Wie die am Balkan-Krieg der NATO beteiligten Nationen kalkulieren:
Frankreich: Eine durch und durch französische Mission mit eindeutig europäischer Perspektive

Frankreich ist von Anfang an für den Krieg im Namen der Menschenrechte und eines friedlichen Europa. Es beteiligt sich mit 100 Flugzeugträgern und 4000 Soldaten. Propagandistische Begleitung ist die unentwegte Demonstration der eigenen Hoheit über den Prozess der Befriedung des Balkan: Dem Einsatz der Nato ohne Mandat des Sicherheitsrats wird zugestimmt, alle Hilfsdienste werden als gelungene Instrumentalisierung der Nato und der USA verhandelt. Gelernt hat die Grande Nation jedoch, dass Europa den Kampf gegen seine imperialistischen Defizite aufnehmen und vor allem gegenüber den imperialistischen Partnern durchsetzen muss.

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Wie die am Balkan-Krieg der NATO beteiligten Nationen kalkulieren:
Frankreich: Eine durch und durch französische Mission mit eindeutig europäischer Perspektive

Die stolze Präsentation einer perfekten Regie

Frankreich inszeniert von Anfang an die eine Botschaft: Dies ist unser Krieg! Der ungetrübte Jubel über das erfolgreich abgeschlossene Zerstörungswerk am „historischen 11. Juni“ läßt beinahe vergessen, daß außer der eigenen glorreichen Nation noch ein paar andere beteiligt waren.

Schon die moralischen Werte, die auf dem Balkan verteidigt werden müssen, sprechen unmißverständlich für die Unvermeidlichkeit wie für die französische Urheberschaft des ganzen Unternehmens.

„Dieser Kampf Frankreichs ist einer des Rechts, der Gerechtigkeit und der Moral. Wir führen ihn im Gedenken an die zukünftigen Generationen. Ihnen müssen wir ein starkes und friedliches Europa hinterlassen, das sich vollständig um die wesentlichen Werte der Demokratie und der Menschenrechte versammelt. Für ein solches Europa schlagen wir uns heute.“ (Chirac, 27.5.)

Laut dem Präsidenten hat sich mitten im zivilisierten Europa ein „Tyrann“ festgesetzt, der mit „Praktiken eines anderen Zeitalters“ die Humanität untergräbt; wer anders als das Mutterland aller Menschenrechte ist folglich dazu ausersehen, „heute die Verbreitung der Barbarei zu unterbinden und diesem Regime die Mittel zu entziehen“ (Le Figaro, 30.3.)! Das reale Schutzobjekt, dem der hochmoralische Feldzug gilt, heißt von vorneherein „ein starkes Europa“, dem sich kein europäischer „Hinterhof“-Staat entziehen darf; und für dessen zielstrebige Herstellung macht sich die Grande Nation stark. Der Umstand, daß sämtliche Nationen des Westens sich unter der Fahne von Demokratie und Menschenrecht gegen das in Milošević verkörperte Böse versammeln, spricht nur dafür, daß sie sich alle hinter das französische Anliegen gestellt haben.

Einzig dem entschlossenen Willen der französischen Regierung ist es überhaupt zu verdanken, wenn endlich ernst gemacht wird mit der längst fälligen Bekämpfung der tyrannischen Belgrader Obrigkeit.

Rambouillet ist eine französische Idee, so versichert Außenminister Védrine, und der muß es ja wissen, da ihm und seinem britischen Kollegen Cook das Privileg der Verhandlungsleitung übertragen ist. In dem Schloß nahe Paris ein Dayton à la France stattfinden zu lassen, das ist jedenfalls die Absicht und dieser Absicht folgt das Drehbuch: Eine Zwangsvorladung an die verfeindeten Parteien der Serben und Kosovaren, ein ihnen präsentiertes „Konzept“ der künftigen Ordnung, ein politisches Ultimatum mit glaubwürdiger Kriegsdrohung seitens der vereinigten imperialistischen Friedensstifter – diesmal nicht unter der Federführung der USA, sondern unter der Regie der europäischen Führungsmacht Frankreich. Wenn in der Verlängerung der Partie die amerikanische Außenministerin Albright das Heft in die Hand nimmt, so kann dies das Bild vom souverän dirigierenden französischen Veranstalter nicht stören; es belegt vielmehr, daß die Verweigerung der Unterschrift unter das Unterwerfungsdiktat durch die jugoslawische Führung nicht etwa seinem mangelnden erpresserischen Gewicht geschuldet ist, sondern einzig und allein der Intransigenz des Bösen. Und außerdem kommt ja Madame Albright nach Paris.

Deswegen besteht Frankreich auch nicht darauf – wie Gerüchte wissen wollen –, daß das NATO-Kommando über die designierten Friedenstruppen für das Kosovo in aller Form einem UNO-Oberkommando unterstellt wird, um auf diese Weise dem Belgrader Regime die Unterschrift zu erleichtern und einen Krieg überflüssig zu machen, und der Beschluß zum Krieg ist nur die logische Konsequenz, welche die französische Regierung und vor allem Monsieur le President aus dem allein von Milošević zu verantwortenden Scheitern der friedlichen Erpressung ziehen, wobei die NATO-Verbündeten glücklicherweise mitziehen:

„Das ist der Grund, der uns, die Regierung und mich, zusammen mit unseren gleichgesinnten Verbündeten zu der Entscheidung veranlaßt hat, eine militärische Aktion einzuleiten.“ (Le Figaro, 30.3.)

Keine Frage also: Von Anfang an ist Frankreich mit „totaler Entschlossenheit“ am NATO-Krieg beteiligt, für dessen geradlinigen, richtig dosierten und zielführenden Verlauf man nun die volle Verantwortung übernimmt. Der anfängliche Verdacht kritischer Patrioten, angesichts von lediglich vier mitbombenden französischen Flugzeugen handle es sich offenbar um eine bloß „symbolische Teilnahme“, wird praktisch widerlegt. Die Nation steigert parallel zur stattfindenden Eskalation der „Luftkampagne“ die Anzahl ihrer Flieger auf 100 – das ist mehr als die Hälfte des gesamteuropäischen Kontingents –, positioniert den Flugzeugträger Foch neben die amerikanischen in der Adria und stockt die in Mazedonien stationierten Brigaden auf über 4000 Soldaten auf, um ihre militärischen Fähigkeiten zur „Friedenserzwingung“ zu beweisen und „die Aktion“ nicht dem Alliierten aus Übersee zu überlassen. Auch die Option eines vielleicht unumgänglichen Bodenkrieges wird nicht ausgeschlossen. Frankreich präsentiert sich und seinen militärischen Beitrag als flexibel und deckungsgleich mit allen Erfordernissen eines laufend eskalierten NATO-Krieges, so daß es diesen umgekehrt als Praxis und Produkt der ureigensten Entscheidungen und Kalkulationen verkaufen kann. Der damit angegebene Maßstab hat natürlich seine Tücken; vor ihm kann man sich auch blamieren. Da mit fortschreitender Dauer des Krieges die Kommando-Rolle der amerikanischen Bündnisvormacht immer offenkundiger wird, stellt sich in der traditionell auf ihre Unabhängigkeit bedachten Grande Nation prompt das „Mißverständnis“ ein, die regierenden Politiker verdeckten mit ihrer aufgeblasenen „Rhetorik“ bloß, daß sich der französische Staat in Wahrheit mit einem bislang stets verschmähten inferioren Status abspeisen lasse und sie selbst zu willigen Hilfssheriffs der USA degradiert würden. Vor allem die Repräsentanten des inzwischen gespaltenen Front National, einige „Rechtsgaullisten“ sowie Vertreter der nationalen Kommunisten sehen die Eigenständigkeit Frankreichs in Gefahr.[1] Der Gaullist Chirac und der Sozialist Jospin – die in diesem vaterländischen Krieg prächtig kohabitieren – sehen sich deshalb bis zum Schluß der Veranstaltung immer mal wieder zur Richtigstellung genötigt:

„Es ist ganz einfach ein Fehler zu behaupten, daß Frankreich sich damit zufrieden gegeben hätte, den Amerikanern zu folgen“,

was der Präsident auch schlagend beweisen kann, indem er stolz feststellt:

„Nicht ein einziger Luftschlag ist ohne die Zustimmung Frankreichs durchgeführt worden.“ (Le Monde, 12.6.)[2]

Da dies durchaus so verstanden werden kann, daß Frankreich alle von den USA festgelegten Zielobjekte bloß abgesegnet hat, ergänzt er, daß infolge eines französischen „Vetos“ einige Brücken in Belgrad immer noch stünden. In Wahrheit ist es demnach einfach nicht zu leugnen, daß die Französische Republik das eigentliche Subjekt der Kriegführung ist, welches die NATO mitsamt der amerikanischen „Hypermacht“ bestellt hat, einfach weil sie für die projektierte Ordnungsmission am besten geeignet ist. So versichert es der Verteidigungsminister seinem Volk kurz und bündig:

„Was die militärische Umsetzung (der französischen Idee) anbelangt, so benutzen wir die Allianz, weil sie funktioniert.“ (Richard)[3]

Und Frankreich sorgt dafür, daß das Bündnis funktioniert – als produktives wechselseitiges Ergänzungsverhältnis. Die Sonderstellung als „Nicht-Mitglied in der militärischen NATO-Struktur“ habe es Frankreich überhaupt „ermöglicht, die französischen Streitkräfte ohne den Zwang der Allianz zu reformieren“, die es nun der NATO bestens ausgerüstet zur Verfügung stellen kann. (ders.) Im übrigen „geht kein Fehlschlag (bei den Luftangriffen) auf französisches Konto“, woran man sieht, was Gerät und Soldaten der Tricolore leisten.

Der durch solch selbstbewußten Gallo-Zentrismus provozierte Einspruch gegen die „Schönfärberei“, der gerade für die Öffentlichkeit einer notorisch antiamerikanisch akzentuierten Staatsräson auf der Hand liegt – ‚Die Amerikaner stellen nicht vier Fünftel des militärischen Angriffspotentials, ohne auch das politische Kommando zu übernehmen‘ –, ist ein Einwand, den Chirac & Co nicht gelten lassen. Nach der Devise ‚Gefahr erkannt, Gefahr gebannt‘ kämpfen die regierenden französischen Politiker schließlich von Anfang an nicht nur gegen jede „Feigheit“ vor dem Feind,[4] sondern gleichzeitig an der diplomatischen Front. Und zwar „für eine politische Lösung“ zur schnellstmöglichen Beendigung des „Konflikts“, die den ureigensten Motiven und Prinzipien der Nation verpflichtet ist. Frankreich vertritt doch keinen Rambo-Imperialismus, „die militärische Aktion ist kein Ziel an sich“ (Jospin), sondern allemal bloß Mittel zum Zweck. Und der heißt auf französisch: Staaten zivilisieren. Unter diesem schönen Titel demonstriert La France unentwegt die eigene Hoheit über den „Gesamtprozeß“ der Befriedung des Balkan. Auch wenn ungerechterweise die Deutschen gerade den EU-Ratsvorsitz innehaben und genießen.– Daß Frankreich gegen seine erklärte „Grundsatzposition“ einem Einsatz der NATO ohne Mandat des UNO-Sicherheitsrats zustimmt, ist „kein Verrat“, sondern eine fallbedingte Ausnahme aus eigener Abwägung:

„Frankreich kann sich in Menschenrechtsfragen nicht vom Menschenrechtsverständnis der Russen und Chinesen abhängig machen.“ (Chirac)

Was für Amerika gilt, gilt auch für Frankreich!

  • Daß Frankreich wegen seiner im Weltsicherheitsrat verkörperten Anerkennung als Großmacht mit Vetorecht eine Entmachtung der UNO durch die USA nicht zuläßt, untermauert es durch seine wiederholten Forderungen nach einer Ex-post-Sanktionierung des Bombenkrieges durch die Wiedereinsetzung der Vereinten Nationen als förmlich zuständige Instanz – spätestens zum Zeitpunkt der anvisierten Besetzung des Kosovo durch NATO-Friedenstruppen.
  • Da der Westen die Russen praktisch von jeder Mitentscheidung über die Balkanordnung ausschließt, müssen sie schnellstmöglich „zurück ins Boot“ geholt, d.h. für die friedlichen Verzicht auf unerwünschte Einflußnahme gewonnen werden. Der weitsichtige Präsident Chirac greift als erster zum Telefon, als Freund Boris verrückt spielt von wegen „Weltkriegsgefahr“; und er schaut trotz seiner Vollbeschäftigung mit der Überprüfung von Angriffszielen und Volksansprachen in Moskau persönlich vorbei. Er verspricht, zu einem geeigneten Zeitpunkt die Kontaktgruppe und/oder die G 8 einzuberufen, weil ohne Rußland die von ihm angestrebte europäische Friedensordnung einfach „nicht vorstellbar ist“.
  • Das fällige Öl-Embargo gegen Jugoslawien wird von der EU beschlossen; eine NATO-Seeblockade von Frankreich jedoch abgelehnt, da eine solche, ohne SicherheitsratsbeSchluß, eine Konfrontation mit den Russen heraufbeschwöre.
  • Die politischen Initiativen der europäischen Partner, die um ihren Einfluß auf die amerikanisch bestimmte kriegerische Tagesordnung konkurrieren, werden wohlwollend begutachtet und, jenseits ihres spezifischen, sei es britisch-scharfmacherischen, sei es italienisch-bremsenden Inhalts, großzügig eingeordnet und gerecht vereinnahmt. Und zwar unter den leitenden, nur von Frankreich selbstlos vertretenen Standpunkt erstens der Bündnissolidarität[5] und zweitens des – mit ihr zu befördernden – Euro-Zentrismus. So daß ein jeder Staatsmann-Kollege vom französischen Staatschef dazu beglückwünscht wird, daß im Fall Kosovo endlich gilt: Europa spricht mit einer Stimme.

Am „historischen Tag“, als Präsident Chirac „die Kapitulation“ des Tyrannen Milošević erreicht, strahlt er und vermeldet seinen Untertanen den Erfolg Frankreichs in bezug auf jeden dieser Punkte. Alles ist so gekommen, wie „die Regierung und ich“ es vorhergesehen und gesagt haben! Und die französische Prinzipientreue somit bewiesen.

Wenn schon Rambouillet, wenn schon der Krieg, so ist also auch der Sieg eine französische Idee. Und die kann sich sehen lassen.

Frankreich übernimmt die mehr als verdiente hoheitliche Besatzungs-Macht über einen Sektor des befreiten Gebietes. Und Europa, für das Frankreich immer mit bilanziert, vier. Macht 4:1 gegen die USA. Es versteht sich von selbst, daß die französische KFOR-Truppe ihren Auftrag vorbildlich und garantiert überparteilich erfüllt.

In „Würdigung der französischen Rolle während der Krise“ (Chirac) bekommt Frankreich von der „internationalen Staatengemeinschaft“ – in diesem Fall der UNO, die Paris soeben wieder in Amt und Würde gebracht hat – die Zuständigkeit für den zivilen Aufbau des Kosovo übertragen, und damit ist das Schicksal des Protektorats in französische Hände gelegt. Der für den humanitären Großauftrag „prädestinierte“ Gesundheitsminister Kouchner besetzt den zweifellos wichtigsten Posten vor Ort, er ist gewissermaßen der „Prokonsul“ des Westens (Le Monde), dem der Briten-General Michael Jackson und der deutsche Manager Hombach sekundieren. Und darüber hinaus stehen alle drei Kommandostellen für die Vollstreckung der künftigen Friedensordnung zur europäischen Verfügung. So ist der Anspruch Frankreichs für jedermann sichtbar eingelöst, daß sich die europäische Natur der kriegerischen Mission vor allem an der Zuständigkeit der EU für die Nachkriegsordnung zeigen müsse.

Daß die eroberten Kompetenzen allesamt von den USA gewünschte oder sogar geforderte Verantwortlichkeiten darstellen, aus Sicht der amerikanischen Weltmacht also delegierte Aufgaben sind, spricht natürlich nicht gegen die französische Lesart von der gelungenen Instrumentalisierung der NATO und der USA. Im Elysée-Palast weiß man schon Bescheid über entsprechende US-Absichten und „versichert“ demgegenüber seinen festen Willen zur Verweigerung nicht standesgemäßer Hilfsdienste:

„Wir sind nicht dazu ausersehen, den simplen Kundendienst der Amerikaner zu machen.“ (Laut Le Figaro, 27.5.)

Frankreich definiert sich seine Rollen selber, und die auf dem Balkan heißt, mit den frisch errungenen Kompetenzen aus der Region eine europäische Domäne zu machen. Und die Amerikaner sind zwar ein mächtiger Partner, aber einer, der – nach dem Krieg – auch nicht mehr das ist, was er mal war …

Das vorläufige amtliche Endergebnis steht für den französischen Präsidenten fest und wird feierlich verkündet:

„Wir betreten vielleicht eine neue Welt, in der die Rechte des Menschen in den Mittelpunkt treten… Unsere Vision einer multipolaren Welt findet sich bestätigt.“ (Chirac, am 11. Juni)

Wem haben wir Europäer im allgemeinen und die Franzosen im besonderen das zu verdanken? – Genau! Der Präsident und seine Regierung haben es durch ihre entschlossene und geschickte Regie im Vorder- wie im Hintergrund geschafft, Europa zum eigentlichen Sieger der Kosovo-Mission zu machen und damit die Welt von der unipolaren Vorherrschaft der USA zu befreien.

Prädestiniert zur Führung einer schlagkräftigen Euro-Macht

Die offizielle Bilanz der regierenden Politiker setzt sich also aus Lobpreisungen hinsichtlich eigener Weisheit und Großtaten zusammen; sie enthält – leicht erkennbar – eine gehörige Portion Größenwahn. Aber Heldenlegenden gehören zum Staat, erst recht, wenn er Krieg führt. Wichtig ist, wofür sie stehen, und das ist im Falle Frankreichs nicht weniger als die imperialistische „raison“ der Nation. Natürlich äußert sich da auch ein Stück Zufriedenheit über die gelungene Militäraktion und den daraus errechneten nationalen Ertrag, den das Volk schätzen soll. Auch Zufriedenheit darüber, daß der erste Weltordnungskrieg der US-geführten NATO dem strategischen Anliegen einer Ausdehnung europäischer Kontrollgewalt gilt. Vor allem aber steht sie für ein Programm der Staatsgewalt. Der ganze Beitrag Frankreichs zur NATO-Offensive gegen das so definierte jugoslawische Verbrecher-Regime dient tatsächlich von Anfang an der Profilierung dieser Nation für den Auftrag, den sie sich erteilt: Sie setzt alles daran, um sich zu empfehlen – der transatlantischen Weltmacht als der europäische Gegenpol und deshalb unübergehbare Schlüssel-Partner für das Funktionieren der NATO-Einheit; in der Hauptsache jedoch den europäischen Verbündeten als der bessere, weil europäische Protagonist ihrer gemeinsamen Interessen – zwar militärisch nicht so stark wie die USA, aber qualitativ mit allen Attributen einer verantwortlichen, inspirierenden und integrierenden Führungsmacht ausgestattet. Als solche hat Frankreich sich inszeniert und damit die beanspruchte Vorreiterrolle einer künftigen europäischen Weltmacht antizipiert. Die feierliche Zelebration der nationalen Erfolgsbilanz in allen Abteilungen paßt insofern zu dem fordernden Anliegen dieser Nation, die ihre Konkurrenten innerhalb der Europäischen Union in die Schranken weist; sie beweist, daß jedenfalls „Frankreich kein Anhängsel der USA“ ist, sondern „eine herausragende Rolle gespielt hat“ (Le Monde, 5.6.).

Es ist keineswegs so, das die Selbstbespiegelung à la francaise bedeuten würde, die stolzen Führer wüßten nicht, wie es um die tatsächlichen Kräfteverhältnisse zwischen all den ambitionierten Ordnungsmächten bestellt ist. Die Beschwörung der eigenständigen Leistungen ist schließlich – wie gesehen – zur Genüge auf die Form des Dementis angewiesen, die noch allemal verrät, daß die Bilanz so eindeutig positiv nicht ausfällt. Die Kehrseite des Vorteils, daß man die Kriegsmittel der USA für ein genuin europäisches Anliegen gebrauchen kann, ist eben, daß man sie braucht. Diese negative Seite der Bestandsaufnahme, die der Krieg gerade im Verhältnis zum Großen Bruder, an dessen großartiger Gewaltmaschinerie man die eigenen Potenzen mißt, zu Tage fördert, wird den Regierenden immer wieder schonungslos vorgerechnet durch ihre kritischen „Kompatrioten“ und Militärexperten:

Falsches Equipement der Armee; Bomber, die mit ihren Bomben nicht auf Flugzeugträgern landen können; zu wenig Bombenmunition, die man deshalb von Amerika leihen muß; fehlende Ausstattung mit Lasersystemen, so daß Flugzeuge blind fliegen; technologische Lücken verhindern Zielgenauigkeit; keine eigene warfare, d.h. Informations- und Steuerungs-Satelliten; dadurch fehlende Zielplanungskapazität und Auswertungsmöglichkeit der Bombardements; maximal 15000 taugliche Interventionskräfte … (vgl. Libération, 29.4. / Le Monde, 23.4.)

„Die Ausführung der Luftschläge obliegt dem NATO-Oberkommando, dem amerikanischen General Clark; die Mehrheit der Bombardements wird von den Vereinigten Staaten ausgeführt … Die Lektion ist klar: Europa, das einige Monate vorher seinen Euro meisterhaft in Umlauf gebracht hat, ist ohne echte gemeinsame Verteidigung. Es ist unfähig, die Streitmacht aufzustellen, die die Luftoperation erfordert; ebenso wäre es nicht in der Lage, ohne die USA, eine weitreichende Bodenoperation in absehbarer Zeit auf die Beine zu stellen … Die Europäer verfügen nicht einmal – noch nicht – über die militärischen Mittel für ihre eigene Diplomatie. Kosovo bestätigt diese Realität und auch die Tatsache, daß die Franzosen darunter mehr leiden als die Mehrheit ihrer europäischen Partner.“ (Le Monde, 12.5.)

Nein, die Politiker der Grande Nation verschließen nicht ihre Augen vor dem ernüchternden „Befund“, demzufolge ihr Vaterland bei aller bewiesenen „politischen Reife“ „ein militärischer Zwerg“ (Le Monde, 18.6.) ist. Im Gegenteil. Sie bedienen sich selber gerne dieser „Lektionen aus dem Kosovo-Krieg“, übertreiben sie sogar gerne ein bißchen, um aus ihnen haargenau dieselbe Botschaft zu deduzieren, welche sie mit ihren Erfolgsmeldungen in die Welt setzen: Europa muß den Kampf gegen seine imperialistischen „Defizite“ aufnehmen, und Frankreich ist dazu bestimmt, diesen Handlungsbedarf nachdrücklich gegenüber den europäischen Partnern geltend zu machen und für seine richtige Umsetzung zu sorgen. Das Motto lautet:

„Die politischen Lehren des Kosovo sind gut, aber die Arbeit bleibt zu erledigen.“ (Védrine, Libération, 1.7.)

So wird eingestanden, daß die laut Chirac schon „bestätigten“ Erfolge beim Aufbau einer „multipolaren Weltordnung“, die den Amerikanern das den Weltordnungs-Monopolanspruch bestreitet, erst noch zu erringen sind. Indem man eben – unter französischer Anleitung – aus der Not eine Tugend macht.

Die Führungsrolle Frankreichs bei der angemahnten Herstellung eines weltmachttauglichen Europa äußert sich so einstweilen in erster Linie in einer großen „Vision“:

„Nach der Einführung des Euro sollte die Konstruktion einer europäischen Verteidigung der nächste große Ehrgeiz der Union sein.“ (Chirac, laut Die Welt, 31.5.)

Mittels der forschen Betonung, daß das Gelingen des Projekts ‚Europa‘ letztendlich eine Frage der militärischen Gewalt ist und daß die militärische Stärkung Europas der Emanzipation aus amerikanischer Abhängigkeit gilt, bekräftigt Frankreich programmatisch den Anspruch, von den allzu zaudernden und Amerika-hörigen Partnern als Avantgarde der EU anerkannt zu werden. Der dazu vorgeschlagene Weg nimmt sich allerdings vergleichsweise bescheiden aus. Die seinerzeit im Amsterdamer Vertrag vereinbarte Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) soll gestärkt werden, wobei auf der Beibehaltung der „intergouvernementalen Struktur“ des Entscheidungsprozesses bestanden wird. D.h. die fortbestehenden 15 nationalen Souveräne sollen jeweils zu einer einheitlichen außenpolitischen Position finden, in welchem Rahmen sich Frankreich – im Idealfall – als die maßgebliche, also einheitsstiftende Nation bewähren und die Marschrichtung vorgeben kann. Was den Ausbau des Gewaltpotentials betrifft, das der ins Auge gefaßten „Europäischen Sicherheits- und Verteidigungs-Politik (ESVP)“ zur Verfügung stehen soll, so setzt Frankreich sowohl auf die Bündelung vorhandener Kräfte, u.a. in einem erweiterten Eurocorps, als auch auf verstärkte Rüstungsinvestitionen der Partner. Insgesamt favorisiert Frankreich also das Verfahren, durch eine verbindlichere Institutionalisierung zwischenstaatlicher Kooperation einen zentralen Zugriff auf die EU-weit mobilisierbaren Potenzen zu ermöglichen. Der Verteidigungsminister kündigt dafür einen französischen „Fahrplan“ an. Der Außenminister plädiert schon mal für die Einführung von „Rüstungs-Konvergenzkriterien“, die dann auch – wie beim Euro – als Sachzwang zu solidarischem Wohlverhalten wirken sollen. Jeder Mitgliedstaat soll mindestens 2% des Bruttosozialprodukts in die Armee, ihre Um- und Aufrüstung investieren, was außer Frankreich nur Großbritannien schon tut, die restlichen Staaten der EU aber nicht. Außerdem könnte sich die EU dann vielleicht doch den Bau eigener Spionage-Satelliten und Transportflugzeuge für ihre Interventionsbrigaden leisten. Auch dem ewigen Projekt, wonach durch Fusionen zwischen nationalen Rüstungskonzernen ein „europäischer Pfeiler mit französischer Basis“ gestiftet werden soll, was immer an den eigensüchtigen Interessen der Partner scheitert, wird neuerlich Dringlichkeit bescheinigt. (Le Monde, 18.6.) Die Hauptsache aus französischer Sicht aber ist der Aufbau einer autonomen europäischen Befehlsebene, als der Voraussetzung, um über die vorhandenen Militärkräfte auch in eigener Regie disponieren zu können:

„Uns fehlten die Kommandostrukturen, nicht das Material… Die wichtigste Entscheidung für die Zukunft der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik sei deshalb die Schaffung eines militärischen Führungsstabes, der nicht auf amerikanische Kommandostrukturen angewiesen ist.“ (Verteidigungsminister Richard, laut FAZ, 19.6.)

Werden die französischen Initiativen beherzigt, so könnte die EU in Zukunft, wenn möglich, auch eigenständige „Aktionen“ der Friedensschaffung unternehmen; und, wenn nötig, auf amerikanische Unterstützung zurückgreifen (wie Frankreich es jetzt im Kosovo-Krieg so glanzvoll vorgeführt hat), allerdings mit ein bißchen mehr Gewicht! Diesen Fortschritt will Frankreich dem „europäischen Pfeiler“, und den soll der gestärkte „europäische Pfeiler“ Frankreich verschaffen.

[1] Wegen Verrats an den gaullistischen Prinzipien nationaler Unabhängigkeit gehen der Ex-Innenminister Pasqua und seine Anhänger auf Distanz zu Chirac und spalten sich vor den Europawahlen von der neogaullistischen Sammlungsbewegung RPR ab. Die in der „Linksregierung“ vertretenen Kommunisten verordnen sich nach anfänglichem Protest mehr und mehr kritisches Stillschweigen – trotz bleibender „Bedenken“, versteht sich –, um den Erfolg der Regierungskoalition und damit ihre Regierungsbeteiligung nicht zu gefährden. Die ebenfalls mitregierenden Grünen folgen der Linie ihres Führers Cohn-Bendit, der von Anfang an die Devise „Le recours, c’est la force“ (Das Hilfsmittel ist die Gewalt.) proklamiert und unter Berufung auf seine persönliche Betroffenheit vom Kosovarenleid und seine antifaschistischen Gewissensqualen für den Einsatz von Bodentruppen votiert. Auch die oppositionellen Stimmen des faschistischen Front National werden im Verlauf des Krieges immer leiser, da sie sich angesichts der allseits bewunderten „geschlossenen Front“ von Präsident Chirac und Regierungs-Sozialisten zunehmend „unmodern“ vorkommen.

[2] Die konstruktiv-kritische Öffentlichkeit der ruhmreichen Nation hat damit ihre Vorgabe, deckt die Unwahrheit der Behauptung auf und bohrt gern in dieser Wunde, da sich hier die mangelnde Souveränität Frankreichs bei der Teilnahme am NATO-Krieg eindeutig erweise. So sei etwa der Belgrader Präsidentenpalast gegen den Einspruch von Paris bombardiert worden und der Übergang zur „Phase 3“ der „Luftkampagne“ mit der Erweiterung der Angriffsziele insgesamt gegen den französischen Willen erfolgt.

[3] ‚Realismus‘ ist angesagt statt die Pflege ideologisch motivierter NATO-Distanz, mit der sich die Nation bloß ins Abseits stellt. Frankreich habe lediglich „einen Mythos ohne große Debatte zerstört“, um den harten Kern der Staatsräson als unabhängige souveräne „Macht mit Welteinfluß“ und damit die Kontinuität der nationalen Sache um so unvoreingenommener und wirkungsvoller zur Geltung zu bringen. Und zwar sowohl im Bündnis als auch außerhalb desselben.

[4] Hier dient das negative historische Exempel des „Geists von München“ 1938, also der „Fehler“ der „Appeasement-Politik“ gegen Hitler, als einschlägiger Berufungstitel.

[5] Es gibt keine französischen Ziele, sondern nur gemeinsame. (Verteidigungsminister Richard, Le Figaro, 28.3.)