Krieg in Libyen
Regime-Change durch die NATO – Streitfall für die Weltaufsichtmächte
Nach Ägypten und Tunesien gerät auch in Libyen die Lage für die Regierung „außer Kontrolle“, weil Teile des Volkes ihre Gefolgschaft kündigen und den „Sturz des Systems“ fordern. Und auch in Bezug auf dieses Land des arabischen Nordafrika ist sofort klar, dass die Zerrüttung des Verhältnisses zwischen Herrschaft und Volksmassen keine „innere Angelegenheit“ ist: Völlig selbstverständlich gehen die westlichen Großmächte davon aus, dass sie zuständig sind für die Entscheidung von lokalen Gewaltfragen dort – debattiert wird nur noch, welche Schritte die Lage „von uns“ verlangt, wie „wir“ die „Revolution gegen den Alleinherrscher“ steuern und mit ihrer Hilfe „unsere“ Interessen an und in Libyen und der Region voranbringen können.
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Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Gliederung
- Der Bürgerkrieg als Stoff weltpolitischer Konkurrenzen im UN-Sicherheitsrat
- Ein asymmetrischer Krieg gegen den unliebsamen Herrscher, ein betreuter Boden-Krieg zwischen rivalisierenden lokalen Parteien und eine Konkurrenz um die Führung in der Koalition
- Der Krieg geht weiter – der Kampf der Großmächte um seine Legitimität auch
Krieg in Libyen
Regime-Change durch die NATO –
Streitfall für die Weltaufsichtmächte
Nach Ägypten und Tunesien gerät auch in Libyen die Lage für die Regierung „außer Kontrolle“, weil Teile des Volkes ihre Gefolgschaft kündigen und den „Sturz des Systems“ fordern. Und auch in Bezug auf dieses Land des arabischen Nordafrika ist sofort klar, dass die Zerrüttung des Verhältnisses zwischen Herrschaft und Volksmassen keine „innere Angelegenheit“ ist: Völlig selbstverständlich gehen die westlichen Großmächte davon aus, dass sie zuständig sind für die Entscheidung von lokalen Gewaltfragen dort – debattiert wird nur noch, welche Schritte die Lage „von uns“ verlangt, wie „wir“ die „Revolution gegen den Alleinherrscher“ steuern und mit ihrer Hilfe „unsere“ Interessen an und in Libyen und der Region voranbringen können.
Im Unterschied zu Tunesien und Ägypten geht bei Libyen die Sortierung der westlichen Parteilichkeit blitzschnell: Wenn einer wie Staatschef Gaddafi die Opposition beschimpft und bedroht und mit Gewalt die öffentliche Ordnung gegen Aufständische durchsetzt, dann sind Akte des Staatsschutzes Verbrechen an der Menschlichkeit, die ihn als Staatschef völlig delegitimieren: So einer hat „keinen Platz mehr“ in „unserer Weltordnung“. Die europäischen Westmächte, vor allem Frankreich und Großbritannien, nehmen die Unruhen in Libyen als eine willkommene Gelegenheit, den Staatsmann abzuservieren, mit dem sie in den letzten Jahren zwar lukrative Geschäfte gemacht haben, der aber – trotz aller südeuropäischen Freundschaftsbekundung – immer ein unangenehmer und lästiger Partner geblieben ist: Kooperation ist von ihm nur zu haben, wo sie sich für ihn auszahlt; als Gegenleistung für die Eindämmung der afrikanischen Flüchtlingsflut nach Europa fordert und erhält er von Italien Milliarden unter dem Titel „Entschädigung für die Kolonialherrschaft“; bei Öl- und Gasgeschäften besteht er darauf, dass ausländische Konzerne Libyen mitverdienen lassen, nach der Krise sogar durch Beteiligungen am Eigentum z.B. der italienischen Eni. Auch nach seiner „Wende“ 2003 lässt er von seiner „antiimperialistischen Außenpolitik“ nicht ab. Im arabischen Lager fordert er Solidarität mit den Palästinensern gegen Israels Expansionspolitik und prangert die US-Hörigkeit insbesondere der Scheichs auf der arabischen Halbinsel an. Die Afrikanische Union (AU) fordert er auf, eigenständig die Gewaltfragen auf dem Kontinent zu regeln und sich den Ordnungsansprüchen der USA und Frankreichs zu widersetzen. Mit Hilfsgeldern gewinnt er Einfluss auf die Nachbarländer und betätigt sich z.B. im Sudan als alternativer Vermittler zwischen den Konfliktparteien. Auch wenn es Gaddafi nicht gelingt, die Aufsicht des Westens in Nahost und Afrika wirksam zu konterkarieren, mit seiner ständigen Agitation der Völker zur Emanzipation von „der andauernden kolonialistischen Bevormundung“ und seiner Kritik an prowestlichen Regierungen ist er ein Unruhe- und Störfaktor. Für die EU, besonders für Frankreich als dem Protagonisten der „Süderweiterung“, ist er insofern der Haupt-Störenfried des Barcelona-Prozesses, der die Anrainerstaaten des Mittelmeers ökonomisch und politisch an die EU anbinden soll. Er weigert sich konstant, den von Europa geforderten Kodex für gutes Regieren zu unterschreiben und initiiert immer wieder arabischen Boykott von Treffen, an denen auch Israel teilnehmen soll.
Frankreich und Großbritannien nutzen also die Gelegenheit, rufen wenige Tage nach dem Ausbruch der Unruhen in Benghasi eine „Koalition der Willigen“ aus, die den Sturz Gaddafis und den Regimewechsel in Libyen zum Ziel hat, und übernehmen die Initiative bei der Vorbereitung der dafür notwendigen diplomatischen und militärischen Schritte. Als EU-Führungsmächte nehmen sie es nicht hin, dass ein Machthaber in ihrem nordafrikanischen Hinterhof, also in einer Staatenregion, die sie als Objekt ihrer machtvollen Aufsicht definiert haben, sich anmaßt, ohne ihre Zustimmung seine Macht zu behaupten – und statuieren an Gaddafi ein Exempel: Sie machen seine Entmachtung als befugte Ordnungsmächte zu ihrer Sache.
Der Bürgerkrieg als Stoff weltpolitischer Konkurrenzen im UN-Sicherheitsrat
Dabei wissen sie, dass ihr Vorhaben, durch kriegerisches Eingreifen ihnen genehme Machtverhältnisse in Libyen herbeizuführen, andere Staaten herausfordert, die eigene ökonomische und strategische Interessen an diesem Land haben. Das betrifft nicht nur untergeordnete Mächte wie die arabischen und afrikanischen Nachbarn sowie die östlichen und nördlichen Mittelmeer-Anrainer. Ökonomisch und strategisch bedeutsam ist Libyen auch für Russland und China, Weltmächte also die (Mit-)Zuständigkeit in prinzipiell allen internationalen Affären beanspruchen und Alleingänge als feindselige Akte werten, und insofern durch den geplanten Sturz des „Diktators“ grundsätzlich herausgefordert sind. Wegen dieser Konkurrenz wenden sich kriegsgeile Großmächte heute an den UN-Sicherheitsrat, wenn sie Sicherheit für ihre Kriege suchen, so auch Frankreich und Britannien. Dem höchsten Organ der Weltpolitik tragen sie ihren Eingriffswillen als Sorge um den Weltfrieden und die Werte der UN-Charta vor, um sich von der „Völkergemeinschaft“ zu ihrem Krieg beauftragen zu lassen. Die „Internationale Gemeinschaft“ soll die Strafaktion und den Sturz des Regimes absegnen, d.h. die konkurrierenden Mächte sollen ihre Zustimmung geben und damit schon im Voraus anerkennen, dass das Kriegsresultat neues internationales Recht setzt. Auch wenn von den Sicherheitsratsmitgliedern diese Zustimmung nicht zu erhalten ist, klärt der Streit um die Lagedefinition und Eingriffstatbestände doch die Haltung der konkurrierenden Weltmächte zu dem Projekt und fördert damit ihre Berechenbarkeit.
Die USA, die Gaddafi und seinen Staat schon ewig als
Feind ansehen und behandeln, haben es mit seinem Sturz
zunächst nicht eilig. Sie wollen sich nicht in einen
weiteren, womöglich langwierigen Krieg stürzen, während
sie immer noch zwei andere Kriege führen, die aus Obamas
Sicht die Weltmacht Nr.1 belasten. Angesichts dessen,
dass die beiden europäischen Mächte, die den Fall auf die
Tagesordnung setzen, fest entschlossen sind, ihn mit
Gewalt zu lösen, sieht sich die US-Regierung aber in
ihrer Rolle als oberste Kriegsmacht
herausgefordert. Keinesfalls will sie Frankreich und
Großbritannien die Durchsetzung des Regime-Change in
einer für amerikanische Weltaufsicht entscheidenden
Region alleine überlassen,[1] also tritt sie der
Koalition der Willigen
bei und beansprucht darin
gleich die Führung. Zuerst demonstriert sie den
Verbündeten, dass nur das Wort Amerikas ihren
Kriegswillen völkerrechtlich legitimieren kann, indem sie
nach Wochen britisch-französischen Drängens mit ihrem
Gewicht für den Umschwung im Sicherheitsrat sorgt und die
mehrheitliche Zustimmung zu den Resolutionen organisiert,
die den Weg zum Schießen frei machen. Den
Koalitionspartnern weist sie die Rolle von
Subunternehmern zu, die neben den libyschen
Aufständischen die Hauptlast des Krieges tragen sollen.
Die oberste Entscheidungsbefugnis aber bleibt bei den
USA, und dieses Vorrecht untermauern sie mit
gelegentlichen Beweisen ihrer überlegenen militärischen
Stärke, die den Alliierten vorführt, dass sie ohne die
Führungsmacht auch militärisch nichts zustande bringen
würden.
Für die völkerrechtliche Legitimierung des Angriffs
beschafft man sich – wie es die UN-Gepflogenheiten
verlangen – den obligaten Hilferuf aus dem Land, in das
man eindringen will: Der libysche Botschafter bei den UN
selbst, der gerade noch rechtzeitig Gaddafi den Rücken
kehrt, stellt sich dafür ebenso zur Verfügung wie der
Übergangsrat in Benghasi: Sie bitten die Vereinten
Nationen um militärischen Beistand und liefern damit eine
Voraussetzung dafür, dass aus dem Angriff ein
Hilfseinsatz zur Friedenssicherung
wird. Dazu
lassen sich noch ein paar Nachbar-Staaten als Kronzeugen
für die Verbrechen Gaddafis und das Bedürfnis nach Schutz
der Bevölkerung durch westliche Bomben auftreiben. Die
US-Verbündeten auf der arabischen Halbinsel besorgen
einen Beschluss der Arabischen Liga, der für die
Opposition Partei ergreift, und schließlich lassen sogar
die Organisation Islamischer Staaten (OIC) und die
Afrikanische Union (AU) irgendeine halblaute
Missbilligung des Vorgehens der libyschen
Sicherheitskräfte verlauten.
Die übrigen Sicherheitsratsmitglieder werden dadurch vor die Entscheidung gestellt, ob sie das beabsichtigte Eingreifen der Koalition der Willigen gut heißen oder nicht. Während die Resolution 1970 noch einstimmig beschlossen wird, die Schüsse des Gaddafi-Regimes auf Demonstranten verurteilt und Sanktionen wegen des Verdachts auf Menschenrechtsverletzungen verhängt, kommt es bei der Resolution 1973, die ein militärisches Einschreiten legitimiert, zur Enthaltung von praktischen allen anderen wichtigen Mitgliedern des Sicherheitsrates, darunter Indiens, Brasiliens und Deutschlands, vor allem aber durch die Veto-Mächte Russland und China. Sie versagen der Resolution, an deren Formulierung sie mitgewirkt haben die Zustimmung; allgemein gehaltene Bekenntnisse zur Verantwortung der Völkergemeinschaft und zu „Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung“ tragen sie mit, bestehen aber auf deren „restriktiver Auslegung“; im Wissen, an was sie da mitformulieren, setzen sie im Text der Resolution noch den „Ausschluss ausländischer Besatzungstruppen jeglicher Art“ durch und schreiben das Recht des Sicherheitsrats fest, sich die Aufsicht über alle Eingriffe und die Regelung der politischen Verhältnisse in Libyen zu reservieren. Bei der Abstimmung, die den Weg zum Krieg der westlichen Koalition frei macht, verweigern sie dann die Zustimmung. Trotz ihres Interesses an den bestehenden Verhältnissen in Libyen, legen sie aber auch kein Veto ein und vermeiden die direkte Konfrontation mit den Westmächten. Aber sie geben mit ihrer Enthaltung ihre Missbilligung des Koalitionskrieges zu Protokoll und verweigern ihm die Rechtfertigung als Akt der Durchsetzung des Völkerrechts.
Deutschland enthält sich ebenfalls im Sicherheitsrat bei der entscheidenden Resolution. Der anwesende Außenminister Westerwelle trägt die üblichen, UNO-mäßigen diplomatischen Bedenken vor – der Weg der Sanktionen sei nicht konsequent gegangen worden und die Möglichkeiten einer friedlichen Konflikt-Lösung noch nicht ausgeschöpft –, praktiziert mit seinen höflichen Bedenken politisch aber etwas anderes: Der als natürliches Mitglied der Kriegskoalition verplante, engste europa- und weltpolitische Partner Frankreichs und Englands, der wichtige NATO-Verbündete der USA stellt sich – zusammen mit den BRIC-Staaten – gegen den ganzen Westen und verweigert dem Krieg Zustimmung und Beiträge – ein demonstrativer Affront. Das hat mit Gaddafi nichts zu tun, für den auch die deutsche Regierung nichts übrig hat; an ihm und seinem Land werden ganz andere Konkurrenzen ausgefochten. Deutschland sieht sich übergangen, wenn Frankreich und England die höchste Form der gemeinsamen Außenpolitik, den Krieg im europäischen Umfeld und Einflussgebiet, nicht in den zuständigen EU-Gremien beantragen und aushandeln, sondern in nationaler Eigenregie, in einer dreiseitigen Absprache mit der transatlantischen Vormacht beschließen, und erst recht, wenn die EU dadurch in eine Position manövriert wird, in der ihr gar nichts übrig bleiben soll, als der britisch-französischen Führung zu folgen, ihr damit die Definition europäischer Außeninteressen zu überlassen und unter deren Regie mitzumachen. So viel Wert die westeuropäischen Führungsmächte auf die Klarstellung legen, dass in Fragen der äußeren und schon gleich der kriegerischen Machtentfaltung Europas ihnen als Mit-Siegern des Zweiten Weltkriegs, Atomwaffenstaaten und überhaupt als anerkannten Kriegsmächten eine Vorrangstellung in der EU gebührt, die sie in ökonomischen Fragen viel zu oft Deutschland überlassen müssen, so entschlossen ist die Bundesregierung, klarzustellen, dass dem nicht so ist. Wenn Deutschland nichts mehr zu bestimmen hat, wo es um machtvolle europäische Ordnungsaktionen geht, und nur mitmachen soll, gibt es eben gar keine gemeinsame europäische Außenpolitik. So wird mit Bomben auf Tripolis und Umgebung und mit ihrem Erfolg nun auch darüber entschieden, wie viel europäische Machtdemonstration auch ohne Deutschland, wie viel Führung in der EU gegen Deutschland durchzusetzen ist.
Die Koalition der Willigen kümmert sich nicht weiter um
Distanzierung und Enthaltung, sie nimmt die nicht
verhinderte Resolution 1973 als das Mandat, das ihren
Krieg zu einem Fall der Wahrung des Weltfriedens und
der internationalen Sicherheit
nach Kapitel VII der
UN-Charta macht, ihnen das Recht einräumt, den
souveränen Staat
Libyen anzugreifen, und jede
ihrer Bomben als Maßnahme zum Schutz der
Zivilbevölkerung
heiligt.
Ein asymmetrischer Krieg gegen den unliebsamen Herrscher, ein betreuter Boden-Krieg zwischen rivalisierenden lokalen Parteien und eine Konkurrenz um die Führung in der Koalition
Die Streitkräfte der USA, Frankreichs und Großbritanniens und einiger kleiner Verbündeten brauchen nur wenige Stunden, um das gegen Libyen verhängte Flugverbot durchzusetzen. Mit hunderten, von U-Booten und Zerstörern abgeschossenen Marschflugkörpern vernichtet die US-Navy die libysche Luftabwehr und Luftwaffe, gleichzeitig bombardieren Kampfjets der Verbündeten den Belagerungsring Gaddafi-treuer Truppen um Benghasi. Kriegsschiffe der Koalition kontrollieren den Schiffsverkehr von und nach Libyen und setzen das beschlossene Waffenembargo durch. Damit sind dem libyschen Führer in kürzester Zeit alle Gewaltmittel aus der Hand geschlagen, mit denen er sich gegen Angriffe von außen wehren könnte. Ihm wird eindringlich seine Ohnmacht gegenüber den Mächten vor Augen geführt, die sich ein neues, ihnen genehmeres Libyen schaffen wollen. Sämtliche Vermittlungsbemühungen – Griechenlands, der Türkei, des UN-Sondergesandten etc. –, die Gaddafis Zustimmung zu einem Waffenstillstand erzielen, werden abgelehnt, weil die Führungsmächte der Koalition seine Kapitulation verlangen. Sie wollen Gaddafi geächtet und wegen seiner Verbrechen vor den Internationalen Gerichtshof gestellt sehen. Alle Versuche, ihm einen ehrenvollen Abgang und den Gang ins Exil zu ermöglichen, werden zurückgewiesen. Die Lektion, die an diesem Fall ganz prinzipiell erteilt wird, dass die USA und Europa dem Herrscher eines zweitklassigen Staates „eigenmächtige Gewaltausübung“ nicht durchgehen lassen, verträgt sich nicht mit irgendwelchen Kompromissen. In dieser Logik liegt auch die durch gezielte Luftangriffe versuchte Tötung des „Tyrannen“, der nicht bedingungslos die Waffen streckt.
Die andere Seite des Krieges ist die Erringung der Macht am Boden durch eine vom Westen gewünschte, seine Interessen garantierende neue Führung. Zum Leidwesen der Koalition eignen sich die libyschen Rebellen nicht sonderlich als 5. Kolonne. Sie verfolgen ganz disparate politischen Zielsetzungen, die großenteils mit den Zielen der westlichen Paten nicht kompatibel sind. Radikale Islamisten müssen daran gehindert werden, Einfluss zu nehmen, Führer von Stämmen, die sich unter Gaddafi benachteiligt und gedemütigt fühlten, eignen sich nicht ohne weiteres als Repräsentanten eines libyschen Staatswesens. Die Figuren, die für die Übernahme der Verantwortung im Staate am ehesten in Frage kommen, sind ehemalige Vertraute Gaddafis, die sich von ihm abgewandt haben, und heimgekehrte Exil-Libyer. Die einen erscheinen den westlichen Geheimdiensten immer noch suspekt, die anderen haben zu wenig Einfluss im Volk. Nicht zuletzt deswegen wird der „Übergangsrat“, der sich als die legitime Vertretung des libyschen Volkes versteht, nur von einigen Koalitionsmitgliedern offiziell anerkannt, von anderen als lediglich ein Gesprächspartner bezeichnet. In militärischer Hinsicht hat die Opposition, die die Macht im Land erkämpfen soll, noch weniger zu bieten. Die Mehrzahl der Freiwilligen bringt nicht mehr als guten Willen und Opferbereitschaft mit, es fehlt an Leuten, die sich mit Waffentechnik und Kriegsführung auskennen. Die wenigen Deserteure aus Gaddafis Sicherheitsverbänden sind, auch wenn sie von westlichen Agenten beraten werden, mit der Ausbildung und der Führung spontan zusammengestellter Einheiten überfordert. Es fehlt zudem an Waffen, vor allem an schwerem Gerät, das dem Panzer- und Artilleriebeschuss der Regierungsverbände Stand halten kann.[2] Den Rebellen stehen bewaffnete Kräfte gegenüber, die zahlenmäßig überlegen, kriegserfahren und mit Militärtaktik vertraut sind. Selbst nach dem massiven Einsatz von Marschflugkörpern und Kampfflugzeugen durch die Alliierten, gelingt es den Aufständischen oft nicht, Städte zu halten oder gar zurückzuerobern. Die regierungstreuen Verbände können sich, obwohl NATO-Flugzeuge nach mehreren Wochen Kampf 40-50 % ihrer Waffen vernichtet haben sollen, immer noch halten und den Aufständischen Paroli bieten. So zieht sich der Krieg hin und fordert immer mehr Opfer. Der Koalition gehen langsam die militärischen Ziele für ihre Bomben aus; sie eskaliert ihren Krieg, indem sie immer neue Gebäude zu militärischen Objekten, Verstecke regierungstreuer Kämpfer zu Kommandozentralen, also zu Zielen erklärt und zerstört.
Der Krieg zieht sich auch hin, weil die westlichen
Staaten an ihm ihre Konkurrenz untereinander austragen.
Die USA führen Frankreich und Großbritannien vor, dass
sie gar nicht in der Lage sind, den Krieg ohne
amerikanische Unterstützung zu führen, und dass darum die
Oberaufsicht über das Kriegsgeschehen und die politische
Umgestaltung Libyens naturgemäß Washington zukommt. Das
demonstrieren sie anfangs mit dem machtvollen Einsatz der
Tomahawks, der – wie der Pressesprecher des Pentagon es
ausdrückt – „den Kampfraum“ „formt“, und später dadurch,
dass sie den Alliierten das Kriegführen überlassen und
sich nur als letzte Sicherheitsgarantie im Hintergrund
halten.[3] Als
Führer der informellen Koalition bestehen sie darauf,
dass diese nach den entscheidenden ersten Kriegstagen
nicht weiter auf eigene Faust operiert, sondern das
Kommando auf die NATO überträgt und sich ihr unterstellt.
Das US-geführte Weltkriegsbündnis soll sich insgesamt
hinter den nordafrikanischen Krieg stellen, seine
Mitglieder beanspruchen dafür dann aber auch Mitsprache
bei der Definition von Kriegszielen und Kriegsmitteln.
Italien und die Türkei sorgen mit der Drohung, ihre
Militärbasen nicht weiter zur Verfügung zu stellen,
dafür, dass die Bestimmungen des UN-Mandats – entgegen
französisch-britischen Absichten eher eng ausgelegt und
beachtet werden. Sarkozy wird ausdrücklich untersagt,
dass er mit der von ihm gegründeten „Kontaktgruppe“ aus
22 Staaten das Kommando über den Aufbau einer
Alternativregierung übernimmt. Und so weiter – je nach
nationaler Interessenlage sieht der Beitrag aus, den die
einzelnen Mitgliedsländer leisten oder verweigern. Auch
die deutsche Regierung will es beim demonstrativen
Beiseite-Stehen nicht bewenden lassen. Da der Krieg
läuft, sucht sie sich einzuschalten und Einfluss aufs
Geschehen zu gewinnen, selbstverständlich ohne sich nun
doch unterzuordnen oder von ihrer Verurteilung des
britisch-französischen Alleingangs etwas zurückzunehmen.
Sie versucht sich – unter Festhalten an ihren Mahnungen
zum Einstellung der Kämpfe und zur Suche nach einer
Verhandlungslösung – an einer Neudefinition des
militärischen Auftrags: Falls die UNO darum nachsucht, so
das sehr deutsche, sehr humanitäre Kriegskonzept, dass
Hilfskonvois unter dem Schutz von Soldaten
Versorgungsgüter zur Bevölkerung in Kriegszonen bringen,
dann würde Deutschland sogar den Übergang zum bisher
ausgeschlossenen Bodenkrieg mittragen, und, sofern man
ihm folgt, ein EU-Mandat und Bundeswehr-Soldaten
spendieren.
Der Krieg geht weiter – der Kampf der Großmächte um seine Legitimität auch
Für Russland und China, die beiden ständigen Sicherheitsratsmitglieder, die sich bei der Resolution 1973 enthalten haben, ist spätestens seit dem Streit um diese Resolution klar, dass sich die Westmächte von ihrem Krieg um Libyen nicht abhalten lassen wollen. Die Kritiker halten den Streit im Sicherheitsrat darüber in Grenzen, um sich eine Konfrontation zu ersparen, die ihnen Gaddafis Libyen nun auch nicht wert ist. Während die drei westlichen Veto-Mächte also Krieg führen und Fakten setzen, verlegen sich die beiden anderen darauf, ihnen das Recht dazu abzusprechen: Die NATO überschreite bei weitem das UN-Mandat; sie schütze nicht Demonstranten und Zivilisten, sondern mische sich auf Seiten der Rebellen ins Kampfgeschehen ein, ja führe den Krieg hauptsächlich selbst, indem sie von oben die Machtmittel der Regierung vernichtet und ihre Soldaten tötet.[4] Die Anerkennung der Aufständischen in Benghasi als legitime Vertretung des libyschen Volkes, den von außen betriebenen Sturz der Regierung eines UN-Mitglieds und die versuchte Liquidierung des Staatschefs – das prangern sie als offenen Bruch des Völkerrechts an.[5]
Russland und China kündigen an, künftig nichts mehr passieren zu lassen: Der Westen, der alle bisherigen Resolutionen als Blanko-Vollmacht für Regime-Change missbraucht, könne sich eine Folgeresolution, die auch noch den Einsatz von Bodentruppen genehmigt, von vornherein abschminken.[6] Für Syrien, Jemen und weitere Länder, in die sich der Westen über den Sicherheitsrat einzumischen versucht, stellen sie klar, dass sie jegliche Befassung des Gremium mit dortigen Vorfällen ablehnen. Diese Länder liegen näher an ihren Grenzen und haben engere Bindungen an Russland und China, die insgesamt nach Libyen stärker zusammenarbeiten wollen:
„Wir haben uns darüber geeinigt, unter Nutzung der Möglichkeiten unserer beiden Staaten unsere Handlungen zu koordinieren, um die baldigste Stabilisierung der Situation (im Nahen Osten und in Nordafrika) voranzutreiben und dort keine weiteren negativen und unvoraussagbaren Folgen zuzulassen“, sagte der russische Außenminister am Freitag auf einer Pressekonferenz nach Verhandlungen mit seinem chinesischen Amtskollegen Yang Jiechi in Moskau.“ (RIA Novosti, 6.5.)
Ihre Anklagen und Initiativen ändern nichts am laufenden Krieg und der Umgestaltung der Machtverhältnisse in Nordafrika, denen sich Russland und China letztlich eben nicht in den Weg stellen wollten; es sind aber Warnungen an die Adresse arabischer und afrikanischer Staaten, sich nicht länger zum nützlichen Idioten der westlichen Weltmächte machen, die deren Souveränität missachten und sich je nach ökonomischen, politischen und strategischen Interessen den „Weltfrieden“ und die „internationale Sicherheit“ zurecht definieren:
„Wir sind immer gegen Gewalt in den internationalen Beziehungen aufgetreten und wir sind der Meinung, dass in einer solchen Situation streng von den Prinzipien der UN-Charta und den anderen Völkerrechtsnormen ausgegangen werden muss. Es ist notwendig, die Souveränität und die territoriale Integrität von Libyen zu achten“, sagte Yang Jiechi. (RIA Novosti, 6.5.)
Russland und China nehmen den westlichen Krieg also zum Anlass, sich als alternative Hüter der UN-Prinzipien[7] anzubieten und sammeln Staaten um sich, die ihre Zurückweisung eines westlichen Rechts zum Krieg, wo immer der ihn nützlich findet, mittragen. Das sind diplomatische Botschaften an die Adresse der kriegführenden Mächte, dass die konkurrierenden Weltmächte ihre Ausmischung aus weltpolitischen Affären und die Missachtung ihrer Einsprüche nicht einfach hinnehmen.
Die ‚Koalition der Willigen‘ lässt sich von diesen Einsprüchen nicht beeindrucken, oder nur so, dass sie ihnen mit einer Eskalation des Kriegs begegnet. Gaddafis Erledigung hält sie nur umso mehr für notwendig: als Beweis ihrer Entschlossenheit und Macht, in ihrem Sinne Ordnung zu stiften, also sich als Weltordnungsmächte durchzusetzen.
[1] Amerika hat die Bemühungen der EU, die Staatenwelt rund ums Mittelmeer zu ihrer exklusiven Einflusszone zu machen und den USA damit die oberste strategische Kontrolle zu bestreiten, stets bekämpft und ist dagegen mit eigenen bilateralen Freihandelsabkommen und sonstigen Sonderbeziehungen zu den betreffenden Staaten vorgegangen.
[2] Die Versorgung mit Kriegsgerät läuft sehr zögerlich und in Bezug auf den Bedarf zu spärlich, weil die Westmächte befürchten, dass die Waffen direkt oder auf Umwegen in falsche Hände – z.B. von al-Qaida-Anhängern – geraten könnten.
[3] Die Amerikaner
befinden sich nur noch in ‚Reservestellung‘ und haben
nur eine Staffel von zwölf Kampfflugzeugen in Italien
als Beitrag im Bedarfsfall bereitgestellt, und auch
dies nur unter dem Vorbehalt, dass darüber der
Verteidigungsminister in Washington zu entscheiden
hätte.
(FAZ 16.5.)
[4] In einer gemeinsamen
Erklärung auf einem Treffen der BRIC-Staaten werfen die
Vertreter der Sicherheitsratsmitglieder Russland, China
und Indien der Koalition der Willigen vor, das
Mandat der Resolution 1973 zum Schutz der libyschen
Zivilbevölkerung überschritten und faktisch in einem
Bürgerkrieg Partei ergriffen zu haben
(FAZ 30.4.)
[5] Putin kommentiert
die Erklärung des NATO-Sprechers nach der Bombardierung
des Hauptquartiers, Gaddafi sei nicht Ziel des Angriffs
gewesen, als dreiste Lüge: Sie sagen, sie wollen
Gaddafi nicht eliminieren, aber warum bombardieren sie
dann seine Paläste? Ist das eine Operation zur
Mäusejagd?
(FAZ,
27.04.)
[6] Unserer
Überzeugung nach besteht die Aufgabe Nr. 1 jetzt darin,
die sofortige Einstellung der Kampfhandlungen
herbeizuführen, um eine weitere Verschlechterung der
Situation und eine noch umfassendere humanitäre
Katastrophe in diesem Land zu vermeiden.
(Yang Jiechi, ebd.)
[7] Bescheiden stellt
sich der russische Außenminister in den Dienst der
Friedensbemühungen der UNO: Er empfängt Vertreter der
libyschen Regierung und nimmt deren Versprechen
entgegen, alle Forderungen der UN-Resolution 1973 zu
erfüllen, sobald die NATO mit den Bombardements
aufhört. Dann übergibt er die Sache an den
Sonderbotschafter der Vereinten Nationen: Wir
übernehmen keine Vermittlerrolle zwischen der Regierung
in Tripolis und der Opposition. Wir unterstützen die
Vermittlungsanstrengungen der Uno und die Initiative
der Afrikanischen Union
. (RIA Novosti, 17.5.)