Die EU und ihre renitenten Zöglinge
Das Ende der friedlichen Eroberung im europäischen Osten
Die Streitigkeiten der europäischen Institutionen mit einigen osteuropäischen Regierungen, vor allem der polnischen und ungarischen, häufen sich und haben deutlich an Schärfe und Grundsätzlichkeit zugenommen bis hin zu der Frage, ob sich deren Politik überhaupt noch im Rahmen der sogenannten Wertegemeinschaft bewegt oder nicht in eine gefährliche populistische Richtung entgleist ist...
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Systematischer Katalog
Gliederung
- Von der Kopie des westeuropäischen Erfolgsmodells zum Aufstand im Namen der verletzten Souveränität
- Kolonialherrschaft statt Konvergenz
- Bedrohte Völker, Grenzen und Werte
- Der Streit um den Rechtsstaat: Rettung der inneren Souveränität
- Ein paar Bemerkungen zur „Unabhängigkeit der Gerichte“
- Wirkungen des europäischen Rechtsexports
- Das Bemühen um alternative Wege und außenpolitischen Rückhalt gegen die EU-Vormacht
- Europa ringt um die Disziplinierung seiner Eroberungen
Die EU und ihre renitenten
Zöglinge
Das Ende der friedlichen Eroberung im
europäischen Osten
Die Streitigkeiten der europäischen Institutionen mit einigen osteuropäischen Regierungen, vor allem der polnischen und ungarischen, häufen sich und haben deutlich an Schärfe und Grundsätzlichkeit zugenommen bis hin zu der Frage, ob sich deren Politik überhaupt noch im Rahmen der sogenannten Wertegemeinschaft bewegt oder nicht in eine gefährliche populistische Richtung entgleist ist.
Eher stillschweigend wird dabei auch als Ärgernis
registriert, dass die widerspenstigen Politiker im Osten
eine handfeste Ermutigung durch Trumps Angriffe auf die
EU und seine Angebote an ihren
Anti-EU-Emanzipationsbedarf erfahren. Auch wenn der
Präsident im letzten Sommer in Warschau auf dem Treffen
der Staaten der Drei-Meere-Initiative [1] mehr wie ein
Handlungsreisender in Sachen Energie und
Waffen aufgetreten ist – die strategische
Bedeutung dieser Handelsartikel und der angekündigten
besten Beziehungen ist unübersehbar: Im Namen von
America first!
greift der Vater aller Deals die
autonome Energiepolitik der EU und v.a. Deutschlands an
und beantragt die Umorientierung Osteuropas auf
amerikanische Lieferungen an Stelle der russischen.
Gleichzeitig benützt er die traditionellen
Sonderbeziehungen Amerikas zum „neuen Europa“ im Osten,
die separat von der NATO betriebenen militärischen
Niederlassungen Amerikas in Gestalt von
Militärstützpunkten und Rüstungskooperationen zum Ausbau
von Rüstungsgeschäften und strategischen Positionen.
Amerika fördert die Russland-Feindschaft von Balten und
Polen, um den russischen Einfluss im europäischen Raum
zurückzudrängen; in diesem Sinn übt es auch nachhaltig
Druck aus, um die NATO auf dem Balkan um Montenegro und
Mazedonien zu komplettieren. Und als Spaltpilze in der
EU, die den Verein von innen heraus schwächen, sind die
Osteuropäer dem Präsidenten auch sehr willkommen. Die
traditionelle Beaufsichtigung und Zurechtweisung dieser
Staatenwelt im Hinblick auf Demokratie und Menschenrechte
findet zwar auf der Ebene der US-Botschafter auch noch
statt, besitzt aber offenkundig in der Administration
einen deutlich geringeren Stellenwert.[2] Nicht nur deshalb trifft die
Trump-Politik auch bei den Osteuropäern auf lebhaftes
Interesse, die generelle Unzufriedenheit einiger Staaten
mit ihrer Einordnung ins europäische Bündnis hat deutlich
zugenommen.
Von der Kopie des westeuropäischen Erfolgsmodells zum Aufstand im Namen der verletzten Souveränität
Die Übernahme des Acquis Communautaire als Bedingung für die Zulassung zum Bündnis, offeriert als Methode guter wie erfolgreicher Herrschaft und als Garantie der systematischen Annäherung, wird von den Ergebnissen blamiert.
Das historisch einmalige Modell einer imperialistischen Landnahme, bei der die Eroberer auf das volle Einverständnis der Eroberten treffen, hat von der Entscheidung der von ihrem Bündnis befreiten Staaten im Osten gelebt, ihr bisheriges System als Instrument einer Fremdherrschaft zu verwerfen und sich das des bisherigen feindlichen Lagers zu eigen zu machen – deswegen, weil sie darin eine Erfolgsgarantie für ihre bis dahin ungerechterweise niedergehaltenen Nationen gesehen haben. Sie waren zutiefst beeindruckt vom Vorbild der wirtschaftsmächtigen westlichen Staaten, die ihnen immer wieder nachdrücklichst versichert haben, dass die sowjetische Hegemonie ihren Nationen eine gleichartige Entwicklung versagt hätte, die ihnen nun endlich mit dem Anschluss an das westliche Lager zuteil werden würde. Der Demokratie-Idealismus von Dissidenten à la Václav Havel hat ja nur deswegen so durchschlagend gewirkt, weil er den Materialismus von Nationalisten hinter sich hatte. Des Weiteren hat sich der Anschluss an die EU ironischerweise durch die ersten schlagenden Wirkungen des Systemwechsels erst recht als alternativlos dargestellt, da den Staaten gleich zum Auftakt ihre bisherige ökonomische Basis abhanden gekommen ist. Angesichts des Zusammenbruchs der neunziger Jahre und der staatlichen Ohnmacht war der Anschluss an den potenten westlichen Staatenblock für die postkommunistischen Führer die unumstrittene Perspektive, aus ihren Sprengeln und Völkern wieder etwas zu machen.
Die eigentümliche Methode des EU-Imperialismus, die
Ausdehnung der eigenen Herrschaft als Dienst an
anderen Nationen zu deklarieren, ihnen bei der
Transformation
ihrer hoffnungslos
zurückgebliebenen Gesellschaften in kapitalistische
Demokratien nach unserem Muster zu helfen,
serviert den glücklich Modernisierten nicht nur in
ökonomischer Hinsicht einige Zumutungen. Im Preis für den
Eintritt in den großen und erfolgreichen Euro-Club ist
die Beschränkung ihrer neu errungenen
Souveränität immer schon mit eingeschlossen. Die
Unterordnung ihrer nationalen Interessen – vom
entschiedenen Anti-Russismus der Polen und Balten bis zum
völkischen Expansionismus der Ungarn – unter die
Prärogative der EU ist verlangt. Diese Zumutungen hat
sich eine ganze Staatengruppe lange gefallen lassen und
so das Kunstwerk eines passiven Imperialismus am
Leben erhalten – so lange, wie sie im konzessionierten
Mitmachen bei diesem Imperialismus ihren Erfolgsweg
gesehen hat. Diese gedeihliche Periode der berühmten
europäischen soft power kommt an ihr Ende.
Kolonialherrschaft statt Konvergenz
Die marktwirtschaftlichen Rezepte, Privatisierung und
Musterung des Standorts am Maßstab der Rentabilität,
haben zum nationalen Ausverkauf, zu Abwicklung und
Deindustrialisierung geführt und daher immer schon auch
Widerstand erzeugt (v.a. in Polen, das auf dem Erhalt
„unrentabler“, aber national unverzichtbarer Betriebe
bestanden hat). Was mittlerweile als respektables
Wachstum in der Region gelobt wird, verdankt sich im
Wesentlichen der Verwandlung Osteuropas in eine
Ansammlung von Billiglohnstandorten, die auch etliche
andere Billigangebote wie Steuerbefreiung etc. zu bieten
haben, und ihrer Partizipation an der Kapitalvermehrung
als Anhängsel des deutschen Booms. Die aufgrund dieser
Erschließung erfolgreicheren Nationen wie Polen, Ungarn,
Tschechien und die Slowakei entnehmen dem Zuspruch durch
auswärtiges Kapital inzwischen aber auch das Recht,
nationale Ansprüche geltend zu machen: Sie setzen die
europäischen Transferzahlungen kritisch ins Verhältnis zu
den Kapitalabflüssen aus ihren Ländern [3] und verweisen auf die
bleibende eklatante Differenz im Lohnniveau [4] mit dem nicht
unbegründeten Verdacht, dass sie damit auf einen
bestimmten ökonomischen Status festgelegt,
regelrecht in eine Falle des abhängigen Wachstums
geraten sind.[5] Sie bemessen also
ihre ökonomische Eingemeindung an der Definition der EU,
was der Beitritt leisten sollte, an der offiziell von
Brüssel ausgegebenen Perspektive einer
Konvergenz
,[6] bei der die östlichen
Standorte kontinuierlich an die führenden
westeuropäischen angenähert und tendenziell angeglichen
werden sollten. Dabei wird dieses Anspruchsniveau
durchaus auch mit der Erinnerung daran untermauert, was
die Länder als Industriestandorte im RGW einmal gewesen
sind.[7] Auf die Weise ziehen die
Chefs der Visegrád-Gruppe die Bilanz, dass ihre mit dem
Beitritt verbundene Rechnung, nach der sich die
politische Unterordnung in Form eines wachsenden
ökonomischen und politischen Gewichts der Nation
auszahlen sollte, nicht aufgegangen ist. Seitdem
betrachten sie das Bündnis immer weniger als Chance und
immer mehr als eine Fessel.
Bei ihrer Unzufriedenheit mit der Art von nationalem
Wachstum als billige Zwischenstation in den
Wertschöpfungsketten v.a. deutschen Kapitals verstehen
sich die politischen Führer auf eine säuberliche
Unterscheidung: Sie monieren zwar die Art der Benützung
durch das ausländische Kapital, wollen ihm aber die
Kalkulation mit osteuropäischen Billiglöhnen nicht
grundsätzlich bestreiten, schließlich sind die ja nach
wie vor ihr entscheidendes nationales Konkurrenzmittel im
Binnenmarkt.[8]
Verantwortlich gemacht werden aber die politischen Hüter
dieses Kapitals.[9] Angesichts des Resultats, der
weitreichenden wirtschaftlichen Abhängigkeit und
ausbleibenden Konvergenz, begreifen die politischen
Führer die alte Linie der zweckgerichteten Unterordnung
unter die Konkurrenzregeln des Binnenmarkts als
Knechtschaft pur, und in der sich einbürgernden Redeweise
von einer Kolonialherrschaft
kommt der Maßstab der
Unzufriedenheit zur Sprache: Der Status ihrer Ökonomie
als subalterner Dienstleister am Wachstum der führenden
EU-Nationen ist eine unerträgliche Beschränkung ihrer neu
errungenen nationalen Souveränität.
Je nach ihren nationalen Mitteln führen die Regierungen einen Kampf um die Wiedereroberung ökonomischer Herrschaftsmittel, um eine Renationalisierung ökonomischer Potenzen der Nation, um eine autonome Energieversorgung – gegen Deutschland und Russland oder auch mit russischen AKWs – und um die Renationalisierung bzw. Verstaatlichung von Geldinstituten, Banken und Versicherungen.
Den entscheidenden Schock, aufgrund dessen die Unzufriedenheit mit der europäischen Wachstumsperspektive zur vorherrschenden Regierungslinie geworden ist, hat die Finanzkrise den nationalen Ambitionen dieser Länder versetzt. Die Lehman-Krise hat v.a. im Kreditsektor der Nationen dramatische Schäden verursacht,[10] und an die Stelle des bisherigen Nutzens aus der EU ist im Rahmen der europäischen Krisenbewältigung die Übernahme von Lasten getreten.[11] Zwar bemühen sich auch die Nicht-Euro-Länder zumeist im Interesse nationaler Kreditwürdigkeit weiterhin darum, die vorgeschriebenen Kriterien haushaltspolitischer Stabilität einzuhalten. Gleichzeitig aber wächst die ablehnende Stellung zu einer Übernahme des Euro in Polen, Ungarn und Tschechien.[12] Angesichts der weitreichenden Verpflichtungen auf die Regeln des Binnenmarkts wollen die Staatsführer keinesfalls auf eines der wenigen verbliebenen nationalen Konkurrenzmittel verzichten: die Handlungsfreiheit, mit einer eigenen nationalen Währung in einem gewissen Rahmen manövrieren zu können. Die Übernahme des Euro wird daher nicht mehr als ein erstrebenswertes Ziel erachtet, sondern als eine weitere Fesselung ihrer Souveränität, die man nicht hinnehmen will. Wegen dieses hohen Guts sind sie auch bereit, die Nachteile einer geringeren Kreditwürdigkeit ihrer Kronen und Złoty in Kauf zu nehmen.
Manifester Widerstand gegen Brüssel entwickelt sich nicht nur am Geld, sondern an den gesamten Fundamenten staatlicher Herrschaft: Die populistischen Regierungen im Osten haben sich zu dem Standpunkt vorgearbeitet, dass das EU-Regime ihre Völker, Grenzen und den inneren, souveränen Machtgebrauch bedroht.
Bedrohte Völker, Grenzen und Werte
Mit der europäischen Benützung gehen unzumutbare
Gefährdungen des Volkskörpers einher, der elementaren
Machtbasis jeder Staatsgewalt. Die Praxis der
Handelskapitale, die sich die mindere nationale
Zahlungsfähigkeit dadurch erschließen, dass sie die
dortigen Märkte mit schlechteren Lebensmitteln beliefern,
gerät zum nationalen Skandal; darin sehen die Staatschefs
auch einen schlagenden Beweis für den mangelnden Respekt
Westeuropas gegenüber den Ostvölkern, für deren Status
als Europäer zweiter Klasse
.[13]
Die Attraktion von Arbeitskräften durch die führenden Wirtschaftsstandorte Europas schlägt sich in der Entvölkerung der Herkunftsländer nieder,[14] und die Freizügigkeit, mit der sich die westeuropäischen Boomländer qualifiziertes Personal mit ‚herkunftsbedingt‘ geringeren Löhnen aus dem Osten besorgen, stiftet in deren Heimat Notlagen, vor allem, aber nicht nur im Gesundheitswesen.
In der Flüchtlingskrise mutet Deutschland – nach
Auffassung von Orbán und Kaczyński – den Nationen nicht
mehr und nicht weniger zu als einen
Bevölkerungsaustausch
von Inländern und
Ausländern.[15] Die Visegrád-Gruppe leistet
nachhaltig Widerstand gegen die in der EU beschlossene
Quotenregelung; Ungarn antwortet mit Alleingängen in
Sachen Grenzschließung und will sich eine europäische
Kontrolle seiner EU-Außengrenzen nicht gefallen
lassen.[16]
Bedroht ist schließlich auch die sittliche Einheit von Staat und Volk: Im Namen der christlichen Familie verurteilen Ungarn und Polen die westeuropäische Modernisierung der Familie und Einführung der Homo-Ehe als Untergrabung der nationalen Sittlichkeit und Angriff auf den Bestand des Volks. Sie eröffnen eine Konkurrenz auf der Ebene des Werte-Inventars, deklarieren sich als Hüter des wirklich echten & traditionellen Guten in Europa, als letzte Bastion des christlichen Abendlands und setzen dem Beharren auf der europäischen Wertegemeinschaft ihre schon seit den Türkenkriegen bewährte Mission entgegen.[17]
Vom Standpunkt der nationalen Identität aus wird also ganz vieles kommensurabel: schlechte Lebensmittel und Flüchtlinge, die Kluft zwischen dem nationalen und westeuropäischen Lohnniveau, westeuropäische Unsittlichkeit und Grenzschutz. Die Staatschefs stellen den Schutz von Volk und Territorium, die Verteidigung der nationalen Identität gegen die EU an die oberste Stelle in ihrem Regierungsprogramm – auch wenn das in harter Opposition zu den Mitteln ihrer Souveränität steht, da sie als europäisierte Standorte schließlich von der Zugehörigkeit zum Binnenmarkt und der Erschließung durch europäische Multis leben.
Der Streit um den Rechtsstaat: Rettung der inneren Souveränität
Die unzufriedenen Nationalpolitiker vom Schlag der PiS und der Fidesz entdecken an den verschiedensten Anlässen die Notwendigkeit, sich gegen die Direktiven aus Berlin und Brüssel aufzustellen, im Gegensatz zur vorhergehenden Regierungslinie, die sich den Aufbau der Nation anhand der Brüsseler Richtlinien zum Prinzip gemacht hatte: Die Rettung der Nation, der Wirtschaft, des Volks und der nationalen Werte steht an. Der Standpunkt, dass der Dienst am Supranationalismus den Dienst an der eigenen Nation versagt, spaltet die politische Klasse bzw. setzt da, wo er wie in Polen und Ungarn die Regierungsmacht erobert hat, den Kampf um die Durchsetzung gegen die frühere und in Gestalt von Opposition, NGOs und Öffentlichkeit immer präsente Linie des Beharrens auf dem alten Erfolgsweg der EU-Treue auf die Tagesordnung. Dabei wissen die Regierungen ihr Volk nach ihren Wahlerfolgen hinter sich und verstehen sich auch darauf, es über die Wahlen hinaus gegen die inneren und äußeren Feinde zu mobilisieren. Im Namen der für die nationale Selbstbehauptung dringlich benötigten nationalen Einheit, der Formierung der Nation zu einer Kampfgemeinschaft muss gegen diejenigen, die der Nation schaden wollen – im Dienst fremder Interessen oder gleich von denen gesteuert und gekauft – vorgegangen werden: In ihrem Befreiungskampf brauchen die Nationen eine „illiberale Demokratie“.
Mit ihrer Definition der Staatsräson und dem entsprechenden Herrschaftsbedarf stoßen die PiS und Orbáns Fidesz auf die per Acquis vorgeschriebenen politischen Verfahrensweisen als Hindernisse. Die regierenden Parteien sehen sich in ihrem Kommando über die eigene Gesellschaft gefesselt durch die vorgeschriebenen Verfahrensweisen von good governance: Ihr Aufbruchsprogramm wird gestört bis durchkreuzt durch die Rechte der politischen Konkurrenz, von NGOs oder einer Öffentlichkeit bis hin zu einer Justiz, die mit dem grundsätzlichen Misstrauen bedacht wird, dass sich dort noch ‚alte Kräfte‘ bzw. Feinde der Nation eingenistet haben, die sich der politischen Mission der Regierung widersetzen und deren Kampf um nationale Emanzipation untergraben. Im Besitz der politischen Macht, ermächtigt durch ihr Volk, sehen sich die ungarische und die polnische Führung dazu herausgefordert, auch den Rechtsstaat dem Geist und Buchstaben nach zu ‚reformieren‘, d.h. ihrem Herrschaftsbedarf gemäß zu machen.[18]
Dieser interne Streit um die Geschäftsordnung gerät zum außenpolitischen Streit zwischen den supranationalen Institutionen der EU und den polnisch-ungarischen Vorkämpfern nationaler Identität. Mit der Übernahme der Zweieinigkeit von Marktwirtschaft & Demokratie im Rahmen der Heranführungspolitik der EU, die den Staaten die näheren Erfordernisse dieses vorbildlichen Systems in Gestalt ihres Acquis Communautaire vorbuchstabiert hat, hat man sich schließlich auch die EU als Hüter dieses Kodex eingekauft. An Themen wie z.B. dem Renteneintrittsalter von Verfassungsrichtern eskaliert der Konflikt mit EU-Kommission und -Parlament. Die EU-Institutionen registrieren den Reformbedarf als Abweichung vom EU-Regelkanon und Indiz für eine ungehörige Aufsässigkeit und treten dem im Namen der demokratischen Verfahren entgegen. Die bekommen damit eine neue Bestimmung: Im Rahmen der vorgeschriebenen Gewaltenteilung wird die Judikative zum Eingriffstitel und -hebel der äußeren Instanzen gemacht.
Gegenüber diesem Eingriff von außen, bei dem sich die EU-Institutionen das Recht zusprechen, über die inneren Rechtsverhältnisse zu entscheiden – auch eine neuartige Definition der „Unabhängigkeit“ der Justiz –, bestehen Polen und Ungarn auf dem Recht ihrer souveränen Ausgestaltung des Rechtsstaats und weisen diese Intervention als Angriff auf ihre Demokratie, auf ihre Sorte Rechtsstaatlichkeit und auf ihr Volk zurück.
Ein paar Bemerkungen zur „Unabhängigkeit der Gerichte“
In der hierzulande gültigen Lesart geht es bei diesem Streit um die allerhöchste Werteebene, nämlich um einen Angriff auf ein Fundament der bürgerlichen Freiheiten, auf das ehrwürdige Prinzip der Gewaltenteilung.
Von anderen, minderwertigeren Staatsformen soll sich die Demokratie auch dadurch unterscheiden, dass sie die Justiz in den Rang einer eigenständigen dritten Gewalt im Staat erhebt, die unabhängig von den beiden anderen, nur Recht und Gesetz verpflichtet, ihres Amtes waltet, wobei diese funktionelle Unterscheidung der Abteilungen der Staatsgewalt von den Liebhabern der Demokratie zu einer Garantie der Machtbegrenzung der beiden anderen Gewalten verfabelt wird. Dafür besteht bei genauerer Betrachtung dieser Regelung aber kein Anlass. Es zeigt sich nämlich, dass Gerichte in demokratisch verfassten Staaten in einer ganz entscheidenden Hinsicht so ziemlich das Gegenteil von unabhängig sind: Sie befassen sich schließlich einzig und allein mit der Anwendung der Gesetze, die die legislative Gewalt erlässt und auch laufend nach ihrem Regelungsbedarf ändert und fortentwickelt; Inhalt und Maßstab der Tätigkeit der dritten Gewalt sind von der ersten vorgegeben.
Das heißt nicht, dass es die fleißig zur Nachahmung empfohlene Unabhängigkeit der Justiz in Demokratien nicht gäbe. Sie besteht darin, dass die Gerichte die Tätigkeit von Legislative und Exekutive auf ihre Übereinstimmung mit den in der Verfassung niedergelegten allgemeinen Prinzipien der Ausübung der Staatsgewalt überprüfen. Mit einer Begrenzung der Macht des Gesetzgebers und der Exekutive hat das nur in einer Hinsicht zu tun: Deren Wirken soll strikt der Durchsetzung des allgemeinen Staatswillens dienen, ein Missbrauch des Gewaltmonopols für partikulare Interessen verhindert werden. Mit ihrer Dreiteilung verpflichtet sich die Staatsgewalt selbst darauf, Sonderinteressen unter die Herrschaft des allgemeinen Staatswillens zu beugen, „Willkür“ zu verhindern. Darüber wacht die Judikative, misst die Leistungen der wechselnden Regierungen und des Beamtenapparats an der Verfassung und bewährt sich damit als Instrument der Herrschaft. Welche Fassung des allgemeinen Staatswillens zweckmäßig und zeitgemäß ist, entscheidet daher auch kein Gericht, sondern die erste Gewalt mit den dafür nötigen Mehrheiten.
Dass die heilige Kuh der Unabhängigkeit der Gerichte mit dem politischen Einfluss auf die Auswahl von Richtern schon kaputt sein soll, wie es Ungarn und Polen zum Vorwurf gemacht wird, und dass sich Rechtsstaat und Unrechtsstaat daran unterscheiden, kann nicht die ganze Wahrheit sein. Immerhin hat man ja gerade die Auseinandersetzung in den USA vor Augen, wo es schon immer selbstverständlich ist, dass sich jeder Präsident während seiner Amtszeit darum kümmert, Richterposten im Obersten Gericht nach seiner Parteirichtung auszuwählen. Und in Deutschland wird den C-Parteien aktuell der Vorwurf gemacht, dass sie zu lange gebraucht haben, um einen Posten beim Verfassungsgericht zu besetzen, der ihnen „zusteht“, geregelt durch den etablierten Parteienproporz.
Politischer Einfluss auf die Auswahl von Verfassungsrichtern ist also durchaus keine Abweichung, sondern die Regel. Bei der juristischen Tätigkeit des Subsumierens von Tatbeständen und Subjekten – auch von Staatsorganen – unter die Gesetze zählt eben nicht nur deren Buchstabe, sondern auch der Geist der Richter, die politische und moralische Einstellung, aus der heraus sie Recht sprechen, die Tatbestände rechtlich einordnen. Und dieser Geist ist der Politik in keinem rechtsstaatlich verfassten Staat egal, welche Verfahren der Richterernennung auch immer dort eingerichtet sind. Der bezeichnende Unterschied besteht also nicht in der Abwesenheit von „politischem Einfluss“, sondern darin, ob sich die konkurrierenden Staatsparteien die Auswahl von Richtern ihrer Couleur z.B. im etablierten deutschen Proporz wechselseitig genehmigen, oder ob der Streit um die Ausrichtung der Staatsräson in einer solchen Grundsätzlichkeit geführt wird, dass einer Regierung ihr Recht auf die Auswahl von Richtern anhand von deren Gesinnung bzw. auf die Änderung des Bestellungsverfahrens bestritten wird.
Angegriffen wird also eigentlich die Unabhängigkeit, die sich die regierenden Parteien gegenüber Europa herausnehmen. Aus diesem Grund erklärt Europa den Justizapparat dieser Länder zu seinem Schutzobjekt, wirft sich in die Pose des überparteilichen objektiven Schützers des Rechts, während es sich zur Partei der Teile der Justiz macht, die sich gegen die Maßnahmen der Regierung zur Wehr setzen.
Von wegen also der Acquis, die gemeinsame Rechtsstaatlichkeit, stiftet und garantiert die europäische Einheit – das mag die Vorstellung und Absicht beim Eingemeinden von Osteuropa gewesen sein. Aber es ist nicht die Wahrheit dieses Verhältnisses. Zusammengehalten worden ist Europa bislang immer noch durch die Interessen der Staaten und die versachlichten Bedingungen, auf deren Beachtung die Staaten im Namen ihres Erfolgs verpflichtet worden sind. Auch wenn der europäische Rechtsstaat die prinzipiellen Verkehrsformen einer auf kapitalistische Reichtumsvermehrung gegründeten Konkurrenzgesellschaft und ihrer politischen Gewalt vorschreibt, auch wenn die Staatsneugründungen im Osten sich genau dieses System zu eigen machen wollten – der immanente Widerspruch dieser Transaktion, die einer Herrschaft ein auswärtiges Rechtssystem überstülpt, besteht darin, dass sie dieser obersten Gewalt bestreitet, den Rechtsstaat als ihr Mittel einzusetzen und auszugestalten.
Auch wenn die Sache zuweilen so vorstellig gemacht wird, als ob man sich mit der Implantierung des Regimes von Demokratie & Marktwirtschaft in Gestalt der kompletten in Europa ausgearbeiteten Ausführungsbestimmungen auf gewissermaßen objektive, übernationale und unbestreitbar allgemein gerechte und nützliche Verkehrsregeln geeinigt hätte – spätestens dann, wenn dieselbe Ordnung als ‚Wert‘-Bestand deklariert wird, gegen den im Osten verstoßen wird, kommt der sehr politische Gehalt des Rechtstransfers zur Sprache: Damit sollte ja immerhin die Staatsräson, die generelle politische Ausrichtung dieser noch ungefestigten Nationen festgezurrt werden.[19] Die Tatsache, dass es nicht das nationale Interesse, der politische Wille der Nation ist, der über die gewaltmäßige Ordnung entscheidet, die die Gesellschaft braucht, und der sie nach seinem Gewaltbedarf modifiziert und fortschreibt, sondern eben eine äußere Macht, macht sich auf verschiedene Weise geltend.
Wirkungen des europäischen Rechtsexports
Im Laufe der verschiedenen Osterweiterungen hat die EU den Widerspruch in der Form zur Kenntnis nehmen müssen, dass allein die Übernahme des Acquis nicht die von ihr gewünschten Resultate erbringt, in vielen Fällen weder wirtschaftliche Stabilisierung noch ein halbwegs ordentliches Funktionieren garantiert. Sie legt den Widerspruch ihres Imperialismus allerdings konsequent den eingemeindeten Staaten zur Last: Die lassen es an der Exekution der Gesetze mangeln, folglich bemüht man sich, die zu erzwingen: durch eine dauerhafte Rechtsaufsicht und zum anderen durch deren Bestückung mit dem passenden Personal einschließlich der Entsendung europäischer Beamter bzw. der Ausbildung einer europa-tauglichen politischen Elite. Die goldene Regel, die die EU diesen Staaten immer wieder vorhält, dass, wenn erst einmal eine stabile Rechtsordnung da ist, unweigerlich die Investoren samt Wirtschaftsaufschwung folgen, passt gar nicht gut auf die Lage. Die einen Objekte dieser Zivilisierung stoßen immer wieder auf die Untauglichkeit des Rechtskodex für ihren jeweiligen Herrschaftsbedarf, auf Gesetze, die in der Staatspraxis nicht anwendbar sind, an die sich die Gesellschaft einschließlich des Staatspersonals in vielerlei Hinsichten nicht halten kann, weil der Zwang, sich von einem Eigentum zu ernähren, das es nicht gibt, andere Überlebenstechniken provoziert. Das Eingreifen der EU im Namen von good governance und der unnachsichtigen Verfolgung von ‚Korruption‘ stiftet dort dann anstelle einer Gewaltenteilung dauerhafte Zerwürfnisse zwischen externen oder internen Rechtsaufsehern auf der einen, der Exekutive und der Gesellschaft auf der anderen Seite. In anderen Fällen will sich die herrschende Klasse wegen ihrer Ambitionen nicht an die Auflagen aus Brüssel halten. Das europäische Pochen auf den Rechtsstaat wird gekontert sowohl durch die Unfähigkeit von Staaten, ihre Gesellschaften in diesem Sinn zu organisieren – siehe die Einstufung eines ganzen Bündels von Staaten als ‚captured states‘, Staaten, die in die Hand von Verbrechern und Oligarchen gefallen sind –, als auch durch die Unwilligkeit der potenteren Oststaaten, die im Namen ihrer nationalen Werte rebellieren.
Das Bemühen um alternative Wege und außenpolitischen Rückhalt gegen die EU-Vormacht
Um dem europäischen Staatenverbund den nötigen Respekt gegenüber den „Europäern zweiter Klasse“ aufzuzwingen, haben Polen und Ungarn das alte Visegrád-Bündnis mit der tschechischen und slowakischen Republik aus seinem Schattendasein wiedererweckt und zu einem institutionalisierten Lager gegen Brüssel/Berlin [20] ausgebaut bis hin zu einem Programm erweiterter militärischer Zusammenarbeit.[21] Trotz verschiedenster Differenzen sind sich die Visegrád-Staaten einig im Ziel einer Umdefinition des europäischen Programms: Ein Austritt steht zwar grundsätzlich nicht zur Debatte, auf den Nutzen des Binnenmarkts will angesichts der eingerichteten Abhängigkeiten keiner der Osteuropäer verzichten, aber weitere Vergemeinschaftungen werden vehement abgelehnt. Stattdessen sollen die Rechte der nationalen Parlamente wieder gestärkt werden, um den weiteren Ausbau der supranationalen Regelungen zu verhindern bzw. nach Möglichkeit auch wieder zurückzubauen.[22] Das oberste Organ des europäischen Supranationalismus, die EU-Kommission, wird der Vertragsverletzung beschuldigt und mit der Parole „Freiheit statt Sozialismus“ bekämpft.[23] Umgekehrt werden aber auch Projekte in Richtung eines „Europa verschiedener Geschwindigkeiten“ bekämpft als Versuche, Osteuropa auf einen minderen Status festzulegen.
Um die Machtverhältnisse in der EU nachhaltig zu verändern, machen sich die Visegrád-Staaten auch zum Vorkämpfer für die Beschleunigung der EU-Erweiterung auf dem Balkan; sie rechnen mit einer Verstärkung ihres Lagers durch die Anzahl und Interessen geistesverwandter Transformations-Länder und registrieren mit Freude auch den zunehmenden „Populismus“ im europäischen Westen:
„Es hat sich herausgestellt, dass dies nicht nur ein mitteleuropäischer Prozess ist. Erinnern wir uns nur an das Ergebnis der deutschen Wahlen, der österreichischen Wahlen, oder gerade daran, wie die Italiener gewählt haben. Ein allgemeiner Prozess der Verschiebung nach rechts ist in ganz Europa zu beobachten.“ (Viktor Orbán: Sich von der 68er Elite verabschieden, visegradpost.com, 30.7.18)
Die Warschauer und Budapester Außenpolitik hat darüber
hinaus einen Anlauf zu einem weiteren osteuropäischen
Bündnis unter eigener Regie genommen: Die von Polen und
Kroatien ins Leben gerufene „Drei-Meere-Initiative“ zielt
erklärtermaßen darauf, ein Gegengewicht zur
Berlin-Brüssel-Paris-Achse
zu schaffen. Sie soll
„den drei Jahrzehnten ein Ende setzen, die man mit den Augen beinahe ausschließlich gegen Westen gerichtet verbracht hat. Während sie 22 % der EU-Bevölkerung darstellen, produzieren sie nur 10 % ihres Reichtums, da der nach dem Fall des Kommunismus eingeleitete wirtschaftliche Aufholprozess (mit der Ausnahme Österreichs) bei Weitem noch nicht zu Ende ist. Das Ziel der Drei-Meere-Initiative ist eben, die energetischen und Transportinfrastrukturen in der Nord-Süd-Achse bzw. den Handel in gleicher Richtung zu entwickeln, nachdem die Entwicklung drei Jahrzehnte lang vorwiegend in Ost-West-Richtung erfolgte.“ (visegradpost.com, 15.7.18) [24]
Anstelle der EU-Entwicklungspolitik, die durch ihren Raum vor allem Verkehrsschneisen in Richtung Russland geschlagen hat, haben sich die Drei-Meere-Anwohner die Vernetzung ihrer Infrastruktur als Grundlage für ein autonomes, ihrer Region angemessenes Wachstum vorgenommen – im sicheren Bewusstsein, dass sie dabei nicht allein auf die eigenen Mittel angewiesen sind, sondern mit einem Partner von ganz anderem Kaliber rechnen können:
„Was sich die Mitgliedstaaten erhoffen, ist neben der Anerkennung ihrer Bemühungen in Brüssel die weitere Unterstützung durch die USA. Am Bukarester Gipfel nimmt auch der amerikanische Energieminister Rick Perry teil. Präsident Donald Trump hat in einem Schreiben an seinen rumänischen Amtskollegen Klaus Johannis hervorgehoben, die USA wollten auch weiterhin ein starker Verbündeter und Partner des Projekts bleiben. Neu ist bei dem Gipfel, dass ein internationales Wirtschaftsforum am Rande stattfindet, an dem auch Vertreter aus den Staaten des Westbalkans sowie der EU-Ostpartnerschaft (Moldau, Georgien, Ukraine) teilnehmen. Auch Spitzenvertreter einiger Geldinstitute wie der EBRD, der Weltbank und der Europäischen Investitionsbank sind dabei.“ (DW, 17.9.18)
Angesichts der Würdigung des Vereins durch Trump sieht sich die EU dazu genötigt, die Projektemacherei zwischen den drei Meeren durch die Entsendung ihrer Bankenvertreter zu würdigen, und Deutschland hat festgestellt, dass es auch an einem dieser Meere wohnt und in die Initiative aufgenommen werden möchte.[25]
Schließlich können sich die ambitionierten Staatschefs im Osten auf noch einen weiteren mächtigen Partner verlassen: auf China, das mit seiner Seidenstraße, mit seinen Kapitalmassen, seiner Einkaufspolitik und dem lehrbuchmäßig daraus folgenden politischen Einfluss auf Regierungen alle interessierten Osteuropäer im Format 16 plus 1 versammelt. Auch dieser Zusammenschluss wird mittlerweile von der EU als strategische Konkurrenz im eigenen Herrschaftsbereich wahrgenommen:
„‚Wenn es uns nicht gelingt‘, erklärte Gabriel mit Blick auf die EU, ‚eine eigene Strategie mit Blick auf China zu entwickeln, dann wird es China gelingen, Europa zu spalten‘. Schon jetzt schaffe man es nicht mehr, auf EU-Ebene eine Verurteilung des chinesischen Vorgehens im Südchinesischen Meer ‚durchzuwinken‘, weil manche ‚europäischen Mitgliedsstaaten ... sagen, sie möchten dem nicht zustimmen, weil sie in keinen Konflikt mit China geraten wollen‘. Derlei Unbotmäßigkeiten gegenüber dem Machtzentrum der EU sehen die Berliner Planungen für die europäische Peripherie nicht vor. Man müsse klare Verhältnisse schaffen, forderte Gabriel vor der diplomatischen Elite Frankreichs in Paris: Es müsse ‚eine europäische Strategie‘ geben, ‚die natürlich auf Partnerschaft mit China ausgerichtet ist‘, die aber auch ‚von China verlangt ... dass sie bitte eine Ein-Europa-Politik betreiben‘.“ (Junge Welt, 19.10.17)
Das ambitionierte Polen kennt auch das letzte entscheidende Argument, mit dem sich Staaten Respekt verschaffen: militärische Macht. Polen, das seine Geltungsansprüche vor allem auch in der Form präsentiert, dass es sich durch Russland außerordentlich bedroht sieht, und das mit seiner Forderung, die europäische Politik gegenüber Russland als einem definitiven Feind auszurichten, regelmäßig am deutschen Standpunkt in der EU aufläuft, hat dafür wiederum einen mächtigen Partner außerhalb der EU auf seiner Seite. Neben den militärischen Leistungen bei den Anläufen zu einer europäischen Verteidigungszusammenarbeit und in der NATO will man jetzt eine unauflösbare Verbindung mit dem amerikanischen Freund eingehen. Zusätzlich zu den schon länger in Polen stationierten Bestandteilen der amerikanischen Raketenabwehr bietet man der Trump-Regierung die Einrichtung eines amerikanischen Stützpunkts mit Vorleistungen auf eigene Kosten, mit einer dauerhaften statt wie bisher rotierenden Besetzung und einem Namen, den der amerikanische Präsident sicherlich für „wundervoll“ hält:
„Duda hatte bei seiner Visite im Weißen Haus ... den Namen ‚Fort Trump‘ für das Projekt vorgeschlagen.“ [26]
Der Erfolg all dieser außenpolitischen Aktivitäten, der herzlichen Beziehungen mit europäischen Abweichlern in Italien und mit außereuropäischen Mächten zeigt, dass dem Modell des EU-Imperialismus, seiner Politik der friedlichen Eroberung, die entscheidende Bedingung abhandengekommen ist – die Alternativlosigkeit der Unterordnung unter die EU. Dank Trump, dem der ungarische Staatschef explizit zu dessen Verschrottung der Weltordnung gratuliert,[27] vor allem aber auch dank des Auftretens von China [28] sind die früher gültigen Sachzwänge zur Unterordnung zwar nicht gänzlich aufgehoben, aber heftig relativiert.[29] Die EU ist nicht mehr – mit der Weltmacht im Rücken – der Garant des wirtschaftlichen Aufbaus, die unbestrittene Schutzmacht und der einzig befugte Richtliniengeber.
Europa ringt um die Disziplinierung seiner Eroberungen
Die EU hat den Nationalismus der vom Realsozialismus befreiten Nationen für die Ausdehnung ihres Herrschaftsbereichs und den Ausbau ihrer Machtposition benützt und erhält jetzt von demselben Nationalismus die Quittung. Sie will die Infragestellung ihrer Autorität nicht hinnehmen. In einer Welt, in der die USA nicht mehr die unausgesprochene Gewaltgarantie hinter dem ausgreifenden Machtgebrauch des europäischen Bündnisses sind, in der ein Trump der EU explizit alles Schlechte wünscht, in der die Chefs der Führungsnationen die Gefahr an die Wand malen, dass sich Europa nun aus eigener Kraft gegen Mächte wie die USA, Russland und China zu behaupten hat – in dieser neuen Lage ist die innere Zersetzung des Bündnisses durch die aufsässigen Nationen im Osten, die Tatsache, dass die heutige EU nicht über einen verlässlichen Besitzstand als Basis der eigenen Ambitionen verfügt, unerträglich.
Rechte entziehen?
Nichts Geringeres als die Handlungsfähigkeit der EU, das Agieren als einheitlicher Block steht auf dem Spiel, nachdem die Einsprüche aus dem Osten immerhin schon zur Blockierung von Beschlüssen geeignet sind oder unwillige Staaten sich auch schlicht weigern, mit sanfter Gewalt durchgedrückte Beschlüsse daheim auch umzusetzen.
Im Fall der umstrittenen Quotenregelung für die Verteilung von Flüchtlingen hat es die EU daher bis zu der Frage gebracht, wie EU-Beschlüsse gegen den expliziten Willen von Mitgliedern durchgesetzt werden können. Die Klage von Ungarn und der Slowakei gegen die Quotenregelung wird vom Europäischen Gerichtshof zurückgewiesen, die Slowakei erklärt sich zwar im Unterschied zu Ungarn dazu bereit, dem Urteil zu folgen, aber beide Staaten nehmen nach wie vor so gut wie keine Flüchtlinge auf. Andere osteuropäische Staaten haben Quoten zugesagt, aber haben auch nichts dagegen, wenn sich die Flüchtlinge, die bei ihnen abgestellt werden, in die Länder absetzen, in denen sie eine bessere Perspektive für sich sehen. Gegen Anträge von Tusk und Kurz, das leidige Thema lieber stillschweigend zu beerdigen, stellt sich Deutschland stur auf den Standpunkt, dass die Quotenregelung gilt, kümmert sich aber um die Durchsetzung auch nur in der ganz reduzierten Weise, mit den wenigen Staaten, die sich dazu herbeilassen, Abkommen über die freiwillige Rücknahme von Flüchtlingen zu schließen, die bei ihnen bereits den Antrag auf politisches Asyl gestellt haben...[30]
An diesem Hin und Her zeigt sich das Dilemma, dass die EU eben immer noch ein Staatenbündnis ist, in dem die Beteiligten in vielen Hinsichten zwar souveräne Rechte schon an Brüssel abgetreten, ihre Souveränität selbst aber keineswegs aufgegeben haben. Daher bleibt das Bündnis auch in den fundamentalen Streitfragen, in die es sich hineingewirtschaftet hat, auf freiwilliges Mitmachen – und eben auch das freiwillige Mitmachen der Minderbemittelten – angewiesen, während die berühmte soft power, die Erfolgsperspektive, aufgrund derer man Streitigkeiten in einem Geschacher regeln konnte, bei dem das Einlenken in Streitfragen mit kompensatorischen Angeboten erkauft wurde, ihre Wirksamkeit eingebüßt hat. Daher plädieren die Wortführer einer Union, die „handlungsfähig“ sein muss, entschieden auf Änderung des unpraktischen gemeinsamen Regelwerks. Vor allem auf dem Feld der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik [31] vermissen die EU-Chefs die grundsätzliche Handlungsfreiheit, widerwillige Staaten auf Linie zu bringen. Die Notwendigkeit, die Verpflichtung auf Einstimmigkeit abzuschaffen, wird immer wieder beschworen [32] und bleibt ein frommer Wunsch. Schließlich wäre für diesen Fortschritt ja die Zustimmung der Problemfälle zu ihrer Entmachtung erforderlich.
Was aber schon geht und nach reiflicher Überlegung der Chef-Europäer auch sein muss: die nicht hinnehmbare Insubordination mit allen Machtmitteln zu bekämpfen, über die die europäischen Führungsinstanzen verfügen.
Geld wegnehmen?
Die EU-Organe verfallen dabei als Erstes auf die altbewährte Methode, die Mobilisierung von Sachzwängen, um die Bereitschaft zur Unterordnung herzustellen: die Herrschaft mit Geld – jetzt aber als Hebel einer Bestrafung für abweichende Linien. Die Flüchtlingsfrage wird auf eine Geldfrage herunterdividiert: Die Staaten, die die Aufnahme ablehnen, sollen so viel zahlen, wie die anderen Länder für den Unterhalt der Flüchtlinge ausgeben müssen. Die Idee bleibt aber vorerst auch auf der Strecke bzw. geht ein in das Geschacher über den kommenden EU-Haushalt.
In dem Zusammenhang lanciert Haushaltskommissar Oettinger den Vorschlag, in Zukunft bei der Zuteilung von EU-Haushaltsmitteln das Kriterium der Rechtsstaatlichkeit geltend zu machen, mit der durchsichtigen Heuchelei, dass es nur um die allerbeste Verwendung der Gelder gehe:
„Der Haushaltskommissar glaubt, durch eine neue Regel eine Demontage des Rechtsstaats wie in Polen stoppen zu können. Geld gibt’s nur noch, wenn die Justiz funktioniert: ‚Wir müssen, indem wir Geld vergeben, garantieren können, dass im Streitfalle unabhängige Richter über die Mittelbewilligung oder auch die Rückzahlung entscheiden.‘ Und wo es keine unabhängigen Richter mehr gibt, da soll auch kein EU-Geld mehr fließen.“ (Deutschlandfunk, 2.5.18)
In dieselbe Richtung zielt die Drohung mit einer Reform des Kohäsions- und Strukturfonds mit der Begründung, dass die Fortschritte in einigen östlichen Ländern einiges an Beihilfen überflüssig gemacht hätten. Aber darauf folgen postwendend die Bedenken, dass eine Schädigung dieser Staaten nicht ohne eine Beschädigung des europäischen Standorts zu haben ist, wobei dann auch einmal offenherzig mitgeteilt wird, wie es um die Verteilung des Nutzens aus diesen Fonds in Wirklichkeit bestellt ist:
„Zudem könnte die Geldkürzung für Osteuropa für den Westen zum Bumerang werden – insbesondere für Deutschland. Die EU-Kommission schätzt, dass ein Viertel des Wirtschaftswachstums in den Geberländern von 2007 bis 2013 auf indirekte Effekte der Kohäsionspolitik zurückgeht, etwa durch erhöhte Exporte in die Empfängerländer. ‚Von jedem Euro, der von Berlin nach Brüssel kommt, kommen bis zu 70 Prozent in die deutsche Industrie, in die Auftragsbücher zurück‘, sagte EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger... Drehte der Westen den Osteuropäern nun den Geldhahn zu, träfe er womöglich auch sich selbst. Mit dieser Tatsache, meint ein deutscher EU-Beamter, ‚sollten wir ehrlicher umgehen‘.“ (spiegel.de, 6.4.18)
Das nächste Bedenken bei der Besichtigung der ökonomischen Druckmittel richtet sich darauf, dass deren Einsatz die ‚Zentrifugalkräfte‘ womöglich eher verstärkt. Der Einsatz der soft power als Hebel zur freiwilligen Unterordnung von Staaten hat als Kitt fürs Zusammenhalten ja auch nur insoweit getaugt, als er deren Interessen auch bedient hat; die Wirksamkeit des Verfahrens, die Geldmittel zur ökonomischen Schädigung aufsässiger Staaten einzusetzen, würde dem Standpunkt der Staaten, dass ihre Interessen in der EU schlecht aufgehoben sind, nur Auftrieb verschaffen.
Gegenüber all diesen Bedenken wird dann wiederum aufgeführt, dass es einfach unerlässlich ist, die Autorität der EU-Behörden, ihre Durchsetzungsfähigkeit unter Beweis zu stellen:
„Trotz dieser Risiken gilt es als ausgemacht, dass die EU-Kommission demnächst einen Rechtsstaats-Vorbehalt bei der Zahlung von Fördermitteln vorschlagen wird. Andernfalls, so befürchtet man in der Behörde, mache man sich nicht nur in Polen lächerlich, sondern stärke auch Populisten überall: In Osteuropa bekämen sie den Eindruck, dass man ungestraft den Rechtsstaat aushöhlen könne, im Westen könnten sie die EU als zahn- und prinzipienlose Verschwenderin westlicher Steuergelder geißeln.“ (Ebd.)
Rechte kassieren: Drohung mit Entmündigung
Ein erfolgreicher Ausgang der Verfahren zum Entzug von Stimmrechten ist zwar schon im Vorhinein durch die Ankündigung von Kaczyński und Orbán, die nötige Einstimmigkeit im Europäischen Rat, dem Gremium der Staats- und Regierungschefs, zu verhindern, für aussichtslos erklärt worden. Dennoch hat man die Aufnahme des Verfahrens gegen Ungarn nach einem mehrjährigen Tauziehen erst in der Kommission und dann im Europa-Parlament beschlossen; die europäischen Organe erachten offensichtlich einen solchen Beweis zumindest ihres Durchsetzungswillens für unabdingbar.
„Dies ist das erste Mal, dass das Parlament den Rat der EU auffordert, gegen einen Mitgliedstaat vorzugehen, um eine systemrelevante Bedrohung der Grundwerte der Union zu verhindern. Zu diesen Werten, die in Artikel 2 des EU-Vertrags und in der EU-Charta der Grundrechte verankert sind, gehören die Achtung von Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten... Das Parlament erinnert daran, dass der Beitritt Ungarns zur EU ‚ein freiwilliger Akt auf der Grundlage einer souveränen Entscheidung mit einem breiten Konsens des gesamten politischen Spektrums in Ungarn‘ war. Es unterstreicht, dass jede ungarische Regierung dafür verantwortlich ist, die Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der EU-Werte auszuräumen.“ (europarl.europa.eu) [33]
Die Einleitung eines solchen Verfahrens auch gegen Polen ist weiterhin in der Debatte; als Haupt- und Generalvorwurf steht dabei die Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit im Raum und wird in einer nächsten Eskalationsstufe dem Europäischen Gerichtshof zur Entscheidung angetragen.
Welches Recht gilt – das europäische oder das souveräne Recht Polens?
Der EuGH hat entschieden:
„Polen muss die vorzeitige Pensionierung von Richtern an seinem Obersten Gericht mit sofortiger Wirkung stoppen. Eine entsprechende einstweilige Anordnung erließ der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg... Die Anordnung hatte kürzlich die EU-Kommission beantragt und bekam nun recht... Der EuGH teilte mit, er werde sein ‚Endurteil in dieser Sache‘ später verkünden... Polen müsse jedoch bereits innerhalb eines Monats seine ‚Maßnahmen mitteilen‘, mit denen es der Anordnung ‚vollumfänglich‘ nachkommt. Später sind Zwangsgelder möglich... Allerdings hatten PiS-Politiker zuletzt offengelassen, ob Polen sich einem EuGH-Urteil beugen werde.“ (FAZ, 20.10.18)
Damit ist der Fall auf die Prinzipienfrage zugespitzt, ob sich Polen dem EU-Recht beugt; Polen ruft seinerseits sein Verfassungsgericht dazu auf, darüber zu entscheiden,
„ob die Bestimmung im EU-Recht, dass Gerichte der Mitgliedsländer dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) Fragen zur Auslegung des EU-Rechts zur Entscheidung vorlegen können, mit der polnischen Verfassung in Einklang steht... Polens Oberstes Gericht, in dem die Regierung zahlreiche unliebsame Richter in den vorverlegten Ruhestand schicken will, hatte im Streit um die Auswechslung seiner Richter zuvor eine Anfrage beim EuGH gestellt und sogar versucht, diese Auswechslung zu stoppen.“ (FAZ, 18.10.18)
Und Polen beruft sich darauf, dass auch Deutschland seinem Verfassungsgericht die Zuständigkeit für eine Überprüfung der Reichweite europäischer Gesetze zugesprochen hat:
„Polens Justizminister Zbigniew Ziobro hat sich in seiner Abwehr der Geltungsansprüche von EU-Recht gegenüber dem nationalen Recht Polens auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2009 berufen. Gemeint ist das sogenannte Lissabon-Urteil vom 30. Juni 2009 (2 BvE 2/08). Darin hatte das BVerfG zu entscheiden, wie sich die Geltungsansprüche von EU- und nationalem Recht gegeneinander abgrenzen lassen. Der Europäische Gerichtshof hat nach und nach die Tendenz entwickelt, den Geltungsanspruch des EU-Rechts auf Kosten des nationalen Rechts auszuweiten. Es genieße generell ‚Anwendungsvorrang‘, heißt inzwischen die Theorie... Im Unterschied dazu schrieb das Bundesverfassungsgericht 2009 in den Leitsätzen seines EU-Urteils: ‚Die europäische Vereinigung auf der Grundlage einer Vertragsunion souveräner Staaten darf nicht so verwirklicht werden, dass in den Mitgliedstaaten kein ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse mehr bleibt.‘“ (Junge Welt, 24.10.18) [34]
Die EU droht des Weiteren damit, Entscheidungen der polnischen Justiz in Rest-Europa die Anerkennung zu entziehen,[35] und verfällt auch wieder auf die bewährte Drohung mit Geld:
„Die EU-Kommission hat am Montag zugleich eine einstweilige Verfügung gegen die Veränderungen in Polens Justiz beantragt. Das würde Strafzahlungen bedeuten... Die polnische Nachrichtenagentur PAP zitierte am Montag eine Quelle im EuGH mit den Worten: ‚Der Urwald von Białowieža war ein Präzedenzfall. Bis dahin wussten wir nicht, dass es möglich ist, für Nichtbefolgung einer einstweiligen Verfügung Geldstrafen zu verhängen. Aber dank diesem ersten Fall kennen wir jetzt den Mechanismus in solchen Fällen. Die EU-Kommission könnte bei Nichtbefolgung auch jetzt Strafgelder beantragen.‘“ (FAZ, 25.9.18) [36]
*
So weit hat es Europa im Umgang mit seinen Ostgebieten gebracht: zu einem offenen politischen Gegensatz, der nicht zu befrieden ist. Also wird er bewirtschaftet. Man versucht, die Abweichler mit ihrer Abhängigkeit vom europäischen Geld zur Räson zu bringen, diese Abhängigkeit zu nutzen, um dem EU-Rechtsapparat die Durchschlagskraft zu verleihen, die er für sich nicht hat, aber braucht, um die unerwünschte nationale Handhabung des Rechtswesens zu korrigieren. Es ist der Punkt erreicht, wo Recht gegen Recht steht, das nationale Interesse gegen das supranationale, und die EU die Unterordnung wiederum mit dem Entzug des Mittels erzwingen will, das den Laden zusammenhält.
[1] Die Drei-Meere-Initiative wurde vor zwei Jahren von Kroatien und Polen ins Leben gerufen. Dazu gehören Estland, Lettland, Litauen, die Länder der Visegrád-Gruppe (Polen, die Slowakei, Tschechien und Ungarn) sowie Slowenien, Kroatien, Bulgarien und Rumänien und als einziges Land der alten EU Österreich, das unter dem Titel eines Brückenbauers seine besonderen Einflussmittel in der Region bewahren möchte. Darüber hinaus hat der Verein der Ukraine und Moldawien den Anschluss angeboten.
[2] Die Annullierung
eines vom amerikanischen State Department organisierten
Wettbewerbs, der ungarischen Oppositionsmedien aus der
Provinz 700 000 US-Dollar zubilligen sollte,
illustriert eine Wende in den Beziehungen zwischen
Washington und Budapest... Botschafter David Cornstein,
der von Donald Trump ernannt wurde, ist, im Gegensatz
zu Obamas Geschäftsträgern, voller Lob für Viktor Orbán
und seine Mannschaft.
(visegradpost.com, 7.8.18)
[3] Die Bilanz
zwischen den eingehenden öffentlichen Transferzahlungen
und den ausgehenden Gewinnflüssen ist für Mitteleuropa
deutlich defizitär... Die Strukturfonds sind also keine
Almosen, sondern eine saftige Investition.
(visegradpost.com, 13.3.18)
[4] „Die Unzufriedenheit mit der wirtschaftlichen Dominanz Deutschlands wächst ... besonders in den zentral- und osteuropäischen Mitgliedsstaaten... Dort verursacht die Tatsache große Sorge, dass die tschechischen Löhne kaum mehr Anzeichen für eine Annäherung an das deutsche Niveau aufweisen... Die Schuld für die abgebrochene Konvergenz wird voll und ganz den ausländischen Investoren zugeschrieben mit dem Narrativ, dass ‚Deutschland, Frankreich und die USA in die Tschechische Republik investiert haben und nun die Profite herausziehen, während die Tschechen arm bleiben‘. Die Quelle der Unzufriedenheit besteht darin, dass im Prinzip der gesamte Finanzsektor und die Hälfte der Industrie auswärtiges Eigentum ist. Die multinationalen Gesellschaften legen die Preise für die Zwischenprodukte fest, die die tschechischen Fabriken herstellen, und indem sie diese Preise niedrig halten, drücken sie die tschechischen Löhne, während sie ihre Gewinnmargen hochtreiben.
Die Geschichte wird ewig wiederholt, dass die Arbeiter in der Fertigungslinie der tschechischen Volkswagen-Werke nur ein Drittel der Löhne der deutschen VW-Arbeiter verdienen, obwohl die Montagestrecken mit derselben Geschwindigkeit laufen wie die in Wolfsburg. Obwohl also die faktische Produktivität dieser tschechischen Arbeiter vermutlich dieselbe ist wie in Deutschland, sind die Löhne bedeutend niedriger. Der so erzeugte Wertzuwachs kann dann, vermutlich mit stillschweigender Unterstützung der deutschen Regierung, an die deutschen VW-Arbeiter und Anteilseigner verteilt werden.“ (Sebastian Dullien, ecfr.eu, 5.10.17)
Tatsächlich beschwört die ANO nicht den Niedergang,
sondern erklärt den Menschen, sie hätten mehr verdient
als das bisher Erreichte... Middle income trap...
Gemeint ist, dass der Entwicklungspfad dieser Länder
seit den 1990er Jahren diese nicht – wie es ihrem
Anspruch entspricht – ökonomisch auf die gleiche Stufe
geführt habe und führen könne wie die Länder mit hohem
Einkommen (im Blick ist vor allem Deutschland). Diesen
Anspruch zu erfüllen verspricht in Polen die PiS und in
Tschechien die ANO.
(Volker
Weichsel, Demokratie in der Schwebe. Die
Parlamentswahlen in Tschechien 2017, Osteuropa, Heft
9-10, 2017)
[5] Siehe auch die polnische Wirtschaftspolitik, die sich ganz dem Ziel widmet, sich aus dieser „Falle“ herauszuarbeiten, nachzulesen in GegenStandpunkt 3-17: Amerikanisch-polnische Völkerfreundschaft. Die Eröffnung neuer Perspektiven für Polen dank Trump.
[6] Selbst die
ökonomisch erfolgreichsten Länder der Region,
Tschechien, Slowenien, die Slowakei, das Baltikum,
Polen und Ungarn, werden bis 2026 das Wohlstandsniveau
des Westens nicht erreichen... Gemessen am
kaufkraftbereinigten BIP je Kopf, liege die Konvergenz
für die Gesamtregion noch in weiter Ferne. Derzeit
reiche sie von 49 Prozent in Bulgarien bis zu 90
Prozent in Tschechien. Zum Vergleich: Deutschland
schafft 122 Prozent.
(FAZ,
11.11.17)
[7] ... bzw. hätten sein
können: Der Punkt ist, dass diese Zahlungen (aus den
Strukturfonds sowie die Subventionen für die
Landwirtschaft) von der polnischen Regierung als etwas
dargestellt werden, was dem Land unabhängig von seiner
EU-Zugehörigkeit zustehe – als Ausgleich für
‚entgangene Entwicklungsmöglichkeiten‘ in den sieben
Jahrzehnten seit 1945. Schließlich, so unlängst der
gelernte Historiker und heutige Ministerpräsident
Mateusz Morawiecki, habe ‚die europäische Gemeinschaft
Polen 1945 hängenlassen und an die Sowjetunion
ausgeliefert‘.
(Junge Welt,
24.10.18)
[8] ‚Wenn Frankreich,
Österreich und andere westeuropäische Länder von
Sozialdumping reden, von der Tatsache, dass unsere
Arbeitnehmer sich auf ihrem Arbeitsmarkt für niedrige
Gehälter verkaufen müssen, dann muss man sagen, dass
dieses Lohnniveau bei uns auch mit der Tatsache
verbunden ist, dass ihre Unternehmen bei den Gehältern
in Tschechien sparen‘, so der tschechische
Ministerpräsident... Der Schlüssel für die ost- und
mitteleuropäischen Länder ist es, ihre eigenen
Lohnregeln definieren zu können. In diesem perversen
System der EU ist es ihre einzige Möglichkeit, um mit
den Wirtschaftsriesen im Westen des Kontinents
wettbewerbsfähig zu sein.
(visegradpost.com, 28.8.17)
[9] Andrej Babiš:
Beim letzten Treffen der Finanzminister der
Nicht-Euroländer habe ich mich mit Magdalena Andersson,
meiner schwedischen Amtskollegin unterhalten. Sie
meinte: ‚Wir sollten Ihnen die Strukturfonds kürzen,
weil Sie keine Flüchtlinge aufnehmen.‘ Ich habe
geantwortet: ‚Ja, wir bekommen das Geld, aber auf der
anderen Seite investieren schwedische Unternehmen in
mein Land und in Polen und erhalten jedes Jahr
Dividenden: zehn Milliarden in Tschechien und 25
Milliarden in Polen. Was wollen Sie denn noch? Ihre
Unternehmen profitieren, weil sie an den Gehältern
unserer Arbeiter sparen. In Deutschland würden sie
wahrscheinlich das Dreifache bezahlen.‘
(euractiv.pl, 20.2.17)
[10] Das Banksystem
dieser Länder wird in unterschiedlichem Maß (etwas
weniger in Polen, etwas mehr in Ungarn und vollständig
in Rumänien) von westlichen Banken beherrscht... Jede
Erwartung einer Erhöhung der weltweiten Leitzinsen
führt zu einer (zumindest potenziellen) Kreditkrise,
weil sie die westlichen Banken, deren Bilanzen schon
mit dem Minenfeld der Derivate belastet sind, mit dem
Risiko einer plötzlichen Kredit-Kontraktion
konfrontiert; die Muttergesellschaften bemühen sich
also, ihre interne Kapitalausstattung zu verstärken,
u.a. indem sie Kapital aus ihren Filialen in den
peripheren Ländern abziehen. Diese werden also dazu
gezwungen, den Schock einzustecken, da sie sich nun
einmal auf der falschen Seite dieser ‚beschränkten
monetären Souveränität‘ befinden, die von der EZB, dem
IWF und der Weltbank kontrolliert wird.
(visegradpost.com, 3.7.18)
[11] Fico ... ‚Den
Leuten zu erklären, dass wir Geld an die Griechen
zahlen müssen für ihre Gehälter und Renten, ist
unmöglich... Warum sollten die Slowaken Teile der
Schulden bezahlen?‘ Aus ähnlichen Gründen wie jetzt
hatte sich die Slowakei 2010 als einziges Land
geweigert, in ein Hilfspaket [von] mehr als 80 Milliarden
Euro für Griechenland einzuzahlen. 2011 führte die
Teilnahme der Slowakei an der Ausweitung des
EU-Rettungsschirms EFSF zu einer Regierungskrise in
Preßburg und zu vorgezogenen Neuwahlen... Vorbehalte
gegen die griechische Haltung gibt es auch in den vier
anderen osteuropäischen Ländern, die dem Euroraum
angehören, den baltischen Staaten sowie Slowenien. Sie
bringen vor, dass sie selbst durch große Spar- und
Reformprogramme hätten gehen müssen, um einerseits den
Euro einführen zu dürfen und andererseits auch in
schwierigen Zeiten auf eigenen Füßen stehen zu können.
Sie halten es für inakzeptabel, dass ihre eigenen
strapazierten Steuerzahler für die Griechen herhalten
müssten, die über ihre Verhältnisse lebten.‘
(FAZ, 28.2.15)
[12] Mateusz
Morawiecki ... ‚Sich heute oder in der näheren Zukunft
der Euro-Zone anzuschließen, wäre ein Spiel mit dem
Feuer. Wenn eine andere Krise, eine Rezession oder eine
plötzliche Verlangsamung des Wachstums eintritt – was
früher oder später im Konjunkturzyklus der Fall sein
wird –, würden wir die Fähigkeit verlieren, darauf zu
reagieren. Wir werden nicht mehr dazu in der Lage sein,
den Złoty zu schwächen oder Anleihen in unserer
nationalen Währung aufzulegen. Aber das sind die
wesentlichen Instrumente der Wirtschafts-, Finanz- und
Geldpolitik eines Staates. In Polen wird über den Euro
geredet, als ob das eine ideologische Sache oder eine
einfache wirtschaftliche Entscheidung wäre. Aber das
ist keine Frage von Ideologie und noch weniger eine
unbedeutende Entscheidung in Wirtschaftsfragen. Einer
Währungszone beizutreten ist gerechtfertigt bei
Ländern, die sich in ihrer Industriestruktur, ihrer
Wettbewerbsfähigkeit und der Flexibilität ihres
Arbeitsmarkts und des Dienstleistungssektors ähneln.
Aber eine solche Ähnlichkeit gibt es im Verhältnis von
Polen zu den Ländern der Eurozone, im Besonderen zu
denen, die gewöhnlich als ‚nordische‘ bezeichnet
werden, noch nicht. Wir haben uns gerade vom
Kommunismus freigemacht, und unsere enorme Abhängigkeit
von ausländischem Kapital, die uns von dem Modell
auferlegt worden ist, für das man sich vor einem
Vierteljahrhundert entschieden hat, bedeutet, dass wir
ganz anderen Herausforderungen gegenüberstehen als die
nördlichen oder südlichen Länder der Eurozone. Wenn
sich unsere Wirtschaftsstruktur und das
Pro-Kopf-Einkommen dem der Niederlande, Österreichs
oder Belgiens angeglichen haben wird, dann können wir
wieder über den Euro reden.‘
(visegradpost.com, 18.2.18)
[13] Während das Thema
im Westen unter mokanten Titeln wie
Fischstäbchengate
mit Herablassung behandelt
wird, machen es die Chefs der Visegrád-Staaten zum
Gegenstand eines Gipfeltreffens und zur Forderung an
die EU-Kommission:
„Schweinefutter für Osteuropäer? Östliche EU-Länder werfen Iglo, Coca Cola und Teekanne vor, schlechtere Lebensmittel als im Westen zu liefern ...
Die ostmitteleuropäischen EU-Länder fühlen sich von der Kommission in Brüssel und von den westlichen Mitgliedern oft missverstanden, ausgegrenzt, bevormundet. Das gilt für die Flüchtlingsfrage, und jetzt gilt es auch für ein anderes Thema: die Lebensmittelqualität. Hintergrund sind Untersuchungen, wonach internationale Handelsketten und Nahrungshersteller schlechtere Ware nach Ost- als nach Westeuropa lieferten. Auf dem Gipfel der sogenannten Visegrád-Gruppe in Warschau forderten deshalb die Regierungschefs aus Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei, dass diese Unterschiede sofort beseitigt gehörten und dass die Europäische Union strengere Auflagen erlassen müsse. Das Gebaren der – zumeist westlichen – Hersteller sei inakzeptabel und ‚erniedrigend‘, wetterte der slowakische Ministerpräsident Robert Fico.“ (FAZ, 4.3.17)
[14] Die
Zentraleuropäer stehen vor der Aufgabe, den Trend
umzukehren, dass die Jungen das Land für ein Leben im
Westen verlassen... Der Osten kämpft mit
Entvölkerung... In der Periode von 1989 bis 2017
blutete Lettland um 27 Prozent seiner Bevölkerung aus,
Litauen um 23 Prozent und Bulgarien um 21 Prozent. Die
Kombination aus einer alternden Bevölkerung, niedrigen
Geburtenraten und einem endlosen Strom von Auswanderern
ist letztlich der Grund der demographischen Panik in
Zentral- und Osteuropa... Es haben mehr Osteuropäer
infolge der Finanzkrise von 2008 ihre Heimat in
Richtung Westeuropa verlassen, als Flüchtlinge infolge
des Kriegs in Syrien angekommen sind.
(Foreign Policy, 10.7.18)
So fragen sich beispielsweise inzwischen viele,
warum ihre Länder in eine bessere Bildung investieren
sollen, wenn doch die großen Nutznießer dieser
Investitionen die westeuropäischen Gesellschaften
werden.
(DW, 1.9.17)
[15] Für den
Sozialausschuss der Visegrád-Gruppe war die Demographie
das Hauptthema. In der Tat haben alle Länder der Gruppe
Fertilitätsraten unterhalb von 2, d.h. ihre jeweiligen
Bevölkerungen schrumpfen. Um auf diese als
problematisch beurteilte Situation eine Antwort zu
geben, erinnert die Visegrád-Gruppe daran, dass sie
sich der ‚Einwanderungslösung‘ widersetzt. ‚Unsere
Antworten müssen unseren Nationen dienen. Wir brauchen
eine Familienpolitik und keine Einwanderungspolitik‘,
so die Präsidentin des Ausschusses... Die
Visegrád-Gruppe wirft Brüssel vor, Einwanderung statt
Natalität zu bevorzugen. Schließlich lehnt die
Visegrád-Gruppe ebenfalls die Genderideologie ab und
beweist einen tiefen Respekt für Kinder und Ehe.
(visegradpost.com, 5.3.18)
[16] Der ungarische
Ministerpräsident Viktor Orbán hat ... Merkel und dem
französischen Präsidenten Emmanuel Macron vorgeworfen,
Ungarn das Recht auf den Schutz der eigenen Grenzen
absprechen und mehr Menschen ins Land holen zu wollen.
Bei ihrem Treffen vor einer Woche in Marseille hätten
die beiden angeblich den Plan gefasst, ‚anstelle der
ungarischen Grenzwächter und Soldaten ... Söldner aus
Brüssel hierherzuschicken, um die Migranten
reinzulassen‘, behauptete Orbán im staatlichen
Rundfunk... ‚Wenn man Ungarn schon nicht dazu zwingen
kann, die Migranten reinzulassen, dann ist es der Plan,
dass man dem Land das Recht auf eigenen Grenzschutz
entzieht‘, behauptete Orbán.
(t-online.de, 14.9.18)
[17] Dass Viktor
Orbán oder ein Jarosław Kaczyński den Westen
verteidigen, auf diese Idee würde man in Frankreich
oder Deutschland gerade nicht kommen. Aber dass der
Osten das Abendland retten muss, weil der Westen sich
und seine Werte aufgegeben habe, diese Idee gehört zum
ideologischen Kernbestand der Regierenden in Warschau
wie in Budapest. In Krynica ist es Ryszard Legutko,
einer der Vordenker der polnischen Regierungspartei
PiS, der die Klage über das ‚obszöne Modell‘ des
Westens, den Zerfall von Familie und Nation,
anstimmt.
(NZZ,
11.9.17)
Polen torpediert eine Grundrechte-Erklärung der
EU-Justizminister: Beratungen über die Umsetzung der
europäischen Grundrechtecharta... Das Land protestierte
gegen einen Hinweis auf die Diskriminierung von
Schwulen und Lesben und trug eine geplante Erklärung
der Minister nicht mit... Da Einstimmigkeit
erforderlich war, kam der Beschluss nicht zustande.
Polen begründete sein Veto damit, dass in der Erklärung
nicht auch der Schutz für Christen und Juden vor
Diskriminierung ‚in gleicher Weise wie LGBT-Personen,
Kinder von Immigranten oder Frauen‘ betont worden sei.
Religiöser Hass vergifte Europa und untergrabe
demokratische Prinzipien, hieß es in einer Mitteilung
des polnischen Justizministeriums.
(auslandsdienst.pl, 12.10.18)
[18] Vom Umbau der
Politik und der Säuberung der Nation von den als
Feinden ausgemachten inneren Kräften, die die polnische
PiS und die ungarische Fidesz veranstalten, handeln die
Artikel: Noch ist Polen
schon wieder nicht
verloren
in Heft 2-16, Krisenbewältigung in
Ungarn: Eine ‚nationale Revolution‘ im Hinterhof der
EU in Heft 3-11 und Ungarn – von der
Krisenbewältigung zum Aufstand gegen das EU-Regime:
Eine nationale Abrechnung mit dem Bündnis in Heft
4-14 dieser Zeitschrift.
[19] Eine gewisse
Ahnung von diesem Widerspruch hat sich bei diesem
Transfer offensichtlich schon eingestellt:
Problematisch sei ... dass das eigene System auch in
anderen Umgebungen funktionieren müsse. Nicht immer
würden komplette Modelle wie ein Fertighaus übernommen.
Manchmal ... gebe es ein inhaltliches Interesse und die
Idee eines Systems werde an die eigenen Vorstellungen
angepasst. Und gelegentlich werde auch nur das Label
übernommen. Das zeige: ‚Rechtsexport ist Politik‘...
Beispielsweise könne die Opposition eines Landes, wenn
die Realität sich heftig vom Verfassungstext
unterscheide, dort einen Hebel ansetzen. Und auch, wenn
es eine Demokratie ohne Demokraten gebe, wenn der
Rechtsstaat nur eine leere Hülle ist und der Rahmen
nicht ausgefüllt wird: ‚Dann können trotzdem Demokraten
hineinwachsen.‘
(Prof.
Angelika Nußberger, Richterin am Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte über Chancen des
Rechtsexports, Konrad-Adenauer-Stiftung, Berlin,
25.11.16)
‚Unser Rechtssystem ist mit das Beste, was wir
haben. Deshalb freue ich mich, wenn wir es anderen
Ländern empfehlen können‘, sagte mir einst ein
deutscher Botschafter. Bestückt mit dem hehren Gut
ihres nationalen Rechts beglücken inzwischen viele
Länder andere Staaten im Umbruch. Obwohl der
Zusammenbruch der Sowjetunion schon mehr als 10 Jahre
zurückliegt, ist die internationale Rechtsberatung
immer noch in vollem Gang. Ein großer Teil der
Zivilgesetzbücher und der Wirtschaftsgesetzgebung
wurden verabschiedet; nun stehen die Reformen der
Gerichte und der Verwaltungen an. Das Tätigkeitsfeld
der Geberorganisationen erstreckt sich dabei von
einfachen organisatorischen Hilfestellungen wie dem
Aufbau einer Rechtsbibliothek, über fachspezifische
Weiterbildungen wie Schulungen von Richterinnen und
Richtern bis hin zur unmittelbaren Unterstützung bei
der Gesetzgebungstätigkeit oder sogar Programmen zur
Stärkung des Rechtsempfindens der Bevölkerung durch
Fernsehsendungen.
(Wolfgang
Babeck: Stolpersteine des internationalen
Rechtsexports, Forum Recht, Heft 4/02)
[20] Gazeta Polska:
‚Die Staaten der sogenannten alten EU verstehen die
Probleme und Interessen Mittel- und Osteuropas nicht...
So muss Polen einen Verbund befreundeter Länder
erschaffen, der in der Lage wäre, diese Probleme und
Interessen zum Ausdruck zu bringen.‘
(DW, 5.1.18)
[21] Die vier
Vorsitzenden des Komitees unterstützen die Kooperation
der Mitglieder der Visegrád-Gruppe in der
Rüstungsindustrie... Sie haben eine gemeinsame
Erklärung verabschiedet, dass die Zusammenarbeit auf
dem Gebiet der Verteidigung verstärkt werden soll.
(visegradpost.com, 23.2.18)
Als gemeinsam abzuwehrende Feinde fallen den
Beteiligten selbstverständlich als Erstes die
Elendsfiguren der Migranten ein: Die sieben
Verteidigungsminister verständigten sich über die
Gefahr einer neuen Migrantenwelle wie im Sommer 2015.
Ungarn schlug vor, eine gemeinsame Übung der sieben
Heere 2019 abzuhalten, um die Koordination in der
Bewältigung einer Migrantenkrise zu üben – eine solche
Übung hatte schon 2017 in Kroatien stattgefunden.
(visegradpost.com, 10.4.18)
[22] Niemand wolle
Polen aus der EU herauslösen, erklärt Ministerpräsident
Mateusz Morawiecki. Aber im Gegenzug müsse die EU sich
ändern, auf die Formel der ‚immer engeren Integration‘
verzichten und sich auf eine Rolle als gemeinsamer
Markt und freiwilliger Zusammenschluss souveräner
Nationalstaaten beschränken.
(Junge Welt, 24.10.18)
[23] Die
europäische Elite hat versagt, und das Symbol dieses
Versagens ist die Europäische Kommission... Die Sache
ist die, dass die Kommission laut Grundvertrag die
Wächterin des Vertrages ... ist. Deshalb muss sie
unparteiisch, unvoreingenommen sein und die vier
Freiheiten garantieren. Stattdessen ist die Europäische
Kommission heute parteiisch, denn sie steht auf der
Seite der Liberalen. Sie ist voreingenommen, denn sie
arbeitet gegen Mitteleuropa, und sie ist kein Freund
der Freiheit, denn sie arbeitet statt am Ausbau der
Freiheit am Aufbau eines europäischen Sozialismus.
(Viktor Orbán: Sich von der 68er
Elite verabschieden, visegradpost.com, 30.7.18)
[24] Im
Energiebereich werden die Gasterminals Polens und
Litauens an der Ostsee mittelfristig mit dem
kroatischen Gasterminal an der Adria verbunden sein...
Ein weiteres Projekt ... ist die Via Carpatia, eine
Autobahn- und Schnellstraßenverbindung, die von Memel
(Klaipėda) in Litauen nach Thessaloniki in Griechenland
entlang der Ostflanke der Europäischen Union führen
wird. Es gibt auch noch weitere Projekte, um Eisenbahn-
bzw. Wasserbeförderungsnetze zu entwickeln, denn
heutzutage sind in Mitteleuropa alle
Beförderungsinfrastrukturen in Nord-Süd-Richtung weit
weniger entwickelt als in Ost-West-Richtung... Auch die
Frage wurde anlässlich des Forums der Regionen der
Drei-Meere-Initiative aufgegriffen, den direkten
Austausch von Informationen zu entwickeln, um zu
vermeiden, dass die mitteleuropäischen Gesellschaften
durch den ideologischen Filter der Presseagenturen bzw.
der westeuropäischen Mainstreammedien darüber
informiert werden, was bei ihren Nachbarn geschieht,
wie dies derzeit leider der Fall ist.
(Ebd.)
[25] Bisher wurde
die Drei-Meere-Initiative osteuropäischer EU-Staaten
von der Bundesregierung mit Skepsis betrachtet. Jetzt
will Deutschland auf einmal mitmachen ... um einem
Auseinanderdriften Europas entgegenzuwirken...
Rumäniens Präsident Klaus Johannis unterstützte ebenso
wie EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker eine
dauerhafte Teilnahme Deutschlands an den Treffen. Der
polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki erwähnte
Deutschland dagegen in seiner Rede mit keinem Wort. Der
Aufnahme eines Landes in die Gruppe müssen aber alle
Mitglieder zustimmen.
(Tagesschau, 18.9.18)
[26] US-Präsident
Donald Trump hat bestätigt, dass das Weiße Haus die
Eröffnung einer ständigen militärischen Basis in Polen
in Betracht zieht... Der polnische Präsident Duda
sagte, dass sein Land zum Aufbau bis zu zwei Milliarden
US-Dollar beitragen möchte. Der Vorschlag ist ein Teil
der polnischen Strategie, engere politische,
ökonomische und militärische Verbindungen mit den
Vereinigten Staaten einzugehen, um eine mögliche
russische Aggression abzuwehren. Polen unternimmt
diesen Vorstoß vor dem Hintergrund, dass seine
Beziehungen zur Europäischen Union unruhige Zeiten
durchmachen, weil die EU-Kommission und Warschau über
die Frage der Rechtsstaatlichkeit im Streit liegen.
Dementsprechend möchte Polen demonstrieren, dass es
über Freunde an höherer Stelle verfügt... Welche
Herausforderungen mit der Einrichtung einer solchen
Basis verbunden sind, ist US-Verteidigungsminister Jim
Mattis nicht verborgen geblieben: ‚Es geht nicht nur um
eine Basis. Es geht um Übungsplätze, es geht um
Wartungsanlagen auf der Basis – alle solchen Sachen.‘
... Die Einrichtung eines US-Stützpunkts in Polen
benötigt zwar keine Genehmigung der NATO, aber einige
Bündnispartner könnten versuchen, auf die Entscheidung
im Weißen Haus Einfluss zu nehmen. Deutschland und
andere befürchten, dass eine solche Basis die
NATO-Russland-Grundakte von 1997 verletzen würde, in
der man vereinbart hat, auf eine Verstärkung der
Militärpräsenz in Osteuropa zu verzichten. Polen und
andere Länder in der Region argumentieren wiederum,
dass die Entwicklung der letzten zwei Dekaden diese
Vereinbarung ungültig gemacht hat.
(Stratfor, 19.9.18)
[27] Sie können
sich an das Abwinken der europäischen Elite erinnern,
nach der das Ziel des amerikanischen Präsidenten, dass
er das multilaterale, d. h. auf mehrseitigen
Vereinbarungen basierende Weltsystem in ein System
umformen werde, das auf bilateralen Vereinbarungen
basiert, unerreichbar sei. Jetzt können wir sehen, dass
er im vergangenen Jahr damit begonnen hat. Planmäßig,
mit der Genauigkeit eines Ingenieurs schreitet er
voran, und es entfaltet sich vor unseren Augen eine auf
bilateralen Vereinbarungen ruhende neue Weltpolitik und
neue Weltwirtschaftsordnung.
(Viktor Orbán: Sich von der 68er Elite
verabschieden, visegradpost.com, 30.7.18)
[28] Die EU hat
jetzt eine neue ‚Konnektivitätsstrategie‘ verkündet,
die ‚zur besseren Verbindung von Europa und Asien‘
beitragen soll... Die neue Konnektivitätsstrategie ist
ganz offenkundig ein Versuch, auf Chinas
voranschreitendes Riesenprojekt zu reagieren. Vom
Volumen her kann das EU-Vorhaben jedoch nicht mit dem
chinesischen Vorbild mithalten: Wird letzteres auf ein
finanzielles Volumen von mindestens einer Billion
(1.000 Milliarden) Euro geschätzt, so spricht die
EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini von 123
Milliarden Euro in den Jahren 2021 bis 2027.
(Junge Welt, 28.9.18)
[29] Zu dieser Relativierung hat im Übrigen auch die Tatsache beigetragen, dass sich das westliche Kapital inzwischen dort breitgemacht hat und diese Standorte so sehr zu schätzen weiß, dass es eine Fertigungsstätte nach der anderen einrichtet:
Obgleich das EU-Parlament und viele nationale
Politiker Autoritarismus und mangelnde
Rechtsstaatlichkeit geißeln, ist die Attraktivität als
Produktionsstandort ungebrochen. Im August kündigte der
Autohersteller BMW an, für eine Milliarde Euro sein
erstes Werk in Ungarn zu errichten. Mercedes baut für
eine ähnliche Summe schon seine zweite Fabrik dort.
Auch Audi stellt in Ungarn seit Jahren Fahrzeuge und
Motoren her.
(FAZ,
13.9.18)
Während die Oststaaten aufgrund des wirtschaftlichen
Zusammenbruchs in der ersten Etappe ihrer
Transformation gehorsamst auf die Bedingungen der EU
eingegangen sind, um das Kapital, das sie nicht hatten,
zur Einwanderung in ihre Länder zu bewegen, müssen
deutsche Journalisten jetzt mit Ärger registrieren,
dass sich die Sachzwänge der kapitalistischen
Erschließung nicht mehr zur Disziplinierung dieser
Staaten verwenden lassen und dass, obgleich
es
dort an Rechtsstaatlichkeit
mangelt, die
Attraktivität
der Länder nicht leidet. Dem
Kapital liegt es reichlich fern, die Nützlichkeit
seiner Standorte im Osten wegen solcher Bedenken in
Zweifel zu ziehen.
[30] Dazu hat auch der deutschlandinterne Streit über die Flüchtlingspolitik beigetragen, und die intimen Beziehungen der CSU mit der geistesverwandten Orbán-Partei haben auch dafür gesorgt, dass der Antrag, Fidesz aus dem christdemokratischen Parteienbündnis im EU-Parlament auszuschließen, abgelehnt wurde.
[31] „Für sensible Angelegenheiten wie Außenpolitik und Steuern ist Einstimmigkeit erforderlich, d.h. alle Länder müssen zustimmen.“ (europa.eu)
[32] Heiko Maas
drängt auf eine noch offensivere Außen- und
Militärpolitik und die weltpolitische Aufwertung
Deutschlands und der EU. Das Staatenbündnis müsse ‚zu
einer tragenden Säule der internationalen Ordnung‘
werden, forderte der Außenminister... Es gelte daher,
künftig ‚mehr Verantwortung für Sicherheit‘ zu
übernehmen. Dazu sei ein weiterer Ausbau der
deutsch-französischen Militärkooperation notwendig,
aber auch die Straffung der außen- und
militärpolitischen Strukturen in der EU. Maas sprach
sich für die Einrichtung eines ‚Europäischen
Sicherheitsrats‘ und für ein ‚Abrücken vom Prinzip der
Einstimmigkeit‘ in der Außen- und Militärpolitik aus.
EU-Einsätze könnten dann auch gegen den Willen
einzelner Mitgliedsstaaten beschlossen werden.
(Junge Welt, 9.10.18)
[33] Das
Sündenregister, das Ungarn vorgehalten wird, ist lang;
es resümiert sämtliche in der Vergangenheit
ausgefochtenen Streitigkeiten: Die Bedenken des
Parlaments betreffen folgende Punkte: (1) die
Funktionsweise des Verfassungs- und des Wahlsystems;
(2) die Unabhängigkeit der Justiz; (3) Korruption und
Interessenkonflikte; (4) Privatsphäre und Datenschutz;
(5) das Recht auf freie Meinungsäußerung; (6) die
akademische Freiheit; (7) die Religionsfreiheit; (8)
die Vereinigungsfreiheit; (9) das Recht auf
Gleichbehandlung; (10) die Rechte von Personen, die
einer Minderheit angehören, einschließlich Roma und
Juden; (11) die Grundrechte von Migranten,
Asylsuchenden und Flüchtlingen; (12) wirtschaftliche
und soziale Rechte.
(Ebd.)
[34] Der polnische Justizminister Ziobro:
‚Wir wollen, dass Polens Status in der EU nicht
schlechter ist als derjenige Deutschlands... So wie das
deutsche Verfassungsgericht festgestellt hat, die
Gerichtsverfassung sei einzig und allein Kompetenz der
Mitgliedstaaten, so behaupten wir es in unseren
Stellungnahmen auch.‘
(FAZ,
18.10.18)
[35] Der Haken bei
einem solchen Vorgehen liegt allerdings auch auf der
Hand: Einen allgemeinen Auslieferungsstopp nach
Polen wird Luxemburg wohl nicht verhängen. In der
Konsequenz würde das nämlich nicht nur bedeuten, dass
ein Eckpfeiler der justiziellen Zusammenarbeit in der
EU wegbräche und Polen faktisch den Raum der Freiheit,
der Sicherheit und des Rechts verließe. Polnischen
Straftätern gäbe man damit auch einen Anreiz, sich in
andere Mitgliedstaaten abzusetzen, weil sie dort im
‚sicheren Hafen‘ wären.
(FAZ,
1.6.18)
Als politische Heimat aller polnischen Verbrecher will sich die EU auch nicht verstehen.
[36] Im Streit um die
Rodung eines Stücks europäischen Urwalds hat Polen nach
dieser Entscheidung des Gerichts nachgegeben: Im
Fall Białowieža drohten Polen Strafzahlungen von
100 000 Euro pro Tag, hätte es die umstrittenen (und
mit dem Kampf gegen den Borkenkäfer begründeten)
Rodungen nicht gestoppt.
(FAZ,
25.9.18)