Der Wirtschaftskrieg wird global und prinzipiell

Ein halbes Jahr nach Beginn des Krieges in der Ukraine bescheinigen die zuständigen Instanzen der Weltwirtschaft einen ausgesprochen schlechten Gesundheitszustand. Der IWF sieht die Welt „am Rande einer globalen Rezession“, und woher dieser unerwünschte Einbruch in der globalen Wirtschaftstätigkeit kommt, ist kein Geheimnis: „Die Inflation und der Krieg in der Ukraine lasten immer schwerer auf der Weltwirtschaft.“ (SZ, 27.7.22) Als maßgebliche Quelle der Teuerung, die inzwischen die meisten Volkswirtschaften ergriffen hat und jede Menge privater und staatlicher Geldrechnungen stört, sind die massiven Steigerungen der Weltmarktpreise für Energie ausgemacht: Die westlichen Weltmächte haben verfügt, dass Russland wegen des Einmarsches in die Ukraine aus dem Weltmarkt ausgeschlossen gehört; als besonders wirkungsvolles Mittel für diesen zerstörerischen Zweck haben sie dessen Haupteinnahmequelle, den Verkauf von Öl und Gas, mit Sanktionen belegt. Diese zerstören – zusammen mit den anderen Sanktionen – jede Menge russisches Geschäft. Und sie produzieren ganz nebenbei auch eine Krisenlage der Weltwirtschaft.

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Gliederung

Der Wirtschaftskrieg wird global und prinzipiell

I. Der Westen produziert eine Weltwirtschaftskrise

Ein halbes Jahr nach Beginn des Krieges in der Ukraine bescheinigen die zuständigen Instanzen der Weltwirtschaft einen ausgesprochen schlechten Gesundheitszustand. Der IWF sieht die Welt am Rande einer globalen Rezession, und woher dieser unerwünschte Einbruch in der globalen Wirtschaftstätigkeit kommt, ist kein Geheimnis: Die Inflation und der Krieg in der Ukraine lasten immer schwerer auf der Weltwirtschaft. (SZ, 27.7.22) Als maßgebliche Quelle der Teuerung, die inzwischen die meisten Volkswirtschaften ergriffen hat und jede Menge privater und staatlicher Geldrechnungen stört, sind die massiven Steigerungen der Weltmarktpreise für Energie ausgemacht: Die westlichen Weltmächte haben verfügt, dass Russland wegen des Einmarsches in die Ukraine aus dem Weltmarkt ausgeschlossen gehört; als besonders wirkungsvolles Mittel für diesen zerstörerischen Zweck haben sie dessen Haupteinnahmequelle, den Verkauf von Öl und Gas, mit Sanktionen belegt. Diese zerstören – zusammen mit den anderen Sanktionen – jede Menge russisches Geschäft. Und sie produzieren ganz nebenbei auch eine Krisenlage der Weltwirtschaft.

Das ist kein Wunder. Die Maßnahmen zur Unterbindung des Exports russischer Energieträger treffen nämlich auf eine für alle weltwirtschaftlichen Akteure existentiell wichtige Abteilung des Weltmarkts. Die Waren, die da gehandelt werden, gelten als „strategische Güter“: Weil Energie als Stoff in jede gesellschaftliche Tätigkeit eingeht, materielles Lebensmittel des gesamten gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses ist, ist die Verfügung über ihn ebenso wie der dafür zu zahlende Preis von überragender Bedeutung – erstens für die Geschäftsrechnung von Firmen aller Art; zweitens deshalb für deren politische Herren und Förderer, die für eine national nützliche Energiepolitik viel Aufwand treiben; eine entsprechend zentrale Rolle spielt Energie deshalb drittens in der Konkurrenz der Nationen um Geld und Macht. Genau wegen dieser zentralen Bedeutung der Energiefrage für die Staatenkonkurrenz gehört der Ausschluss Russlands aus der globalen Energieversorgung zu den zentralen Zielsetzungen des westlichen Wirtschaftskriegs: Das Geld, das der russische Staat da verdient, die ökonomischen und politischen Abhängigkeiten, die er als wichtiger Lieferant bei anderen Staaten stiftet, gehören – da kennen die westlichen Imperialisten sich aus – zu den wichtigsten Quellen der russischen Staatsmacht; von denen ist Russland also unbedingt abzuschneiden. Aus genau dem gleichen Grund allerdings produzieren die Sanktionen eine globale Energiekrise: Indem sie für eine Verknappung des Weltmarktangebots an Öl und Gas sorgen, bringen sie alle staatlichen wie privaten Rechnungen mit diesen unentbehrlichen Gütern durcheinander.

Der Weltenergiemarkt wird aufgemischt

Die in der NATO verbündeten Mächte schaffen es, den Weltenergiemarkt gründlich durcheinanderzubringen und das Preisniveau der gehandelten Güter massiv zu erhöhen, weil sie mit ihrer Konkurrenzmacht diesen Markt beherrschen. Die großen Firmen, die das Geschäft dort machen, nehmen die Freiheit wahr, die diese Staaten, federführend die USA, ihnen mit dem gesicherten Recht auf Zugriff über alle Landesgrenzen hinweg auf die Ware verschafft haben. Ihre geschäftliche Praxis, auf jeder Stufe unterstützt durch die politische Gewalt und Finanzmittel ihrer nationalen Standortverwaltungen, über Jahrzehnte in permanenten Konkurrenzkämpfen – auch politischen bis zu Kriegen – aus-, um- und wieder ausgebaut, hat kommerzielle Machtverhältnisse zwischen staatlichen und privaten Lieferanten, Kunden und Zwischenhändlern etabliert. Diese Beziehungen sind in weltumspannenden Infrastruktureinrichtungen materialisiert und politisch derart verfestigt, dass ganze Staaten ihre maßgebliche politökonomische Bestimmung in ihrer Funktion für das Energiegeschäft haben; als Liefer- oder als Transitländer. Die Macht über diesen Markt liegt, der Natur der Sache gemäß, nicht bei denen, sondern dort, wo die gehandelte Ware im größten Umfang als stoffliches Mittel größten kapitalistischen Wachstums ihren Dienst tut. Ökonomisch vergegenständlicht ist diese Herrschaft in der Währung der USA, dem Dollar; in ihr wird der Handel abgewickelt, also der Tauschwert der Ware gemessen und realisiert, auf ihren Erwerb und Gebrauch sind folglich alle Marktteilnehmer angewiesen. Die Fähigkeit, dieses Geld bereitzustellen, zeichnet die USA als die maßgebliche Macht im Weltenergiegeschäft aus; die Fähigkeit, sich für jeden nutzbringenden kapitalistischen Gebrauch der Ware dieses Geld zu beschaffen, ist ein ganz wesentlicher Bestimmungsgrund für die Konkurrenz der Nationen um Anteile an der Beherrschung dieses Marktes.

Mit dem Beschluss, den Großlieferanten Russland aus diesem Handel auszuschließen, mit ihren einschlägigen Boykottmaßnahmen und sogar schon mit deren Ankündigung mischen die USA und ihre verbündeten großen Konkurrenten diesen Markt gründlich auf. Als politische Herren über diesen Markt definieren sie machtvoll dessen Konditionen neu; so bewirken sie – vermittelt über die geheiligte Freiheit der kapitalistischen Geschäftswelt, gemäß den Prinzipien ihres Warenhandels, seiner Finanzierung und der darauf aufgetürmten Spekulation aus dem total veränderten und unsicher gemachten Verhältnis von Angebot und Nachfrage maximalen Gewinn für sich herauszuholen – ein neues, nämlich viel höheres Niveau höchst volatiler Weltmarktpreise. Schon das macht das kapitalistische Wachstum in vielen Ländern, die sich in weit größerem Umfang als bisher US-Dollars beschaffen müssen, tendenziell kaputt; in anderen wird das Überleben der Gesellschaft prekär. Aber dabei bleibt es nicht.

Die Teuerung wird allgemein

Dieselben Mächte, die maßgeblich um die Beherrschung der Weltenergiemärkte konkurrieren, schaffen es, aus der neuen Konkurrenzsituation für Kaufleute und Staaten in diesem Bereich eine allgemein kritische Wirtschaftslage zu machen, die die verschiedenen nationalen Standorte des globalen Kapitalismus erst recht ganz unterschiedlich betrifft. Sie schaffen das, weil sie mit ihrer Kreditmacht die Weltfinanzmärkte beherrschen und dadurch wesentlich über die Zahlungsfähigkeit resp. -unfähigkeit der anderen Nationen entscheiden.

Mit Kreditmacht ist die für die Staatsgewalt entscheidende Konsequenz aus der Größe und dem soliden, dauerhaften Wachstum der kapitalistischen Wirtschaft eines Landes gemeint: Ein solches Wachstum beruht auf einer umfangreichen Schöpfung und Vergabe von Kredit, der durch seine positive Wirkung, das damit bewerkstelligte Gewinnemachen, als ertragbringender Vorschuss bestätigt, kapitalistisch ins Recht gesetzt wird. Dieser Erfolg rechtfertigt seinerseits die Refinanzierung der gewerblichen nationalen Kreditschöpfung durch die zuständige Staatsgewalt mit dem von ihr geschaffenen Geld, das somit nicht bloß gesetzliches Zahlungsmittel ist, sondern den nationalen Kredit und dessen Leistungsfähigkeit repräsentiert. Der Gebrauch dieses Geldes als Liquidität für im Ganzen gute, erfolgreiche Kreditgeschäfte macht daraus einen kapitalistisch brauchbaren Wertträger. Das befähigt den Staat, mit eigenen Schuldpapieren am Kapitalmarkt anzutreten, die dort als echte Kapitalanlagen, sogar als besonders sichere Investments be- und gehandelt werden. Sie vergrößern das Volumen und damit die Attraktivität dieses Marktes im ernsten geschäftlichen Sinn: Er attrahiert mehr Geldvermögen, auch aus anderen Ländern, für die er Anlagemöglichkeiten schafft, und mehr Kreditnachfrage, für die er Investitionsmittel her- und bereitstellt. Dieser Zirkel, die sich selbst nährende Zentralisation und Vermehrung von Überschüssen und Schuldpapieren am Finanzmarkt eines Landes, befähigt den Staat, für seine Belange, nämlich nicht zuletzt für die Förderung seiner Wirtschaft, immer mehr Kredit in die Welt zu setzen, der nicht bloß seine Zahlungsfähigkeit mehrt, sondern auch den Reichtum derer, die darin investieren; er bestätigt und festigt zugleich die Qualität des nationalen Zahlungsmittels als Geld, dem, richtig verwendet, ein Recht auf Vermehrung innewohnt: als Weltgeld.

Die – die paar – Staaten, die über Kreditmacht in diesem Sinn verfügen – wieder die USA und ihre Verbündeten –, schaffen den Kredit und die Liquidität, die die Teilnehmer am Welthandel in der neuen Geschäftslage benötigen; in erster Instanz, um die explodierenden Preise für Energieträger zu bezahlen. Sie stehen auch ein für die Refinanzierung der Finanzmittel, die die Geschäftswelt in noch viel größerem Umfang benötigt und in Anspruch nimmt, um reihum die marktwirtschaftlich fällige Konsequenz der Energiepreiserhöhung, nämlich nach oben angepasste resp. spekulativ in die Höhe getriebene Preise für teurer produzierte Ware realisieren zu können. Das verallgemeinert und verschärft die Preissteigerungswelle, die schon zu Corona-Zeiten aus verschiedenen Anlässen in Gang gekommen und mit mehr Kredit und Kreditgeld von Staats wegen bewältigt worden ist. Verallgemeinert wird die Teuerung gemäß der Logik der Finanzmärkte in ganz unterschiedlichem Maß und mit unterschiedlichen Folgen für die verschiedenen Nationen. „Geld drucken“ – wie es heißt – können alle Staaten; sie bringen es in Umlauf und befähigen Wirtschaft und Bürger zwangsweise zur Bezahlung steigender Preise. Um die kapitalistische Qualität einer quantitativ vermehrten Währung, ihre Brauchbarkeit für erfolgreiche Kreditschöpfung und als grenzüberschreitend verwendeter Wertträger steht es anders. Da messen sich die Gelder der vielen Nationen ohne nennenswerte Kreditmacht an den Weltgeldern, die immer noch den Gesamterfolg der Kreditschöpfung des Landes repräsentieren. Dieses Sich-Messen findet praktisch statt als Sachzwang für die kapitalschwächeren Nationen, für den Erwerb von Waren aller Art noch viel mehr Weltgeld beschaffen und dafür von dem in eigener Währung gemessenen Reichtum opfern zu müssen, als die Nationen aufzuwenden haben, die die Weltmärkte für Waren, Geld und Schulden mit ihrer Kreditmacht beherrschen.

Aus der allgemeinen Preissteigerungswelle folgt eine weltweite Wirtschaftskrise

Die Staaten, die das zunehmend gefragte Weltgeld haben, weil sie es machen, kommen nicht ungeschoren davon. Sie garantieren ja weltweit, also auch bei sich, die Freiheit der Kapitalisten, aus steigenden Kosten umso stärker steigende Preise zu machen; und sie ermächtigen sie, diese Preise auch durchzusetzen, weil bzw. soweit die Banken dank staatlicher Refinanzierung die benötigten Finanzmittel bereitstellen. Auch bei ihnen bläht folglich die allgemeine Teuerung das Volumen des zirkulierenden Zahlungsmittels im Verhältnis zur zu bezahlenden Ware auf, steigert den nominellen Umsatz ohne entsprechenden Zuwachs an realer kapitalistischer Macht über die lebenden und unbelebten Ressourcen des nationalen Geschäfts; ein Effekt, der wegen seiner Allgemeinheit als Wertverlust der Einheit des Zahlungsmittels registriert und als Inflationsrate beziffert wird.

Das muss noch kein allgemeiner Schaden sein; solange die vom Weltenergiemarkt ausgehende Teuerung von den und für die Kapitalisten durch reihum weitergereichte Preiserhöhungen zu kompensieren ist, die Wirtschaft „inflationsbereinigt“ also weiter wächst, geht ein solches Übermaß an vorgeschossenem Geld in Ordnung. Allerdings stockt dieses Abwälzen der Teuerung von einem Marktteilnehmer auf den anderen bei der Ware, die für ihre kapitalistischen Käufer ihren Gebrauchswert darin hat, mehr Geld zu schaffen als zu kosten: Die lohnabhängigen Arbeitskräfte bleiben fürs Erste auf ihr vertraglich ausgemachtes Entgelt festgelegt. Aus gutem Grund: Dass die Lohnkosten nominell dieselben bleiben, schlägt nämlich bei einer schon fast zweistelligen Inflationsrate für die lohnzahlende Wirtschaft als reale Lohnsenkung, also deutlich gesteigerter Nutzen zu Buche; und den lässt sich die Klasse der Arbeitgeber auch nicht nehmen. Ganz von selbst vergrößert die allgemeine Steigerung der Marktpreise, die und soweit sie vor dem Preis für Arbeit Halt macht, die Produktivität ihres Kapitals, die in der Differenz zwischen Vorschuss und Ertrag besteht; in dem Fall ganz ohne den Aufwand für technisch produktiver gemachte Arbeit, mit dem die Unternehmer sonst die Ergiebigkeit dieses Faktors für ihre Profitbilanz steigern. Das Konzept der Lohn-Preis-Spirale, dem zufolge ein an die Inflation angepasstes Arbeitsentgelt nicht den Kreislauf der Überwälzung nominell gestiegener Produktionskosten marktgerecht vollendet, sondern unweigerlich als neuer zusätzlicher Kostenfaktor wirkt und die Kapitalisten zu einer erneuten Preiserhöhungsrunde zu Lasten des Kostenfaktors Arbeit zwingt, übersetzt das Interesse an dieser bequemen Art zusätzlicher Bereicherung in ein Sachgesetz. Diese automatische reale Lohnsenkung, die die Vermehrungsmacht des Faktors Kapital steigert, hat nur die Kehrseite, dass damit die Kaufkraft dahinschwindet, die die Wirtschaft für die Realisierung der Preise ihrer rentabler produzierten Ware, also des darin enthaltenen höheren Überschusses, somit des programmierten, im Kredit vorweggenommenen Wachstums braucht. Über das Finanzgewerbe verallgemeinern sich diese Defizite, als Verlustrate ablesbar am Niedergang der Kurse an den nationalen Börsen. So macht sich auch hier, als Konsequenz einer von den führenden Wirtschaftsmächten veranstalteten und refinanzierten großen Teuerungswelle, in der befürchteten, eintretenden oder schon längst realen Rezession der letzte Grund der kapitalistischen Krise geltend: der Ausschluss der Marktteilnehmer, die als Faktor Arbeit ihr Geld verdienen, vom Zugriff auf die Produkte ihrer Arbeit.

Ein kontraproduktiver Konkurrenzkampf gegen die Krise

Staatsgewalt und Kapital an den Standorten mit den maßgeblichen Finanzmärkten und dem guten Geld leisten mit ihrer Kreditmacht und ihrer starken Stellung im Welthandel einiges dafür, den Schaden, der ihnen aus dem Einbruch der Zahlungsfähigkeit ihrer lohnabhängigen Kundschaft erwächst, auf ihre ohnehin schwächer positionierten Partnerländer abzuwälzen; dafür steht unter anderem der teilweise schon in die Tat umgesetzte Beschluss, sich bei der Güterbeschaffung von ausländischen Billiganbietern unabhängig zu machen und so den Abfluss von Kaufkraft ins Ausland zu verhindern. Doch schon ohne solche Verschiebungen in den internationalen Konkurrenzverhältnissen büßen viele Nationen Zahlungsfähigkeit auf den Weltmärkten ein: durch die Entwertung ihres Kreditgelds im Verhältnis zu dem der kapitalistischen Großmächte. Das alles schlägt natürlich auf die Staaten des vereinigten Westens zurück, von deren Eingriff in den Weltenergiemarkt und von deren Kreditmacht die ruinöse weltweite Teuerungswelle ausgeht: Im Geschäftsverkehr mit Ländern, die ihre Schulden nicht mehr bedienen und auf den Weltmärkten nicht mehr einkaufen können, erleiden die Kapitalisten gerade infolge ihrer Konkurrenzmacht Einbußen an Umsatz und Gewinnen; den Kredithändlern fehlen die Rückflüsse, die den Wert ihrer Guthaben begründen. Die Verelendung ganzer Länder verschärft die Krise dort, wo sie gemacht wird.

Eben dort erkennen die wirtschaftspolitisch Verantwortlichen durchaus einen Zusammenhang zwischen der Inflation, die sie mit staatlich geschaffener Liquidität nähren, und der Rezession, die sie auch auf ihre Länder zukommen sehen. Den legen sie sich professionell so zurecht, dass sie es mit der Geldschöpfung übertrieben hätten: Augenscheinlich sind im Verhältnis zum realen, d.h. in inflationsbereinigtem Geld gemessenen Wirtschaftswachstum einfach zu viele Zahlungsmittel in Umlauf; so viel zu viele, dass die Rate der Geldentwertung mehr als das erwartete Wachstum auffrisst. Die tautologische Problemdefinition ist auf die Lösung, nämlich das Steuerungsmittel hin konstruiert, das sie in der Hand haben: Der Geldüberhang muss weg, die für Umsatz und echtes Wachstum nötige Geldmenge mit dem Wert der umzusetzenden Ware wieder zur Deckung gebracht werden. Angesagt ist eine Verknappung der liquiden Mittel, die sie den Banken gemäß deren Bedürfnissen zur Verfügung stellen. Damit die weniger Geld abrufen, wird es durch höhere Zinsforderungen verteuert. So wird nach den Regeln der geldpolitischen Kunst die Teuerungswelle gebrochen – oder auch nicht.

Die Rezessionsgefahr ist damit jedenfalls noch nicht aus der Welt; das ist den Währungshütern selber klar. Schließlich verteuert der Zins, den sie erhöhen, nicht bloß das zirkulierende Kreditzeichen, sondern den Kredit, belastet also das von preiswerter Finanzierung abhängige nationale Wachstum. Dem Nachteil steht andererseits der positive Effekt gegenüber, der für die maßgeblichen Wirtschaftsnationen auch wieder ganz wesentlich ist: Die Nachfrage nach ihrer Währung steigt, folglich auch ihr Wert, wenn Geldanlagen in ihrem Kreditgeld höher rentieren. Auch diese gute Wirkung hat freilich ihre Kehrseite: Für die große Masse der Nationen werden US-Dollars und Euros tendenziell unerschwinglich; die Zahlungsfähigkeit der auswärtigen Kundschaft schwindet weiter dahin; sie taugt immer weniger als Gegenwirkung gegen die Umsatz- und Wachstumsverluste, die die Führungsmächte der Weltwirtschaft sich daheim mit der inflationären Verbilligung der nationalen Arbeitskraft einhandeln. So wird also erst einmal geschrumpft.

Ein externer Effekt kommt noch hinzu, der wieder an den Ausgangspunkt des ganzen Desasters zurückführt und insofern auch als selbstverschuldet zu verbuchen ist: Die Eliminierung Russlands aus dem Weltgeschäft im Allgemeinen, aus dem Weltenergiemarkt im Besonderen sollte und soll nach wie vor den Feind ökonomisch kaputtmachen, nicht die NATO-Länder, die diese Strafaktion verfügen. Russland hält aber nicht nur Stand. Es nutzt die allgemeine Teuerungswelle, um daran mehr zu verdienen, als es an verteuerten Einkäufen auf den Weltmärkten verliert, die ihm sowieso weitgehend versagt werden. Es kann sogar, ganz gegen das Programm des westlichen Wirtschaftskriegs, durch verbilligte Sonderangebote insbesondere von Energieträgern Kunden und Einfluss gewinnen. Und es ist in der Lage, Europa mit eigenen Gegensanktionen, speziell beim Gasexport, so weit in die Enge zu treiben, dass eine unbestechliche Finanzwelt beim Vergleich der kapitalistischen Großmächte das europäische Wirtschaftswachstum eher skeptisch beurteilt und Börsenkurse wie den Dollarkurs des Euro herunterspekuliert.

Für die NATO-Mächte ist das allerdings – einstweilen – nur ein Grund mehr, umso entschlossener gegen Russlands Wirtschaftsbeziehungen vorzugehen, international die Reihen zu schließen und die Ausgrenzung des Feindes aus dem globalen Geschäftsverkehr voranzutreiben. Mit ihrer Macht, an den Weltmärkten Bedingungen zu schaffen, die den Kapitalismus weltweit in eine Krise eigener Art stürzen, gehen sie auf die Staatenwelt los, um sie auf Linie zu bringen – bedenkenlos dagegen, dass sie so noch viel mehr Weltwirtschaft ruinieren.

II. Die Verallgemeinerung des Wirtschaftskrieges zur neuen Weltlage rührt an die Grundlage der bisherigen

Die Europäer komplettieren ihr Sanktionsregime und konkurrieren um die Bewältigung der Folgen

Vor allem die Staaten, die den ostatlantischen Pfeiler des kapitalistischen Freien Westens ausmachen, haben mit ihren in den letzten Jahrzehnten geknüpften und weidlich ausgenutzten Wirtschaftsbeziehungen zu Russland nun die Ehre einer entscheidenden Rolle im Wirtschaftskrieg. Dass Russland sich mit seiner Invasion der Ukraine an den Ansprüchen des westlichen Staatenkollektivs auf letztinstanzliche Kontrolle aller Staatenverhältnisse auf der Welt und insbesondere auf ihrem Kontinent vergeht: darüber sind sie sich – mit Abstrichen – sehr schnell einig geworden. Dass Russland damit neben der Ausrüstung der Ukraine für fortgesetzte militärische Gegenwehr einen Wirtschaftskrieg verdient, der seine ökonomische Basis für solche Unverschämtheiten nachhaltig ruiniert: auch darüber sind sie sich – mit ein paar mehr Abstrichen – im Prinzip noch einig geworden.

Ökonomisch stehen sich die in allen hohen antirussischen Werten verbundenen europäischen Staaten aber als Konkurrenten gegenüber; die Bewältigung der wirtschaftlichen Konsequenzen des Wirtschaftskrieges fällt ihnen in dieser Eigenschaft zu. Sie konkurrieren nicht nur gegen den Rest der Welt, sondern gegeneinander um die Aushaltbarkeit und Bewältigung der Krise mit den zu dieser gehörenden Wirkungen auf ihren nationalen Kapitalstandort, ihre nationale Kreditwürdigkeit und ihr Geld. Auf diesem Felde tun sich darum auch in Europa alle einschlägigen Unterschiede in der kapitalistischen Leistungsfähigkeit der nationalen Standorte und in der Kreditmacht der nationalen Standorthüter auf. Und auch in Europa ist das Spektrum ansehnlich, auf das sich die Nationen ausweislich aller Zahlen über Wachstum bzw. Wachstumseinbrüche, der – allemal im Spread zu deutschen Staatsschulden gemessenen – Ziffern bezüglich ihrer jeweiligen Kreditwürdigkeit und der in Prozenten angegebenen nationalen Inflationsraten verteilen.

Vom sowieso in Europa und erst recht in der Eurozone installierten Standpunkt einer gemeinsamen Bewirtschaftung des europäischen Kapitalstandorts als Raum ihrer Konkurrenz, vor allem aber vom Standpunkt der gemeinsamen Feindschaft gegenüber Russland aus stellt sich für sie nun die Aufgabe, die national ganz unterschiedlichen Wirkungen des Wirtschaftskrieges und die national ebenso ganz unterschiedlichen Potenzen zu deren Bewältigung in irgendeine Form kollektiver Bewältigung zu überführen, die ihre Front gegen Russland beisammenhält bzw. erst so richtig schließt. Ihre ökonomische Krisenkonkurrenz überführen sie in das Ringen um ein gesamteuropäisches Ensemble von Sanktionen, Ausnahmen von Sanktionen, erlaubten nationalen Rettungsmaßnahmen, verpflichtenden Solidaritätsmaßnahmen, Beiträgen zur gemeinsamen Emanzipation von russischen Energielieferungen, wiederum Ausnahmen davon usw. usf.

In dieses Ringen bringen sie alle jeweils den Status ein, den sie sich bis dato innerhalb der europäischen Konkurrenz und ihrer gemeinsam verwalteten Ordnung erobert haben. Das heißt für die einen, ihre lieben Partner mit der Perspektive des demnächst eintretenden nationalen Gesamtruins zu beeindrucken und mit der Alternative zu drohen, mit Blick auf die national nicht aushaltbaren Konsequenzen der gemeinsamen Feindschaft diese selbst neu zu befragen. Ihre Relevanz erhalten solche gegenüber den europäischen Freunden allein eher machtlosen Vorstöße vor allem dadurch, dass Russland mit Angeboten zu gedeihlichen bilateralen Ausnahmen von seinem Wirtschaftskrieg auf der Matte steht. [1] Dagegen setzt insbesondere die Führungsmacht ihre Forderungen nach innereuropäischer Solidarität und unterfüttert die mit dem – als Argument in einer solchen freundschaftlichen Auseinandersetzung viel solideren – Verweis darauf, dass vom Zustand der deutschen Wirtschaft, die den Rest Europas zu ihrer ökonomischen Verfügungsmasse und Peripherie gemacht hat, für alle anderen das ökonomische Überleben abhängt. [2]

Der Umstand, dass der von ihnen beschlossene Wirtschaftskrieg gegen Russland wegen seiner Rückwirkungen neue Gegensätze zwischen den europäischen Staaten aufrührt und damit alte verschärft, lässt sich zwar ideologisch wunderbar dafür nutzen, auch dies noch dem schlimmen Finger im Kreml vorzuwerfen, praktisch bleibt es aber dabei: Der Krieg gegen Putin strapaziert die europäische Einheit. Die gilt es darum ebenso unbedingt zu sichern wie die Fortsetzung des antirussischen Zwecks, der sich als so spalterisch erweist. Über die Schäden des Wirtschaftskrieges und ihre Bewältigung hinaus hat sich Europa – wieder einmal – eine neue widersprüchliche Schicksalsfrage angelacht. Die dreht sich – wieder einmal – um den fundamentalen Gegensatz, der Europa immer schon bestimmt: den unauflösbaren Streit zwischen nationaler Souveränität und dem Versprechen, durch die Relativierung nationaler Souveränität den Materialismus eines jeden nationalen Kapitalstandorts zu befördern. Dieser Gegensatz bekommt jetzt seine besondere Schärfe erstens dadurch, dass jetzt nicht um Wachstum, sondern um die Bewältigung teils existentieller wirtschaftlicher Schäden konkurriert wird, und zweitens durch den erreichten Stand an Vergemeinschaftung, mit dem sich die beteiligten Nationen voneinander existentiell abhängig gemacht haben.

Das ist die speziell europäische Fassung des Gegensatzes, mit dem der Westen durch seinen Wirtschaftskrieg die ganze Welt in nie dagewesener Weise behelligt.

Die Universalisierung des Sanktionsregimes: Notwendigkeit und Rechtsanspruch westlicher Wirtschaftskriegsführung

Die Schwierigkeiten, auf die der Westen mit seinem Programm stößt, Russland ökonomisch zu erdrosseln, verbunden mit den wachsenden Unkosten, übersetzen die Befehlshaber des antirussischen Feldzuges in die Notwendigkeit, die Sanktionsfront gegen Russland zu globalisieren. Tatsächlich ist ja unübersehbar, dass Russlands Bemühungen, den auf seine Zerstörung abzielenden Sanktionen zu widerstehen und denen auch mit Gegensanktionen zu begegnen, wesentlich davon leben, dass sich zahlreiche, darunter auch einigermaßen potente Nationen, dem Sanktionsregime nicht angeschlossen haben.

Die Verlautbarungen, mit denen die westliche Diplomatie den Rest der Welt mit ihrem Bedarf nach allseitigem Mittun beim Wirtschaftskrieg konfrontiert, beweisen freilich, dass der westliche Standpunkt, der auf den einschlägigen Foren vorgebracht wird, über den einer der stockenden Erfüllung ihres Kriegszwecks geschuldeten Notwendigkeit oder gar Notlage hinausreicht. Formuliert wird ein Rechtsanspruch auf antirussische Gefolgschaft. Zum Beispiel so:

„Wir, die Führer der G7, haben uns an einer kritischen Wegscheide für die globale Gemeinschaft getroffen, um Fortschritte bei der Herstellung einer gerechten Welt zu machen. Als offene Demokratien, die sich an das Regelwerk des Rechts halten, lassen wir uns durch gemeinsame Werte leiten und sehen uns an unsere Verpflichtung auf die regelbasierte multilaterale Ordnung und universelle Menschenrechte gebunden. Wie in unserer Erklärung zur Unterstützung für die Ukraine dargestellt, stehen wir vereint bei der Unterstützung der Regierung und des Volkes der Ukraine in ihrem Kampf für eine friedliche, wohlhabende und demokratische Zukunft. Wir werden fortfahren, dem Putin’schen Regime harte und unmittelbar wirksame ökonomische Kosten aufzuerlegen als Antwort auf seinen nicht zu rechtfertigenden Angriffskrieg gegen die Ukraine; zugleich werden wir unsere Bemühungen verstärken, dessen nachteiligen und schädlichen regionalen und globalen Auswirkungen entgegenzuwirken, mit Blick auf die Sicherung der globalen Energie- und Lebensmittelversorgung sowie zur Stabilisierung der ökonomischen Erholung. Zu einer Zeit, in der die Welt von Spaltung bedroht ist, werden wir gemeinsam zu unserer Verantwortung stehen und mit Partnern auf der ganzen Welt zusammenarbeiten, um Lösungen für globale Herausforderungen zu finden.“ (Abschlusserklärung des G7-Gipfels in Elmau, Juni 2022)

Das ist bei allem verlogenen Pathos doch sehr deutlich. Mit der Selbstkennzeichnung als offene Demokratien bestehen die G7-Führer darauf, dass ihr Kampf gegen Russland unverhandelbar ist: Mit der Beschwörung gemeinsamer Werte heben sie ihren Gegensatz zu Russland und dessen von ihnen derzeit betriebene Eskalation in den Rang einer Systemkonkurrenz, die zu führen und zu gewinnen sie sich schuldig sind. Und mit den Schlagworten Regelwerk des Rechts und regelbasierte multilaterale Ordnung stellen sie zugleich klar, dass das Beharren auf ihrer speziellen Vorzüglichkeit gerade nicht so zu verstehen ist, dass der Kampf gegen Putins Russland nur ihr Kampf wäre, sondern dass das Gegenteil gemeint ist: Sie beanspruchen damit die Gefolgschaft aller anderen Staaten – eben mit dem ausdrücklichen Verweis auf die Allgemeinheit des Regel- und Ordnungswerks und die Universalität der darin prozessierenden Werte, an denen sich der große Feind mit seinem Angriffskrieg ebenso vergangen hat wie an der Regeltreue und Ordnungsliebe aller anderen, die der Westen in diesem Sinne auch als Opfer der russischen Aggression anspricht. Die tatsächlich schon längst verallgemeinerten Unkosten ihrer Konfrontation mit Russland verschweigen die G7-Repräsentanten keineswegs, im Gegenteil: Sie beschwören die nachteiligen und schädlichen regionalen und globalen Auswirkungen vor allem im Bereich der für alle staatlichen Herrschaften existentiellen Energie- und Ernährungssicherheit geradezu, die sie kaputtgemacht haben. Das hat nicht nur den Zweck, die destruktiven Konsequenzen komplett Putins Russland in die Schuhe zu schieben, sondern so reklamieren sie ihre Zuständigkeit für deren – mit dem antirussischen Kriegsziel kompatible – Betreuung und erklären das zum abschließend guten Grund, ihnen zu folgen. [3]

Ein bisschen weniger pathetisch geht es dann zu, wenn diejenigen Nationen in die Pflicht genommen werden sollen, deren Kollaboration für den Erfolg des westlichen Vorgehens als notwendig eingestuft wird, was in besonderem Maße zwei asiatische Aufsteiger betrifft.

Gegenüber China melden die USA und ihre Allianz ihre Forderung von vornherein verbunden mit dem Verdikt an, dass sich die zweitgrößte kapitalistische Volkswirtschaft der Welt mit ihren intensiven ökonomischen und politischen Beziehungen zu Russland und mit dem Versuch, das westliche Sanktionsregime zu missachten, moralisch ins Unrecht setze. Das diplomatische Mantra der Volksrepublik von der ungeteilten Gültigkeit des weltweiten Friedens- und Souveränitätsgebotes werde komplett unglaubwürdig, wenn sie diesen Waffengang, bei dem ausnahmsweise einmal nicht eine westliche Kampftruppe irgendwo einmarschiert ist, nicht verurteile und sich den westlichen Strafsanktionen nicht anschließe. [4] Dass diese Nation – und andere, die sich ähnlich verhalten – letztlich sich selbst schadet, ist dann stets spätestens das zweite Wort. Die USA und ihre Verbündeten lassen sich in ihrem groß dimensionierten Unternehmen, Russland aus dem Weltmarkt herauszuamputieren, jedenfalls nicht vom Unwillen solcher Staaten wie China abbringen. Sie sind sich umgekehrt sicher, dass ihre Entschlossenheit allein schon so viel schädliche Konsequenzen entfalten wird, dass die Nachzügler schon wegen ihrer eigenen Betroffenheit im Sinne westlicher Ansprüche zu beeindrucken sind [5] – noch bevor man sie unmittelbar selbst zum Ziel von entsprechenden Maßnahmen macht. [6] In diesem Zusammenhang finden westliche Politiker auch nichts dabei, China ausdrücklich auf seine ökonomische und politische Bedeutung, auch und gerade im Verhältnis zu Russland, anzusprechen – sie sagen ja immer gleich dazu, dass sie daraus die Pflicht ableiten, dass China damit „verantwortungsvoll“ umgeht.[7]

Auch Indien wird von den Westmächten angegangen: Als inzwischen drittgrößtem Ölverbraucher der Welt mit seiner großen Schwellenlandökonomie, seinem riesigen Volk und ebenfalls besten Beziehungen zu Russland in allerlei strategischen Fragen von Energie bis Rüstung kommt der Entscheidung dieses Landes, wie es sich zu der neuen Gretchenfrage der Weltpolitik verhält, in den Augen der westlichen Russlandfeinde einige Bedeutung für den Erfolg ihres Kampfes zu. Auch Indien wird vom Westen mit der Frage konfrontiert, ob es sich das Risiko einer falschen Antwort auf diese Frage, die keine ist, wirklich leisten will – mit nicht sehr konkreten Andeutungen für die Zukunft und mit viel konkreteren Verweisen auf die Abhängigkeit Indiens von seinem Einbau in die Weltwirtschaft, und nicht zuletzt in Bezug auf das laufende Projekt einer vertieften westlich-indischen Partnerschaft gegen Indiens großen Rivalen China. Zum Beweis dafür, dass Indien in diesen Hinsichten einiges zu verlieren, aber eben auch zu gewinnen hat, werden Angebote gemacht, [8] während dem Land gleichzeitig zu verstehen gegeben wird, dass es bei weiterhin fehlender Compliance bezüglich der antirussischen Sanktionen selber vor Sanktionen nicht sicher ist. [9]

Ganz ohne eine formelle Ausweitung der Sanktionen dürfen die Sanktionspolitiker des Westens registrieren, dass ihre bisherigen Maßnahmen auch schon in gewissem Umfang wirksam werden, weil für die betroffenen Länder und ihre kapitalistischen Unternehmer das Risiko zukünftiger Schwierigkeiten im Handel mit den USA und Europa tatsächlich gegen den unternehmerischen bzw. staatlichen Nutzen des Handels mit dem verfemten Russland abzuwägen ist. [10]

Die Grundlage der Durchschlags- und Überzeugungskraft westlicher Sanktionspolitik: Weltkapitalismus ist Dollarkapitalismus

Ein anderes Indiz dafür, wie sehr insbesondere amerikanische Sanktionen gegen Russland auch für Drittstaaten spürbar Wirkung zeigen, finden die Administratoren des Wirtschaftskrieges in den unübersehbaren Bemühungen einer Reihe dieser Staaten, sich in bestimmten Technologiebereichen, vor allem aber auf dem Feld des Geldverkehrs und der finanzkapitalistischen Institutionen resilient gegenüber den Kollaborationsansprüchen des Westens zu machen – sie haben es offenbar sehr nötig. Was die Erfolgsaussichten ihrer Suche nach Alternativen anbelangt, gibt sich zum Beispiel die amerikanische Finanzministerin optimistisch:

„Ich denke, was Staaten wie Russland jetzt bezüglich des Dollar erfahren, ist die Macht der Partnerschaft zwischen den USA und den Alliierten und die Wichtigkeit des Dollar und des Euro als Währungen, in denen Transaktionen stattfinden, als Instrument, um Sanktionen aufzuerlegen, die extrem kostspielig sein können. Und es gibt Staaten, die gerne ein System erfinden würden, das sie von der Abhängigkeit vom Dollar befreit, aber ich denke, es wird eine lange Zeit dauern, wenn überhaupt, bevor der Dollar als Hauptreservewährung in der globalen Ökonomie ersetzt wird. Und das ist grundsätzlich so wegen der gestärkten Rolle der US-Ökonomie, der Stärke unseres Finanzsystems, der Tatsache, dass wir Rechtsinstitute und tiefe Finanzmärkte haben, die dafür sorgen, dass Investoren aus der ganzen Welt sich sicher fühlen, sich auf den Dollar zu verlassen als Vermögenswert und Zahlungsmittel. Sodass es das Bedürfnis gibt, Sanktionen zu vermeiden und den Dollar zu ersetzen; aber ich glaube nicht, dass es sehr wahrscheinlich ist, dass wir das erleben werden.“

Was sie da anspricht, das ist die ökonomische Substanz der Zwingmacht westlicher Sanktionen gegenüber Feinden und allen anderen und damit die Universalität westlicher Gefolgschaftsansprüche, die eben doch nicht auf dem Felde der hohen moralischen Werte und der Anhänglichkeit an die Regelbasiertheit zwischenstaatlicher Beziehungen angesiedelt ist. Mit dem Hinweis auf die Unwahrscheinlichkeit möglicher Alternativen verweist sie auf die global gültige Identität von Kapitalismus und Dollarreichtum. Tatsächlich liegt diese Identität der Wirksamkeit westlicher Sanktionen zugrunde. Die allererste und reale ‚Regel‘ des regelbasierten Weltmarkts, auf dem sich alle Nationen der Welt tummeln, besteht ja darin, dass die einzig wirklich und ohne Abstriche global gültige Geldform kapitalistischen Reichtums im amerikanischen Dollar vorliegt. An der Masse, in der Transaktionen stattfinden – zwischen den Kapitalisten, den Finanzkapitalisten und den Staaten der Welt – macht sich quantitativ geltend, dass der Dollar diese qualitative Sonderstellung innehat; was im Umkehrschluss heißt: Jedes andere nationale Geld ist nur im Verhältnis zum Dollar ein gültiger und mit Abstrichen brauchbarer Repräsentant abstrakten kapitalistischen Reichtums, nur im Maße seiner realen Umtauschbarkeit in Dollar ein Mittel zur kapitalistischen Geldvermehrung weltweit – das drückt die gute Frau so funktionalistisch als Abhängigkeit vom Dollar aus. Womit sie sagen will, dass alle Welt auf den Zugang zu den „tiefen“, i.e. den Weltkreditmarkt beherrschenden amerikanischen „Finanzmärkten“ existentiell angewiesen ist und deshalb einfach daran interessiert sein muss, sie dauerhaft zu benutzen.

Für die imperialistische Macht USA fällt damit ihr Interesse an und Nutzen aus der Weltökonomie mit der Verlässlichkeit der politökonomischen Prämissen und Prinzipien des globalisierten Kapitalismus und seiner Geschäftsordnung gegenüber allen Konjunkturen und Bestrebungen nach Modifikationen und Ersatzvornahmen weitgehend zusammen: Der Nutzen besteht in seinem Kern nicht darin, dass Amerika ganz außerordentlich viel Reichtum am Rest der Welt verdient – das tut es außerdem auch noch –, sondern darin, dass die Welt – die Staaten, die ihr Innenleben mit ihrer Gewalt dafür herrichten, und deren private Kapitale, soweit sie über solche verfügen – in Verfolgung ihres Materialismus amerikanischen, nämlich auf Dollar lautenden Reichtum verdient und vermehrt. Auf der Ebene des Kredits bedeutet das: Die ökonomische Nützlichkeit der Welt für Amerika liegt nicht darin, dass das reiche Amerika als Gläubiger allen anderen Staaten Zinsen abknöpft, sondern dass umgekehrt die Schulden Amerikas so alternativlos das Geschäftsmittel des Weltkapitalismus sind, dass sich für die USA damit die Frage erledigt hat, ob und in welchem Maße sie sich ihre Schulden leisten können. Alles zusammen reproduziert permanent genau dieses Verhältnis, legt den Materialismus aller am Weltkapitalismus Beteiligten auf den amerikanischen Stoff und damit auf den amerikanischen Nutzen fest – und ist in diesem Sinne bleibend alternativlos.

Das ist es, was die USA regelmäßig als Instrument, um Sanktionen aufzuerlegen, die extrem kostspielig sein können, also als ökonomisches Ordnungsmittel benutzen. Das Recht dazu sprechen sie sich einfach zu, indem sie es praktizieren. Unter Ausnutzung des Dollar-Charakters der Weltwirtschaft und des damit einhergehenden schieren Umfangs der Geschäfte, die unmittelbar im Dollar-Raum und in den verbündeten Euro-, Pfund- und Yen-Räumen stattfinden, schließen sie nun Russland von der Beteiligung an der Dollar-, also ihrer Weltwirtschaft aus und setzen auf die Nötigungseffekte für alle anderen. [11] So: schlicht praktisch und rein negativ, per Entzug, behandeln die USA die bisherige Beteiligung Russlands – und am Fall Russlands die aller anderen Staaten auch – am Weltmarkt als widerrufliche Lizenz, von der damit zugleich feststeht, wer sie vergibt. [12] Und dass sie sich dieses Recht nicht einfach anmaßen, sondern es im entscheidenden, substantiellen Sinne haben, erweist sich daran, wie sie es praktizieren: als Exekution ihrer Rechtshoheit über ihre Finanz- und sonstigen Märkte. Den Weltfinanz- und Wirtschaftskrieg gegen Russland führen die USA und ihre zweitrangigen Verbündeten pur im Binnenverhältnis zwischen westlichen Gesetzgebungsinstanzen, nachgeordneten Finanzmarkt- und Wirtschaftsaufsichtsbehörden und den ihrer Aufsicht unterfallenden Finanzmarktakteuren und Unternehmen.

Das provoziert eine Antwort beim so betroffenen und gemeinten anderen Teil der kapitalistischen Welt, die den Widerspruch dieser westlichen Anti-Russland-Politik offenlegt.

Die Reaktionen – berechnendes Mitmachen, Entzug, Opposition – und deren Grundlage: Dollarkapitalismus funktioniert nur als Weltkapitalismus

Was die restlichen Staaten die Kriegsherren des Westens – zum entrüsteten Erstaunen der Öffentlichkeit dort – als erstes spüren lassen, ist ihr Desinteresse an der weltpolitischen Entmachtung Russlands. Der Kampf der großen atomaren Mächte ist nicht ihr Kampf, weder pro noch contra Russland. Das heißt für eine erkleckliche Mehrheit dieses zumindest zahlenmäßig größeren Teils der Staatenwelt: Sie haben andere Probleme, oft genug existentieller Art, in und mit der Weltwirtschaftsordnung, in die sie eingebaut sind, in der sie ihr nationales Auskommen suchen und mit deren ruinösen Seiten sie ihre Völker vornehmlich Bekanntschaft machen lassen. [13] Und auch die Bessergestellten unter ihnen, die mit ihrer Beteiligung am Weltmarkt, d.h. mit der Öffnung und Zurichtung ihres Landes fürs westliche Kapital, eine nationalkapitalistische Karriere hinbekommen haben, teilen das Anliegen des Westens nicht, Russland als Großmacht zu bekämpfen.

Zweitens haben viele von ihnen sogar – gemessen an ihren staatlichen Nöten, Notwendigkeiten, Ambitionen – ganz nützliche bis existentiell wichtige ökonomische Beziehungen zu Russland; in dieser Hinsicht geht es ihnen prinzipiell nicht anders als den Europäern, die sich durch ihre Sanktionspolitik eine Energienotlage und eine einsetzende Rezession eingehandelt haben. Diese Verbindungen mit Russland reichen, von Land zu Land verschieden, von Nahrungs- über Energie- und Rohstoffhandel über gemeinsame, teils ziemlich kapital- und technologieintensive Erschließungsprojekte in Sachen Bodenschätze bis hin zum Handel mit High-Tech-Gütern ziviler und nicht zuletzt und nicht zu knapp auch militärischer Art. Vieles davon wird im Zuge des Wirtschaftskrieges und der durch ihn teils bezweckten, teils dem wunderbar bewusstlosen Anarchismus der Marktwirtschaft entspringenden Konsequenzen zerstört. Warum also sollten sie sich in die Front gegen Russland einreihen?

Drittens bieten sich bzw. bietet Russland ihnen auch Gelegenheiten, sich durch eine Verweigerung der vom Westen geforderten Kollaboration ein paar der drohenden oder eingetretenen Schäden zu ersparen oder gar ein paar extra günstige Angebote wahrzunehmen. Das sieht wiederum je nach wirtschaftlichem Status der so von Russland umworbenen Staaten unterschiedlich aus und reicht wieder von der leidigen Ernährungsfrage [14] bis hin zu neuen Deals im Bereich Energie. [15]

Die praktischen Reaktionen auf die westlichen Aufforderungen zu antirussischer Frontbildung gestalten sich unterschiedlich. Sie reichen von Versuchen, irgendwie die Konsequenzen auszuhalten, über berechnendes Einschwenken in die westliche Phalanx bis hin zu offenen Absagen. Insgesamt aber ist eines eindeutig: Der Westen trifft mit seinem Anspruch der Universalisierung seines Krieges auf eine mit seinen bis dato gehandhabten Überzeugungsmitteln nicht überwindbare Schranke. Er ist mit der von Land zu Land unterschiedlich ausgeprägten Mischung aus praktischer bis existentieller Unfähigkeit und verhaltenem bis ganz entschiedenem politischem Unwillen konfrontiert, sich den Anti-Russland-Feldzug zu eigen zu machen.

In Gestalt dieser Schranke macht sich der Widerspruch geltend, den der Westen sich leistet mit seinem Beschluss, Russland aus dem Weltkapitalismus zu expedieren und dafür – notwendigerweise – die ganze Welt einzuspannen. Die Führungsmächte im Westen mitsamt ihrer Oberführungsmacht müssen sich praktisch darüber belehren lassen, dass die von ihnen eingerichtete, seit Jahrzehnten nach Kräften ausgenutzte und dafür immer weiter ausbuchstabierte Identität von Weltkapitalismus und Dollarkapitalismus auch die entgegengesetzte Bedeutung hat: Der Dollar- und nachrangig der Euro-Kapitalismus beruhen darauf, dass die ganze Welt ihr Lebensmittel darin hat, diese Gelder zu verdienen, sich dafür herrichten und die sich dafür bietenden Gelegenheiten ergreifen zu können und zu dürfen.

Nach der Seite des Könnens hin hatte und hat das immerhin die widersprüchliche Bedeutung, dass die westliche Bereicherung am Rest der Welt stets auch davon lebt, dass das die Objekte dieser Bereicherung erstens überhaupt irgendwie überleben [16] – was im Rahmen der weltweiten Konkurrenz um Reichtum bekanntermaßen keine Selbstverständlichkeit darstellt – und dass sie zweitens auch im positiven Sinne Mittel oder wenigstens eine Perspektive für nationale Bereicherungs- oder Entwicklungserfolge haben. Am Extremfall China, aber in absteigender Reihenfolge auch an den anderen Schwellenländern bis hin zu den bessergestellten Rohstoffstaaten in Arabien und anderen wird kenntlich, dass sich der Reichtum der westlichen Nationen dadurch reproduziert, dass die Benutzung solcher Länder auch deren gelingende kapitalistische Geldvermehrung einschließt. Was die USA eingerichtet und mit dem Stoff sowie den entsprechenden Regeln ausgestattet haben, war und ist eben eine weltumspannende Konkurrenz der Nationen um kapitalistischen Reichtum und den Zuspruch der Finanzkapitalisten. Das macht sich nun unter anderem geltend als widerständiges ökonomisches Interesse und als ökonomische Potenz, den westlichen Forderungen nach allgemeinem Geschäftsabbruch im Verhältnis zu Russland auch tatsächlich mit Verweigerung zu antworten. Die wird in nicht wenigen Fällen von Versuchen begleitet, aus dem westlichen Sanktionsregime ein paar Extra-Vorteile zu ziehen – auch dazu muss man ja erst einmal in der Lage sein. Die andere Form, in der amerikanische und europäische Sanktionspolitiker diesen ihren Widerspruch spüren und ihm Rechnung tragen, sind die Aufrufe zur Vorsicht, die sie sich selbst bzw. untereinander erteilen: Einen zusätzlichen veritablen Handelskrieg mit China z.B. wollen sie im Moment eher nicht riskieren.

Vor allem aber, was das Dürfen betrifft, macht sich der Widerspruch in aller Härte geltend, den der Westen im Moment betreibt. Die Globalisierung des Dollar zum Weltgeld, die Benutzung der Welt durchs westliche Kapital unterstellt die Geltung des Rechts des kapitalistischen Eigentums über alle Grenzen hinweg, also die egalitäre Ordnung der Regeln, die so verlässlich in Kraft sind, dass es tatsächlich nach der Seite hin egal ist, wo, das heißt unter welcher Hoheit kapitalistisches Geschäft stattfindet. Und das schließt eben ein, dass diese Ordnung für alle Staaten gleichermaßen gilt, die sich an die allgemeinen und speziellen Regelwerke zu halten haben, aber unter der Einhaltung dieser Regeln auch das verlässliche Recht besitzen, in diesem Rahmen ihren nationalen Konkurrenzinteressen nachzugehen. Dies halten die nicht zum westlichen Bündnis gehörenden Staaten nun den Verfechtern der globalen Anti-Russland-Politik entgegen. Ausdrücklich jenseits der besonderen materiellen Interessen, die sie durch diese verletzt sehen, werden sie grundsätzlich und beharren auf dem konstitutiven Prinzip der Weltwirtschaftsordnung:

„Wir bekräftigen unsere Unterstützung für ein offenes, transparentes, integratives, nicht diskriminierendes und auf Regeln basierendes multilaterales Handelssystem, wie es in der WTO verkörpert ist... Wir rufen alle Mitglieder auf, einseitige und protektionistische Maßnahmen zu vermeiden, die dem Geist und den Regeln der WTO zuwiderlaufen...“ (Communiqué des BRICS-Gipfeltreffens in Peking, Juni 2022)

Es ist nicht – einfach – Heuchelei, wenn die BRICS-Staaten dem Westen auf diese und andere Weise vorwerfen, gegen genau die Regeln zu verstoßen, deren Durchsetzung und Geltung er doch ansonsten zu seiner Sache macht und gegen die er keine Verstöße duldet. Tatsächlich lebt die Produktivität dieses Regel- und Ordnungswerks von seiner Universalität, und diese davon, dass das Interesse der westlichen Profiteure mit ihrer Dominanz hinter seiner ordnungsförmigen Verallgemeinerung quasi zurücktritt, sich nicht neben oder gar entgegen dieser Ordnung geltend macht, sondern sie auch für sich gelten lässt. Sie beharren darauf, dass die moderne, zivile Konkurrenz der Nationen um den kapitalistischen Reichtum der Welt tatsächlich gemäß den allgemeinen Regelwerken abzulaufen hat, die ausnahms- und vorbehaltlos zu akzeptieren und zu praktizieren sind. Sie halten dieses Prinzip gegen die antirussische Politisierung der Weltwirtschaft hoch, also gegen den ebenso generellen wie unmittelbar virulenten Vorbehalt, den der Westen jetzt gegenüber der Globalisierung im Sinne einer gleichberechtigten und freien Beteiligung aller Staaten daran erhebt – zumal ihnen von den USA bereits angekündigt wird, dass der Imperativ zu einem politisch linientreuen Verhalten als Bedingung der Zulassung zum weltwirtschaftlichen Verkehr nicht als vorübergehende Angelegenheit zu betrachten ist. [17]

Dass die Verbindlichkeit dieser Ordnung auch für die USA stets nur die halbe Wahrheit war, wissen die Beschwerdeführer freilich auch. Sie täuschen sich nicht darüber, dass sie es beim westlichen Bündnis nicht nur mit dem immer noch mit Abstand größten Profiteur in Sachen Bereicherung und daraus erwachsender politischer Bestimmungsmacht auf dem Felde der Regelsetzung und -modifikation zu tun haben, sondern in den USA auf den Urheber und Garanten dieser Ordnung treffen. Diese Urheber- und Garantenstellung bestand aber stets darin, dass Amerika eine Sphäre des zivilen Staatenverkehrs eingerichtet hat, in der für alle nur das Recht der freien Konkurrenz, ihrer Mittel, ihrer Verfahren und ihrer als verbindlich anzuerkennenden ökonomischen Resultate gelten sollte, ausdrücklich unabhängig von der inneren politischen Verfasstheit der Beteiligten und ihren politischen Ambitionen im Verhältnis zum Rest der Welt. Dieses von den USA verhängte Verbot der Politisierung der Konkurrenz für machtpolitische Anliegen klagen die BRICS-Staaten und ihre Verbündeten jetzt als ihr Recht ein. Das ist ihre Fassung des Widerspruchs, den die USA sich damit geleistet haben und leisten, die Zurichtung der Welt als Objekt ihrer Benutzung in der Form suprastaatlichen Rechts der Welt zu betreiben. Das ist das seit dem Ende des zweiten Weltkrieges auf dem halben, nach dem Abgang der Sowjetunion Richtung Müllhaufen der Weltgeschichte auf dem ganzen Globus konstitutive, praktisch wirksame Prinzip der multilateral regelbasierten Weltordnung. Dieses Prinzip sehen die vielen betroffenen Staaten nicht nur, es ist verletzt, wenn Amerika mit seinen Verbündeten nun die Weltwirtschaft zur Front in seiner Auseinandersetzung mit Russland machen will, wenn Amerika also zu einer Unterwerfung des Weltkapitalismus unter sein nicht ökonomisches, sondern strategisches Ringen mit Russland übergeht, die in ihrem Ausmaß und in ihren jetzt schon eingetretenen und für die Zukunft unabsehbaren Konsequenzen neuartig ist. Statt des bis dahin für alle in die Weltwirtschaft integrierten Staaten gültigen Widerspruchs, ihre Souveränität an den Regeln der Weltmarktordnung zu relativieren, um ihren in dieser Form erlaubten und freigesetzten Materialismus zu verfolgen, werden sie jetzt von den USA mit dessen Umkehrung konfrontiert. Sie sollen sich souverän in eine längst gezogene Front gegen Russland einreihen, eine Feindschaft praktizieren, die aus ihren Souveränitätsansprüchen nicht entspringt und ihren Materialismus negiert. Das zwingt ihnen die Frage auf, ob sie sich das gefallen lassen müssen.

Und damit ist die letzte und eigentliche ‚Frage‘ der amerikanischen Weltordnung auf dem Tisch.

Das politische Ringen um die Verallgemeinerung des Wirtschaftskrieges rührt an die wirkliche Grundlage der amerikanischen Weltordnung

„Wir bekräftigen unser Bekenntnis zum Multilateralismus durch die Wahrung des Völkerrechts, einschließlich der Ziele und Grundsätze, die in der Charta der UN als deren unverzichtbarem Eckpfeiler verankert sind. Und zur zentralen Rolle der UN in einem internationalen System, in dem souveräne Staaten zusammenarbeiten, um Frieden und Sicherheit zu wahren, die nachhaltige Entwicklung voranzutreiben...“ (Communiqué des Pekinger BRICS-Gipfels)

Fast wortgleich zu den Verlautbarungen der G7 äußern sich die Vertreter der großen unter den Mitmachern bei der Dollar-Weltordnung. Gerade diese weitgehende Identität der Stellungnahmen zeugt von der Grundsätzlichkeit des Gegensatzes, der hier verhandelt wird: Beide Seiten beanspruchen gegeneinander, die Grundsätze der Weltordnung vor Verstößen in Schutz zu nehmen; beide beanspruchen gegeneinander das Recht auf Auslegung, was aus diesen Grundsätzen unbedingt zu folgen hat und was auf keinen Fall folgen darf. Die BRICS-Staaten machen denen, die als G7 wie eh und je selbstverständlich in Anspruch nehmen, die Weltordnung zu definieren, den Vorwurf, dass der westlichen Gewaltkonfrontation gegenüber Russland ebenso wie den begleitenden Versuchen, die globale Ökonomie an der auszurichten, die Legitimität fehlt; sie sprechen ihr den ordnungsstiftenden Charakter ab und halten sie selbst in jeder Hinsicht für einen einzigen Verstoß. Das geht zuweilen noch deutlicher:

„Die USA und ihre westlichen Verbündeten ... haben selbst [im Fall Irak] die UNO-Charta verletzt und verfolgen nur ihren eigenen geopolitischen Vorteil gegenüber Russland, wenn sie UNO-Resolutionen verfechten, die Moskau als Angreifer denunzieren. Dies heute im Zusammenhang mit unserer Debatte über die humanitäre Lage in der Ukraine zu betonen, soll unterstreichen, dass viele Länder und ihre Völker unter Kriegen leiden, die sie nicht selbst angezettelt haben.“ (So die Vertreterin des BRICS-Mitglieds Südafrika vor der UNO.)

Die USA und ihre NATO sind damit konfrontiert, dass die Wucht ihres Anspruchs, die ganze Welt solle sich zum Mittel der von ihnen gewaltsam betriebenen Entmachtung Russlands machen, für ein bisher nicht dagewesenes Maß an internationaler Opposition sorgt. Die verhindert nicht nur die erwünschten schnellen Erfolge gegen Russland, sondern zieht die prinzipielle Legitimität amerikanischer Gewalt in Zweifel. Eine Mehrzahl der Staaten, die normalerweise Objekte und Adressaten gewaltbewehrter Ordnungsrufe und Ordnungsstiftung sind, trennen nun ausdrücklich zwischen der internationalen Gewaltordnung und der amerikanischen Gewalt, der sie entspringt.

Wirklich allseitige Begeisterung haben amerikanische Kriege oder Wirtschaftskriege unter den Staaten der Welt zwar noch nie ausgelöst; der Vorwurf der Selbstherrlichkeit Amerikas ist so alt wie die amerikanische Weltordnung. Umgekehrt hat sich Amerika aber von der Zustimmung anderer und den Rechtssprüchen in den internationalen Gremien noch nie abhängig gemacht und war es auch nicht. Mit seiner einzigartigen Überlegenheit hat es seine jeweiligen Gewaltaktionen zur Sach- und Rechtslage für den Rest der Welt gemacht: Seine Feinde waren nicht nur hoffnungslos unterlegen und wurden im Kriegsfalle jedes Mal vernichtend geschlagen, das sowieso. Vor allem wollte und konnte Amerika diese seine Feinde praktisch als Ausnahme- und Störfälle behandeln. Sein Vorgehen gegen sie inszenierte und exekutierte es als Ordnungsaktionen, in deren Zuge es nicht nur den jeweiligen Störenfried isolierte, bekämpfte und besiegte, sondern zugleich alle anderen von praktisch wirksamen Einsprüchen abschreckte und ihnen damit die doppelte Lektion erteilte: Die Verletzung der amerikanischen Weltordnung wird unweigerlich bestraft, und umgekehrt ist ihre Einhaltung die alternativlose Bedingung für die Anerkennung ihrer Souveränität, die ihnen Amerika dann auch gewährte. So hat sich für Amerika seine unbezweifelbare Gewaltüberlegenheit als Mittel zur Durchsetzung des Gewaltverbots für alle anderen bewährt, nämlich als Mittel der Trennung zwischen der gewaltsamen Beherrschung und Beaufsichtigung und der zivilen Konkurrenz. Und so wurde sie tatsächlich produktiv – für Amerika selbst sowieso, aber in dem Zuge auch für alle anderen, die unterhalb dessen aus der so garantierten Ordnung etwas für sich zu machen wussten.

Diese Sache liegt diesmal anders: Worauf die USA und ihr Europa stoßen, das ist ein zunächst in seinem Ausmaß neuer Widerstand gegen die Frontbildung, die sie der Weltwirtschaft, also deren staatlichen Akteuren verordnen wollen. Das betrifft, das macht die Sache umso ärgerlicher, vor allem diejenigen Nationen, die wegen ihres in den letzten Jahren errungenen ökonomischen Gewichts als besonders nützlich, ja unverzichtbar für einen Erfolg der antirussischen Weltfrontbildung angegangen werden. An denen bricht sich nun erstens die Wirksamkeit des Sanktionsregimes: Vor allem die ökonomisch gewichtigen BRICS-Staaten entnehmen der Dringlichkeit und Unbedingtheit, mit der der Westen von ihnen Parteinahme für seinen Feldzug verlangt, dass er sie dafür nicht nur gebrauchen kann, sondern braucht. Und auch Staaten in den Kategorien darunter bemerken, dass die Versuche des Westens, sie auf ihre Seite zu ziehen, von der westlichen Verlegenheit zeugen, dass es auch für sie Alternativen gibt. [18] Was für den Westen heißt: Gerade die ökonomische Bedeutung der Schwellenländer unterschiedlicher Größenordnung, die deren Teilnahme an seinem Wirtschaftskrieg so nötig macht, behindert oder verhindert, dass er diese Teilnahme von ihnen erwirken kann. Und das zeugt – zweitens – davon, dass der Westen hier an eine Schranke prinzipieller Art stößt, die er selber schafft: Der allen bis dato gültigen Prinzipien widersprechende weltpolitische Gehalt und das jeden bis dato gepflegten und erlaubten Materialismus beschädigende bzw. ruinierende Ausmaß des westlichen Unterwerfungsanspruchs provozieren und produzieren notwendigerweise den nicht minder grundsätzlichen Widerstandswillen – in diesem gegensätzlichen Sinn entsprechen sich beide Seiten.

Weltherrschaftlich brisant ist für die USA an alldem vor allem der weltpolitische ‚Kontext‘, der Krieg in der Ukraine. In dieser Gewaltaffäre agiert die Weltmacht nicht als die unbezweifelbar überlegene Macht, die die Sache von vornherein für sich entschieden hat und die Identität von amerikanischer Abschreckungsmacht und Weltordnung exemplarisch erneuert. In dem an der Ukraine von Russland und den USA betriebenen Gewaltvergleich geht letzteren die eindeutige und zwingende Abschreckungsmacht ab. Die bestreitet Russland mit seiner militärischen Potenz und abgesichert durch sein weltkriegstaugliches Nuklearpotenzial am Fall Ukraine praktisch, und damit ist sie schon entscheidend relativiert. Gerade darum wollen die USA sich mit dieser kriegerisch praktizierten russischen Gegenmacht auf keinen Fall arrangieren – sie verlangen sich selbst die Durchsetzung ihrer unrelativierten, für alle absolut gültigen Abschreckungsmacht, also die Überwindung der Schranke ab, die sie an Russland finden; das machen sie nun zur neuen Weltlage. Dafür braucht und will die Macht an der Spitze der NATO zusätzlich den totalen Wirtschaftskrieg gegen Russland unter Einschluss aller anderen Staaten, den sie nicht bekommt: Auch an dieser Front fallen Notwendigkeit und Unmöglichkeit der Gleichschaltung der Staatenwelt zusammen. Das macht gemäß der dollarschweren und waffenstarrenden Logik Amerikas einen Erfolg an beiden Fronten nur umso dringlicher.

[1] Ende August erteilt zum Beispiel die zuständige ungarische Regulierungsbehörde die Genehmigung zum Neubau zweier Atomreaktoren durch den russischen Konzern Rosatom. Die Begründung des ungarischen Außenministers in Richtung Europa: Dies wird die langfristige Sicherheit der ungarischen Energieversorgung gewährleisten, die ungarische Bevölkerung vor extremen Preisschwankungen auf dem internationalen Energiemarkt schützen und unsere Bemühungen um eine Senkung der Stromkosten fortsetzen. (FAZ, 29.8.22)

[2] Der deutsche Wirtschaftsminister gibt solidarisch zu bedenken:

Würden sich Staaten stattdessen ‚einigeln‘ und nur um die eigene Versorgungssicherheit kümmern, so würde dies der europäischen Wirklichkeit ‚überhaupt nicht gerecht‘, so der Grünen-Politiker. ‚Eine Wirtschaftskrise in Deutschland ist eine europäische Wirtschaftskrise, und ein Zusammenbruch des europäischen Binnenmarktes schädigt die deutsche Wirtschaft.‘ (n-tv, 11.7.22)

[3] So lassen es sich europäische und amerikanische Politiker im Rahmen ihres Ringens um Gefolgschaft nicht nehmen, zum Beispiel in der leidigen Hungerfrage und der auf sie gerichteten Diplomatie, ihr Verständnis für die Sorgen von afrikanischen, mittelöstlichen und anderen Staaten herauszustreichen. Auch das gehört zum westlichen Anspruch, für wahrhaft alles auf der Welt zuständig zu sein.

[4] Janet Yellen: China behauptet seit langem, zentrale völkerrechtliche Grundsätze seien ihm heilig, darunter Souveränität und territoriale Integrität. Worin auch immer Chinas geopolitische Ziele und Strategien bestehen mögen, sehen wir keinen Anlass, den russischen Einmarsch oder die Konsequenzen für die internationale Ordnung irgendwie gutzuheißen. China kann nicht von der internationalen Gemeinschaft verlangen, sie solle chinesische Appelle an die Prinzipien von Souveränität und territorialer Integrität respektieren, wenn es diese Prinzipien selbst nicht respektiert, wo sie auf dem Spiel stehen.

[5] Dieser Logik folgt zum Beispiel der amerikanische Vorschlag einer allgemein zu vereinbarenden Deckelung für russische Erdölexporte. Die soll Russlands Einnahmen aus dem Ölexport nachhaltig begrenzen und allen Teilnehmern eines so aufgestellten Käuferkartells, die noch immer russisches Öl brauchen, die Importe verbilligen – ein Bedürfnis, das der Westen mit seinem ökonomischen Kampf gegen Russland und dessen preistreibenden Folgen ja seinerseits ziemlich dringlich gemacht hat. Und falls kein freiwilliges Kartell zustande kommt, schlagen US-Vertreter schon einmal eine Art Zwangskartell vor: durch das Verbot für Schiffsversicherungsunternehmen – die nun einmal so gut wie vollständig im Westen ansässig sind –, Transporte von Öl zu versichern, das oberhalb des vom Westen festzulegenden Preisdeckels gehandelt wurde.

[6] Eine Debatte um vor allem auf China gemünzte Sekundärsanktionen im Zusammenhang mit den Russland-Sanktionen gibt es in den USA längst; ebenso wie die unmissverständliche Warnung an die chinesische Regierung, dass Waffenlieferungen an Russland definitiv nicht hinnehmbar sind.

[7] Noch einmal Yellen: Der Krieg in der Ukraine und die Sanktionen gegen Russland unterstreichen die Rolle Chinas... China hat neulich seine Sonderbeziehungen zu Russland bestätigt. Ich hoffe inständig, dass China diese Beziehungen nutzen wird, um auf ein Ende dieses Kriegs hinzuarbeiten. Es wird in Zukunft immer schwieriger, wirtschaftliche Angelegenheiten von allgemeineren Fragen von nationalem Interesse, inklusive nationaler Sicherheit, zu trennen. Die Haltung der Welt gegenüber China sowie ihre Bereitschaft zu seiner weiteren wirtschaftlichen Integration dürften stark davon abhängen, wie China auf unseren Aufruf zum entschiedenen Handeln gegen Russland antwortet.

[8] An der Aufrüstung Indiens gegen China ist der NATO weiterhin dringlich gelegen; darum werden nicht nur entsprechende Kooperationen vorangetrieben, sondern Indien bleibt auch bis auf Weiteres von den Sanktionen verschont, die die USA im Rahmen ihres CAATSA (Countering America’s Adversaries Through Sanctions Act) für alle Staaten vorsehen, die in Rüstungsfragen mit Russland kooperieren.

[9] So wurde schon einmal „enthüllt“, dass indische Schiffe amerikanische Sanktionen unterlaufen – was immer die USA noch daraus machen wollen. Die USA haben ihre Bedenken darüber geäußert, dass Indien im Frühjahr benutzt worden ist, Rohöl aus Russland nach New York durch einen ‚high seas transfer‘ zu exportieren, berichtete ein hochrangiger Vertreter der indischen Zentralbank am Samstag. Amerikanische Sanktionen gegen Russland wegen seines Einmarsches in die Ukraine verbieten den Import von russischen Energieprodukten in die USA, inklusive Rohöl, raffinierter Treibstoffe, Destillate, Kohle und Gas. ‚Ein indisches Schiff hat sich mit einem russischen Tanker auf offenem Meer getroffen, das Öl verladen und in den Hafen von Gujarat gebracht, wo es in ein Destillat konvertiert worden ist.‘ (Reuters, 17.8.22)

 Außerdem werfen die USA Indien vor, bei sich Schiffe anlanden zu lassen, die sie auf der Sanktionsliste haben: ‚Diese Schiffe und ihre Besitzer haben mehrmals gegen die Sanktionen verstoßen und stehen seit Jahren unter Beobachtung‘, so Jack Margolin vom Center for Advanced Defense Studies... ‚Sie haben wiederholt die Umgehung der Sanktionen durch Russland sowie russischen Waffenexport unterstützt.‘ (Foreign Policy, 3.8.22)

[10] „Chinesische Exporte nach Russland sind im April im Vergleich zum Vorjahr um 26 Prozent zurückgegangen, obwohl das chinesische Handelsministerium seine Unternehmen auffordert, ‚sich nicht äußerem Druck zu beugen und keine unangemessenen Erklärungen nach außen abzugeben‘.

 Der Rückgang geht vor allem auf Unternehmen zurück, die über eine große globale Präsenz verfügen und befürchten, bei einem andauernden Handel mit Russland von Sekundärsanktionen getroffen zu werden. So haben beispielsweise die chinesischen Hightech-Unternehmen Lenovo und Xiaomi Berichten zufolge ihre Lieferungen nach Russland gestoppt und Huawei hat einige seiner Mitarbeiter in Russland entlassen. Der Autohersteller Geely hat die Produktion in seinem belarussischen Werk, welches nach Russland exportiert, gestoppt.“ („Sanktionen schrecken chinesische Unternehmen ab“, table.media/china, 5.6.22)

[11] Yellen: Die USA haben, zusammen mit dreißig weiteren Ländern, also über der Hälfte der Weltwirtschaft, eine beispiellose Reihe von Finanzsanktionen und Exportkontrollen gegen Russland beschlossen.

[12] Die G7-Staaten haben das im Abschluss-Communiqué ihres letzten Gipfels so ausgedrückt:

Wir stehen gemeinsam zu unserer Verpflichtung auf freien und fairen Handel als grundlegende Prinzipien und Zielsetzungen des regelbasierten multilateralen Systems mit der WTO als Kern... Die soll unsere geteilten Werte widerspiegeln, die Offenheit, Transparenz und marktorientierte Konkurrenz einschließen... In einer gemeinsamen Anstrengung mit anderen haben wir in den letzten Monaten darauf hingewirkt, dass die Behandlung der Russischen Föderation nach den Prinzipien der Meistbegünstigung außer Kraft gesetzt wird... Wir werden fortfahren, unnötige Handelsbeschränkungen aufzuheben...

[13] Wenn zum Beispiel die deutsche Weltpolitikerin Baerbock Putin vorwirft, einen Kornkrieg angezettelt und eine weltweite Ernährungskrise weiter angefacht [zu haben], und zwar zu einer Zeit, in der bereits Millionen von Hunger bedroht sind, dann betonen afrikanische Staatsführer am selben Fakt im Gegensatz zu Baerbock vor allem den Umstand, dass offensichtlich ganz ohne Putins Russland unter ihren Völkern das Hungern an der Tagesordnung ist.

[14] Dem entnehmen westliche Diplomaten nebenbei noch die Notwendigkeit, ihren – unter anderem zu diesem Zweck eigens auf den G7-Gipfel in Elmau geladenen – Partnern aus dem Süden mal tüchtig die Welt zu erklären, also ihnen zu sagen, dass sie Putins Propaganda aufsitzen, wenn sie den vom Westen initiierten Wirtschaftskrieg für die Misere verantwortlich machen:

Baerbock warf Russland eine bewusste Strategie vor, die von einer massiven Verbreitung von Falschinformationen begleitet werde... Sie könne aber auch nachvollziehen, weshalb die russische Propaganda in einigen Staaten auf fruchtbaren Boden stoße. Die G7-Staaten hätten dort keinen Vertrauensvorschuss, sagte die Grünen-Politikerin.

 So viel wohlwollende Herablassung gegenüber unseren geschichtsbedingt wahrnehmungsgestörten Afrikanern zeugt nicht etwa davon, dass mit der jungen grünen Feministin der alte weiße Mann durchgegangen ist, sondern davon, wie ernst sie ihre imperialistische Verantwortung nimmt.

[15] Da tut sich einiges an Möglichkeiten auf: Indien zum Beispiel kauft mehr Öl in Russland ein, als es für die Deckung seines Bedarfs braucht, und verkauft Teile seiner Importe an Europa und Amerika weiter – zu dem Preis, den sich diese westlichen Nachfrager durch ihre Sanktions- und Ersatzbeschaffungspolitik an den Hals geschafft haben. Die Saudis importieren russisches Öl, um damit ihre Kraftwerke zu betreiben und ihren eigenen Stoff umso mehr zu hohen Preisen auf dem Weltmarkt absetzen zu können.

[16] Dass der Imperialismus gelernt hat, mit ganzen Regionen voller ‚failed states‘ zu leben, ist keine Widerlegung: Die zählen zu den Unkosten seines globalen kapitalistischen Regimes, die sich in Form von Unordnung, Flüchtlingsströmen und ein bisschen Terrorismus auch für ihn als solche bemerkbar machen.

[17] In ihren Äußerungen regt J. Yellen eine neue Strategie an, die sie – in Absetzung vom und in sprachlicher Anlehnung an den Terminus off-shoring, also die permanente Auslagerung und Neuausrichtung von Produktion und Handel weltweit – friend-shoring nennt. Gemeint ist die Idee, dass man die Internationalisierung des eigenen Kapitalismus in Zukunft unter den generellen, jederzeit aktivierbaren Vorbehalt politischer Bündnispartner- bzw. Vasallenschaft stellen könnte.

[18] Auf dem 14. BRICS-Gipfel im Juli haben China, Russland und Indien die Möglichkeit eines Beitritts von Ägypten, Saudi-Arabien und der Türkei diskutiert, die Berichten zufolge derzeit Beitrittsanträge vorbereiten. Dieser Verkündung ging ein Bericht im Juni dieses Jahres voraus, wonach Iran und Argentinien mit Chinas Unterstützung bereits Beitrittsanträge gestellt haben. Laut internationalen Medien haben außerdem Algerien, Bangladesch, Indonesien, Mexiko, Nigeria, Sudan, Syrien, Pakistan und Venezuela Interesse an einem Beitritt bekundet. An einem von China organisierten Online-Gipfel potenzieller BRICS+-Antragsteller im Mai haben die Außenminister von Argentinien, Ägypten, Indonesien, Kasachstan, Nigeria, den VAE, Saudi-Arabien, Senegal und Thailand teilgenommen. (oilprice.com, 21.8.22)