Standort Deutschland
Die Stahlkrise und ihre Bewältigung

Die europäische Stahlindustrie hat laut EG-Beschluss 30 Mio. t Überkapazität – die müssen abgebaut werden. Deutschland versperrt sich nicht und verlangt von seiner Stahlindustrie, dass mit der Reduzierung zugleich die Wucht der deutschen Stahlkocher auf dem europäischen Markt zunimmt und fordert von der EG eine Sonderbehandlung Ostdeutschlands.

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Standort Deutschland
Die Stahlkrise und ihre Bewältigung

I

Überall herrscht Krise – so auch im Stahlsektor. Da das Geschäft der Stahlindustrie ganz generell vom Wachstum der Wirtschaft in allen ihren Teilen abhängig ist – sie bestimmen die Nachfrage nach dem industriellen Rohstoff Stahl als Grundlage jedweder Produktion –, erweisen sich bei der allgemeinen Rezession in allen Volkswirtschaften die Produktionspotenzen der Stahlsektoren als lauter Überkapazitäten. Wenn EG-Politiker die Lage auf dem europäischen Stahlmarkt so beurteilen: „nicht bloß ein konjunktureller Einbruch, sondern Überkapazitätskrise“, dann stellt sich die Wirtschaftspolitik der Gemeinschaft darauf ein, daß die in Europa produzierten Stahlmengen auf Dauer – nicht einmal wieder unter verbesserten Konjunkturbedingungen – nicht mehr abgesetzt werden können. Bestärkt werden sie in der Sicht der Lage durch eine historische Besonderheit und die Reaktion eines großen Konkurrenten des Weltmarkts auf die auch bei ihm laufende Stahlkrise:

– Der Osten entfällt als Absatzmarkt. Er tritt stattdessen als zusätzliche Konkurrenz auf, die sich nicht an weltmarktüblichen Kosten-Überschuß-Rechnungen orientiert, sondern am absoluten Bedürfnis nach devisenbringendem Export. Seitdem in Europa Krise ist, wird der vorher genutzte Stahl aus dem Osten als unfaire „Dumping-Konkurrenz“ geschmäht.

– Die USA erheben mal wieder Strafzölle auf Stahlimporte aus Europa. Deutsche Konzerne sind zum Beispiel mit durchschnittlich 29 % ihres Stahlexports in die USA belastet; Frankreich rechnet für seine Stahlindustrie mit 500. Mio Verlust beim Stahlexport nach Übersee.

II

Dieser Krisenlage der europäischen Stahlindustrie stellt sich die Europäische Gemeinschaft – bzw. die dafür eingerichteten Institutionen in Brüssel. Sie wird selbstverständlich tätig auf dem Wirtschaftssektor, der seit eh und je Gegenstand besonderer Betreuung und gemeinschaftlicher Regelung ist. „Europas Stahlindustrie hat 30 Mio. t Überkapazitäten“. So heißt die Diagnose der EG-Kommission über die Lage der europäischen Stahlindustrie, die von den nationalen Regierungen und den Konzernen im Prinzip geteilt wird. Der Beschluß: Diese 30 Mio. müssen weg. Für die Durchsetzung und Realisierung dieses Beschlusses zieht die EG-Kommission neue Saiten auf. Sie weigert sich, die Lage am Stahlmarkt als „manifeste Krise“ nach Art. 58 EGKS-Vertrag zu definieren und damit die bisher üblichen Mechanismen der Krisenbewältigung in Kraft zu setzen. Offensichtlich ist sie zu der Einsicht gelangt, daß mit den alten Instrumenten der Produktionsquotenzuteilung und Preisfestsetzung der Abbau des ermittelten Kapazitätsüberhangs nicht zu erreichen ist, ja, daß diese Instrumente mitverantwortlich für den entstandenen Überhang gewesen sind. Auch die bei der Quotenregelung bisher gepflegte Unterstellung einer bloß vorübergehenden Produktionseinschränkung lehnt die Brüsseler Behörde diesmal ab. Die Rückführung der Stahlproduktion soll dauerhaft sein. In diesem Sinne gibt die EG-Kommission ihre „Empfehlungen zur Stillegung“ aus – das Ausmaß des Kapazitätsabbaus will sie keineswegs den nationalen Standorten überlassen, sondern diese durch Verweigerung von Quoten darauf stoßen, daß es in ihrem eigenen Interesse liegt, diesen Empfehlungen nachzukommen. Ein „Stahl-Konfessor“ ist beauftragt, bei den Standorten herumzureisen und zu erkunden, zu wieviel an Kapazitätsabbau sich die Unternehmen jeweils bereitfinden würden, und gegebenenfalls weitere Stillegungen anzumahnen. Dabei läßt die Kommission keinen Zweifel daran, daß sie auf dem von ihr projektierten Umfang eines Produktionsabbaus um 30 Mio. t bestehen wird. Als Gegenleistung für den Verzicht auf Produktion ist den abbauwilligen Unternehmen finanzielle Unterstützung zugesagt; andere Subventionen soll es aus Brüssel nicht mehr geben:

„Wenn die Branche bis Ende September verbindlich zugesagt habe, die geforderten Kapazitäten abzubauen, werde die Gemeinschaft Mittel von rund 960 Mio. DM zur sozialen Flankierung zur Verfügung stellen.“ (HB 10.3.93)

An die Adresse der nationalen Standortbetreuer gerichtet heißt das Programm aus Brüssel: Sie sollen ihre bisherigen Unterstützungsmaßnahmen für ihre Standorte einer Revision unterziehen. Die EG-Zuständigen haben verkündet, rigoros darauf achten zu wollen, daß nationale Subventionen keine „unrentable“ Produktion am Leben halten. Weil „unrentable“ Produktion aber eine relative Angelegenheit ist und es relativ schwierig ist zu entscheiden, wann es sich um ein „offenkundig exzessiv staatlich subventioniertes Unternehmen“ handelt (Solche will der Wettbewerbskommissar Van Miert „genauer unter die Lupe nehmen“), stehen ab sofort alle nationalen Aufwendungen für die Stahlproduktion unter dem Generalverdacht, dem bloßen Erhalt zu dienen, und der betreffende Staat muß den Gegenbeweis antreten. Da haben die Nationen schon immer schlechte Karten, deren Stahlindustrie schon auf Staatskosten riesige Schuldenberge aufgehäuft hat und bei denen zugleich die Haushaltsmittel knapp werden.

III

Solange es die Vereinigten Staaten von Europa noch nicht gibt und nicht ein staatliches Subjekt Europa kommandiert, verhalten sich die 12 Souveräne der Europäischen Gemeinschaft reichlich schizophren. In Brüssel und in Gestalt ihrer von ihnen selbst eingerichteten EG-Institutionen beschließen sie dies und das allgemein und für ganz Europa; zu Hause konkurrieren sie mit ihren Gemeinschaftsmitgliedern und gegen sie darum, daß der gemeinschaftliche Beschluß von Brüssel nicht allen, nicht den anderen, sondern der eigenen Nation zum Vorteil gereicht. So auch beim Programm zur Bewältigung der europäischen Stahlkrise. Da wird selbstverständlich darum gestritten, wer angesichts der „Empfehlungen“ aus Brüssel wieviel Stahlproduktion dichtmachen muß; wieviel Staatssubventionen für Stahl sich ein Staat trotzdem erlauben darf und wer welche Knete aus Brüssel bekommt.

Die sog. Kleinen in der EG wehren sich dagegen, daß mit der Realisierung des Brüsseler Beschlusses ihr jeweiliger Stahlstandort ganz eingemottet wird.

„Portugal, Griechenland und Spanien sträuben sich dagegen, in der Ratsentschließung gemeinsam mit den Partnerstaaten auf Kapazitätsverringerungen verpflichtet zu werden. Griechen und Portugiesen machen geltend, ihre Stahlwerke seien dafür zu klein. Für sie lautet die Alternative völlige Stillegung, und dies sei nicht akzeptabel. Die Spanier können darauf verweisen, daß sie in den letzten vier Jahren mehr Produktionsanlagen … eingemottet haben als jedes andere EG-Land, mit einem vergleichsweise minimalen Subventionsaufwand.“ (SZ 26.2.93)

Staaten wie Italien, Frankreich und Großbritannien nehmen die beschlossene EG-Linie wohl oder übel als Chance, ihre Stahlstandorte neuerlich gesundzuschrumpfen. Natürlich müssen ihre Rationalisierungs- und Modernisierungsmaßnahmen der letzten Jahre als Berechtigungsnachweis dafür herhalten, daß die notwendige Entwertung auf dem Stahlsektor vor allem die anderen Länder Europas zu treffen habe.

Wie die Verluste an Stahlproduktion im einzelnen verteilt werden und was das für die einzelnen Nationen als Stahlstandort bedeutet, wird davon abhängen, über welche Potenz an Stahlindustrie – nach Masse und nach Rentabilität – die einzelnen Nationen gegenwärtig verfügen und welches wirtschaftliche und politische Gewicht überhaupt sie in Brüssel in die Waagschale zu werfen haben.

IV

Für Deutschland, dessen Regierung sich durch die EG-Beschlüsse „weitgehend befriedigt“ zeigt, steht fest, daß dieser größte Stahlstandort Europas einen gehörigen Teil des europaweit beschlossenen Kapazitätsabbaus zu tragen hat. Die Rede ist von einem Abbau von bis zu 40 000 Arbeitsplätzen im Stahlbereich. Die von Gewerkschaft und Stahlverband geäußerte Kritik: „Kein überproportionaler Kapazitätsabbau“ (Was wäre denn proportional?) richtet sich dann auch nicht gegen den Abbau von Kapazitäten in Deutschland überhaupt, sondern dagegen, daß die anderen Nationen in Europa einen zu geringen Beitrag leisten könnten zur gemeinsam beschlossenen Rückführung der europäischen Stahlkapazitäten. Und auch der ungemein bedeutungsschwere Satz des deutschen Wirtschaftsministers: „Die Wirtschaft ist Sache der Wirtschaft.“ ist keine Selbstkritik der bisherigen Praxis, die Stahlindustrie ganz besonders politisch zu betreuen und zu verwalten, sondern der ernste Appell an die Ausländer in Europa, damit aufzuhören, überschüssige und/oder unrentable Stahlproduktion politisch retten zu wollen. Eine politische Sanierung des Stahlstandorts steht nur einem Land zu, das was hat und was kann. Die deutschen Stahlunternehmen haben jedenfalls Rexrodt nicht mißverstanden, daß sie ab sofort politisch ungeschützt dastünden und allein sehen müßten, wie sie mit der Stahlkrise fertig werden. Sie haben sich gar nicht gewundert, daß an sie einige politische Kommandos ergangen sind:

  1. Die deutschen Stahlkapitale haben gefälligst gemeinsam und mit politischer Beratung den in Deutschland fälligen Beitrag zum Abbau europäischer Stahlkapazitäten zu leisten.
  2. Die deutschen Stahlunternehmen haben sich in dieser Lage wie ein Stahlkartell zu verhalten, damit mit der Reduzierung auch deutscher Stahlproduktion zugleich ihre Wucht auf dem europäischen Stahlmarkt zunimmt.
  3. Die deutsche Stahlindustrie hat den – ausdrücklich gegen die Brüsseler Stahlbeschlüsse gerichteten – deutschen Alleingang zu berücksichtigen und zu unterstützen, daß in Ostdeutschland auf jeden Fall und staatlich subventioniert ein Stahlstandort existieren soll.
„Rexrodt stellt jedoch klar, daß er das Werk EKO in Eisenhüttenstadt nicht in ein Stilllegungskonzept der Branche einbinden lassen will. Eine solche Ausnahme (die soll es nämlich bleiben!) kostet in der EG allerdings einen politischen Preis.“ (SZ 26.2.93)

Alles in allem erteilt also die Politik den Kapitalisten den Auftrag, ihre Konkurrenz untereinander unter nationalen Gesichtspunkten zurückzustellen und sich stattdessen wie ein aus mehreren Abteilungen bestehender Staatskonzern aufzuführen, der mit sich zu Rate geht, wie seine verschiedenen Aktivitäten im Gesamtkonzerninteresse optimal zu organisieren seien. Sie sollen untereinander aushandeln, wer wie stillegt und fusioniert, und zu diesem Zweck einen Fonds einrichten, aus dem die Nutznießer des Kapazitätsabbaus den Geschädigten Finanzhilfen zur Abwicklung der Kapitalentwertung, für Soziallabbau etc. zahlen. Für das Projekt fließen dann auch Staatsgelder – national wie von der EG.

Bei dieser nationalen Inpflichtnahme der deutschen Stahlkapitale verspricht ihnen der Staat auch etwas: über Brüssel dafür zu sorgen, daß ausländische Unternehmen, „die Haus und Hof verspielt haben, auch ausscheiden“ (Krupp-Chef Cromme) aus der europäischen Stahlkonkurrenz; in Brüssel auf Aufstockung der EG-Stillegungshilfen zu drängen; sich um die Begrenzung der Osteuropa-Importe von Stahl zu kümmern und gegen den Protektionismus der USA Härte zu zeigen.

V

Egal wie im einzelnen die Reduktion der Produktion von Stahl auf die verschiedenen Länder Europas verteilt wird, eines steht jetzt schon fest: Auch der bei der Bewältigung der Stahlkrise festzustellende Fortschritt des wirtschaftlichen Zusammenwachsens der europäischen Nationen vergrößert die Unterschiede in der Wirtschaftskraft.