Belarus
Die fast vergessene „Migrationskrise“ in Osteuropa

Im August 2021 sind es noch ein paar handvoll Flüchtlinge, die im Białowieża-Wald über die weißrussisch-polnische Grenze in die EU wollen; dann werden es mehr, gute 2000 im Oktober. Innerhalb kürzester Zeit verhängen Polen und Balten den Ausnahmezustand in einer Lage, von der sie vermelden, dass sie ihrer nicht mehr anders Herr werden können, als ihre Asyl- und sonstigen EU-Rechtsverpflichtungen sowie die hohen europäischen Werte hintanzustellen und in stattlichem Ausmaß Truppen zur Abriegelung ihrer Grenzgebiete aufmarschieren zu lassen. Sie sehen sich mit nichts Geringerem als einem hybriden Krieg konfrontiert, eröffnet vom belarussischen Staatschef, einem notorischen „Staatsterroristen“.

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Belarus
Die fast vergessene „Migrationskrise“ in Osteuropa

Im August 2021 sind es noch ein paar handvoll Flüchtlinge, die im Białowieża-Wald über die weißrussisch-polnische Grenze in die EU wollen; dann werden es mehr, gute 2000 im Oktober. Innerhalb kürzester Zeit verhängen Polen und Balten den Ausnahmezustand in einer Lage, von der sie vermelden, dass sie ihrer nicht mehr anders Herr werden können, als ihre Asyl- und sonstigen EU-Rechtsverpflichtungen sowie die hohen europäischen Werte hintanzustellen und in stattlichem Ausmaß Truppen zur Abriegelung ihrer Grenzgebiete aufmarschieren zu lassen. Sie sehen sich mit nichts Geringerem als einem hybriden Krieg konfrontiert, eröffnet vom belarussischen Staatschef, einem notorischen Staatsterroristen. Seine Waffen: ebendiese Flüchtlinge, deren immenses Bedrohungspotential erst so richtig klar wird, wenn man mit dem polnischen Premierminister in die Zukunft schaut. Dann stehen nämlich nicht nur ein paar tausend Armutsfiguren vor dem von Polen bewachten gemeinsamen Haus Europa, sondern Hunderttausende, Millionen, hunderte Millionen (Morawiecki), und die Katastrophe ist da. Das Ziel des Staatsterroristen in Minsk ist damit auch schon klar: erst Polen und das Baltikum, dann die ganze EU überrollen, Europa destabilisieren und den Westen spalten.

Einleuchtend wird dieses Narrativ über seine ebenso fleißige wie einsilbige mediale Aufbereitung – ohne Rücksicht auf geistige Verluste; und unter konsequenter Missachtung der Vorgeschichte, die zu diesem seltsamen Kriegsszenario irgendwie schon auch dazugehört.

Wie Weißrussland zum neuen Hotspot der Migration geworden ist

Daran, dass es Lukaschenkos böser Wille ist, der dazu führt, dass Weißrussland zum neuen Hotspot für Migration wird, ist so viel wahr, als der 2021 beschließt, die Dienstleistung einzustellen, der EU das Elend vor ihren Außengrenzen vom Leib zu halten:

„Werde ich diese bewaffneten Iraker, Kurden und andere an der Grenze zurückhalten? Ich werde sie nicht zurückhalten. Ich warne euch offen und ehrlich.“ (FAZ, 27.7.21)[1]

Dass es überhaupt ein Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und Weißrussland gibt bzw. gab, mit dem die EU Weißrussland für seine humanitäre Dienstleistung, die EU vor diesen Hungerleidern zu verschonen, ein bisschen finanziert, kriegt man hauptsächlich ex post über die öffentliche Empörung mit, dass Belarus aus ihm aussteigt:

„Belarus setzt sich gegen Sanktionen der EU zur Wehr... Für besondere Empörung sorgt in der EU aktuell, dass die belarussische Regierung sich nicht mehr an Absprachen mit Brüssel zur Flüchtlingsabwehr gebunden fühlt. Erst im vergangenen Jahr hat die EU ein sogenanntes Rückübernahmeabkommen mit Belarus geschlossen, das umstandslose Abschiebungen ermöglichen soll. Minsk hat jetzt mitgeteilt, sich nicht mehr an die Vereinbarung gebunden zu fühlen. Ebenso hinfällig sind Pläne der EU, in Belarus Flüchtlingslager zu bauen – für rund sieben Millionen Euro.“ (German-Foreign-Policy.com, 7.7.21)

Davon, dass die EU das Abkommen zwar nicht offiziell kündigt, aber im Zuge der verhängten Sanktionen seit letztem Sommer schon nicht mehr alimentiert, hört man eher weniger.

Sofern besagte Sanktionen in der Öffentlichkeit überhaupt Erwähnung finden, besteht der dargebotene Zusammenhang zu Lukaschenkos fristloser Kündigung im Wesentlichen darin, dass es sich bei der um eine perfide Racheaktion handelt, mit der der Machthaber aus Minsk sich völlig unrechtmäßig gegen die EU aufstellt. Das ist in zweierlei Hinsicht gerecht. Erstens werden einem Herrscher, dem der Westen jegliche Legitimität bestreitet, schlicht keine politökonomischen, irgendwie nachvollziehbaren Gründe, sondern nur allerböseste Absichten zugestanden; und zweitens besteht man in der EU darauf, dass Lukaschenko trotz allem seine Hilfsdienste bedingungslos zu erbringen und sich gegen die verhängten Sanktionen nicht zur Wehr zu setzen hat. Die sollen schließlich ihre Wirkung tun: nämlich ihn und sein Regime endlich in die Knie und zur Abdankung zwingen. [2]

Toughest sanctions yet: Die Notlage, die der Diktator loswerden will …

Auf jenen schönen Tag arbeitet der Westen tatkräftig hin. Die Bunte Revolution im Sommer 2020, die Lukaschenko anlässlich seiner gefälschten Wahlen aus dem Amt jagen will, unterstützt und befeuert der Westen nach allen Regeln der Kunst. Einstweilen ist die zwar gescheitert; von ihr geblieben ist Lukaschenko aber eine ziemlich potente Opposition – inklusive einer Regierung im Wartestand, die in der EU als einzig legitime Regierung Weißrusslands hofiert und in den Parlamenten herumgereicht wird, und deren Anhänger sich in Scharen in Polen und im Baltikum versammeln und dort mit einer ganzen Infrastruktur für ihre Agitation und Cyberaktionen gegen ihr Heimatland ausgestattet werden. [3]

Ökonomischen Nachdruck verleihen die EU, Großbritannien und die USA ihrem Anliegen mit den toughest sanctions yet, mit denen sie das Regime Lukaschenko seit letztem Sommer überzogen haben:

  • Sanktionen unter anderem gegen die Öl-, Kali- und Düngemittelprodukte, die Hauptdevisenquellen des Landes; diese treffen Weißrussland empfindlich und senken seine Kreditwürdigkeit dramatisch; [4]
  • daneben werden Hauptsubjekte der weißrussischen Ökonomie, führende, mit Lukaschenko befreundete Geschäftsleute bestraft und der Bankensektor sanktioniert; [5]
  • zusätzlich wird der Flugverkehr von, nach und über Weißrussland weitgehend lahmgelegt. [6]

Auch wenn die Sanktionen nicht alle unmittelbar wirken – zumal sie auch zeitlich gestaffelt sind, weil für das ansehnliche Geschäft mit weißrussischen Kali- und Erdölprodukten aufseiten der EU erst ein Ersatz gefunden werden muss –, an dem grundsätzlichen Angriff auf die entscheidenden Verdienstquellen Weißrusslands ändert das nichts. Dass das Land darüber zunehmend in eine fundamentale Not geraten ist, konstatieren auch westliche Finanzfachleute in ihrer unnachahmlich nüchternen Art: Problematisch ist aber auch, dass die US-Sanktionen gegen das Land das Führen von Dollar-Konten in absehbarer Zeit unmöglich machen werden. (Deutsche Wirtschaftsnachrichten, 24.9.21)

*

All das kennzeichnet die existenzielle Notlage Weißrusslands, aus der Lukaschenko sich mit seinem Erpressungsversuch zu befreien versucht. Die Hoffnung, die EU mit der Kündigung seiner humanitären Dienste zu Gesprächsbereitschaft über die erlassenen Sanktionen bzw. zu einem für seine Nation besser aushaltbaren Kurs nötigen zu können, wird allerdings heftig enttäuscht.

… und die neue Notlage, in die er gerät: Wie Polen mit unfreiwilligen Statisten eine Großkrise produziert

Ein paar hundert und dann tausend Migranten an der Grenze auflaufen und sie in Polen ihre Asylanträge stellen zu lassen, um sie dann in Lagern in den polnischen Wäldern verrotten zu lassen, so wie in Griechenland, das kommt für die polnische Regierungspartei PiS von Anfang an nicht infrage. Sie will aus der Affäre etwas anderes machen. Neben der Propaganda des Feindbilds von polnischem Zuschnitt setzt die PiS eine nicht nur verbale Eskalation auf die Tagesordnung. [7] Die Welt soll begreifen, dass Polen gerade zum Opfer eines Staatsterroristen wird, der ein Blutvergießen will; dass an der polnischen Grenze recht besehen keine Migrationskrise vorliegt, sondern ein hybrider Krieg, der – letztlich – der EU insgesamt gilt; dass also für die EU und die NATO kein Weg daran vorbeiführt, sich dem polnischen Abwehrkampf gegen den Feind im Osten ohne Wenn und Aber anzuschließen.

Das Schöne an dem Krieg besteht darin, dass sich der anderen Seite ein Vernichtungswille, wie er sich in Kriegen betätigt, zuschreiben lässt, ohne dass irgendwo die üblichen militärischen Werkzeuge des Kriegs in Sicht wären; und ohne dass Lukaschenko den Krieg erklärt hätte. Er beteuert vielmehr, auch nichts Derartiges im Sinn zu haben (Ich bin doch nicht verrückt). Für die Entdeckung eines quasimilitärischen Angriffs in einer Ansammlung verhinderter Asylbewerber braucht es nicht mehr als das richtige Feindbild im Kopf. Dann erkennt man in diesen Figuren unschwer die Vorhut eines massiven Angriffs, dem bald Millionen in Richtung Europa folgen werden (Morawiecki), und man begreift die zerstörerische Absicht des Chefs der Weißrussen.

„‚Ich bin überzeugt, und das ist nicht nur ein Eindruck, sondern ich bin überzeugt, dass die belarussischen Behörden eine Eskalation anstreben, die auf beiden Seiten tödliche Opfer fordern wird‘, sagte Wawrzyk [Stellvertretender polnischer Außenminister].“ (zerkalo.io, 8.11.21)

Der Mann macht sich nicht die geringste Mühe, mehr als seine felsenfeste Überzeugung als Beweis für die weißrussische Bösartigkeit vorzutragen, ein Argument, das durch Wiederholung nur an Kraft gewinnen kann. Noch einmal der polnische Ministerpräsident:

„Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki befürchtet eine Eskalation des Konflikts mit Belarus und warnt vor einer Migrationskrise in Europa, wenn es nicht gelingen sollte, ‚jetzt tausende Zuwanderer fernzuhalten... Die Situation ist derzeit stabil, aber sie wird immer bedrohlicher‘, sagte Morawiecki der ‚Bild‘-Zeitung vom Donnerstag. ‚Ich hoffe, alle behalten die Nerven... Die belarussischen Kräfte provozieren immer deutlicher... Ich hoffe, sie machen dabei nicht den einen Schritt zu weit. Denn wir Polen sind fest entschlossen, unsere Grenze mit allen Mitteln zu schützen. Die Ostgrenze Europas und auch der NATO...‘ Auf die Frage, ob Krieg drohe, sagte Morawiecki: ‚Wir können nichts ausschließen.‘“ (Die Welt, 18.11.21)

Natürlich kann man nichts mehr ausschließen, wenn man sich eine Lagedefinition zurechtkonstruiert hat, die sich pur aus vermuteten Motiven ergibt. Die Logik gleicht dem Verfolgungswahn: Aus den Absichten, die man der Gegenseite in ihrer Bösartigkeit unterstellt, leiten die PiS und ihre Freunde im Baltikum alle möglichen erdenklichen Szenarien ab – und landen zielstrebig dabei, ihren Hauptfeind Russland als letztlichen Strippenzieher auszumachen:

„Der belarussische Staatschef Alexander Lukaschenko und der russische Präsident Wladimir Putin folgten ‚offensichtlich einer Strategie, um den Westen zu verunsichern, zu destabilisieren. Was sie noch alles planen, wissen wir nicht.‘“ (Ebd.)

Erfunden haben Polen und Balten diese „Logik“ nicht. Der Vorwurf der hybriden Kriegsführung ist seit der Krim-Annexion 2014 in Mode gekommen und steht nach übereinstimmendem Urteil der freien Welt seither für eine besonders verwerfliche Art der Aggression, auf die Russland das Monopol hat – ein Staat, dem Krieg im Blut liegt, den er deswegen potenziell mit „allem“ führt. In den Worten des EU-Außen- und Sicherheitsbeauftragten Borrell:

„Die klassische Unterscheidung von Krieg und Frieden ist immer schwieriger geworden... Wir sehen uns einem hybriden Krieg ausgesetzt, in dem alles in eine Waffe verwandelt werden kann.“ (FAZ, 11.11.21)

Eben kann: Wenn man nämlich ein Gegenüber als unberechenbaren Feind definiert hat, ist es ein Leichtes, auf alles, was der unternimmt, die Definition als kriegsähnliche oder -artige Unternehmung zu übertragen. Dann geht es sogar durch, den Artikel 4 des NATO-Vertrags auszurufen und den Beistand des großen Kriegsbündnisses einzufordern – ‚konkrete Schritte‘ einzuleiten, – als Reaktion auf asylsuchende Elendsgestalten, deren militärische Leistungsfähigkeit sich doch eher in Grenzen hält:

„Der polnische Premierminister Mateusz Morawiecki hat die NATO aufgefordert, ‚konkrete Schritte‘ zur Lösung der Migrantenkrise an der weißrussischen Grenze einzuleiten. Er fügte hinzu, dass Polen, Litauen und Lettland Konsultationen gemäß Artikel 4 des NATO-Vertrags beantragen können, wonach jeder Verbündete Konsultationen beantragen kann, wenn er seine territoriale Integrität, politische Unabhängigkeit oder Sicherheit bedroht sieht. ‚Es reicht nicht aus, dass wir unsere Besorgnis öffentlich zum Ausdruck bringen – jetzt brauchen wir konkrete Schritte und das Engagement des gesamten Bündnisses...‘ Die polnischen Behörden rechnen mit einem größeren Versuch von Migranten, die Grenze zu Weißrussland gewaltsam zu durchbrechen, einen Tag nachdem mehr als 200 von ihnen versucht haben, in den EU-Mitgliedstaat einzudringen... ‚Die Migranten bereiten sich heute auf einen größeren Versuch vor, die Grenze zu überqueren. Unsere Kräfte sind einsatzbereit...‘ Die Polizei sagte, dass Beamte am Abend in der Gegend von Kolonia Klukowicze während eines solchen Versuchs angegriffen wurden. Der Einschlag eines von einem Migranten geworfenen Steins war so heftig, dass der Helm eines Beamten beschädigt wurde.“ (rfe/rl, 14.11.21)

Das unfreiwillig Komische eines beschädigten Polizeihelms als Beweismittel für einen nationalen Notstand, der ohne die Hilfe der NATO nicht zu bewältigen ist, fällt nicht weiter auf, weil jede Plausibilitätsprüfung in der ganzen Affäre ohnehin tunlichst unterbleibt.

Endgültig bewiesen sind die kriegerischen Absichten des Gegners mit dem Aufmarsch der eigenen Truppen; als Reaktion auf die weißrussische Aggression definiert bezeugen sie die gebieterische Notwendigkeit, mit eigenen Kampfmitteln gegen Krieg und Blutvergießen antreten zu müssen – sonst würden sie ja nicht aufgefahren. [8]

Mit diesem unanfechtbaren Recht auf Selbstverteidigung im Rücken startet Polen eine neue Offensive gegen Lukaschenko. Der nach Kräften unterstützte Putsch aus dem vorigen Sommer war ja einstweilen nicht erfolgreich – jetzt probiert man dasselbe nochmal auf einer weit höheren Eskalationsstufe: Dem Diktator wird erstens die Abriegelung der Grenzen in Aussicht gestellt, womit der durch die verhängten Sanktionen ohnehin massiv geschädigte Handelsverkehr Weißrusslands so ziemlich lahmgelegt wäre. [9] Und zweitens ruft die PiS ein Bedrohungsszenario bis hin zu einem möglichen NATO-Krieg aus und beschert Lukaschenko mit den an die Grenze gebrachten Truppen eine ganz neue Sorte Invasionsdrohung.

Der macht sich jedenfalls keine Illusionen, in welcher Lage er steckt:

„Anstatt einen Dialog zu führen und wirksame Maßnahmen zur Lösung der Migrationskrise zu ergreifen, setzen unsere Nachbarn eine beispiellose Aufstockung der Streitkräfte an der Grenze zu Belarus fort... Die Konzentration von 15 000 Soldaten, Panzern, Luftabwehrgeräten und anderen schweren Waffen kann man nicht als eine angemessene Antwort auf die Migranten vor dem Grenzzaun bezeichnen.“ (Zitiert nach belTA.by, 11.11.21)
„‚Nehmen wir an, dass Polen seine Panzerkolonnen gegen Belarus vorrückt. Das ist ja klar, entweder ist das irgendeine Übung oder eine Erpressung... Das ist fruchtbarer Boden für Provokationen. Man kann eine beliebige Provokation vornehmen. Ich warne mein Militär: Vorsicht! Passt auf, Burschen! ... Wir piesacken niemanden, weil wir wissen, dass jeder Fehler oder Fehltritt dazu führen kann, dass Russland sofort in diesen Strudel hineingezogen wird. Und das kann schlimm enden. Russland ist die größte Atommacht der Welt. Ich bin doch nicht verrückt. Ich bin mir über die Folgen vollkommen bewusst.“ (Zitiert nach belTA.by, 10.11.21)

Einen NATO-Krieg gegen sein Weißrussland kann Lukaschenko wirklich nicht gebrauchen; und er macht sich auch keine Illusionen darüber, dass er der polnisch-baltischen Eskalation alleine nicht Herr werden kann:

„Hier gibt es auch keinen Platz für irgendein Heldentum. Niemand wird mit Maschinengewehr an die polnische Grenze gehen. Wir sind uns dessen bewusst. Wir kennen unseren Platz.“ (Ebd.)

Das heißt aber natürlich nicht, dass er dem Westen seine vorauseilende Kapitulation anbieten würde: Aber gleichzeitig werden wir nie in die Knie gehen. Vielmehr lässt er nichts unversucht, den großen Bruder im Osten, „die größte Atommacht der Welt“, „in diesen Strudel hineinzuziehen“, nämlich für eine russisch-weißrussische Gegenabschreckung zu instrumentalisieren:

„‚Ich brauche mehrere Divisionen im Westen und im Süden, lasst sie [dort] stehen.‘ Lukaschenko sagte dem Magazin National Defense, „er brauche das mobile ballistische Raketensystem Iskander, das eine Reichweite von bis zu 500 Kilometern hat und sowohl konventionelle als auch nukleare Sprengköpfe tragen kann.“ (de.rt.com, 15.11.21)

*

So schafft es Polen, die Migranten an seiner Grenze auf eine Eskalationsebene zu hieven, auf der „ein zufälliger Konflikt nur eine Frage der Zeit [ist]. Es bräuchte nur eine Gruppe polnischer oder baltischer Soldaten, die auf weißrussische Schüsse reagieren – oder auf Migranten schießen, die sie mit Knüppeln, Baumstämmen und ähnlichen Werkzeugen angreifen –, um eine gefährliche Eskalation auszulösen. Die Weißrussen, die nun von russischen Streitkräften unterstützt werden, würden eindeutig zurückschießen, und die andere Seite würde auf dieses Feuer antworten.“ (defenseone, 12.11.21)

Was Polen mit dieser Eskalation bezweckt, ist die Etablierung einer Lage, an der die Notwendigkeit einer harten ostpolitischen Linie, wie Polen sie seit Jahr und Tag gegen die nach ihrem Geschmack viel zu zögerliche und russenfreundliche EU durchzusetzen versucht, unübersehbar wird – für die Erzwingung der Bündnissolidarität ist schließlich nichts besser geeignet als eine penetrant ausgerufene und mit dem eigenen martialischen Grenzsicherungsregime eindrucksvoll dokumentierte Kriegsgefahr. An der Spitze der anti-weißrussisch-russischen Front will die PiS ihrem Anspruch auf eine Vorreiterrolle in der Konkurrenz in der EU um die Definition der gemeinsamen Außenpolitik zur Durchsetzung verhelfen. Und nicht zuletzt geht die polnische Regierung auf diese Weise gegen ihre Isolierung in der EU im eskalierenden Streit wegen Verletzung der Rechtsstaatlichkeit in die Offensive.

Höhere imperialistische Mächte schalten sich ein

Dass die maßgeblichen westlichen Mächte das polnische Szenario als angemessene Definition der Sachlage bestätigen, heißt noch lange nicht, dass sie den fanatischen Antirussismus der PiS und ihre kriegsträchtige Eskalationsstrategie teilen; geschweige denn, dass sie gewillt wären, sich für deren Interessen instrumentalisieren und sich aus Warschau die sicherheitspolitische Agenda der EU diktieren zu lassen.

  • Großbritannien entsendet einerseits eigene militärische Kräfte an die polnisch-weißrussische Grenze: Polen teilte mit, dass britische Truppen zu einer Aufklärungsübung mit den NATO-Verbündeten an seine Grenze entsandt worden seien. (defenseone, 12.11.21) Es warnt andererseits zugleich in Gestalt seiner Militärs vor den Risiken einer Eskalation auf NATO-Ebene:
    „Der britische Armee-Minister warnte davor, die Krise schon jetzt als eine Sache der NATO zu betrachten, ‚prinzipiell und zuerst ist es eine Aufgabe der Europäischen Union, ihre Grenzen zu schützen. Je früher die EU reagiert, desto besser. Wenn es militärisch wird, dann droht Eskalation. Wenn es eine NATO-Sache wird, kommen wir auf ein sehr, sehr gefährliches Territorium.‘ Das Vorgehen von Belarus und Russland sei darauf angelegt, zu destabilisieren. Darauf müsse die NATO ‚ein Auge haben‘, so James Heappey.“ (FAZ, 11.11.21)

    Die britische Regierung plädiert daher klar dafür, die Abwägung dieser Risiken nicht einfach der kriegerischen Natur mancher, also nicht der polnischen Führung zu überlassen.

  • Deutschland versucht angesichts des polnischen Interesses, die Eskalation bis hin zum Kriegsszenario an der europäischen Außengrenze voranzutreiben, der PiS die Sache aus der Hand zu nehmen und die Hoheit über den Konflikt an sich zu ziehen: An ihr vorbei und ungerührt gegen ihre erklärten Interessen betreibt es eine eigene Diplomatie. Zum Zwecke des Krisenmanagements missachtet Merkel sogar das eiserne Gebot demokratischer Außenpolitik, den letzten Diktator in Europa zu ächten, telefoniert mit dem Autokraten in Minsk persönlich und sucht mit ihm nach Lösungen des Problems. Zweitens zieht sie im Namen der Humanität den russischen Präsidenten, der bis dahin versucht hatte, sich aus der Sache herauszuhalten [10] – man möge sich bitteschön an das legitime Staatsoberhaupt Weißrusslands wenden! –, in die Affäre hinein. [11] Er soll sich als Hintermann Lukaschenkos outen, die Generalverantwortung für die Konfliktlösung übernehmen, die Merkelsche Schuldzuweisung – von wegen menschenfeindliche Politik des Diktators – akzeptieren und seinen engsten Verbündeten weltöffentlich zurechtweisen.
  • Die EU unterstützt einerseits Polen bei seinen drastischen Grenzschutzmaßnahmen tatkräftig. Nicht nur aus europäischer „Solidarität“ und um Lukaschenko zu zeigen, dass die EU nicht erpressbar ist, sondern auch, um diese EU-Außengrenze demonstrativ brachial zu schützen:
    „EU-Ratschef Charles Michel sagte nach einem Treffen mit dem polnischen Regierungschef Mateusz Morawiecki, dass es aus rechtlicher Sicht möglich sei, ,physische Infrastruktur‘ – also beispielsweise Zäune – zum Grenzschutz aus EU-Mitteln zu finanzieren... Polen, Litauen und Lettland haben angesichts der zunehmenden Migration über Belarus in ihre Länder und somit in die EU bereits damit begonnen, Hunderte Kilometer Grenzzaun zu errichten.“ (DW, 10.11.21)

    Andererseits wird konstatiert, dass die polnischen Methoden zur Sicherung der „Festung Europa“ mit der gültigen Rechtslage der EU in Sachen Asylrecht über Kreuz geraten, mit der man sich der restlichen Welt penetrant als Leuchtturm des Humanismus präsentiert. Nicht nur wegen der europäischen Werte, die sich die Union groß auf ihre Fahnen geschrieben hat; sondern auch, weil diese Rechtslagen als (Druck-)Mittel dienen, um über jeden Einzelfall hinaus die zunehmend rebellischen europäischen Asyl- und Einwanderungsverweigerer an der Ostfront auf Linie der führenden westlichen EU-Staaten zu bringen. Zwar bislang erfolglos, aber die EU-Kommission denkt deshalb noch lange nicht daran, ihre Oberhoheit auf die rechtlich einwandfreie Abschreckung der Flüchtlinge an Warschau abzutreten, und ventiliert öffentlich Zweifel an der polnischen Handhabung. [12] In jeder Hinsicht am besten wäre es daher, die Migranten aus dem Białowieża-Wald humanitär abzuräumen, sodass auch keine mehr nachkommen; nicht nur wegen der „Menschlichkeit“, die in Europa gilt; sondern auch, um die Krise und die mit ihr drohenden Konsequenzen obsolet zu machen, indem man den Polen den Konfliktstoff entzieht, auf den sich die ausgerufene Bedrohung gründet, die die Bündnissolidarität der EU erfordert. Dafür versucht man in Brüssel, den polnischen Vorstoß zur Etablierung eines kriegsträchtigen Grenzkonflikts zu entschärfen, mit Frontex-Hilfen und Menschenrechts-Beobachtern vor Ort die Aufsicht über den Fall zu übernehmen und ihn peu à peu auf die Ebene einer humanitären Polizeiaktion herunterzubringen. [13] Dass Polen eine EU-rechts- und wertetreue Bewältigung der Krise ablehnt, gibt schließlich zu der nicht unbegründeten Befürchtung Anlass, dass Polen sein Grenzregime zum nächsten Fall seiner Maxime ausruft, wonach in grundlegenden Souveränitätsfragen Polens Recht über EU-Recht steht –

    „Polens Staatschef Andrzej Duda sagte etwa: ,Sein Land wird keine Vereinbarungen anerkennen, die über unsere Köpfe hinweg geschlossen werden.‘ Vor allem denke er dabei an die Gespräche, welche Merkel in den vergangenen Tagen geführt habe. Duda betonte: ,Wir sind ein souveränes Land, das das Recht hat, selbst über sich zu entscheiden. Und wir werden dieses Recht unter allen Umständen ausüben.‘“ (junge Welt, 18.11.21) –

    was Polen inzwischen vollumfänglich bestätigt hat. [14]

*

Bei der ganzen Auseinandersetzung mit Polen vergisst die EU natürlich nicht ihre Feindschaft gegenüber dem letzten Diktator Europas. Da man aber nach wie vor auf dem Standpunkt steht, dass Lukaschenko schleunigst seinen Türsteherjob wieder pflichtgerecht auszuführen hat – zumal die Lage an der Grenze „nicht weiter eskaliert“ werden soll –, hält man in Brüssel eine feine Austarierung von Feindschaft und Deeskalation für das Gebot der Stunde:

„Dazu zählen vor allem neue EU-Sanktionen gegen das Lukaschenko-Regime, die sich allerdings von den bisherigen vier Sanktionsrunden unterscheiden müssen: Die EU müsste deutlich machen, dass diese Sanktionen die Spannungen nicht weiter eskalieren sollen, sondern sich ausschließlich auf die Instrumentalisierung von Migranten beziehen und wieder aufgehoben würden, wenn sich die Situation an der Grenze entschärft.“ (SWP-Berlin, 12.11.21)

Zwischenzeitlich verfällt man noch auf die geniale Idee, die Flüchtlinge vorübergehend in der Ukraine zu verstauen. [15]

Die USA verkünden die gültige Sicht der Dinge

Von den USA bekommen die Europäer mitgeteilt, dass das Vorhaben, die „Spannungen nicht weiter zu eskalieren“, völlig deplatziert ist angesichts einer Lage, über die in der EU offenbar gröbere Informationslücken vorliegen:

„Wie die Financial Times (FT) berichtet, ist es Washington gelungen, die anfangs zögerlichen Verbündeten auf eine harte Linie einzuschwören – und zwar auch so, dass Konsequenzen folgen könnten. Die Unterweisung der Europäer in bisher geheime Details startete bereits Anfang November vor einem Treffen der NATO-Minister in der vergangenen Woche, in dem es schließlich vorrangig um die Ukraine ging. Die Geheimdienst-Informationen halfen laut FT dabei, die Europäer und hier insbesondere Deutschland von ihrem ursprünglich zurückhaltenden Kurs abzubringen. ‚Viele Verbündete waren nicht davon überzeugt, dass die Lage ernst ist‘, sagte ein anonymer Beamter der FT: ‚Wir waren überrascht über diese Informationslücke – wie und warum die USA Dinge sahen, die wir nicht sahen.‘ Die Stimmung habe sich deutlich in Richtung der US-Lesart gewandelt. Ein weiterer anonymer Informant sagte der FT, es sei den Amerikanern gelungen, die Europäer von Putins wahren Absichten zu überzeugen. Welche Informationen den Europäern von welchen Geheimdiensten vorgelegt wurden, ist nicht bekannt.“ (berliner-zeitung.de, 6.12.21)[16]

Die USA sehen sich – von ihrem Geheimdienst aufgeklärt – dazu genötigt, ihre lieben allies auf eine harte Linie zu bringen; gegen wen, ist keine Frage:

„Außenminister Antony Blinken sagte, dass die gestrandeten Migrantenmassen an der weißrussisch-polnischen Grenze ein Versuch waren, von den russischen Truppen in der Ukraine abzulenken. Die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten erhöhen den Druck auf den russischen Präsidenten Wladimir Putin wegen zweier Krisen am Rande Europas, für die sie den Kreml verantwortlich machen. In den eisigen Wäldern und Sümpfen an der polnisch-weißrussischen Grenze kam es am Dienstag zu Unruhen, nachdem die polnische Polizei Tränengas und Wasserwerfer gegen einige von Tausenden dort gestrandeten Migranten eingesetzt hatte. Unterdessen stockt Russland seine Truppen an der Grenze zur Ukraine auf, was die Befürchtung aufkommen lässt, dass sich die Ereignisse von 2014 wiederholen könnten, als Moskau auf der ukrainischen Halbinsel Krim einmarschierte... Außenminister Antony Blinken erklärte am Sonntag in einem Tweet, die inszenierte Migrantenkrise sei ein bewusster Versuch, ‚die Sicherheit zu bedrohen, Zwietracht zu säen und von Russlands Aktivitäten an der Grenze zur Ukraine abzulenken‘.“ (NBC News, 16.11.21)

Es ist das Privileg eines Außenministers der Supermacht, seine politische Definition des Konflikts als allseits verbindliche Auskunft über die Lage darzubieten, damit jeder Bescheid weiß, was zu tun ist. Dank CIA und Antony Blinken wissen wir jetzt also:

  • Worin immer die Krise zwischen Polen, Balten und Weißrussen bestanden haben mag, Putin steckt hinter ihr.
  • Einen hybriden Krieg mit Migranten hat er inszeniert, weil er so verheimlichen will, dass er etwas anderes, noch viel Schlimmeres im Schilde führt, nämlich einen Einmarsch in die Ukraine.
  • Diese Absicht darf als bewiesen gelten, weil Russland zur gleichen Zeit, in der die polnische Polizei Wasserwerfer gegen Migranten einsetzt, Truppenbewegungen durchführt, und weil ja allgemein bekannt ist, dass der Kreml seine Nachbarn gern zerstückelt.
  • Also steht, analytisch scharf zusammengefasst, wieder einmal fest, dass der große Rivale nichts anderes will als die Sicherheit bedrohen, Zwietracht säen.

Dass die von den USA angeführte freie Welt diesem Verbrechen des wiedergeborenen Reichs des Bösen nicht tatenlos zusehen darf, versteht sich von selbst.

[1] Es wird schon so sein, dass Lukaschenko ein bisschen mehr getan hat, als die Migranten nicht aufzuhalten. In der Frage: Wie viel? ermitteln die öffentlichen Ankläger des Diktators. Und, man glaubt es kaum: Es hagelt Schuldsprüche. Für die Erklärung der Sache ist das alles unerheblich.

[2] Siehe auch: Die Krise in Weißrussland und der Fall Nawalny. „Das Ende der Ost-Politik?“ in der Ausgabe 4-20 dieser Zeitschrift.

[3] Die Galionsfigur des ‚Widerstands‘ darf z.B. an prominenter offizieller Stelle die europäischen Mächte zu mehr Anstrengungen zur Zersetzung des Lukaschenko-Regimes aufrufen:

Europa muss gegenüber der Autokratie ‚proaktiver‘ werden ... lassen Sie mich Ihnen versichern, dass Sanktionen wirken. Halten Sie weiter an einer konsequenten Sanktionspolitik fest. Sanktionen spalten die Eliten, zerstören Korruptionsmechanismen und spalten die Menschen um Lukaschenka... Heute hängt nicht nur die Demokratie in Belarus, sondern auch die Demokratie in Europa davon ab, ob wir diesen Weg gemeinsam gehen werden. (Tichanowskaja im Europaparlament, 24.11.21)

[4] Erstmalig beinhalten die Sanktionen gegen Weißrussland maßgeschneiderte Wirtschaftssanktionen, die sich auf den wichtigen Ölraffinerie-, Kali- und Bankensektor erstrecken... Die jüngsten von der EU beschlossenen Maßnahmen sehen ein Verbot aller neuen Verträge über die Einfuhr oder den Transfer aller weißrussischen Erdölerzeugnisse vor – darunter nicht nur Öl, sondern auch Flüssiggas (LPG) und Bitumen. Dies bedeutet, dass belarussische Unternehmen gerade den Zugang zum EU-Erdöl-Spotmarkt verloren haben... Darüber hinaus hat das Vereinigte Königreich Sanktionen gegen die in London ansässige BNK (UK) Limited verhängt, die für die belarussischen Brennstoffimporte und den Handel mit diesen Produkten zuständig ist. Dieser Schritt ist besonders wichtig, weil bis 2021 fast die Hälfte der belarussischen Erdölexporte auf das Vereinigte Königreich entfällt. (Eurasia Daily Monitor: EU Sectoral Sanctions Put a Heavy Burden on Lukashenka’s Regime, 30.6.21)

[5] Währungstransaktionen [sind] jetzt nur noch über die russische TKB-Bank möglich, während früher mehrere europäische Banken solche Transaktionen abwickeln konnten. Einfach ausgedrückt bedeutet diese Änderung, dass europäische Banken wahrscheinlich alle Überweisungen in Euro für Weißrussland einstellen werden... In Weißrussland sind 24 Banken tätig, von denen sich vier in Staatsbesitz befinden. Im Jahr 2018 gehörten 50 Prozent aller inländischen Finanzanlagen den vier größten Staatsbanken: Belarusbank, Belagroprombank, Dobrabyt-Bank und Belinvestbank. Diese Banken könnten die jüngsten Finanzsanktionen des Westens überleben, was jedoch für die kleineren Banken nicht gelten dürfte. (Deutsche Wirtschaftsnachrichten, 24.9.21)

[6] Zunächst sind am 4. Juni EU-Sanktionen im Luftverkehr in Kraft getreten. Dabei hat die EU ihren Luftraum für belarussische Airlines gesperrt; für die staatliche belarussische Fluggesellschaft Belavia, die bis dahin rund 20 Städte in der EU regelmäßig ansteuerte, entfallen damit ökonomisch wichtige Ziele. (German-Foreign-Policy.com, 7.7.21)

[7] Bei der Grenzpolitik kommt es eben immer schwer darauf an, mit welcher Güteklasse Migranten man es zu tun hat: Tief empfundener Humanismus verbietet sich jedenfalls dann, wenn man sich mit einer Horde Barbaren konfrontiert sieht: Polen verhängte einen Ausnahmezustand und eine Informationssperre über das gesamte Ostgrenzgebiet, hielt Journalisten und NGOs von der Grenze fern und inszenierte den Schutz der EU-Außengrenze medial zu einem Heldenepos, inklusive einer TV-Show mit verblassten Disco-Sternchen wie Lou Bega und No Mercy als Mutmacher für die Grenzschützer... Die Staatsmedien [vermittelten] das Narrativ, wonach Polen die EU vor einer Masseninvasion von kulturfremden Eindringlingen schütze. Pressekonferenzen zeigten Bilder aus angeblichen Smartphones der Migranten, auf welchen kinderpornographische und sodomistische Inhalte zu sehen waren. (telepolis, 30.1.22)

[8] Polen hat wegen des Andrangs tausender Menschen 15 000 Soldaten an der mit Stacheldraht verstärkten Grenze zu Belarus stationiert. (DW, 12.11.21)

In Warschau tagten am Nachmittag wegen der Entwicklung das Nationale Sicherheitsbüro sowie ein Krisenstab der Regierung. Ein Sprecher der Regierung äußerte die Vermutung, das belarussische Regime lege es darauf an, an der Grenze ein Blutvergießen zu provozieren. Sicherheitsfachleute fürchten schon seit einiger Zeit, dass sich die Lage an der Grenze früher oder später so zuspitzen werde, dass Schüsse fallen. (FAZ, 9.11.21)

[9] Polen schließt die Möglichkeit nicht aus, seine Grenze zu Weißrussland vollständig zu schließen, um als Reaktion auf die sich verschärfende Migrationskrise Druck auf das offizielle Minsk auszuüben. Dies würde bedeuten, dass die Handelsströme zwischen den beiden Ländern gestoppt und der Personenverkehr an den Grenzübergängen verboten würde. Wenn Warschau den Worten Taten folgen lässt, wird die belarussische Wirtschaft schwere Verluste erleiden. Polen ist der fünftgrößte Außenwirtschaftspartner von Belarus... Im vergangenen Jahr beliefen sich die Gesamtausfuhren von Transportdienstleistungen auf 3,7 Mrd. $... Der größte Teil dieses Betrags entfällt auf den Güterverkehr, der durch Polen fließt. Erstens liefern belarussische Unternehmen ihre Waren über Polen in andere EU-Länder, und zweitens ist unser Land auch ein Teil der Transitstrecke im Handel von Russland und China mit Europa ... das sind Einnahmen in harter Währung. Selbst wenn diese Leistungen nicht auf Null sinken, sondern halbiert werden, würde dies bedeuten, dass dem Land fast 1,5 Milliarden Dollar pro Jahr entgehen. In Bezug auf Sanktionen ist dies wahrscheinlich einer der härtesten Schläge, die es geben kann. (zerkalo.io, 11.11.21)

[10] Der russische Präsident Wladimir Putin erklärte, dass Russland nichts mit der Migrationskrise an der Grenze zwischen Belarus und der EU zu tun habe. ‚Ich möchte, dass jeder weiß, dass wir nichts damit zu tun haben... Jeder versucht, uns aus jedem beliebigen und ohne jeglichen Grund eine Verantwortung aufzuerlegen‘, erklärte der Präsident. Putin betonte auch, dass russische Fluggesellschaften keine Migranten befördern, die sich jetzt an der Grenze zwischen Weißrussland und der EU befinden. (TASS, 13.11.21)

[11] Merkel: Ich habe heute mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin telefoniert und ihn gebeten, auf den Präsidenten Lukaschenko einzuwirken. Denn hier werden Menschen benutzt, sie sind sozusagen Opfer einer menschenfeindlichen Politik, und dagegen muss etwas unternommen werden... Die Probleme müssen so gelöst werden, dass es human zugeht. Das tut es im Augenblick leider nicht. – womit sie sich in einer ihrer letzten Amtshandlungen für ihre Flüchtlingspolitik, klar gegen die PiS und unter anderem auch gegen ihre eigene Partei positioniert: Für die CDU/CSU-Fraktion forderte deren Abgeordneter Thorsten Frei Unterstützung für Polen bei der Sicherung der EU-Außengrenze zu Belarus... Keinesfalls dürften Migranten aus dem Grenzgebiet in Europa verteilt werden. ‚Damit geht das Kalkül von Lukaschenko auf. Damit wird der Druck auf die polnische Grenze verstärkt und damit wird ein Spaltpilz in die Europäische Union getrieben. Das ist das Dümmste, was man an dieser Stelle fordern kann.‘ (DW, 11.11.21)

[12] Innenkommissarin Ylva Johansson hatte Warschau schon Anfang Oktober die Unterstützung der Grenzschutzbehörde Frontex angeboten – nachdem es die ersten Todesfälle an der Grenze mit Belarus gegeben hatte. Die Schwedin verband das Angebot mit einer doppelten Botschaft: Einerseits dürfe sich die EU nicht vom Lukaschenko-Regime erpressen lassen, andererseits ‚müssen wir unsere Werte und das EU-Recht schützen, wenn wir unsere Grenze schützen‘. Der polnische Innenminister Mariusz Kamiński lehnte jedoch dankend ab... Möglicherweise gehört das zur Strategie der Abschottung des Grenzstreifens gegenüber den Medien und weitgehend auch gegenüber Hilfsorganisationen. Offenbar will man auch keine Zeugen haben, wenn aufgegriffene Migranten mit unsanften Mitteln zurück an die Grenze gefahren und zur Rückkehr gezwungen werden. (FAZ, 10.11.21)

[13] Wobei bei allem gebotenen Humanismus klargestellt wird, dass die Flüchtlinge letztlich wieder dorthin zurückkehren, wo sie hergekommen sind (Heiko Maas, DW, 15.11.21), denn: Einer humanitären Lösung steht vor allem die Sorge entgegen, dass diese einen Sog auf weitere Flüchtlinge ausüben könnte. Daher muss die EU wirksame Präventivmaßnahmen gegen eine fortgesetzte Schleusung über Belarus ergreifen.

[14] Ende voriger Woche lehnte der polnische EU-Botschafter einen zwischen den Mitgliedstaaten ausgehandelten Kompromiss ab, der seinem Land sowie Lettland und Litauen vorübergehend Ausnahmen bei der Anwendung von EU-Recht zugestanden hätte. Der Grund: Warschau ging auch dieser Kompromiss noch viel zu weit. Es verlangte nicht weniger als eine vollständige Aussetzung von Asylverfahren, ‚wenn eine Bedrohung der öffentlichen oder nationalen Sicherheit vorliege‘. Außerdem könne das Land nicht verpflichtet werden, mit dem UN-Flüchtlingshilfswerk und anderen humanitären Organisationen zusammenzuarbeiten... Das Nein aus Warschau könnte Teil einer generellen Blockade sein, mit der Warschau gedroht hat, weil es im Streit um Rechtsstaatlichkeit bisher kein Geld aus dem Wiederaufbaufonds bekommt. Auf jeden Fall hat Polen nun die nächste Brücke abgebrochen, welche die Europäer dem Land gebaut haben, um es in die gemeinsame Rechtsgemeinschaft zurückzuholen. (FAZ, 1.2.22)

[15] Vorschläge aus Deutschland, Flüchtlinge von der belarussisch-polnischen Grenze vorübergehend in der Ukraine unterzubringen, haben dort heftige Diskussionen ausgelöst... ‚Kein Politiker, der sich an der öffentlichen Meinung orientiert ... würde dies tun.‘ In der Bevölkerung sei ein derartiges Abkommen kaum mehrheitsfähig. Krawtschuk [Experte für Migration bei der ukrainischen Menschenrechtsorganisation ‚Europa ohne Barrieren‘] verwies zudem darauf, dass es in der Vergangenheit bereits mehrfach zu Übergriffen auf Flüchtlingsheime gekommen sei. (DW, 15.11.21)

Der Chef des Nationalen Sicherheitsrates der Ukraine, Oleksij Danylow, reagierte derweil auf einen Vorschlag des deutschen Außenstaatssekretärs Niels Annen (SPD)... Danylow sagte, die Ukraine habe bereits 1,5 Millionen Flüchtlinge aus dem Donbass aufgenommen; wenn aber der Bundestag oder SPD-Politiker ‚bei sich zu Hause‘ Räume frei hätten, könnten sie diese Migranten vielleicht aufnehmen. (FAZ, 13.11.21)

[16] Auch die Ukraine, obwohl ganz nah dran, erfährt erst von den Amerikanern, dass sie überfallen werden soll: Anfang November versuchten ukrainische Verteidigungsbeamte, Medienberichte über eine weitere russische militärische Aufrüstung in Grenznähe zur Ukraine herunterzuspielen. Jermak lehnte es ab, die früheren Erklärungen des ukrainischen Verteidigungsministeriums zu kommentieren, wies aber darauf hin, dass der Informationsaustausch mit den Partnerländern entscheidend dazu beigetragen habe, die Ukraine vor der Gefahr eines bewaffneten Angriffs aus Russland sowie vor den Bemühungen um eine Destabilisierung des Landes im Innern zu warnen. US-Außenminister Antony Blinken habe bei seinem Treffen mit Selenskyj am Rande des Klimagipfels im schottischen Glasgow am 2. November die Bedenken der USA ‚in aller Deutlichkeit‘ zum Ausdruck gebracht, so Jermak. (Foreign Policy, 8.12.21)