes Ringen vor allem seiner Führungsmächte um kompromissfähige Fortschritte hin zu einer europäischen Kriegsfähigkeit, wird das Bedürfnis der Europäer nach einer autonomen Kriegstüchtigkeit praktisch verfolgt. Diese rüstungspolitische Konkurrenz wird dann wiederum wesentlich vom Streit um die Ausgestaltung ihrer sicherheitspolitischen Anbindung an die USA bestimmt.

V. Die Räson des Vereinigten Königreichs im Ukraine-Krieg: Der Scharfmacher in der westlichen Kriegsallianz verbürgt die Einheit von Europa und USA

Die britische Regierung ist von der Invasion Russlands in die Ukraine kein bisschen überrascht. Wie die USA hat auch die NATO-Macht Großbritannien ohne große Umstände die ultimativen Forderungen Russlands nach Anerkennung seiner Sicherheitsinteressen zurückgewiesen, die Putin angesichts der immer weiteren militärischen Inbesitznahme Osteuropas durch die NATO bis an die russischen Staatsgrenzen heran erhoben hat. Stattdessen haben beide die Ukraine mit dem modernen Militärgerät vollgestopft, das deren Armee befähigt, einem russischen Angriff standzuhalten. Noch in der Nacht des Kriegsbeginns sichert der Premierminister dem ukrainischen Präsidenten seine uneingeschränkte Unterstützung zu. Um dann am Morgen vor das britische Volk zu treten und ihm die höhere Berechtigung und tiefere Notwendigkeit zu erklären, warum der Krieg der Ukraine unsere, also seine Sache ist:

„Kurz nach 4 Uhr heute Morgen habe ich mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj gesprochen, um ihm die weitere Unterstützung des Vereinigten Königreichs anzubieten. Denn unsere schlimmsten Befürchtungen haben sich bewahrheitet, und alle unsere Warnungen haben sich auf tragische Weise bestätigt. Der russische Präsident Putin hat auf unserem europäischen Kontinent einen Krieg entfesselt. Er hat ein befreundetes Land ohne jede Provokation und ohne glaubwürdigen Vorwand angegriffen. Unzählige Raketen und Bomben sind auf eine völlig unschuldige Bevölkerung niedergegangen... Die Ukraine ist ein Land, das seit Jahrzehnten Freiheit und Demokratie genießt und das Recht hat, über sein eigenes Schicksal zu entscheiden. Wir – und die Welt – können nicht zulassen, dass diese Freiheit einfach ausgelöscht wird... Weil wir in den letzten Monaten über die russischen Drohungen so alarmiert waren, hat das Vereinigte Königreich als eines der ersten Länder in Europa Verteidigungswaffen zur Unterstützung der ukrainischen Bevölkerung geschickt. Andere Verbündete haben nun das Gleiche getan, und wir werden in den kommenden Tagen alles tun, was wir können... Unser Auftrag ist klar. Diplomatisch, politisch, wirtschaftlich – und letztendlich auch militärisch – muss dieses abscheuliche und barbarische Unterfangen von Wladimir Putin scheitern. Und ich sage den Ukrainern in diesem Augenblick von Leid und Verzweiflung: Auch wenn die kommenden Monate düster sind und die Flamme der Freiheit schwach brennt, weiß ich, dass sie in der Ukraine wieder hell auflodern wird... Wir werden mit den Ukrainern zusammenarbeiten – egal, wie lange es dauert –, um sicherzustellen, dass die Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine wiederhergestellt wird. Denn dieser Akt der mutwilligen und rücksichtslosen Aggression ist nicht nur ein Angriff auf die Ukraine. Es ist ein Angriff auf Demokratie und Freiheit in Osteuropa und auf der ganzen Welt. In dieser Krise geht es um das Recht eines freien, souveränen und unabhängigen europäischen Volkes, seine Zukunft selbst zu bestimmen. Und das ist ein Recht, das Großbritannien immer verteidigen wird.“ (Rede an die Nation von Premierminister Boris Johnson, 24.2.22)

Boris Johnson, der sich gerne als Nachfolger des großen Kriegspremiers Churchill inszeniert, appelliert an das in fast zwei Jahrhunderten, in zwei „great wars“ und den vielen kleineren Kriegen von der Krim bis zu Falkland, erfolgreich gebildete und über alle Partei- und Klassengrenzen hinweg geteilte Nationalbewusstsein der Briten: Die eigene Nation – „victorious, happy, and glorious“ – ist eine „force for good in the world“. Sie steht für die höchsten sittlichen Werte und das Gute in dieser Welt – Freiheit, Demokratie, Volkssouveränität und dergleichen –, und gegen das Böse in Gestalt von Diktatoren und Kriegstreibern wie Putin, der ohne jeden ersichtlichen Grund ein friedliches Land überfällt und Bomben auf das Volk wirft, um dessen Recht auf Freiheit und Unabhängigkeit zu zerstören. Jenseits des moralischen Pathos gibt der Premier zur Kenntnis, dass es in diesem Krieg um die gemeinsame Sache des Westens geht, nämlich um seine Weltordnung. Die sieht für jeden Staat das Recht vor, „seine Zukunft selbst zu bestimmen“, sprich die Pflicht, sich in aller Freiheit in die kapitalistische Konkurrenz um Reichtum und Macht einzuordnen, was den Imperativ einschließt, das Gewaltmonopol zu respektieren, das die Hüter dieser Ordnung, allen voran die USA, exekutieren. Russlands „Angriff auf Demokratie und Freiheit“ ist ein „imperialistischer“ Angriff auf dieses Prinzip von Geschäft und Gewalt der westlichen Weltordnung, das der Premierminister in der Ukraine zu „verteidigen“ gelobt. [22]

Der britische Kriegsgrund ist der allgemeine des Westens: die Verteidigung seines Gewaltmonopols

Das Vereinigte Königreich hat keinen anderen Kriegsgrund als der Westen insgesamt. Das monopolistische Prinzip dieser Weltordnung, für das die Militärallianz der NATO unter Führung der USA mit ihrer abschreckenden Gewalt einsteht, ist unvereinbar mit einem Russland, das ganz systemkonform auf dem Weltmarkt um die Produktion und Aneignung des Geldreichtums konkurriert – und zugleich als atomar bewaffnete Weltmacht das Recht beansprucht und auch praktiziert, seine strategischen Sicherheitsinteressen autonom zu definieren und global zur Geltung zu bringen. Damit outet sich Russland als Feind des vereinten Westens. Der russische Krieg gegen die Ukraine ist der Bruch seines Weltordnungsmonopols, der untrennbaren Zusammengehörigkeit von Konkurrenzgebot und Gewaltverbot, mithin für die in der NATO alliierten Staaten der Grund, Russlands Angriff auf ihre Weltordnung zurückzuschlagen: durch den mit westlicher Waffenhilfe befeuerten und per ‚Aufklärungsleistungen‘ gesteuerten Stellvertreter-Krieg in der Ukraine, um die russische Kriegsmacht nachhaltig zu schwächen; und durch den von den westlichen Wirtschaftsmächten selbst geführten Wirtschaftskrieg, um die ökonomische Basis der russischer Weltmacht zu zerstören. [23]

In diesem Kampf des Westens gegen Russland begreift sich das Vereinigte Königreich nicht als mit Prokura ausgestatteter Helfer der USA, sondern als selbstständiges Subjekt der westlichen Weltordnung. Und es begreift sich nicht nur als solches, sondern agiert auch entsprechend. Für seinen imperialistischen Auftritt verfügt Großbritannien über nicht wenig. Immerhin ist es die Heimat des sechstgrößten Kapitalismus, der neben Industrie und Handel über den internationalen Finanzplatz London und mit dem Pfund Sterling über eine eigene Reserve- und Leitwährung verfügt, welche die Nation zu einer globalen Finanzmacht im Weltkapitalismus machen. Auf der Ebene der Gewalthändel ist Großbritannien ein diplomatisches Schwergewicht, dem seine Atomraketen den Status eines permanenten Mitglieds im UN-Sicherheitsrat verleihen mitsamt dem Recht, mit seiner Stimme im Konzert der Weltmächte die dort verhandelten Fragen von Krieg und Frieden maßgeblich mitzuentscheiden. Als Anführer eines ganzen „Commonwealth of Nations“ von 52 ehemaligen Kolonien und heute unabhängigen Staaten, viele noch mit der Queen bzw. dem King als Staatsoberhaupt wie Kanada, Australien oder Neuseeland, hat das Vereinigte Königreich nicht nur überkommene Rechte in allen Winkeln des Globus, sondern auch eine selbstverständliche Mitzuständigkeit in allen Ordnungs- und Gewaltaffären. Zu diesem Zweck gebietet die Nation über die Kriegsfähigkeiten einer atomar bewaffneten Mittelmacht, die mit Atom-U-Booten ihren autonomen Beitrag zur westlichen nuklearen Abschreckung leistet, und eine beträchtliche Seemacht, die mit ihren zwei Flugzeugträgerkampfgruppen auf allen Meeren und mit ihren weit über hundert Militärstützpunkten in aller Welt zu globaler Machtprojektion fähig ist. Und nicht zuletzt verfügt Großbritannien über eine „special relationship“ mit der Weltordnungsmacht USA, welche das eigene militärische und diplomatische Potenzial auf oberstem weltpolitischen Niveau erst so richtig wirksam macht. Wenn in der deutschen Öffentlichkeit in einer Mischung aus Neid und Geringschätzung der britische Stolz auf diese Sonderbeziehung vorzugsweise als Überschätzung und Selbstbetrug einer längst nicht mehr wirklich großen Nation abgetan wird, die sich zum „Pudel der Amis“ macht, geht das voll an der Sache vorbei. Diese spezielle Partnerschaft der zwei ungleichen Mächte ist zwar nicht frei von Widersprüchen. Aber was heißt das schon: An der Seite der amerikanischen Weltmacht mobilisiert das Vereinigte Königreich mehr imperialistischen Einfluss, als es hat. Es macht Großbritannien mächtiger, als es selbst ist, erlaubt der Nation, die gerne Bilder aus der Sportwelt bemüht, „to punch above her weight“. [24]

All das macht die materielle Substanz der imperialistischen Praxis des Vereinigten Königreichs aus, mit seiner Finanzmacht, Diplomatie und Militärgewalt seinen weltweiten Rechten den Respekt zu verschaffen, der ihnen gebührt. Ihr substantielles Interesse an dem globalen Kapitalismus wie auch an der dafür notwendigen Ordnungsstiftung praktiziert die Nation im Rahmen der NATO. Sie betrachtet und betätigt sich in der Militärallianz unter Führung der USA als ein maßgebliches Subjekt, das ein weitreichendes Mit-Verfügungsrecht über das Abschreckungsregime besitzt, welches das Bündnis über die Staatenwelt exekutiert. Das verleiht der Nation ihre Machtposition gegen Russland.

Dem großen Russland begegnet das Vereinigte Königreich – schon immer, heute mit neuer Emphase – als eine Macht des freien Westens mit dem ihr selbstverständlich zustehenden Recht, über dessen weltpolitische Handlungen zu richten. [25] Natürlich reichen die Gewaltpotenzen einer atomar gerüsteten Mittelmacht nicht hin für die anmaßende und feindselige Praxis gegenüber der östlichen Weltmacht – auf Grundlage der Mitgliedschaft in dem von den USA dominierten NATO-Kriegsbündnis und als spezieller Partner der amerikanischen Führungsmacht aber schon. Großbritannien sieht sich ermächtigt und berechtigt, Russland als im Prinzip gleichrangige und dank der speziellen Allianz mit den USA durchaus überlegene Macht feindlich entgegenzutreten. Und muss erfahren, dass Russland dem Vereinigten Königreich den beanspruchten Respekt als nicht zu übergehende Ordnungsmacht verweigert. Es lässt Großbritannien seine imperialistische Zweitrangigkeit spüren, behandelt es als Vasallen der USA – und das auch noch richtig demonstrativ: Für eine Atommacht, wie Russland dies ist, gibt es mit britischen Regierungen nichts zu verhandeln! Weltordnungsfragen handelt Russland mit der wirklichen westlichen Weltmacht aus und adressiert die Vertragsentwürfe über Sicherheitsgarantien, die den Ukraine-Krieg verhindern sollen, an die USA und die NATO. All das bekräftigt den britischen Standpunkt, dass Russland eine ganz prinzipiell mit dem westlichen Imperialismus, der selbstverständlich längst keiner mehr ist, unvereinbare imperialistische Macht ist.

In diesem Sinn hat Großbritannien keine „Zeitenwende“ gebraucht, um sich die Entmachtung Russlands zu seiner eigenen Sache zu machen. Es war immer schon ein entschiedener Protagonist der NATO-Osterweiterung, hat sich gemeinsam mit den USA spätestens seit dem Anschluss der Krim an Russland und der Abspaltung der Volksrepubliken Donezk und Luhansk zum militärischen Garanten der an ihr Ende gekommenen friedlichen Osteroberung der EU gemacht und die Ukraine zum anti-russischen Frontstaat hergerichtet. Daher überrascht der ‚Ernstfall‘ nicht. Der Krieg bestätigt, wie richtig Politik und Nation mit der Behandlung von Russland als tödliche Gefahr für Europa und die Welt lagen und liegen. Die Nation ist sich einig: Am Ende dieses Stellvertreterkriegs muss der durch die NATO-Unterstützung und die eigenen militärischen Beiträge herbeigeführte Sieg der Ukraine stehen, mithin die strategische Niederlage Russlands, die es als in Europa und der Welt autonom handlungsfähige Macht degradiert.

Die spezielle Herausforderung Großbritanniens durch Russlands Invasion in die Ukraine, der es sich militant stellt: Sicherung der transatlantischen Einheit von Europa und USA

Die maßgebliche Mit-Verfügung über das westliche Weltordnungsmonopol ist substantielles Anliegen des Vereinigten Königreichs und bestimmt seine Räson in der NATO. Als Element des Westens ist Großbritannien die europäische Macht, die sich die Verankerung der Staaten Europas in der von den USA beherrschten NATO-Allianz zu ihrer besonderen Aufgabe und Leistung macht. Dieser Staat ist es sich schuldig, aus ganz eigenem Antrieb und mit eigenständigem politischen Einsatz die unverbrüchliche Einheit der europäischen Staaten mit der Sache der USA, mithin die Einheit des Westens zu verbürgen. Die sieht er immerzu bedroht, nicht zuletzt durch die EU-Führungsmächte Deutschland und Frankreich, welche die Notwendigkeit einer strategischen Autonomie Europas beschwören und ihre Initiativen zur Stärkung des europäischen Pfeilers der NATO mehr oder weniger mit der Perspektive der Emanzipation von der amerikanischen Führungsmacht projektieren. [26]

Der russische Angriff auf das Gewaltmonopol des Westens erfordert die durch keinerlei Sonderrechnungen beeinträchtigte Geschlossenheit des Westens, fordert mithin das Vereinigte Königreich heraus, seine spezielle Rolle in der Weltordnung, nämlich die des Garanten der Einheit diesseits und jenseits des Atlantik, neu zu betonen und zu radikalisieren. Großbritannien tut sein Möglichstes, die Staaten Europas in eine eskalierende Konfrontation mit der atomaren Weltmacht Russland zu bugsieren, in der sie unbedingt auf die amerikanische Abschreckungsmacht angewiesen sind. Damit leistet es seinen wertvollen Beitrag für die USA zur Festigung der NATO-Einheit mit Europa. Für Europa macht es sich verdient, indem es der Führungsmacht der NATO mit seiner entschlossenen, beträchtlichen militärischen Unterstützung der Ukraine praktisch beweist, wie notwendig und zugleich nützlich die Kriegsunterstützung der europäischen Staaten zur Entmachtung des strategischen Rivalen Russland ist. Damit soll die Führungsmacht ihrerseits auf die Rolle des unbedingten und verlässlichen Garanten für die Sicherheit Europas festgelegt werden. Denn nicht nur die britische, alle europäischen Regierungen fürchten ‚isolationistische Tendenzen‘ in den USA – Trump war schließlich kein Einzelfall!

Die Festigung der transatlantischen Einheit geht natürlich nicht mit Appellen und schönen Worten, sondern mit Taten, vorzugsweise der militanten Art, die für die anderen Staaten in der Koalition der Kriegsunterstützer den Sachzwang zu ebenso militantem Nachziehen setzen – alles andere würde den Westen spalten, was nur Putin nützt. Gemeinsam mit den USA war Großbritannien schon vor dem Krieg der Vorreiter in der Ausbildung und Aufrüstung der ukrainischen Armee für den Krieg gegen die von Russland unterstützten Volksmilizen in der Ostukraine, aber auch für die perspektivische konventionelle Kriegsfähigkeit gegen Russland. Seitdem die Ukraine kämpft, geht Großbritannien stetig voran in der Belieferung des Stellvertreters mit immer mehr und immer effektiveren Waffen und dem Training von tausenden ukrainischen Soldaten auf englischem Boden. [27] Mit dem Überschreiten von immer neuen „roten Linien“ bei der Aufrüstung der ukrainischen Armee setzt die britische Regierung die Fakten – für die osteuropäischen Staaten, die ihrem Vorbild willig folgen, aber auch für die „zögerliche“ EU-Führungsmacht Deutschland, die jeden Eskalationsschritt gegen die Atommacht Russland genau abgewogen und durch die atomare Abschreckungsmacht der USA gedeckt wissen will. Das Risiko russischer Eskalation hält Großbritannien bis auf Weiteres von keiner Eskalation seinerseits ab, die Drohungen von Putin und Lawrow mit dem Atomkrieg werden als Bluff abgetan.

Schon vor zehn Jahren hat sich Großbritannien zur Führungsmacht einer Sub-NATO gemacht, der Joint Expeditionary Force (JEF), welche die militärischen Beiträge von acht nord- und osteuropäischen NATO-Staaten sowie gleich auch noch der Beitrittskandidaten Finnland und Schweden organisiert und koordiniert, und so einen eigenständigen Beitrag zur Einkreisung und Eindämmung der russischen Macht leistet. Jetzt im Ukraine-Krieg bewährt sich das Unterbündnis als vereinigte Front der Scharfmacher. Bei den Ramstein-Konferenzen zur forcierten Ausrüstung der Ukraine bestehen die JEF-Mitglieder mit Nachdruck darauf, dass alle Europäer im NATO-Bündnis „im Gleichschritt auf die Invasion in der Ukraine reagieren“ (Premier Rishi Sunak) und sich der von ihnen vorgegebenen Eskalation der Kriegsunterstützung anschließen. [28]

Mit all dem baut sich das Vereinigte Königreich zugleich als autonomer Garant europäischer Sicherheit neu auf. Die Kriegslage nimmt es als Gelegenheit, nach dem Ausscheiden aus der EU als wegweisende Militärmacht zurückzukommen, die für die Sicherheit Europas Verantwortung übernimmt. Und das kann diese Nation auch, weil sie sich mit ihrem Brexit von dem Widerspruch dieser Union befreit hat, der jetzt angesichts des Ukraine-Kriegs eklatiert: Die europäischen Staaten werden mit der Notwendigkeit konfrontiert, sich als einheitliches, souveränes und kriegsfähiges Subjekt zu gründen, worauf sie sich eben nicht einigen können, worum sie also bis auf Weiteres kämpfen. [29] Ganz anders Großbritannien: Dieser Staat ist als kriegswillige und -fähige Macht fertig. Als solche tritt er der Europäischen Union als nun externe Macht gegenüber, um sich mit einer außen- und sicherheitspolitischen Partnerschaft auf neuer Post-Brexit-Grundlage unverzichtbar zu machen. Erste Erfolge werden da schon vermeldet. [30] Und beiden Seiten des transatlantischen Bündnisses, den USA wie den Staaten Europas, tritt Großbritannien als das NATO-Mitglied gegenüber, das in der Herausforderung des Gewaltmonopols des Westens durch Russland den „Gleichschritt“ der amerikanischen und europäischen Interessen garantiert. Das ist der spezielle Gehalt und die Scharfmacherei der britischen Weltpolitik: Das Vereinigte Königreich betätigt sich im Wortsinn als Mittelmacht, die zu ihrer Sache macht, dass die USA Partner brauchen, weil ihre Weltordnung nur funktioniert, wenn und in dem Maße wie ihre Konkurrenten dabei mitmachen.

Das Kriegsziel: Vorwärts bis zur vollständigen Niederlage Russlands in der Ukraine

Das Vereinigte Königreich ist sich einig mit den USA und den anderen Mitgliedern der NATO in der Prämisse: Der Krieg in der Ukraine soll der Stellvertreterkrieg bleiben, der er ist, und nicht zu einer direkten militärischen Konfrontation der NATO mit Russland eskalieren. Russland muss in der Ukraine und mit dem konventionellen Krieg des Stellvertreters „so sehr geschwächt werden, dass es nicht mehr in der Lage sein wird, Dinge wie diese zu tun, die es mit der Invasion der Ukraine getan hat.“ (US-Verteidigungsminister Lloyd Austin, 25.4.22) Wann dieses Kriegsziel erreicht ist und wie es zu erreichen ist, darin gehen allerdings die Standpunkte der NATO-Mitglieder auseinander.

Die britische Regierung besteht darauf, dass für sie – und deswegen auch für die westliche Militärallianz – der Krieg in der Ukraine erst mit der klaren Niederlage Russlands auf dem Schlachtfeld und dem vollständigen Verlust der von der russischen Armee eroberten und annektierten ukrainischen Staatsgebiete beendet sein wird. Darauf verpflichtet sie sich in dem sogenannten „Tallinner Versprechen“, für das sie acht nord- und osteuropäische NATO-Staaten mobilisiert, hinter sich versammelt und als deren Sprecher auftritt:

„Wir weisen die anhaltende Verletzung der Souveränität, der Unabhängigkeit und der territorialen Integrität der Ukraine durch Russland sowie dessen unrechtmäßige Ansprüche auf die annektierten ukrainischen Gebiete zurück. Wir sind uns einig, dass es ebenso wichtig ist, die Ukraine aufzurüsten, um Russland aus ihrem Staatsgebiet zu vertreiben, wie sie zu befähigen, das zu verteidigen, was sie bereits besitzt. Gemeinsam werden wir die Ukraine weiterhin dabei unterstützen, vom Widerstand zur Vertreibung der russischen Streitkräfte von ukrainischem Boden überzugehen. Daher verpflichten wir uns, gemeinsam die Bereitstellung eines noch nie dagewesenen Hilfspakets für die ukrainische Verteidigung voranzutreiben, darunter Kampfpanzer, schwere Artillerie, Luftabwehr, Munition und Schützenpanzer. Diese beträchtliche Hilfe für die Ukraine stammt aus unseren eigenen nationalen Beständen und Ressourcen, was das gegenseitige Verständnis für den Ernst der Lage und unser Engagement für eine dringende Aufstockung und Beschleunigung der Unterstützung für die Ukraine verdeutlicht. Nachdem wir dieses ‚Tallinner Versprechen‘ gemacht haben, werden wir morgen, am 20. Januar, zur Sitzung der Gruppe ‚Verteidigung der Ukraine‘ in Ramstein fahren und andere Bündnispartner auffordern, diesem Beispiel zu folgen und so bald wie möglich ihre eigenen geplanten Unterstützungspakete beizusteuern, um einen ukrainischen Sieg auf dem Schlachtfeld im Jahr 2023 sicherzustellen.“ (Gemeinsame Erklärung der Verteidigungsminister des Vereinigten Königreiches, von Estland, Polen, Lettland, Litauen, Dänemark, Tschechische Republik, Slowakische Republik und den Niederlanden, 19.1.23)

Erste Überlegungen in Westeuropa, aber auch in den USA, die angesichts der Kräfteverhältnisse auf dem Schlachtfeld einerseits und der bisherigen relativen Kriegserfolge der Ukraine andererseits ventilieren, ob die Zeit für Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland nicht gekommen sein könnte, lehnt die britische Regierung strikt ab. [21] Ihr Standpunkt ist und bleibt die Maximalposition, ohne den vollständigen Rückzug Russlands aus den eroberten Gebieten könne es keine Friedensverhandlungen geben:

„Jede russische Forderung nach einem Waffenstillstand sei ‚völlig bedeutungslos‘, sagt der britische Premierminister Rishi Sunak. Der Kreml müsse sich von ‚erobertem Gebiet‘ zurückziehen, bevor echte Friedensgespräche beginnen können. Der Westen sollte jede russische Forderung nach einem Waffenstillstand in seinem Krieg gegen die Ukraine unter den derzeitigen Umständen als ‚völlig bedeutungslos‘ betrachten. Während eines Gipfeltreffens der Führer der Joint Expeditionary Force (JEF), eines Militärbündnisses von 10 nordeuropäischen Ländern, warnte Sunak in Riga, Russland würde eine Einstellung der Feindseligkeiten nur als Gelegenheit nutzen, um seine Kräfte neu zu formieren. ‚Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass jeder einseitige Appell Russlands zu einem Waffenstillstand in der gegenwärtigen Situation völlig sinnlos ist.‘“ (Politico, 30.1.23)

Die Botschaft richtet sich nicht nur an Moskau, sondern auch an die NATO-Partner in Berlin und Paris. Denn die europäischen Führungsmächte Deutschland und Frankreich vergessen über ihre massive militärische, wirtschaftliche, finanzielle und humanitäre Kriegsunterstützung für die Ukraine die Rolle und Leistung der Diplomatie nicht. Am Ende des Krieges wollen sie ein Russland haben, das so geschwächt ist, dass es sich gezwungen sieht, die Hoheit von EU und NATO über ganz Europa bis direkt an seine Grenzen, mithin seinen gewaltsam reduzierten Status zu akzeptieren. Putin soll zur Einsicht kommen, dass für Russland eine andere Zukunft denn als Europa untergeordnete Macht nicht zu haben ist – die dann aber schon. Dafür steht Macrons Rede, man dürfe „Russland nicht erniedrigen“, ebenso wie die Telefondiplomatie von Scholz mit Putin. Dem Vereinigten Königreich ist eine solche europäische Zu- und Unterordnungsperspektive vollkommen fremd. Russland ist der Feind Großbritanniens, somit der freien Welt, und vice versa. Punkt! Der Ukraine-Krieg muss eine solche Schwächung der russischen Weltmacht herbeiführen, dass endlich wieder wahr wird, was britischer Machtanspruch ist: Europa und die Welt sind befreit von russischer Bedrohung, und Großbritannien kann Russland endlich wirklich als Großmacht gegenüber treten, deren imperialistische Ansprüche von Moskau nicht mehr missachtet werden können.

Deswegen besteht die Nation auf der militärischen Eskalation der Kriegsbeiträge des Westens für den ukrainischen Stellvertreter. Sie ist stolz auf ihre offensive Risikobereitschaft, schreckt auch nicht vor verdeckten eigenen Kriegsaktionen gegen Russland zurück. [11] Und sie pflegt den Argwohn, ob die alliierten Europäer sich nicht von den russischen Drohungen, den Krieg zu eskalieren, am Ende gar Atomwaffen einzusetzen, von der notwendigen Eskalation ihrerseits abschrecken lassen oder mit Blick auf eine diplomatische Endlösung viel zu früh auf Friedensverhandlungen mit dem Feind setzen könnten. Auch gegenüber den USA werden sie den Verdacht nicht los, die Weltmacht könnte vom Standpunkt ihrer absoluten Überlegenheit gegenüber Russland Nutzen und Kosten des Stellvertreterkriegs in der Ukraine neu gewichten und die Kriegsunterstützung nicht mehr so betreiben, wie Großbritannien es für nötig befindet. [12]

Alles gute Gründe für das Vereinigte Königreich, nicht lockerzulassen, bis es mit der erreichten Zerstörung russischer Macht zufrieden sein kann. Schließlich ist diese Nation aus noch jedem Krieg, was immer er an Reichtum und Volk gekostet hat, siegreich hervorgegangen – und das gilt umso mehr, wenn sie diesmal nicht ihre eigenen Soldaten, sondern die der Ukraine kämpfen und sterben lässt.

[1] „‚Wie kann eine Wirtschaft überhaupt funktionieren – bei gleichzeitiger Unterstützung der Kriegsanstrengungen –, wenn die zivile Infrastruktur so stark beschädigt ist? Ich glaube nicht, dass wir so etwas schon einmal gesehen haben‘, sagte Simon Johnson, ein Wirtschaftswissenschaftler am MIT, der mit ukrainischen Beamten in Kontakt steht. ‚Ich kann mich an keine Wirtschaft erinnern, die das jemals versucht hat.‘ ... Der ukrainische Finanzminister Serhij Martschenko war bereits dabei, Finanzministerin Janet Yellen um Milliardenhilfe zu bitten, als er sie zum ersten Mal auf die russischen Bombardierungen der Infrastruktur aufmerksam machte. Die Ukraine, die von Oligarchen beherrscht wird und ständig auf Rettungsmaßnahmen angewiesen ist, war schon lange vor dem Einmarsch Russlands in einem finanziellen Chaos. Ein ausgewachsener Krieg hat die Wirtschaft des Landes ins Trudeln gebracht.“ (Washington Post, 15.12.22)

 Die ukrainische Herrschaft ist zur reinen Kriegsadministration geworden; alles, was sie in Sachen Ökonomie noch leistet, gilt dem Unterhalt, Betrieb und der Fortsetzung ihres Kampfs um Selbstbehauptung; was sie dafür tun kann, verdankt sich vollständig der finanziellen Unterstützung der Westmächte. Was in dem Land an „Haushaltszahlen“ und „Wachstum“ noch zusammengerechnet wird, hat weitgehend eher fiktiven Charakter:

„Die Ukraine braucht einen Multi-Milliarden-Dollar-Kredit, um den Staatshaushalt zu stützen. Dazu wolle die ukrainische Regierung nächste Woche in Warschau Gespräche mit Vertretern des IWF führen, berichtet Reuters. Dies kommt daher, dass die internationale Ratingagentur Moody’s gestern das Länderrating der Ukraine von Caa3 auf Ca herabgestuft hat, in der Erwartung, dass ein Krieg mit Russland langfristige Herausforderungen für die Wirtschaft des Landes schaffen wird. Dieses Rating bedeutet, dass die Schuld wahrscheinlich in Zahlungsverzug oder sehr nahe dran ist.“ (strana.news, 11.2.23)

 Der Zusammenbruch des zivilen Lebens zieht nicht nur die Moral des Volkes in Mitleidenschaft, sondern dezimiert die Mittel, die die Armee für die Fortführung des Kriegs braucht: Lebensmittel, Hygieneartikel und Medikamente, Kraft- und Schmierstoffe und was sonst noch vonnöten ist für einen Krieg in diesen Dimensionen werden, wenn überhaupt, nur noch in eingeschränktem Umfang produziert. Der Transport des Vorhandenen an die Stellen, wo es gebraucht wird, ist unter den Bedingungen beständigen Stromausfalls und allgemeinen Ressourcenmangels ein zusätzliches Problem. Die Anlieferung von gewaltigen Mengen an Artilleriemunition, die Reparatur der verschlissenen Hardware, schließlich die Verlegung der Truppen – das alles wird bei flächendeckendem Energieausfall zu einem absoluten Notprogramm. Vom Überleben der Bevölkerung in den Trümmern ganz zu schweigen.

[2] „Erst in dieser Woche hatte der Spiegel berichtet, dass der deutsche Auslandsnachrichtendienst Sicherheitspolitiker und -politikerinnen des Bundestags in einer geheimen Sitzung darüber informierte, dass die ukrainische Armee bei Kämpfen um Bachmut täglich eine dreistellige Zahl an Soldaten verliere... Militärexperte Markus Reisner geht davon aus, dass die ukrainische Seite noch genügend Soldaten habe, um ihre Verteidigungsstellungen zu besetzen. ‚Wir sehen aber schon jetzt, dass es Probleme bei der Rekrutierung neuer Soldaten gibt‘, warnt Reisner.“ (RND, 1.2.23) Zwangsrekrutierungen immer älterer und jüngerer Ukrainer sind an der Tagesordnung.

„In wenigen Tagen würden hier die Bestände ganzer NATO-Staaten verschossen, so Rafael Loss, Experte für Sicherheits- und Verteidigungspolitik beim Think-Tank European Council on Foreign Relations. Pro Tag werden von der Ukraine zwischen 5000 und 10 000 Schuss Artilleriemunition verfeuert. Das ist so viel wie in einem ganzen Monat in Afghanistan. Die andauernden Kämpfe lassen die Munitionsbestände der ukrainischen Armee schrumpfen.“ (n-tv, 14.1.23)

[3] US-Generalstabschef Mark Milley rechnet damit, „dass Russland ‚deutlich mehr als 100.000‘ Soldaten verloren habe. Das beinhalte reguläre Mitglieder des Militärs, aber auch Söldner, die auf russischer Seite kämpften. ‚Die Russen haben eine enorme Anzahl von Opfern in ihrem Militär zu beklagen.‘ Für Russland entwickle sich der Krieg zu einer ‚absoluten Katastrophe‘.“ (n-tv, 20.1.23) „Das Arsenal des russischen Militärs wurde schwer/stark dezimiert. Nach einer diese Woche veröffentlichten Schätzung des Internationalen Instituts für Strategische Studien hat es fast die Hälfte seiner Kampfpanzer verloren und greift auf Bestände älterer (und manchmal sowjetischer) Waffen zurück. Russlands Munitionsvorräte gehen rasch zur Neige.“ (Washington Post, 17.2.23)

[4] „NATO-Partner zögern bei Panzerlieferungen. Nach der deutschen Zusage zur Lieferung von 14 Leopard-2-A6-Kampfpanzern an die Ukraine zögern andere NATO-Partner laut eines Medienberichts mit eigenen Beiträgen. Nach Informationen des Spiegel gebe es noch keine festen Zusagen, zusammen mit den 14 deutschen Panzern ein Bataillon von Leopard-2-Panzern für die Ukraine zusammenzustellen. „Die Zusammenstellung der Bataillone entpuppt sich als mühsamer Kraftakt“, werden Regierungskreise zitiert. Die Bundesregierung hatte vor gut zwei Wochen beschlossen, dass Deutschland gemeinsam mit anderen europäischen Nationen bis Ende März zwei mit Leopard-2 bestückte Panzerbataillone an die Ukraine liefern will.“ (SZ, 4.2.23)

 „Verteidigungsminister Boris Pistorius hat es nach Konsultationen mit NATO-Partnern nicht geschafft, genug Kampfpanzer des modernen Typs Leopard 2A6 zusammenzubekommen, damit die Ukraine ein Bataillon damit ausstatten kann. Neben den 14 von der Bundeswehr zugesagten Panzern ist lediglich Portugal dazu bereit, drei dieser Modelle zu stellen. Ein ukrainisches Bataillon umfasst 31 Panzer. ‚Da werden wir die Bataillonsstärke nicht erreichen‘, so der SPD-Politiker nach einem Treffen in Brüssel mit den Ministern von Staaten am Mittwoch, die Interesse an einer Beteiligung gezeigt hatten. Auf die Frage, wie Kiew ein halbes Bataillon einsetzen solle, antwortete Pistorius: ‚Das müssen Sie die Ukrainer fragen.‘ Polen, das die Führung für ein Bataillon mit Leopard 2A4 übernommen hatte und selbst ebenfalls 14 Panzer stellen will, gelang es hingegen, ‚knapp dreißig‘ Panzer des älteren Typs zu organisieren. Pistorius sagte zur Erklärung, dass es weniger A6 als A4 gebe. Aussagen vom Vortag, wonach der Einsatzzustand der A4-Modelle ‚nicht ganz so berauschend‘ sei, relativierte der Minister. Ein großer Teil der Panzer werde ‚Ende März bis Ende April in der Ukraine sein können‘. Zu den Staaten, die Deutschland absagten, gehört Dänemark. Über Schweden sagte Pistorius, es überlege noch. Die Lücke im ‚deutschen‘ A6-Bataillon könnte gefüllt werden, wenn Deutschland auf ein Angebot des niederländischen Regierungschefs Mark Rutte eingehen würde. Rutte hatte vorgeschlagen, 18 Leopard 2A6, die von Deutschland geleast wurden und Teil eines deutsch-niederländischen Bataillons sind, zurückzukaufen und der Ukraine zu spenden. ‚Es hat bislang keine Anfrage gegeben, diese Panzer zur Verfügung zu stellen‘, sagte Pistorius, lehnte den Vorschlag dann aber in der Sache ab. Wenn sie zur Verfügung gestellt würden, bedeute das ‚eine weitere Schwächung der Einsatzbereitschaft der Bundeswehr‘. Der Minister verwies darauf, dass bis Anfang 2024 noch ‚über 120 Leopard 1A5‘-Panzer hinzukämen, die derzeit instand gesetzt werden. Dabei handelt es sich um ein Modell auf dem Stand der Achtzigerjahre.“ (FAZ, 16.2.23) „Großbritannien hatte angekündigt, so schnell wie möglich mit der Ausbildung ukrainischer Piloten zu beginnen. ‚Wir hoffen, im Frühjahr die ersten Piloten aus der Ukraine für die Ausbildung hier zu haben und wir wollen natürlich, dass sie so bald wie möglich beginnt‘, sagte ein Sprecher von Premierminister Rishi Sunak. Sunak habe den Verteidigungsminister zudem beauftragt, zu prüfen, welche Kampfjets Großbritannien zur Verfügung stellen könnte. Dabei gehe es aber um ein langfristiges Projekt ‚und nicht um eine kurzfristige Fähigkeit, die die Ukraine jetzt am meisten braucht‘.“ (SZ, 9.2.23) „‚Großbritannien hat nie gesagt, dass es auf jeden Fall Kampfflugzeuge in die Ukraine liefern wird.‘ Man habe nur gesagt, ‚dass wir mit der Ausbildung beginnen, um die Widerstandskraft der Ukraine zu verbessern, wahrscheinlich für die Zeit nach dem Konflikt‘, sagt britischer Verteidigungsminister Wallace.“ (FAZ, 10.2.23) „Die Ausrüstung mit Kampfflugzeugen diene nur der ‚langfristigen Widerstandsfähigkeit der Ukrainer‘. Kurzfristig müssten die Maschinen mit Hunderten Mann Unterstützungspersonal geliefert werden, ‚und wir werden diese Männer nicht in der Ukraine stationieren‘.“ (FAZ, 16.2.23)

[5] Und wird schon in Angriff genommen: „Der Premierminister wird anbieten, das britische Ausbildungsangebot für die ukrainischen Truppen zu verstärken und es auch auf Kampfjetpiloten auszuweiten, um sicherzustellen, dass die Ukraine ihren Luftraum auch noch weit in der Zukunft verteidigen kann. Die Ausbildung wird sicherstellen, dass die Piloten in der Lage sind, zukünftig hochentwickelte NATO-Standard-Kampfjets zu fliegen.“ (gov.uk/government/news)

[6] Z.B. Pistorius: „Ich schließe erst mal nichts aus. Aber Deutschland hat sich verpflichtet, bis zum Jahr 2025 eine voll ausgestattete Division aufzustellen. Wir reden über den Schutz der Ostflanke der NATO. Ich muss doch die Verteidigungs- und Einsatzbereitschaft aufrechterhalten. Nehmen Sie das Flugabwehrsystem Patriot. Wir haben im Moment noch genau eines dieser Systeme in Deutschland. Wenn ich das jetzt auch noch rausgebe, kann ich nicht mal mehr üben.“ (Interview mit Verteidigungsminister Boris Pistorius im Spiegel, 17.2.23)

[7] „Nachdem die Ukraine wahrscheinlich den größten Teil der 152-mm- und 122-mm-Granaten ihrer sowjetischen Artillerie verbraucht hat, ist sie nun zunehmend auf NATO-Länder angewiesen, um sowohl 155-mm-Granaten als auch die entsprechenden Geschütze zu erhalten. Doch die Vorräte ihrer westlichen Verbündeten, aus denen sie bisher beliefert wurden, gehen rasch zur Neige. Amerika hat damit begonnen, 105-mm-Haubitzen und -Geschosse mit kürzerer Reichweite zu liefern, um das Defizit an Geschossen größeren Kalibers auszugleichen... Die Ukraine wird bald von dem abhängig sein, was die amerikanische und europäische Waffenindustrie herstellen kann. Derzeit können die USA etwa 180 000 155-mm-Granaten pro Jahr herstellen, während Europa nach Angaben von Bastian Giegerich vom Internationalen Institut für Strategische Studien, einem Thinktank, im vergangenen Jahr etwa 300 000 produziert hat. Das alles zusammen entspricht einem Verbrauch von knapp drei Monaten für die Ukraine... ‚Die US-Rüstungsindustrie ist auf maximale Effizienz bei der Produktion in Friedenszeiten ausgelegt‘, sagt Jim Taiclet, der Chef von Lockheed Martin, dem größten amerikanischen Rüstungskonzern. Das bedeutet, dass die Auftragnehmer in der Regel nur so viel Munition herstellen können, wie zum Ersatz der in der Ausbildung verbrauchten Munition erforderlich ist. Westliche Regierungen und Rüstungsunternehmen strengen sich nun an, ihre Produktion zu steigern... Der Kongress hat inzwischen den verstärkten Einsatz von Mehrjahresverträgen genehmigt, um den Unternehmen mehr Gewissheit über die Nachfrage zu geben. Bisher wurden solche Verträge jedoch hauptsächlich für teure Flugzeuge, Schiffe oder Panzer verwendet, nicht für die Munition, die sie verschießen. Es wird auch Geld für die Beseitigung von Produktionsengpässen ausgegeben... Ein ähnlicher Prozess ist in Europa im Gange. Armin Papperger, Chef der deutschen Rheinmetall, sagt, sein Unternehmen könne die Produktion schnell von 70 000 auf 450 000 Granaten pro Jahr oder mehr steigern, nachdem er kürzlich den Kauf von Expal Systems, einem spanischen Munitionshersteller, vereinbart hat. Rheinmetall baut auch ein neues Munitionswerk in Ungarn auf. CSG, ein tschechischer Waffenhersteller, der im vergangenen Jahr 100 000 Granaten produzierte, hofft, seine Produktion in diesem Jahr auf 150 000 zu steigern. Auch das norwegische Unternehmen Nammo könnte seine Produktion erhöhen. Ehemalige Warschauer-Pakt-Länder spielen sogar mit dem Gedanken, Fabriken zur Herstellung von 152-mm-Munition wiederzueröffnen, damit die Ukraine weiterhin ihre sowjetische Artillerie einsetzen kann. Doch trotz des Geredes über die Dringlichkeit haben die europäischen Regierungen nicht viele Beschaffungsverträge unterzeichnet. Papperger hat erklärt, er sei bereit, einen Teil der Investitionen, die zur Beschleunigung der Produktion von Granaten und Raketen erforderlich sind, vorzufinanzieren, aber ohne feste Aufträge sind der Bereitschaft privater Unternehmen Grenzen gesetzt.“ (The Economist, 18.2.23)

[8] Diese Trennung war zwar natürlich nie die ganze Wahrheit über die westliche Kriegsbeteiligung. Vgl. hierzu: Das erste Halbjahr Ukraine-Krieg: Von einer Spezialoperation gegen einen antirussischen NATO-Vorposten zum Zermürbungskrieg, insbesondere das Unterkapitel „Die USA: Eine neue Form und gewaltige Steigerung des ‚leading from behind‘“, S. 12 ff. in GegenStandpunkt 3-22. Mit dem Schritt zu ‚boots on the ground‘ wäre die Trennung aber endgültig ad absurdum geführt.

[9] „Die offenen Gespräche in Kiew im vergangenen Monat spiegelten die Bemühungen der Biden-Administration wider, die Ziele der Ukraine mit dem in Einklang zu bringen, was der Westen nach einem Jahr Krieg unterstützen kann. Es sei nicht immer einfach gewesen, die Ukraine auf Linie zu bringen, berichteten mit den privaten Verhandlungsgesprächen vertraute Personen unter der Bedingung der Anonymität. Seit Monaten hat die Ukraine erhebliche Ressourcen und Truppen für die Verteidigung von Bakhmut im östlichen Donbass aufgewendet. Amerikanische Militäranalysten und -planer haben argumentiert, dass es unrealistisch sei, gleichzeitig Bakhmut zu verteidigen und im Frühjahr eine Gegenoffensive zu starten, um ein Gebiet zurückzuerobern, das die Vereinigten Staaten als gewichtiger ansehen. Selenskyj misst Bakhmut jedoch eine symbolische Bedeutung bei, so zwei hochrangige Regierungsbeamte, und ist der Ansicht, dass es für die ukrainische Kampfmoral ein Schlag wäre, die Stadt zu verlieren. Am Freitag sagte Selenskyj, die Streitkräfte seines Landes würden ‚so lange kämpfen, wie wir können‘, um die umkämpfte Stadt zu halten, die kurz davorsteht, durch Russland eingenommen zu werden. Während US-Beamte erklärten, sie respektierten, dass Selenskyj wisse, wie er sein Land am besten mobilisieren könne, äußerten sie Bedenken, dass wenn die Ukraine überall dort kämpfe, wo Russland Truppen hinschicke, würde es Moskau zum Vorteil gereichen. Stattdessen forderten sie die Ukraine auf, dem Zeitpunkt und der Durchführung der Gegenoffensive im Frühjahr Vorrang einzuräumen, insbesondere wo die Vereinigten Staaten und Europa ukrainische Kämpfer an einigen der komplexeren Waffen ausbilden, die auf ihrem Weg zum Schlachtfeld sind.“ (Washington Post, 13.2.23) „Gleichzeitig stellen ISW-Analysten fest, dass die Verteidigung von Bakhmut die Russische Föderation gezwungen hat, nicht nur die Wagnerianer, sondern auch wertvolle russische Luftstreitkräfte einzusetzen.“ (strana.news, 15.2.23) „Während die USA und Europa nach Möglichkeiten suchen, ihre Granatenproduktion zu erhöhen, um diese im eigenen Lager vorrätig zu halten und die Ukraine für ihre Warmwetter-Offensiven zu versorgen, beobachten sie die derzeitigen Ausbildungsbemühungen in England und Deutschland, die die Art und Weise, wie die Ukraine sich auf dem Schlachtfeld bewegt, ändern sollen. Dazu gehört auch, Wege zu finden, Russland zurückzuschlagen, ohne zu viel Munition zu verbrauchen. ‚Wir arbeiten mit den ukrainischen Soldaten an verschiedenen Orten in Europa zusammen, um verstärkt zusätzliches Training für Manöver durchzuführen‘, sagte [US-Verteidigungsminister] Austin. ‚Wenn sie mehr Wert auf taktische Bewegungen legen und das Schlachtfeld durch Beschuss und dann durch Manövrieren gestalten, besteht eine gute Chance, dass sie weniger Artilleriemunition benötigen.‘“ (Politico, 14.2.23)

[10] Die dosierte, stückweise Zuteilung der Kriegsmittel stiftet bei manchen Militärexperten, denen niemand eine Schwäche für Putin-Propaganda nachsagen würde, den enttäuschten Eindruck, die Ukraine würde bloß als Schlachtbank gerettet:

 „Die Amerikaner versuchen immer dann, wenn eine symmetrische Situation zu einer asymmetrischen wird, wenn also Russland die Überhand gewinnt, die Ukraine so zu unterstützen, dass es wieder eine symmetrische Situation wird. Aber sie versuchen, nicht darüber hinaus zu reagieren, weil die Befürchtung besteht, dass Russland sich dann in die Enge getrieben fühlt und irrational reagiert. Das heißt, man versucht, die Russen auch auf der Zeitachse abzunutzen. Um es bildlich darzustellen: Die Russen würgen die Ukrainer und hoffen, dass ihnen die Luft ausgeht. Und die Amerikaner würgen die Russen und hoffen, dass denen vor den Ukrainern die Luft ausgeht. Das Tragische daran ist, dass so der Krieg nicht schnell beendet werden kann.“ (Interview mit österreichischem Militäranalysten Markus Reisner, tagesschau.de, 21.2.23)

 „Der ukrainische Generalstabschef, General Saluschnij, sagte kürzlich: ‚Ich brauche 300 Kampfpanzer, 600 bis 700 Schützenpanzer und 500 Haubitzen, um die russischen Truppen auf die Positionen vor dem Angriff vom 24. Februar zurückzudrängen‘. Jedoch mit dem, was er erhalte, seien ‚grössere Operationen nicht möglich‘. Ob die ukrainischen Streitkräfte angesichts der grossen Verluste der letzten Monate überhaupt noch über eine ausreichende Zahl geeigneter Soldaten verfügen, um diese Waffensysteme einsetzen zu können, ist allerdings fraglich. Jedenfalls erklärt auch die Aussage General Saluschnijs, weshalb die westlichen Waffenlieferungen die Ukraine nicht in die Lage versetzen, ihre militärischen Ziele zu erreichen, sondern lediglich den Krieg verlängern.“ (Interview mit General a.D. Harald Kujat, infosperber.ch)

[11] Das nennt man in Amerika „walking and chewing gum at the same time“. Zu den Herausforderungen, die die Regierung Biden bei der Umsetzung des Projekts, die USA in der Weltmarktkonkurrenz neu aufzustellen, in Angriff nimmt, siehe den Artikel Sachdienliche Auskünfte zur Modernisierung des amerikanischen Imperialismus im vorliegenden Heft. Vgl. auch Mehr Zinsen, mehr Schulden: Die USA bewältigen Inflation und Rezessionsgefahr und setzen damit Vorgaben für den Rest der Welt, GegenStandpunkt 4-22, insbesondere S. 40 ff.

[12] Speziell Polen, das mit seiner Ostgrenze zu Weißrussland und der Ukraine zu dem Frontstaat der NATO im Osten aufgewachsen ist, hat keine Sekunde gezögert, die Gelegenheit zu ergreifen, um sich gegen die verhasste ehemalige Vormacht im Warschauer Pakt in Stellung zu bringen. Es betätigt sich im Ukraine-Krieg an vorderster Front: als Waffenausstatter, als logistischer Knotenpunkt für die Lieferungen aus anderen NATO-Staaten, als Übungsgelände für die Ausbildung ukrainischer Kämpfer und vieles mehr. Im Rahmen der NATO-Ostfront tut sich Polen mit einer massiven Aufrüstung und Aufstockung des eigenen Militärs hervor; es übererfüllt schon jetzt die 2 %-Vorgabe der NATO, will dies auf 5 % ausdehnen und sich tendenziell die größte Landarmee Europas zulegen.

 Diese Pflichterfüllung von Aufgaben im Ukraine-Krieg im Übersoll, die Polen für die Kriegsvormacht USA besonders wertvoll macht, nutzt diese Nation, die schon länger ein Lager osteuropäischer Staaten hinter sich versammelt hat, um als diplomatische und ideologische Speerspitze aller europäischen Initiativen, als Antreiber und Scharfmacher aufzutreten. Durch die „Zeitenwende“ sieht sich Polen mit seiner fundamentalen Russland-Feindlichkeit sogar dazu ins Recht gesetzt, sein ewiges Leiden an der Bevormundung durch die EU gegen deren Führungsmächte Deutschland und Frankreich zu wenden. Unter Verweis auf die eigenen außerordentlichen Leistungen im und für den Krieg unternimmt Polen alles, was es kann, um deren Führungsrolle infrage zu stellen und sich selbst mindestens zur mitbestimmenden Macht in Sachen Kriegsziele und -maßnahmen aufzuschwingen.

[13] In ihrer „Revue Stratégique“ vom Oktober letzten Jahres reden die französischen Sicherheitspolitiker ein ganzes eigenes Kapitel lang ganz unbefangen von Vorkehrungen für die Einrichtung einer Kriegswirtschaft, die den einschlägigen Bedarf der Nation sowohl gebrauchswertseitig als auch hinsichtlich der Finanzierung auf die Bedürfnisse einer lange dauernden Kriegsführung umstellt.

[14] „Wir sind gerade dabei, das Budget für 2024 zu verhandeln und die nächsten Jahre zu planen. Und das Ziel wird sein, dass wir diese 2 Prozent in den nächsten Jahren mindestens erreichen. Das ist das Ziel. Dies muss nun mit den Koalitionspartnern verhandelt werden. Ich will nicht vorgreifen. Ich bin jedenfalls auch ganz klar der Meinung, dass man bei 2 Prozent ansetzen sollte und wir mittelfristig mehr ausgeben müssen.“ (Verteidigungsminister Pistorius in einem Interview mit der Washington Post am 16.2.23) Noch viel mehr Aufrüstung und noch viel mehr Geld dafür als bei der „Zeitenwende“-Rede vor einem Jahr versprochen – das ist das Rezept des neuen Verteidigungsministers für den in Angriff genommenen imperialistischen Fortschritt Deutschlands.

[15] Biden laut FR (28.2.23) nach dem Panzerdeal mit Scholz: „Ich möchte dem Kanzler für seine Führungsstärke danken.“

[16] In den Machtvisionen des Kanzlers der deutschen Führungsmacht der EU hört sich dieser Zusammenhang so an:

 „Eine EU mit 27, 30, 36 Staaten mit dann mehr als 500 Millionen freien und gleichberechtigten Bürgerinnen und Bürgern kann ihr Gewicht in der Welt noch stärker zur Geltung bringen.“ (Scholz auf dem Kongress der Parteienfamilie der europäischen Sozialdemokraten (SPE) in Berlin, Tagesschau, 15.10.22)

[17] Die Kehrseite dieser Subjektrolle im Wirtschaftskrieg haben die EUStaaten freilich auch zu tragen: Die Umwidmung vormaliger Mittel eigener Bereicherung zur ökonomischen Waffe gegen Russland zieht den heimischen Kapitalismus in Mitleidenschaft; aufseiten des Gebrauchswerts, wenn Energieträger ausfallen, wie aufseiten der kapitalistischen Rechnungen, die nicht mehr aufgehen – statt fortgesetztem Geschäftswachstum steht eine nachhaltige Rezession auf der kapitalistischen Tagesordnung. Dieser durch den Wirtschaftskrieg induzierte Stachel für das Aufleben innereuropäischer Konkurrenz bedarf der dauernden Betreuung durch die zuständigen Instanzen, schon wieder mit Deutschland an führender Stelle; neben etlichen Ausnahme und Fristenregelungen ist hier innereuropäische Führungskraft gefragt, die Abweichler diszipliniert. Schließlich muss die antirussische Front auch beim Wirtschaftskrieg stehen. Siehe dazu den Artikel Der Wirtschaftskrieg wird global und prinzipiell in GegenStandpunkt 3-22.

[18] Für diese „Zeit danach“ stehen die ersten Runden von Beitrittsverhandlungen der EU mit der Ukraine. Während dort Krieg herrscht; während unter Kriegsrecht selbstredend alle demokratischen Rechte und Freiheiten kassiert sind; während die Staatsführung eine Säuberungswelle nach der anderen gegen der Russenfreundschaft Verdächtigte durchzieht; während angesichts einer zerstörten Wirtschafts- und Staatsorganisation, deren Funktionieren nur noch durch Subsidien von auswärts am Laufen gehalten wird, der allgemeine ökonomische Kampf ums Dasein, also um Geld, auf eine Weise abgewickelt wird, die nach den menschenfreundlichen EU-Kriterien einer erfolgreichen Marktwirtschaft unter das Urteil „Korruption“ fällt, – konstatiert nicht nur Frau von der Leyen unverdrossen, dass die Ukraine in Sachen Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Korruptionsbekämpfung durchaus beachtliche Fortschritte vorzuweisen, wenn auch noch einen längeren Weg vor sich hat... Der EU kommt es eben mit dem in Aussicht gestellten Beitritt der Ukraine immer nur auf eins an: die geostrategische Inbesitznahme der Ukraine.

[19] Dazu zählen Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Moldawien und Ukraine.

[20] Moldawien, das das geostrategische Pech hat, zwischen der Ukraine und dem EU-Staat Rumänien zu liegen – auch ohne Krieg schon ein ‚failed state‘ mit russenfreundlichen Volksteilen und einer abtrünnigen Provinz, die sich Russland zudefiniert –, wird zum EU-Beitrittskandidaten befördert. Dafür werden auf Initiative Deutschlands zusammen mit Frankreich und Rumänien drei internationale Geberkonferenzen organisiert und Moldawien Mittel für die „Minderung von Kriegsfolgen“ und ein paar Millionen für die Förderung erneuerbarer Energien spendiert sowie Hilfe bei der Ausbildung und Unterstützung des Militärs zugesagt.

 Im Falle von Georgien hält sich die EU mit einer Beitrittsperspektive vorerst zurück – die politische Vorleistung dafür hat dieser Staat aber unbedingt zu erbringen. Dafür darf er dann auch mit Mitteln rechnen, um sich für die Energieversorgung von Deutschland und Co nützlich zu machen:

 „Der Kanzler sagte im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine: ‚Es ist gut, dass Georgien die Resolution der Vereinten Nationen unterstützt, die den russischen Angriffskrieg verurteilt hat.‘ Ebenso sei sein klares Bekenntnis wichtig, alle Versuche zu verhindern, die Sanktionen gegen Russland zu umgehen. Deutschland setzt sich auch im Lichte des russischen Angriffskrieges für den Ausbau der energiepolitischen Zusammenarbeit mit Georgien ein. 2022 werden neue Mittel für Entwicklungen im Energiesektor bereitgestellt, auch für Fragen der Energiesicherheit.“ (Pressekonferenz von Scholz, 14.9.22)

 Dasselbe gilt für Kasachstan: „Bei ihrem Besuch in Kasachstan hat Außenministerin Annalena Baerbock die Anstrengungen des zentralasiatischen Landes begrüßt, sich von Russland zu distanzieren und den eigenen Rechtsstaat zu reformieren. In der Hauptstadt Astana sagte die Grünen-Politikerin, es verdiene Respekt, wie die ehemalige Sowjetrepublik in der Frage des russischen Angriffs auf die Ukraine trotz der schwierigen geografischen Lage Haltung zeige.“ (Tagesschau, 31.10.22) Beschlossen wurde außerdem eine Zusammenarbeit bei der Erzeugung von grünem Wasserstoff und bei Windparks.

[21] Neben der Etablierung einer europäischen „Panzerallianz“, die Deutschland seiner bewährten Kriegskunst auf diesem Gebiet verdankt, ist hier das Vorpreschen seiner Sicherheitspolitiker bei der Beschaffung neuer Luftabwehrfähigkeiten gegen feindlichen Raketenbeschuss zu nennen, die wegen des Kriegsverlaufs in der Ukraine für dringlich befunden werden. Hier präferieren sie das israelisch-amerikanische Raketenabwehrsystem „Arrow“ und schmieden unter der eingängigen Bezeichnung „European Skyshield“ eine europäische Koalition unter Umgehung des französisch-italienischen Konkurrenzprodukts.

[22] In der Frage von Krieg und Frieden, der westlichen Weltordnung und ihrer Verteidigung kennt diese Nation keine Parteien. Für die Labour-Opposition ist wie für die Konservativen in der Regierung der Krieg in der Ukraine „ein Versuch von Präsident Putin, die Uhr zurückzudrehen. Er will die russische Macht als Mittel zur Beherrschung von Teilen Osteuropas wiederherstellen. Und es ist eine direkte Bedrohung des antiimperialistischen Grundsatzes, dass souveräne Nationen frei sind, ihre Verbündeten und ihre Lebensweise selbst zu wählen. Deshalb ist es von entscheidender Bedeutung, dass wir uns in diesem Haus geschlossen gegen die russische Aggression stellen.“ (Parlamentsrede des Führers der Opposition Keir Starmer, 25.2.22)

[23] Alles Nötige zu den Kriegsgründen des von den USA angeführten Westens sowie Russlands steht ausführlich in dem Artikel Die drei Gründe des UkraineKriegs, GegenStandpunkt 2-22.

[24] Materialisiert ist die „special partnership“ in der tätigen Waffenbrüderschaft mit den USA in deren Weltordnungskriegen, in der bewährten Interoperabilität der beiden Streitkräfte, in der britischen Atommacht mit amerikanischen Trident-Raketen, in den zwei britischen Flugzeugträgerkampfgruppen mit US-Fliegern und -Piloten an Bord und zumeist einem US-Kriegsschiff als Begleitung, in dem Geheimdienstbündnis Five Eyes (UK, USA, Kanada, Australien und Neuseeland) usw.

[25] Seit Ende der Kriegsallianz mit der Sowjetunion gegen das faschistische Deutschland im Zweiten Weltkrieg war das Vereinigte Königreich im Kalten Krieg ein entschiedener Kämpfer im Rahmen des NATO-Bündnisses gegen den neuen Feind des Freien Westens: den „totalitären Kommunismus“ hinter dem „Eisernen Vorhang“, der Europa und die Welt spaltet. Auch in der Phase der Entspannungspolitik sahen die britischen Regierungen keinen Grund zur substantiellen Relativierung ihrer Feindschaft. Auf eine Politik des „Wandels durch Handel und Annäherung“, wie sie ihr NATO-Partner Deutschland betrieb, haben sie nicht gesetzt, stattdessen auf die Abschreckungsmacht ihres atombewaffneten Militärs und die Zersetzungsleistungen des weltbesten Geheimdienstes ihrer Majestät. Großbritannien konnte sich rühmen, eine „Eiserne Lady“ zu besitzen, die fest an der Seite der USA und Ronald Reagans stand, um die Sowjetunion „totzurüsten“, bis sie „mit einem Winseln oder mit einem Knall“ aus der Weltgeschichte tritt.

 Den Zusammenbruch des kommunistischen Systems und den progressiven Verfall russischer Macht in der Phase von Gorbatschow und Jelzin begrüßten die britischen Regierungen mit einer Entspannung ihrer Feindschaft, um mit ihrer Finanzmacht an der für Russland zerstörerischen Einführung des Kapitalismus mitzuwirken und zu verdienen. Die Atommacht Russlands und seine darauf gegründeten weltpolitischen Ordnungsansprüche befanden die Regierungen in London als noch immer zu groß. Ein Interesse an einer strategischen Funktionalisierung Russlands für den Machtzugewinn Europas gegen die einzige Weltmacht USA, wie es Deutschland und Frankreich im zweiten Irak-Krieg zumindest punktuell verfolgten, haben sie als Verrat an der notwendigen Einheit des Freien Westens und den unverzichtbaren transatlantischen Beziehungen bekämpft. Mit Putins Programm zur Wiederherstellung russischer Staatsmacht war dann die kurze Phase entspannter, weil auf den Niedergang russischer Weltmacht berechneter Beziehungen vorbei, als das Königreich sich glatt bereit erklärt hatte, den russischen Präsidenten mit einem Staatsbesuch bei der Queen zu ehren. Seitdem ist man stolz darauf, die eigene Hauptstadt zum Zentrum russischer Dissidenten und putinfeindlicher Oligarchen gemacht zu haben, die jetzt aus sicherer Entfernung die Untergrabung von Putins Macht in Moskau betreiben. Dass deren Beheimatung in London für eine kontinuierliche Verschlechterung der diplomatischen Beziehungen sorgt, ist alles andere als unerwünscht. Auf das Schuldregister Russlands verbucht die Nation die Ermordung des übergelaufenen russischen Spions Litwinenko in London mit Polonium, den Mordfall des Oligarchen und Putin-Gegners Beresowski und die Vergiftung des ehemaligen russischen Doppelagenten Skripal auf britischem Boden ebenso wie den Georgien-Krieg, die Annexion der Krim oder die russische Intervention in den Syrien-Krieg zugunsten des Diktators Assad.

[26] Dabei steht Großbritannien nicht zuletzt die historische Erfahrung des Irak-Kriegs vor Augen, in dem es als größter und verlässlichster Alliierter in der „Koalition der Willigen“ an der Seite der USA kämpft und das zum Zerwürfnis der drei EU-Führungsmächte führt: Deutschland und Frankreich verweigern in ihrer Gegnerschaft gegen den „Unilateralismus“ der ‚einzigen Weltmacht‘ ihre solidarische Kriegsbeteiligung – für Großbritannien ist das ein eklatanter Verrat an der Einheit des Westens und ein für es und die Welt gefährlicher Antiamerikanismus.

[27] Die Regierung prescht auch bei dem bislang weitestgehenden Eskalationsschritt westlicher Kriegshilfe, der Panzerwaffe, mit der Lieferung von 14 schweren Challenger-2-Kampfpanzern voran. Und sie bildet schon mal prophylaktisch ukrainische Kampfpiloten aus, damit das Personal Gewehr bei Fuß steht, wenn sie – und die NATO – sich entscheiden sollte, die Ukraine auch mit Kampfjets auszustatten. Bei der Münchner Sicherheitskonferenz fordert Premier Rishi Sunak die NATO auf, ihre Kriegsunterstützung „zu verdoppeln“ und drängt auf die „schnelle“ Lieferung von Kampfflugzeugen und Raketen mit größerer Reichweite.

 Zur Illustration sei noch die eindrucksvolle Liste der nach nur drei Monaten Krieg vom Verteidigungsministerium gelieferten Kriegsmittel zitiert, welche die ukrainische Regierung und ihre Armee befähigen sollen, „Russland von dem Hoheitsgebiet der Ukraine zu vertreiben“:

„Das Mehrfachraketenwerfer-Artilleriesystem (Waffensystem M270) und die dazugehörige Munition (M31A1); mehr als 5 000 NLAW-Panzerabwehrraketen; mehr als 200 Javelin-Panzerabwehrraketen; 120 gepanzerte Fahrzeuge; 1360 Stück Anti-Struktur-Munition; 5 Flugabwehrsysteme, einschließlich Starstreak-Raketen; 4,5 Tonnen Plastiksprengstoff; Stormer-Fahrzeuge, die mit Abschussvorrichtungen für Luftabwehrraketen ausgestattet sind; neue Anti-Schiffs-Raketensysteme; mehr als 400 000 Schuss Handfeuerwaffenmunition; mehr als 200 000 Stück nicht-tödliche Hilfsmittel, darunter Helme, Schutzwesten, Entfernungsmesser und medizinische Ausrüstung; Ausrüstung für die elektronische Kriegsführung; Radarsysteme für Gegenbatterien; GPS-Störgeräte; Tausende von Nachtsichtgeräten; Dutzende von schweren Drohnensystemen zur logistischen Unterstützung isolierter Streitkräfte; über zwanzig 155-mm-Artilleriegeschütze vom Typ M109, die auf dem freien Markt erworben und überholt wurden.“ (gov.uk/government/organisations/ministry-of-defence)

[28] „Der Premierminister wird nach Lettland reisen, um am Treffen der Staats- und Regierungschefs der Länder der Joint Expeditionary Force (JEF) teilzunehmen, zu denen das Vereinigte Königreich, die Niederlande, Dänemark, Finnland, Schweden, Norwegen, Island, Estland, Lettland und Litauen gehören, und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wird eine Rede halten. ‚Vom Polarkreis bis zur Isle of Wight haben das Vereinigte Königreich und unsere europäischen Verbündeten im Gleichschritt auf die Invasion in der Ukraine reagiert, und wir sind nach wie vor fest entschlossen, den Frieden in Europa wiederherzustellen‘, sagte Sunak im Vorfeld des Besuchs. ‚Aber um Frieden zu schaffen, müssen wir Aggressionen abwehren, und unsere gemeinsamen Einsätze in der Region sind von entscheidender Bedeutung, um sicherzustellen, dass wir in der Lage sind, auf die schlimmsten Bedrohungen zu reagieren. Ich weiß, dass dieses Gipfeltreffen der Joint Expeditionary Force (JEF) unsere enge Freundschaft und unsere unerschütterliche Unterstützung für die Ukraine nur unterstreichen wird‘, so der Premierminister. Bei dem Treffen sollen auch der Austausch von Informationen zwischen den JEF-Ländern, die Bedrohung der Infrastruktur und hybride Bedrohungen durch russische Aggressionen sowie die verstärkte Unterstützung Finnlands und Schwedens im Vorfeld ihres NATO-Beitritts diskutiert werden. Weitere Ankündigungen zu gemeinsamen Militärübungen werden ebenfalls erwartet.“ (The Guardian, 18.12.22)

[29] Das Drangsal des stets auf seine Souveränität bedachten Großbritanniens, sich in der EU als Führungsmacht durchzusetzen zu wollen und zu müssen und dafür Momente seiner Souveränität an „Brüssel“ abzutreten, und zugleich an dem Führungsanspruch der „deutsch-französischen Achse“ nicht vorbeizukommen, ist Großbritannien mit seinem Austritt aus der Union los geworden. Die Regierungen, die den Brexit durchgesetzt haben, sind überzeugt, dass ihre Nation durch eigene Machtentfaltung und in der Partnerschaft mit den USA mindestens so viel imperialistisches Gewicht besitzt wie vorher als EU-Macht und ganz anders respektiert wird als im dauernden Machtgerangel in und mit Brüssel. Das ist der Staatsmaterialismus, der im Ausstieg aus dem europäischen Staatenbündnis liegt. Dafür nimmt Großbritannien auch – damit verbundene – Einbußen des Wirtschaftswachstums in Kauf. Es dokumentiert damit den Standpunkt eines imperialistischen Staates, für den die Wirtschaft eben eine Funktion hat – für die Souveränität. Mit dem Brexit behauptet der Standpunkt der Souveränität die Oberhoheit über die materielle Basis der Souveränität.

[30] „Der britische Außenminister James Cleverly empfing heute in London die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock zum ersten jährlichen Strategischen Dialog zwischen Großbritannien und Deutschland... Die beiden Minister verpflichteten sich, die Zusammenarbeit bei einer Reihe gemeinsamer Themen zu verstärken, von der weiteren Unterstützung der Ukraine bis hin zu Maßnahmen gegen den Klimawandel. Der britische Außenminister, James Cleverly, sagte: ‚Das Vereinigte Königreich und Deutschland sind die engsten Partner, und wir nutzen die Stärke unserer Beziehungen, um die gemeinsamen Herausforderungen zu bewältigen, vor denen wir heute stehen. Als führende europäische Volkswirtschaften haben wir uns darauf verständigt, bei unserer unerschütterlichen Unterstützung für die Ukraine und bei der Bekämpfung des Klimawandels enger zusammenzuarbeiten.‘ Ein wichtiger Schwerpunkt der heutigen Gespräche war die globale Sicherheit. Beide Außenminister machten deutlich, dass sie die Ukraine in ihrem Kampf gegen die illegale Invasion Russlands nachdrücklich unterstützen und sich verpflichten, Russland für Gräueltaten, einschließlich konfliktbedingter sexueller Gewalt, zur Verantwortung zu ziehen. Das Vereinigte Königreich und Deutschland haben bereits gemeinsam auf Putins Aggression in der Ukraine reagiert und mit der G7 und der NATO zusammengearbeitet, um Russland zu isolieren und die Ukraine zu unterstützen. Mit den heutigen Gesprächen wurde die deutsch-britische Partnerschaft vertieft, um eine noch engere Zusammenarbeit zu ermöglichen.“ (uk.gov, 5.1.23)

 „Großbritannien und Frankreich werden im ersten Quartal 2023 ein Gipfeltreffen abhalten, um ihre militärische und verteidigungspolitische Zusammenarbeit zu verstärken, kündigte der französische Präsident Emmanuel Macron am Mittwoch an, während er seine strategischen Verteidigungsprioritäten für Frankreich und Europa für die kommenden Jahre darlegte, nicht zuletzt als Reaktion auf Russlands Einmarsch in der Ukraine und das wachsende internationale Selbstbewusstsein Chinas. ‚Auch unsere Partnerschaft mit dem Vereinigten Königreich muss auf eine neue Ebene gehoben werden‘, sagte Macron an Bord eines Hubschrauberträgers auf dem Marinestützpunkt im Mittelmeer in Toulon.“ (thelocal.fr, 9.11.22)

[31] Ex-Premier Boris Johnson lobt sich dafür, zwei Monate nach Kriegsbeginn mit einer Reise zu Präsident Selenskyj seinen Teil zur Ablehnung eines in Grundzügen fertigen Abkommens geleistet zu haben, das die Unterhändler der Ukraine und Russlands angesichts der russischen Kriegserfolge ausgehandelt hatten; es sah den Rückzug der russischen Truppen auf die Linien vor dem 24. Februar vor, im Gegenzug die Verpflichtung der Ukraine, jetzt und in Zukunft kein NATO-Mitglied zu werden. Der Premierminister erklärt später dazu im Parlament, dass „es absolut keinen Anhaltspunkt dafür gab, dass Russland einen Vertrag mit der Ukraine wollte, und diesem Land auch dann nicht zu trauen ist, wenn einer auf dem Tisch liegt... Er warnte vor einem Deal ‚Land für Frieden‘ und bezweifelte, dass Wolodymyr Selenskyj oder eine andere ukrainische Regierung einem solchen Kompromiss jemals zustimmen würde. Johnson behauptete, die Lage werde für Präsident Putin von Woche zu Woche schlechter und Großbritannien müsse den eingeschlagenen Kurs halten.“ (BBC News, 22.9.22)

[32] Wer für die Sprengung der Nord-Stream-Pipelines verantwortlich ist, ist ein offenes Geheimnis, jedenfalls in Moskau, das wahlweise London oder Washington oder beide zusammen als Urheber nennt:

 „Am 29. Oktober 2022 beschuldigte Russland das Vereinigte Königreich, an der Sabotage der Nord-Stream-Pipeline 2022 beteiligt gewesen zu sein, die angeblich von der Royal Navy durchgeführt wurde, sowie an den Drohnenangriffen auf den Marinestützpunkt Sewastopol. Das britische Verteidigungsministerium wies die Behauptungen in einer Erklärung zurück und erklärte, Russland gehe ‚mit Lügen epischen Ausmaßes hausieren‘. Anfang des Monats hatte Russland das Vereinigte Königreich auch beschuldigt, an der Explosion der Krim-Brücke beteiligt gewesen zu sein.“ (Wikipedia, s.v. Russia–United Kingdom relations)

[33] Britische Militärs warnen vor zu großer Vorsicht bei der Kriegsunterstützung für die Ukraine und drängen die Regierung zu einer harten Linie, auch gegenüber der US-Administration:

 „Der Chef des Verteidigungsstabs sagte dem Royal United Services Institute: ‚Außergewöhnliche Zeiten erfordern eine außergewöhnliche Reaktion. Das erklärt, warum Russland verliert. Und die freie Welt gewinnt... Wenn wir unseren Zusammenhalt und unsere Entschlossenheit beibehalten, ist der echte Sieg in greifbarer Nähe.‘ Die Ukraine hat diese Woche um mehr Waffen gebeten. General Walerij Saluschnyj, der Chef der ukrainischen Streitkräfte, sagte dem Economist: ‚Ich weiß, dass ich diesen Feind schlagen kann. Aber ich brauche Ressourcen. Ich brauche 300 Panzer, 600-700 Schützenpanzer und 500 Haubitzen‘. Der US-Kongress hat dem Pentagon Anfang des Monats die grundsätzliche Genehmigung erteilt, umfangreiche Waffen für die Ukraine zu kaufen. Der Economist berichtete jedoch, dass diese nicht rechtzeitig für eine Frühjahrsoffensive im nächsten Jahr eintreffen könnten. Einige in Whitehall [britisches Verteidigungsministerium] sehen in diesem Vorgehen ein Zeichen für eine gewisse Vorsicht des US-Präsidenten Joe Biden, der sich Sorgen macht, einen größeren globalen Konflikt zu provozieren. In Whitehall befürchtet man, dass Rishi Sunak die Vorsicht von Joe Biden noch verstärken könnte. Der Informant sagte gegenüber Newsnight: ‚Wir haben die Entschlossenheit der USA auf allen Ebenen gestärkt – mit Druck von unserer Seite, aber immer freundlich. Wir wollen nicht, dass Rishi die Vorsicht von Biden noch verstärkt. Wir wollen, dass er ihn so vorwärtstreibt, wie Boris es getan hat.‘“ (BBC News, 16.12.22)