Vom Weltgeld, seiner Krise, seinen Hütern
Vier weitere Kapitel einer unendlichen Geschichte.
- Ein Hedge-Fonds in der Krise: Der Widerspruch zwischen Kredit und Wachstum und ein von Staats wegen vertagter Eklat.
- Firmenfusionen in Zeiten fehlenden Wachstums: Der staatlich geförderte Drang zu überkritischer Größe.
- Russland-Pleite, Brasilien-Krise, volatile Weltbörsen: Niederlagen ohne rechten Gewinn in der Konkurrenz der Nationen um Kredit.
- Streit um den IWF: Das große Ringen der Gläubigernationen um lauter untaugliche Alternativen, ihr Geld zu retten.
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Systematischer Katalog
Gliederung
- I. Ein Hedge-Fonds in der Krise: Der Widerspruch zwischen Kredit und Wachstum und ein von Staats wegen vertagter Eklat
- II. Firmenfusionen in Zeiten fehlenden Wachstums:Der staatlich geförderte Drang zu überkritischer Größe
- III. Rußland-Pleite, Brasilien-Krise, volatile Weltbörsen: Niederlagen ohne rechten Gewinn in der Konkurrenz der Nationen um Kredit
- IV. Streit um den IWF: Das große Ringen der Gläubigernationen um lauter untaugliche Alternativen, ihr Geld zu retten
Vom Weltgeld, seiner Krise, seinen Hütern
Vier weitere Kapitel[1] einer unendlichen Geschichte
- In Deutschland sind seit Jahren ständig etliche Millionen ohne Arbeit und deswegen ohne Einkommen. Das ist ein Skandal, eine Herausforderung, auch ein Problem – ein menschliches, soziales, nationales sowie für die Demokratie. Bloß: eine Wirtschaftskrise ist das nicht. Daß die Leute sich das Nötige für einen anständigen Lebensunterhalt beschaffen können: das mag eine Regierung zu ihrer Bewährungsprobe erklären; Erfolgskriterium der Veranstaltung, die hierzulande „Wirtschaft“ heißt, ist das nicht. Die ist hingegen schwer in Gefahr und steht am Rande einer wirklichen Krise, wenn der Deutsche Aktienindex innerhalb einer Woche um ein paar hundert Punkte „abrutscht“ und die Deutsche Bank zur Rettung einer ihrer amerikanischen Anlagefirmen à fonds perdu 1 Milliarde Mark oder Dollar nachschießen muß. Wenn ein paar Spekulationen auffliegen und das Kreditgewerbe mit der Nase auf den qualitativen Unterschied zwischen Geld und Geldforderung gestoßen wird, dann ist die Wirtschaft in Not, und ein nächster Schwung Lohn- und Gehaltsempfänger muß sich sagen lassen, daß er mit seinem Einkommen zu dem „Speck“ gehört, den die deutsche Wirtschaft „angesetzt“ hat und unbedingt loswerden muß, um wieder „flott“ zu werden.
- In Südostasien ist seit vielen Jahren fast alles, in Brasilien seit ein paar Jahren vieles ökonomisch gutgegangen, heißt es. Halb Bangkok hat zwar nach wie vor von europäischen Sex-Touristen gelebt; aber die Wirtschaft war schwer in Ordnung: billige Waren, boomende Börsen, optimistische Unternehmer… Dann sind Zweifel am Geld der zuständigen Staaten laut geworden; irgendwelche Fonds und Banken haben irgendwelche phantastischen Summen aus einer Währung in die andere umgetauscht – und schon ist die ganze schöne Wirtschaft nichts mehr wert. Ohne daß sich am Fleiß der Leute, an der Qualität der Waren oder an der Einsatzfreude der Manager das Geringste geändert hätte, herrscht Krise. Und die reißt die Masse der Leute gleich doppelt herein. Erstens bewirkt das Herumschieben größerer Währungsbeträge im Nu Verelendung bis zur Hungersnot. Zweitens fordert die Krise zu ihrer Bewältigung, daß die Massen ihr zunehmendes Elend durchstehen. Solange, bis sie ganz sicher ziemlich ruiniert sind, dafür das nationale Geld vielleicht wieder gesund ist.
- In Rußland herrschen seit der Einführung der Marktwirtschaft Verfall und Verelendung in weltgeschichtlich nie dagewesenem Ausmaß; nur große Kriege mögen Schlimmeres angerichtet haben. Doch das ist der hoffnungsvolle Anfang dessen, was nach den Maßstäben der freien Welt vernünftigerweise überhaupt bloß als Wirtschaften zu bezeichnen ist, und heißt deswegen „Reform“. Deren Macher verdienen im Rückblick ein ganz großes Lob: Sie haben „die Inflation eingedämmt“ und den Rubel zu einem stabilen Geld gemacht. Nun ist dieser großartige Erfolg im Sommer dieses Jahres mit einem weltöffentlichen Knall zerplatzt – und damit hat die Krise „Rußland wieder eingeholt“. Seither wird die Wirtschaftskrise immer tiefer, weil die mittlerweile zuständige Regierung sich erdreistet, ohne Lizenz des Internationalen Währungsfonds und zum Schaden des Geldwerts Geld zu drucken, nur um so etwas wie eine Warenzirkulation in Gang und damit Land und Leute eventuell über den Winter zu bringen. Was soll das nützen, fragt sich kopfschüttelnd die Weltwirtschaft, wenn dann der Rubel sonst nichts mehr taugt?
Eine schöne Welt, diese Welt der ökonomischen Vernunft, die keine anderen Wirtschaftskrisen als solche des Geldes kennt und dafür den ganzen Rest haftbar macht. Aber im Ernst: Sie hat auch ihre heiteren Seiten. Von denen handeln die folgenden Erläuterungen.
I. Ein Hedge-Fonds in der Krise: Der Widerspruch zwischen Kredit und Wachstum und ein von Staats wegen vertagter Eklat
Was umständliche marxistische Befunde über den Zustand des Welt(geld)markts nicht vermocht haben – die Agenten und Propheten dieser Weltwirtschaft zu einem deutlichen Eingeständnis bezüglich des Gesundheitszustands ihres Sorgeobjekts zu bewegen –, das schaffen ein paar süße Hedge-Fonds. Wer nicht hören will, muß fühlen.
1.
Ein amerikanischer Investmentfonds, ein sogenannter „Hedge-“ oder „Risikofonds“, wird zahlungsunfähig. Seinem Solidität und Professionalität verströmenden Namen – „Long Term Capital Management“ – zum Trotz, hat er sein Kapital, nämlich das Anlagekapital seiner Mitglieder sowie ein Vielfaches davon an Bankkrediten bei Spekulationsgeschäften verloren und kann deshalb seinen laufenden Verpflichtungen nicht mehr nachkommen. Anders aber als beim Zusammenbruch der Baring-Bank, die im Jahr 1995, ebenfalls nach erfolglosen Derivate-Spekulationen, illiquide wurde, kommt es nicht zur Einstellung der Geschäfte. LTCM ist nach Auffassung aller Fachbeobachter schlicht „too big to fail“ (Neue Zürcher Zeitung): Einschlägigen Mitteilungen zufolge hat der Fonds es geschafft (vgl. Handelsblatt, 28.9.98), mit einer Eigenkapitalausstattung von gut 4,8 Mrd. Dollar Kredite in Höhe von etwa 90 Mrd. Dollar lockerzumachen und damit eine Spekulationssumme von geschätzten 1,2 Billionen Dollar zu „bewegen“. Schon daraus geht hervor, daß da unmöglich – wie nach gerichtlich beglaubigter Lesart seinerzeit bei Baring – ein unbeaufsichtigter Nick Leeson geschummelt haben kann, sondern ehrenwerte Manager „nur getan haben, wofür sie bezahlt wurden – eben spekuliert“ (so, gereift und abgeklärt, die Süddeutsche Zeitung). Deswegen werden der Firmenchef und seine nobelpreisgesegneten Berater auch nicht eingesperrt, sondern die Spitzen der Finanzwelt von der New Yorker Filiale der US-Zentralbank zu einer Konferenz gebeten. Das Ergebnis: Der illustre Club bringt einen Notkredit in Höhe von 3,7 Mrd. Dollar zusammen, übernimmt die Führung der Firma selbst und sorgt fürs erste für die Weiterführung der Geschäfte. Begründet wird die spektakuläre Maßnahme mit dem Hinweis, eine Pleite dieser Größenordnung, und das im „Umfeld“ der wegen Tiger-, Japan-, Rußland- und Südamerika-Krise ohnehin „extrem volatilen Märkte“, könnte sonst ein „veritables Bankenbeben“ auslösen, eine „Lawine“, einen „Absturz“, eine „Implosion der Finanzmärkte“; am Ende könnte sie per „Dominoeffekt“ das gesamte „Weltfinanzsystem nach unten reißen“. Der Fall LTCM, so die NZZ, habe ein echtes Systemrisiko
dargestellt; auch Mr. Barry Eichengreen, „Experte für Risikofonds“ und Gutachter des IWF, nennt das, „was bei Long-Term Capital passierte, … eine ernste Gefahr für das Weltfinanzsystem“ (SZ, 1.10.98). Deshalb, so das fachkundige Urteil von FAZ bis Handelsblatt, habe die hochmögende „Fed“ die Initiative ergriffen und der Rettungsaktion „ihre Autorität geliehen“ (NZZ, 25.9.98).
Das Ganze ist schon ein gelungener Spaß. Da heißen diese Unternehmungen „Hedge-Fonds“, weil ihre Funktion darin bestehen soll, Risiken des Finanzgeschäfts „einzuhegen“; und prompt werden sie selber zur Quelle „systemgefährdender“ Risiken, so daß auf den globalisierten Finanzmärkten ohne ein gutes Stück Staatsinterventionismus nichts mehr läuft. Und das bewirken diese Fonds eingestandenermaßen nicht mit systemfremden oder -widrigen Machenschaften, sondern im Vollzug ihres regulären, nach preisgekrönten Formeln durchkalkulierten Geschäfts.
Dann wird es wohl auch die Vernunft des Systems sein, was sich da so unzweckmäßig austobt.
2.
Das Finanzgewerbe sorgt für Kontinuität in jeder kapitalistischen Geschäftstätigkeit und für deren Ausweitung, indem es sie vorfinanziert, bis Rückfluß und Überschuß sich einstellen. Es überbrückt den zeitlichen Abstand zwischen der Eröffnung eines Geschäftszyklus und seiner Vollendung im profitbringenden Erlös, bewirkt damit umgekehrt eine gewisse Emanzipation der kapitalistischen Wertschöpfung von der Realisierung der geschaffenen Werte am Markt; freilich unter dem Vorbehalt, daß zu dem im Kreditvertrag vorgesehenen Termin Erlös da ist und das Vorgestreckte zurückgezahlt wird; und selbstverständlich nicht umsonst, sondern gegen einen Zins, der aus dem zu erwirtschaftenden Überschuß zu finanzieren ist. Das Kreditgewerbe nimmt also den übrigen kapitalistischen Unternehmern die Widrigkeiten des Zeitablaufs beim Geschäftemachen ab, verwandelt erwartete zukünftige Erträge in aktuell benötigte wirkliche Zahlungsfähigkeit und partizipiert dafür an deren Gewinnen. Es wandelt auf diese Weise umgekehrt im Prinzip alle kapitalistische Zahlungsfähigkeit in einen noch zu rechtfertigenden Vorschuß auf zukünftige Erträge um, an denen es teilhat, und verpaßt dem dadurch in Schwung gebrachten Geschäftsleben die Zweckbestimmung, Kredit zu bedienen.
Schon aus Eigeninteresse also – und außerdem wieder für ein gewisses Entgelt – kümmert sich das Finanzkapital darüber hinaus um Kalkulationssicherheit für seine kapitalistisch wirtschaftende Kundschaft. Deren Erfolg hängt nämlich nicht bloß davon ab, daß sie ihr ureigenes Geschäft der produktiven Ausbeutung von Arbeit ordentlich erledigt, sondern auch von so schlecht berechenbaren äußeren Bedingungen wie „erratisch schwankenden“ Rohstoffpreisen oder Schwankungen im Wert der Währung, in der Ein- und Verkäufe fakturiert werden. Terminkontrakte, die für einen bestimmten späteren Zeitpunkt einen aktuell festgelegten Rohstoffpreis oder Wechselkurs garantieren, können da von Nutzen sein. Angeboten und „verkauft“ werden sie von Finanzgewerbetreibenden, die damit das Kursrisiko übernehmen – und natürlich auch die Chance, daß die Entwicklung in ihrem Sinne günstig verläuft. Um zinstragende Ausleihungen handelt es sich dabei zwar nicht. Mit denen haben derartige Termingeschäfte aber gemeinsam, was für Geld- und Kredithändler ohnehin einzig von Interesse ist: Sie sind Rechtstitel auf möglichen zukünftigen Geldgewinn. In dieser Eigenschaft sind sie nach Höhe und Gewißheit der Gewinnerwartung mit Kreditverträgen aller Art vergleichbar; hinsichtlich des Werts nämlich, den sie für den Kontraktgeber haben. Als Papiere mit spekulativem Wert lassen sie sich tauschen und verkaufen, werden auch kräftig gehandelt und bekommen dadurch – wie alle andersartigen Wertpapiere auch – je nach Einschätzung und Bewertung des aktuellen Stands der darin verbrieften Gewinnaussichten einen aktuellen Preis und insgesamt einen Kurs, dessen Aufs und Abs den Verlauf der Spekulation widerspiegeln.
In diesen Kursbewegungen, wie sie der spekulative Wertpapierhandel hervorbringt, entdeckt das Finanzgewerbe dieselbe produktive Unsicherheit wieder, aus der es bereits sein Angebot von Termingeschäften mit Rohstoffen, Devisen und dergleichen zur Aufwands- und Erlösabsicherung abgeleitet hat, und erfindet das Termingeschäft mit Wertpapieren aller Art – zinstragenden Kreditkontrakten, verbrieften Termingeschäften, Aktien, und was sonst noch alles einen spekulativen Wert und daher einen Kurs hat. Es macht damit Geldbesitzern ein Angebot, die ihr Eigentum auf eine gewisse Zeit zwecks automatischer Vermehrung in derartigen Vermögenstiteln angelegt haben und es gegen Wertverluste beim Wiederverkauf dieser Titel absichern möchten. Doch auch und vor allem Leute „vom Fach“, die mit spekulativen An- und Verkäufen von Wertpapieren auf fremde und eigene Rechnung ihr täglich Brot verdienen, können auf die Art ihr Kursrisiko minimieren – freilich auf Kosten ihrer Gewinnchance. Die jeweiligen Vertragspartner übernehmen umgekehrt das Entwertungsrisiko – gegen eine Gebühr und in der Erwartung, daß die Kursentwicklung ihnen einen Gewinn einspielt. Sie spekulieren also per Termin auf den Gang der Spekulation in Wertpapieren – und schaffen mit den entsprechenden Kontrakten schon wieder neuen Stoff für ihr Gewerbe, aus dem sich der ursprüngliche Zweck der Absicherung von Kursrisiken – des „hedging“ – so allmählich verliert.
Eine solche primitive Zielsetzung ist dem modernen Finanzgeschäft spätestens dann endgültig nicht mehr anzusehen, wenn die explizit so genannten Hedge-Fonds sich der Sache annehmen. Die stellen sich nämlich gewissermaßen methodisch zu dem gesamten spekulativen Finanzgewerbe der bisher angegebenen Art und machen das Ge- oder Mißlingen von Spekulationen als solches zum Geschäftsobjekt – in Gestalt jener „neuen derivativen Finanzprodukte wie Optionen, Swaps und Futures, die in den vergangenen beiden Jahrzehnten die Finanzwelt revolutionierten“ (FAZ, 13.10.98). Was der FAZ im Rückblick so revolutionär vorkommt, ist der für professionelle Spekulanten unmittelbar einleuchtende Einfall, das Geschäftsrisiko und die komplementäre Geschäftschance, die sich aus der unbestimmten Höhe eines Preises zu einem zukünftigen Zeitpunkt ergeben, vom Kauf bzw. Verkauf des Gegenstandes, um dessen zukünftigen Preis es geht, zu trennen und für sich zum Objekt eines spekulativen Kontrakts zu machen. Mit „Option“ und „Future“ verkauft der eine und kauft der andere Geschäftspartner nicht mehr auf einen vereinbarten Termin hin eine bestimmte Menge Rohstoff, Devisen, Aktien oder dergleichen Dinge mit unsicherer Preisentwicklung, sondern im einen Fall das Recht, im andern Fall die Pflicht, zum Fälligkeitstermin einen solchen Kauf zum heute vereinbarten Preis zu tätigen. Vertragsgegenstand ist ausdrücklich ein Anspruch auf die Differenz zwischen dem heute vereinbarten und dem zum Fälligkeitstermin tatsächlich verlangten und gezahlten Preis. Dieser Preis selbst kürzt sich aus dem spekulativen Handelsgeschäft heraus; gehandelt wird nurmehr dessen Veränderung: die Kursentwicklung, die der Anbieter eines solchen Geschäfts spekulativ antizipiert, im Verhältnis zu derjenigen, die zum festgelegten Datum tatsächlich stattgefunden hat. Ob der Käufer eines solchen Angebots damit den Erlös aus einem wirklichen Verkauf resp. seine Zahlungspflicht für den tatsächlichen Kauf des Artikels absichert, auf den die Vereinbarung sich bezieht, ist hier genauso gleichgültig wie die Frage, ob der Anbieter über den betreffenden Artikel überhaupt verfügt resp. ihn überhaupt haben will.[2]
So kommen im Derivatehandel beide Seiten, die miteinander über ihre unterschiedlichen Erwartungen in den Gang gewisser Kursentwicklungen handelseinig werden, in denkbar direkter Weise zum spekulativen Kern jener Sache, um die es im Finanzgewerbe überhaupt geht: Der Anbieter verkauft, sein Kontrahent kauft für gutes Geld die Chance, demnächst mehr Geld dafür zu kriegen – ohne den „Umweg“ über die Ware, aus deren Preisänderung sich dieses Mehr errechnet. Die Spekulation benutzt einen Geschäftsgang, ohne sich daran kapitalaufwendig zu beteiligen – und verschafft sich dadurch in zweierlei Hinsicht traumhafte Perspektiven:
– Weil der kostspielige Erwerb des unterstellten Geschäftsartikels entfällt, insoweit also gar kein Vorschuß geleistet wird, auf den dann der Überschuß zu berechnen ist, sondern bloß für den erhofften Geldgewinn Geld hingelegt werden muß, gestaltet sich das Verhältnis zwischen eingesetztem Ertrag und möglichem Gewinn extrem günstig. Umgekehrt steht zwar für den einen immer gleich die gesamte eingesetzte Geldsumme auf dem Spiel, und für den anderen ist das eingegangene Risiko nach oben ziemlich offen und am zunächst eingesetzten Geldbetrag gemessen enorm hoch – doch wer sich daran stört, hat in dem Gewerbe ohnehin nichts verloren. Die potentielle Gewinnquote jedenfalls ist riesig und macht die Sache für risikofreudige Spekulanten höchst attraktiv. Interessant wird dadurch außerdem die Spekulation auf äußerst geringe Kursveränderungen, die im Verhältnis zum Kaufpreis des Basisartikels überhaupt nicht ins Gewicht fallen würden: Bezogen auf den Kaufpreis des bloßen Risikos werden Promille-Differenzen im Kurswert von Aktien, Rohstoffen, zinstragenden Papieren usw. zu schönen Prozentsätzen. Deswegen rentiert sich das Engagement in dieser Sphäre – das Risiko einmal beiseitegelassen – auch dann, wenn sich das Geldanlegen und sogar das Spekulieren sonst mangels wahrnehmbarer Renditen schon nicht mehr lohnt: ein schöner Ausweg fürs Finanzkapital in Zeiten der Überakkumulation, der zudem den Vorteil bietet, daß er sich in beliebigem Umfang nutzen läßt. Denn:
– Im Unterschied zum „normalen“ spekulativen Termingeschäft mit wirklichen Gütern, deren Preise Kursentwicklungen unterliegen, läßt sich der Handel mit Derivaten im Prinzip unbegrenzt vervielfältigen. Er ist nirgends durch die endliche Menge tatsächlich angebotener und nachgefragter Rohstoffe, Anleihen, Aktien usw. beschränkt und schon gar nicht durch das absolute Volumen der Wertveränderungen, auf die er sich bezieht. Was dort, im Verlauf der tatsächlichen Kursbewegungen und „Basisgeschäfte“, an Wertsummen entsteht – und vergeht –, ist ja nicht der Stoff dieses „abgeleiteten“ Geschäftszweigs, sondern fungiert hier bloß als Index, an dem das derivative Versprechen auf Gewinn Maß nimmt. Deshalb kann fürs einzelne Geschäft eine negative Kursentwicklung genauso ertragreich sein wie eine positive, und die Spekulation kann sich auch gleich, statt auf in anderen Sphären wirklich gehandelte Artikel, auf so ideelle, selber gar nicht handelbare Größen wie Kursindices beziehen. Gewinnchancen gibt es soviele, wie Kontrakte abgeschlossen werden; das Geschäftsvolumen ist so groß wie die Zahl derer, die sich engagieren, und die Summen, mit denen bzw. für die sie haften.
3.
Das Derivategeschäft und sein ganzer spekulativer Reiz beruht also darauf, daß alles, was da an Erträgen verbucht wird, völlig unabhängig vom Wert und der Wertentwicklung der Güter oder Wertpapiere zustandekommt, auf deren Kursentwicklung Bezug genommen wird. Gewinne entstehen hier nicht durch die Kursentwicklung, nach der sie berechnet werden; sie repräsentieren keinen Anteil am – sei es virtuellen, sei es realisierten – Verkaufserlös bzw. am Kursgewinn einer Spekulationsware, den sich im prä-derivativen Termingeschäft ein „risikoscheuer Versicherungsnehmer“ und ein „risikofreudiger Versicherer“ bzw. die aus dieser Rollenverteilung hervorgegangenen Spekulantentypen teilen. Was im Geschäft mit Derivaten verdient wird, entsteht durch das Geschäft selber: durch den Einsatz einer Geldsumme auf der einen, die Abgabe eines bedingten Auszahlungsversprechens auf der anderen Seite; im Elementarfall dadurch, daß der eine gewinnt, was der andere verliert. Die engagierten Spekulanten bzw. deren öffentliche Interpreten erklären dieses seltsame Finanzgeschäft einem verständnislosen Publikum daher gerne als Wette, bei der der eine Spieler den Einsatz seines Mit- und Gegenspielers mitnimmt; und das trifft die Sache zumindest darin, daß hier nicht – wie im „normalen“ kapitalistischen Finanzgeschäft – aus einem Kapitalvorschuß ein Überschuß erwirtschaftet wird, um dessen Aufteilung die Kontrahenten des Geschäfts sich streiten.
Die volkstümliche Vorstellung von einer großen Spielbank für Superreiche – „Casino-Kapitalismus“ in Spiegel-Deutsch – läßt allerdings den nicht ganz unwesentlichen Umstand außer Acht, daß die derartigen „Wetten“ die stoffliche Grundlage einer ganz eigenen, sogar besonders großen und expandierenden Branche des kapitalistischen Finanzgeschäfts sind. Was da an verbrieften spekulativen Gewinnchancen in die Welt gesetzt wird, gilt deren Schöpfern als – zwar extravagant „ausgestatteter“, aber durchaus vollwertiger und konkurrenzfähiger – besonderer Typus von Wertpapieren; die Gewinnchance wird als deren Verzinsung berechnet; die Kapitalisierung dieses rechnerischen Zinsertrags macht den Geldwert aus, den diese Papiere aktuell haben; sie besitzen somit einen Preis, zu dem sie wie jedes andere finanzkapitalistische „Produkt“ gehandelt werden können; sie zirkulieren also und bekommen je nach der aktuellen Aussicht auf das Ge- oder Mißlingen der in ihnen verbrieften Spekulation einen eigenen Kurs, auf dessen Bewegung sich sogar schon wieder spekulieren läßt… Zwar bleibt es ein für allemal dabei, daß die „Verzinsung“ und „Einlösung“ dieser Papiere nicht darauf beruht, daß mit einem Vorschuß ein Überschuß erzeugt wird, sondern darauf, daß komplementär zu kassierten Erlösen anderswo Verlustpositionen entstehen; womöglich auch und nicht zu knapp bei den professionellen Veranstaltern dieses Geschäfts, die diese Positionen im Ernstfall sogar mit eigenem gutem Geld ausgleichen müssen. Bei denen handelt es sich aber nicht um wettsüchtige Privatleute, die nur darauf aus sind, einander das letzte Hemd abzunehmen – dann wäre das Ganze wirklich nur ein luxuriöser Spleen –, sondern um ehrenwerte Finanzinstitute, um die größten Banken der Welt und von denen eigens geschaffene Fonds. Die stehen mit der ganzen Wucht ihrer finanzkapitalistischen Verfügungsmasse hinter der Gleichung, wonach die von ihnen in die Welt gesetzten derivativen „Finanzprodukte“ reguläre Vermögensanlagen darstellen; „hochspekulativ“ zwar, aber sonst nicht grundsätzlich verschieden von Aktien oder Staatsanleihen, bei denen der gesunde Menschenverstand sich ja auch vergeblich nach der Herkunft ihrer Verzinsung und ihres Wertzuwachses fragt und mancher Geldanleger seinen Einsatz verlieren kann; Wertpapiere jedenfalls, in die man wie in so vieles andere investieren kann – weshalb die einschlägigen Geldsammelstellen auch gerne „Investmentfonds“ heißen.
Von einem „gesamtwirtschaftlichen Nullsummenspiel“ – wie öffentliche Anwälte eines hemmungslosen Finanzgeschäfts in heuchlerischer Bescheidenheit behaupten, wenn sie anläßlich bemerkenswerter Finanzkräche ihr Publikum meinen beruhigen zu müssen – kann beim Geschäft mit Derivaten daher keine Rede sein. Tatsächlich bliebe zwar nicht viel übrig, würde man alle Einlagen und Gewinnzusagen gegeneinander aufrechnen. Mit einer solchen Milchmädchenrechnung kommt man aber einer Geschäftssphäre nicht bei, die ganz darauf angelegt ist, eine derartige „Glattstellung“ von Gewinn- und Verlustpositionen ins Unendliche hinauszuschieben. Da werden eben nicht wie beim Zahlenlotto Einsätze eingesammelt und Gewinne zugeteilt – und das jede Woche von neuem –, sondern zirkulationsfähige Gewinnversprechen spekulativer Art in die Welt gesetzt, die Geldkapital binden sollen. Es entstehen Vermögenstitel, die sich nicht einfach – spätestens zum Fälligkeitstermin – in Wohlgefallen auf der einen, Mißfallen auf der anderen Seite auflösen. Jedenfalls nicht, soweit es die kapitalistischen Veranstalter dieses Handels betrifft. Denen kommt es nämlich entscheidend darauf an, die von ihnen geschaffenen Vermögensposten zu vermehren; nicht bloß verfallene spekulative Einsätze ihrer Kundschaft einzusacken, sondern aus jedem Geschäftsergebnis neue Spekulationsangebote zu verfertigen, die ihren Bestand an handelbaren Wertpapieren vergrößern; also insgesamt immer mehr Geld an sich und in ihre abgeleitete Geschäftssphäre hineinzuziehen. Auf die Art: durch Expansion ihres Geschäfts, fabrizieren sie ein Wachstum, das in ihrem Spezialgewerbe anders nun einmal nicht zustandekommt – Verwertung in dem Sinn, die Schaffung neuen, überschießenden Reichtums durch einen Kapitalvorschuß, findet da ein für allemal nicht statt –; das aber, wenn und soweit es zustandekommt, eingesetztes – „vorgeschossenes“ – Geldvermögen vermehrt und insofern praktisch als Kapitalverwertung funktioniert. Geschäftsbedingung ist folglich beständige Ausdehnung; nur sie macht aus diesem Geschäft fürs einzelne Unternehmen wie insgesamt einen regelrechten finanzkapitalistischen Erwerbszweig.
4.
Die wesentliche Bedingung für ihr permanentes Anwachsen – das wurde schon gesagt – produziert die Derivate-„Industrie“ selber: Sie schafft unbegrenzt Stoff
für „Investments“, Anlagemöglichkeiten für Geldbesitzer und Kreditschöpfer jenseits aller Nachfrage von Staat und Geschäftswelt nach Finanzmitteln und völlig unabhängig von der aus künftigen Profiten bzw. Staatshaushalten abgeleiteten Kreditwürdigkeit der Schuldner. Indem er sich auf diese Weise von den Bedingungen und dem Maß wirklicher kapitalistischer Geldvermehrung emanzipiert und schrankenlos Angebote in die Welt setzt, okkupiert der Derivatehandel Kapital aus den Sphären, in denen es sich wirklich vermehrt, nämlich Überschüsse produziert bzw. an Erlösen partizipiert, deren Erwirtschaftung es vorfinanziert hat. Er zentralisiert bei sich die verfügbaren Finanzmittel der Geschäftswelt und wird so zur kapitalistischen Wachstumssphäre schlechthin: ausgerechnet dadurch, daß er selber gar kein kapitalistisches Wachstum produziert, vielmehr das in anderen Sphären hervorgebrachte absorbiert.
Entsprechend große Beiträge leistet das Derivategeschäft zum Wachstum des Kredits. Mit seinen Angeboten an – ebenso riskanten wie attraktiven – spekulativen Wertpapieren nimmt es nicht bloß Kredit bei allen, die Geld übrig haben und damit welches verdienen wollen; es begründet und rechtfertigt auch die Schöpfung jeder Menge neuen Kredits auf seine fiktiven Vermögenstitel. Auf die Art potenziert es seine eigenen Geschäftsmittel, türmt quasi autonom immer neue spekulative Gewinnansprüche auf seine eigene Spekulation auf die Indices, zu denen es den Gang seiner „Basisgeschäfte“ herabgesetzt hat, produziert so jene gigantischen Umsatzziffern, an denen bei Gelegenheit dem staunenden Publikum klargemacht wird, wie weit sich die Welt des Finanzkapitals über die des normalen bürgerlichen Erwerbslebens erhoben hat und wie wenig deshalb gegen seine undurchschaubare Allmacht auszurichten ist. Und respektiert dabei überhaupt nur eine „Schranke“ seiner Geschäftstätigkeit, nämlich die eigene Erwartung, für Investoren attraktiv zu bleiben und mit den zufließenden Mitteln für die selbstproduzierten Kreditmassen einstehen zu können. Denn darin hat die große Freiheit, die das Finanzkapital sich mit dem Derivatehandel verschafft, ihre Grundlage. Der gesamte Geschäftszweig ist nichts anderes als eine einzige großangelegte und extrem anspruchsvolle Spekulation auf das kapitalistische Wachstum, von dessen Bedingungen und Schranken er sich so souverän emanzipiert. Darauf nämlich, daß der „normale“ kapitalistische Geschäftsgang diese eine entscheidende Voraussetzung für eine quasi großindustrielle Derivate-Produktion liefert: ein hinreichendes Wachstum wirklicher Geldvermögen, das einen beständigen Zufluß von „Investments“ sichert – und so mit der Ausdehnung den Bestand der Sphäre.
Diese praktische Verknüpfung des Derivatehandels mit der Welt der rentabel gemachten Arbeit, des Warenhandels und der spekulativ vorweggenommenen und hinterher geteilten Profite, mit dem Geschäftsgang also, von dem er sich abtrennt, stellt sich für die engagierten Finanzkapitalisten natürlich nicht als das kunstvolle Schmarotzertum dar, das da vorliegt, sondern als ihre wichtigste und sowieso höchst ehrenwerte Aufgabe: für Überschüsse in ihrem Geschäftsfeld zu sorgen, also einander professionell Geld abzugewinnen und dadurch ihren wertpapierenen Gewinnversprechen soviel Glaubwürdigkeit im handfesten Sinn, nämlich Kredit von Geldanlegern zu verschaffen, daß ihr „Wettgeschäft“ im Endeffekt wie eine kapitalistische Geldvermehrungsmaschinerie funktioniert und sich praktisch als eine solche bewährt. Deswegen belassen sie es nicht dabei, die Entwicklung der Indices, auf die sie ihre Geschäfte gründen, quasi von außen zu beobachten, ihre Risiken in immer komplizierteren mathematischen Formeln berechenbar machen zu wollen und mit der entsprechend wohlbegründeten Hoffnung auf Chancen „Investitionen“ und Kredite einzusammeln. Um des nötigen Erfolges willen nutzen sie die geballte Finanzmacht, über die sie als größte Sammelstellen anlagesuchenden Geldkapitals verfügen, immer auch dazu, ins „Basisgeschäft“ mit den Devisen, Rohstoffen, Rentenpapieren usw., auf deren Kursentwicklung sie ihre derivativen Gewinnhoffnungen gründen, einzugreifen und die erforderlichen Trends herbeizuführen.
Das geht, weil das Finanzkapital ohnehin das ganze Geschäft der wertschaffenden Ausbeutung zum Mittel seiner verbrieften Gewinnansprüche herabgesetzt hat und mit seinen Investitionen über dessen Fortgang entscheidet. Und es ist ein sehr systemgemäßer Fortschritt, wenn solche Entscheidungen nicht mehr bloß vom Standpunkt des Kreditrisikos und der (Un-)Sicherheit wirklicher zukünftiger Erträge her gefällt werden, sondern von der noch höheren Warte einer abgetrennten Beurteilung der Entwicklungen, die sich daraus für die Kurse von Finanzanlagen ergeben. Der Derivatehandel treibt die Subsumtion des „normalen“ kapitalistischen Geschäftslebens unter die darauf bezogene und daraus abgeleitete Spekulation auf diese Weise konsequent auf die Spitze. Die Folgen haben schon ganze Nationen an ihrem nationalen Kredit zu spüren bekommen: Gegen den – gegen ihre Wertpapiere wie gegen ihr staatliches Kreditzeichen selbst, die nationale Währung – sind große, im Derivatgeschäft entsprechend engagierte Spekulanten vorgegangen, haben die Preisgabe der Kurse erreicht und die Milliardensummen aufgesogen, die die zuständigen Staaten zu deren Verteidigung aufgeboten haben. Komplette Nationalökonomien sind so zu Opfern der – um in der einschlägigen Bildersprache zu bleiben – gigantischen „Wette“ geworden, die die dazu fähigen und für so etwas zuständigen Finanzinstitute gegen sie eingegangen sind.
Unberechtigt ist dennoch der Vorwurf betroffener Politiker, ihr schönes Geld und der Reichtum ihrer Nation wäre einer willkürlichen Verschwörung angriffslustiger Spekulanten zum Opfer gefallen. Wenn die großen Derivatehändler sich dazu entschließen, gegen Währung und Finanztitel einer Nation zu spekulieren, mit ihren „Finanzwetten“ auf den Erfolg dieser Spekulation zu setzen und mit ihrer Finanzmacht dieses Ergebnis auch zu befördern, dann haben sie dafür ihre guten Gründe. Dann haben sie nämlich in ihrer Eigenschaft als Fachleute der Kursindices die mutmaßliche Geschäftsentwicklung, die denen zugrundeliegt, einer scharfen und umsichtigen Sicherheitsüberprüfung unterzogen und nach sorgfältiger Begutachtung in bestimmten Fällen für „anfällig“ befunden. Ihr Urteil ist maßgeblich, gerade weil sie die Konjunkturen der Profitmacherei so distanziert und frei beurteilen und noch auf die Möglichkeit geringster Margen hin abklopfen – und weil sie das nicht bloß theoretisch, sondern mit der Wucht so großer Kreditmengen tun. Mit ihren „Wetten“ sind sie die immerwährende leibhaftige Vertrauensfrage an Währungen und Kredite; von ihnen gehen daher die ersten und entscheidenden Mißtrauenserklärungen in Stand, Fortgang und Erfolgsaussichten des Geschäftsgangs in einer Branche oder einer Nation aus. Ganz zu Recht sind sie die kompetente „Instanz“ für Zuteilung und Entzug des Vertrauens, das Unternehmer wie Nationen für ihren Kredit brauchen – und folglich Auslöser von Geschäftskrisen, wo und wann immer die fällig werden.
5.
Herr der Krisen, die sie gegebenenfalls auslösen – und an denen sie sogar verdienen können –, sind die Veranstalter des Derivatehandels deswegen noch lange nicht. Im Gegenteil: Als Seismographen ökonomischer Entwicklungstrends betätigen sie sich genau deswegen so engagiert, weil sie mit der großen Masse ihrer hochspekulativen „Investments“ zuerst und am massivsten betroffen sind; und zwar negativ bis zum Totalverlust der von ihnen gehüteten Vermögenstitel, wenn die Dinge sich in ihrer Gesamttendenz anders entwickeln als erwartet. Gewinner gibt es dann zwar immer auch; doch das nützt nicht viel, wenn die Indices gegen den Fahrplan der Spekulation so durcheinandergeraten, daß die aufgeblähte Fortschreibung von Einlagen und Verbindlichkeiten stockt und auf einmal doch so etwas wie eine Saldierung fällig wird. Dann löst sich in den Händen der Finanzinstitute selber ein Haufen fiktiver Vermögenstitel sowie ein womöglich noch viel größerer Haufen darauf gegründeter Kredite in lauter Zahlungspflichten auf; und zwar ohne daß von den geplatzten Wertpapieren noch irgendeine kapitalistische Substanz jenseits der Spekulation übrigbliebe – das war ja gerade ihr Reiz, daß sie gar nichts anderes als den spekulativen Ertrag als solchen beziffert und fiktiv kapitalisiert haben.
Wenn so etwas passiert, dann weiß natürlich jeder, daß die schiefgegangene Spekulation ja auch wirklich allzu riskant und das vielfache Vertrauen nicht wert war, mit dem sie kreditiert worden ist. Ein solches Urteil ist zwar gerecht, weil die Manager derart spekulativer Engagements im andern Fall ja auch den glücklichen Ausgang ihrer finanzpolitischen Kunst zuzuschreiben pflegen. Es entspricht auch der Rechtslage, die den Schöpfer geplatzter Derivate für Verluste haftbar macht. Richtig ist es allerdings nicht; denn zu so folgenreichen Fehlschlägen kommt es nicht ohne ein paar objektive „Verwerfungen“ – womöglich sogar solche, die durch vom Derivategeschäft selbst gesteuerte Spekulationen ausgelöst worden sind! –, die einen Strich durch die fein durchgerechneten und als besonders hochkarätig anerkannten Chancen machen. Und außerdem hilft die verkehrteste Beantwortung der Schuldfrage nicht weiter, weil die Wirkungen einer solchen Fehlspekulation nicht am Kalkül liegen, sondern an der Konzentration des Geldkapitals in diesem Geschäftszweig und an der Bedeutung, die ihm deswegen im System des kapitalistischen Herumwirtschaftens zukommt: Deswegen besteht der Schaden eben nicht bloß in einem Wettverlust, an dem ein anderer sich bereichert, sondern in der Annullierung von Kapitalanlagen in der Größenordnung der vorangegangenen Aufblähung des Geschäftsvolumens. Er bleibt daher auch nicht leicht auf das Institut beschränkt, dem gerade seine Engagements mißglückt sind, sondern tendiert ganz heftig dazu, Investoren und Kreditgeber mit in einen Zusammenbruch hineinzureißen.
Zu einer solchen Pleite hat es nun also das „Long Term Capital Management“ gebracht. Die Zierde der Branche der „Finanzalchemisten“ – die Nobelpreisträger Scholes und Merton persönlich, die mit ihren „komplexen Formeln für die Bewertung von Optionspreisen die Grundlage des gesamten Geschäfts mit Derivaten geschaffen haben“ (FAZ, 28.9.98), mitsamt ihrem mehr anwendungsorientierten Chef Meriwether – hat sich verspekuliert: Statt geringer zu werden, hat sich der Preisabstand zwischen erst- und minderklassigen Staatsanleihen vergrößert. Die Formel hat gestimmt; doch – wie im Nachhinein Journalisten herausgefunden haben, die dafür nicht einmal die Lösung von Gleichungen mit einer Unbekannten beherrschen müssen: „die klügsten Modelle schützen nicht vor Überraschungen“ (SZ, 1.10.98). In dem Fall hat es sich als „Schwäche der Formeln“ erwiesen, was in jedem anderen Fall gerade ihre Stärke ausmacht, nämlich „daß sie vergleichsweise kleine Preisbewegungen und liquide Märkte unterstellen“ (FAZ, 28.9.98). Ausgangspunkt der bösen Überraschung soll und mag auch wirklich der halbe Offenbarungseid Rußlands über seine Unfähigkeit zur pünktlichen Bedienung seiner Schulden gewesen sein, der die hoffnungsfroh erwartete Minderung des Risikos und somit der Zinsen fragwürdiger Staatspapiere ins Gegenteil verkehrt hat; dann hat auch noch die „Kapitalflucht“ in besonders sichere Staatsanleihen deren Kurs steigen lassen. Damit waren die Margen überschritten, innerhalb derer die Spekulation erfolgreich gewesen wäre: Den Kursentwicklungen hat es an der Stetigkeit und Beständigkeit gefehlt, die ein Optionsgeschäft benötigt, das in kleinsten Verschiebungen seine Chance sieht und darauf setzt. Ein solches Geschäft reagiert eben ungemein empfindlich auf krisenhafte „Überraschungen“ im Kreditgewerbe – und ungemein massiv, nämlich mit dem Totalverlust des Einsatzes. Den vermochte man bei LTCM nicht rechtzeitig zu kompensieren; zum entscheidenden Zeitpunkt fehlten angeblich lumpige 200 Millionen Dollar zur Erfüllung fälliger Nachschußpflichten; und mit der Zahlungsunfähigkeit, die an dieser Stelle offenbar wurde, verfielen Kredite in Milliardenhöhe. Hauptbetroffener ist angeblich mit einem Verlust von 1 Mrd. Schweizer Franken die Schweizer UBS: Gerade erst aus der Fusion zweier Großbanken hervorgegangen und infolgedessen laut Ankündigung von August des Jahres für einen Jahresgewinn in Höhe von „etwa 5,3 Milliarden Franken“ gut (NZZ, 26.8.98), meldet sie nun ein Quartalsminus von bis zu einer Milliarde, und daraufhin „verringerte sich die Börsenkapitalisierung der UBS innerhalb einer Woche um 30 Mrd. Sfr“ (FAZ, 26.9.98). Deutsche und US-Banken halten sich mit Verlautbarungen über den Umfang ihrer Verluste lieber zurück, setzen statt dessen verräterische Dementis jedweder größeren Betroffenheit in die Welt und lösen derweil stillschweigend Positionen in anderen Hedge-Fonds auf, die dadurch ihrerseits in Schwierigkeiten geraten. Insgesamt jedenfalls erreichen die Verluste eine Größenordnung, die nicht bloß nach der Privatmeinung aufgeregter Wirtschaftsjournalisten, sondern nach dem praktisch maßgeblichen Urteil der amerikanischen Nationalbank genügt, um das gesamte Finanzsystem in eine Krise zu stürzen. Offenkundig hat die Pleite von LTCM es geschafft, den Zirkel der Kreditvermehrung durch Derivate umzukehren und das Gerede vom „Nullsummenspiel“ in einem ganz anderen als dem gemeinten Sinn wahrzumachen: Die Annullierung spekulativer Engagements vernichtet ersatzlos die darin investierten Kreditsummen und das Eigenkapital des Fonds sowieso; dadurch schwindet dessen Fähigkeit und bei den Kreditgebern jede Bereitschaft, für die übrigen „Investments“ den Schein solider, Gewinne versprechender Vermögenstitel aufrechtzuerhalten; damit verliert ein weiterer enormer Haufen Wertpapiere seinen Wert, und statt Fortschreibung des Geschäfts werden Auszahlungen fällig, die nicht geleistet werden können…
6.
Das Ganze kommt einem Offenbarungseid des modernen Finanzkapitalismus nahe. Bezüglich der Prinzipien seines Derivate-Geschäfts enthält die Affäre das praktische Eingeständnis, daß er auch mit seiner modernsten Spitzentechnologie noch immer nicht sein ewiges Anliegen verwirklicht hat, ohne den primitiven und beschränkenden Umweg über die Ausbeutung von Arbeit aus Geld mehr Geld zu machen und nicht immer bloß mehr Geldversprechen – das einzige, was in dieser Abteilung akkumuliert, sind Ansprüche auf anderswo verdientes Geld. Wenn die nun anläßlich einer größeren Fehlspekulation so eklatant platzen, dann wird ein Mißverhältnis zwischen der Masse der Ansprüche und derjenigen des beanspruchten Geldes offenbar, das sich aus dem ganz normalen professionellen Gang der Geschäfte ergeben hat: Das Wachstum des Finanzkapitals höherer Ableitung mit seinen ausgreifenden Ansprüchen aufs Geldvermögen der Gesellschaft ist zur wirklichen Zunahme des kapitalistischen Reichtums in der Welt in einen nicht mehr haltbaren Gegensatz getreten. Und das, wie gesagt, nicht infolge irgendeiner „Fehlentwicklung“: Völlig systemgerecht entwickelt das Finanzgewerbe einen Geschäftszweig, der Gewinne jenseits der Schranken allen produzierten und realisierten Überschusses verheißt – sogar ein „Minus-Wachstum“ und der Zusammenbruch des Wirtschaftslebens ganzer Nationen kann da Spekulationsgewinne einspielen – und dementsprechend schrankenlos spekulative Vermögenstitel vermehrt. Dieser fiktive Reichtum bedarf nur einer Rechtfertigung, nämlich der Aussicht auf beständige Geldzuflüsse – und er hält nur eins nicht aus, nämlich ein das geschäftsübliche Normalmaß überschreitendes Verlangen nach wirklicher Auszahlung. Genau das verallgemeinert sich allerdings, wenn die finanzkapitalistischen Veranstalter dieses Überbaus Grund zur Sorge um den Fortgang ihrer Geschäfte haben, „Positionen glattstellen“ und die Kreditzufuhr drosseln; also spätestens dann, wenn das Wachstum erlahmt, an dem sie als Kreditgeber partizipieren und die Mittel für Investitionen in Derivate herleiten. Dann kommt es zum Eklat; und was da „eklatiert“, ist die systemnotwendig zustandegebrachte und immer größer gewordene Divergenz von Vermögensanspruch und realisiertem Wert, aufgeblasenem Kredit und vermehrtem Geld. – Von Marx hätten sich die Derivatehändler das gleich erklären lassen können: Selbst bei höchster Ausbeutungsrate kann das bißchen gesellschaftlich notwendige Arbeit unmöglich bezahlen, was die Profis des Finanzgewerbes sich an Reichtum gutschreiben… Nun erklärt es ihnen das Geschäftsleben.
Der wirkliche Grund ihrer Krise interessiert die Herren des spekulativen Finanzgeschäfts allerdings herzlich wenig. Ihre ganze Sorge gilt der Rettung ihres Kredits. Eine Einsicht in die notwendigen ruinösen Folgen der Freiheit, die sie sich mit ihrer systemgemäßen Kreditschöpfung herausnehmen, können sie deswegen überhaupt nicht brauchen. Sie kennen statt dessen lauter Problemlagen und Fehlschläge, die ihren grundsoliden Kredit wacklig machen, und nehmen die größten Pleiten als Herausforderung, ihn zu sanieren. Wie die erste Reaktion der Banken auf die „Schieflage“ ihres LTCM zeigt, ist die Wiederherstellung eines ordentlichen Geschäftsgangs in dem Fall allerdings alles andere als einfach – und das ist dann doch schon wieder so ein kleines Eingeständnis, daß sich da irgendwie der reguläre Geschäftsgang gegen sich selber richtet. Die kaufmännische Vernunft gebietet nämlich erst einmal Vorsicht: Das Nachschießen von Geldmitteln oder auch nur der vorläufige Verzicht auf Schuldenbedienung käme der Kreditierung eines Zusammenbruchs nahe, hieße also Geld wegwerfen; noch dazu an konkurrierende Gläubiger, was bei aller gemeinsamen Betroffenheit auf gar keinen Fall übersehen werden darf. Andererseits war allen Beteiligten auch gleich klar, daß ein regelrechter Konkurs den Schaden erst recht in die Höhe treiben, nämlich zum Verlust von Krediten in Höhe von „bis zu 90 Mrd. Dollar“ führen und überhaupt eine Kettenreaktion mit „völlig unabsehbaren Risiken“ (NZZ, 25.9.98) auslösen würde. Ein echtes Dilemma also für schlagartig vorsichtig gewordene Großbanker: ein Zwiespalt zwischen ihrer Konkurrenz und ihrem Sitz im „gemeinsamen Boot“ kreditmäßiger Verflechtung.
7.
Genau das ist die Stunde des ideellen Gesamtkapitalisten; und als solcher hat die amerikanische Staatsmacht sich auch prompt bewährt. Die „Fed“ hat sich eingemischt und ein Konsortium betroffener Großbanken „mit einigem Nachdruck“ (ebd.) dazu bewogen, mit einem Rettungskredit über 3,7 Mrd. Dollar den Zusammenbruch von LTCM abzuwenden. So ist nur ein Teil der fälligen Verluste realisiert worden – immerhin kaum eine namhafte Bank, in deren Bilanzen geplatzte bzw. „wertberichtigte“ Engagements bei dem großen Hedge-Fonds keine deutlichen Spuren hinterlassen –; eine unbestimmte Masse ebenso verfallsbedrohter Schulden darf dank neuem Kredit als werthaltige Geldforderung stehenbleiben. Statt über ehrliche Defizite in voller Höhe verfügt die Bankenwelt nun aufgrund ihres eigenen staatlich „moderierten“ Rettungsmanövers über eingestandenermaßen „faule“, gleichwohl anerkannte Kredite; darunter die nachgeschossenen 3,7 Mrd. Dollar selber, von denen sich von vornherein niemand Gewinne verspricht. Begründet wurde die hoheitliche Initiative mit der Gefahr einer allgemeinen „Kreditverknappung, weil niemand mehr langfristig Geld verleihen wolle“ (US-Notenbankchef Greenspan lt. SZ, 19.10.98), und einer dann wohl unausweichlichen allgemeinen Rezession – daß der Kredit das alles entscheidende Lebensmittel der kapitalistischen Ökonomie ist, versteht sich für einen hauptberuflichen Währungshüter von selbst; also steht er dafür ein, daß keinesfalls aufgrund erlittener Verluste die Fähigkeit und wegen dadurch verschärfter Konkurrenz die Bereitschaft der Finanzinstitute zur Kreditschöpfung nachlassen darf. Daß ein massives Zusammenstreichen des umherzirkulierenden Kreditvolumens eigentlich fällig wäre, weil es keinen Wert mehr hat, ist damit höchstoffiziell anerkannt; nach Lage der Dinge wäre es aber nicht zu verkraften und wird daher mit staatlichem Nachdruck unterbunden.
Mit dieser Intervention ergänzt die US-Zentralbank den Offenbarungseid über Prinzipien und gegenwärtigen Stand des Kreditgeschäfts, den die LTCM-Pleite angestoßen hat, um ein zusätzliches Eingeständnis von offizieller Seite: Da ist nicht bloß eine interne Bereinigung innerhalb des von der „Realwirtschaft“ abgehobenen Finanzsektors in Gang; vielmehr steht mit dieser Zahlungskrise ganz schnell die nationale Wirtschaft insgesamt, der Fortgang des Produzierens und Geldverdienens überhaupt auf dem Spiel. Die Staatsmacht räumt ein und bekennt sich tatkräftig dazu, daß unter ihrer Regie nur dann und nur soweit „real“ gewirtschaftet wird, wie das Geldkapital sich dadurch gut genug bedient findet, um seinen Geschäftsgang uneingeschränkt aufrechtzuerhalten – also auch nur zu dem Zweck: damit die Akkumulation von Kredit weiter funktioniert; sie sieht sich herausgefordert, ist also betroffen, wenn in dieser höheren Sphäre nicht mehr alles klappt. Der Kredit ist die ökonomische Macht der Nation; deswegen mischt die Staatsmacht sich ein, wenn nicht mehr haltbare größere Kreditmassen zusammenzubrechen drohen, und storniert die in Gang gekommene Abrechnung.
Freilich hängt dann auch die Stichhaltigkeit des so geretteten Kredits und insofern der Fortbestand des Finanzsystems in all seiner auffällig gewordenen Wackligkeit von dem staatlichen Dekret zur Fortführung der Geschäfte ab. Die derart engagierten Staatsgewalten begreifen das als Teil ihrer – im Zuge von „Globalisierung“ und „Deregulierung“ überhaupt nicht reduzierten, eher gewachsenen! – Verantwortung. Mit ihrem Engagement verschärft sich daher für sie der ohnehin alles beherrschende Sachzwang, alles zu tun, damit ihr jeweiliges Finanzsystem durch einen allgemeinen Zuspruch des Geldkapitals auch wieder ökonomisch beglaubigt wird.
II. Firmenfusionen in Zeiten fehlenden Wachstums:Der staatlich geförderte Drang zu überkritischer Größe
Wenn durch Kreditschöpfung, den Motor aller kapitalistischen Geschäftstätigkeit, statt Kapitalwachstum immer mehr Risiken zustandekommen, dann verspüren Manager und Politiker dringlichen Handlungsbedarf. Sie treffen verwegene Maßnahmen, um vom weltweit vorhandenen Geschäft mehr auf ihre Firma bzw. an ihrem Standort zu konzentrieren und mit dem so herbeigezwungenen Zuwachs ihren Kredit zu stärken. Allerdings ist die Zentralisation von Kapital mit Akkumulation nicht zu verwechseln. Fusionen sind, auch wenn sie in Wellen auftreten und „Megamergers“ heißen, Großtaten der Spekulation und als solche Reaktionen auf die Krise – wenn auch in den Augen ihrer Macher auf eine, die ihnen die Konkurrenz erst noch bescheren würde.
1.
Der Fusionsfall UBS – die Verschmelzung zweier Schweizer Großbanken – wurde schon erwähnt; die Fälle Boeing – McDonnell Douglas, Krupp – Thyssen, Ciba – Sandoz, Daimler – Chrysler, Hypo – Vereinsbank sind noch ganz frisch. Es ist geradezu ein Trend: Ohnehin schon große Aktiengesellschaften fusionieren zu neuen „Mega“-Unternehmen.[3] Die Begründung ist überall so ziemlich dieselbe: Man sieht sich – schon oder demnächst – in einem weltweiten Verdrängungswettbewerb und will zu der Handvoll Sieger gehören, die dann den Markt beherrschen und unter sich aufteilen. Dafür langt es nach dem selbstkritischen Urteil der Firmenleitungen nicht, in der bisherigen Weise weiter zu wachsen – also: Überschüsse in Neuinvestitionen zu stecken, für Rationalisierungen und Erweiterungen Kredite aufzunehmen, gegebenenfalls das Eigenkapital durch die Ausgabe neuer Aktien aufzustocken und so ausgestattet um ein paar Prozente Zuwachs beim Umsatz und Gewinn zu kämpfen. Damit all die Techniken zur Steigerung der Konkurrenzmacht der Firma das überhaupt hergeben können, was in der diagnostizierten Konkurrenzsituation verlangt ist, braucht es den Sprung in eine neue Größenordnung. Und dafür sehen die engagierten Manager nur einen Weg: die Verschmelzung ihres Ladens mit einem Konkurrenten der gleichen Größen- und Güteklasse. Der Fortbestand als besonderes Einzelkapital muß geopfert werden, um als Teil eines größeren Ganzen den eigenen Fortbestand als konkurrenzfähiges Kapital zu retten und zu sichern.
Eine solche Fusion ist kein Additionsverfahren und erschöpft sich auch nicht darin, daß Betriebsteile oder Zweigstellen zweckmäßig zusammengelegt und „Potenzen gebündelt“ werden. Die Schaffung einer neuen Kapitalgröße aus zwei bislang selbständigen Unternehmen ist ein spekulativer Akt: Es wird darauf spekuliert, daß das neue Kapital schlicht dank seiner Größe all den Methoden des Konkurrierens und der Erwirtschaftung von Überschuß und Wachstum, die bisher angewandt worden sind und auch in Zukunft unverändert weiter angewandt werden, mehr Wirksamkeit verleiht. Denn schließlich geht es nicht bloß darum, die bislang getrennt erwirtschafteten und angewandten Erträge in einen gemeinsamen Topf fließen zu lassen und gemeinsam zu verwenden, sondern durch die Vergemeinschaftung von Ertragsquellen und Erträgen ein Unternehmen mit überlegener Ertragskraft auf die Beine zu stellen. Diese erhoffte neue Ertragskraft wird im Vollzug der Fusion zu einer neuen Aktiengesellschaft sogar bereits beziffert: Mit der Festlegung von Zahl und Ausgabekurs der neuen Aktien des fusionierten Unternehmens wird unter die Spekulation, die den Wert der alten Anteilsscheine bestimmt hat, ein Schlußstrich gezogen und – an deren Ergebnisse anknüpfend – ein neues Versprechen auf Gewinn und Wertzuwachs in die Welt gesetzt. Im Vermögenswert, über den die Eigentümer der neuen Papiere verfügen, wird dieses Wachstum mit praktischer Wirkung antizipiert; umgekehrt ist der Wert der ausgegebenen Aktien der vergegenständlichte Auftrag an die neue Firma, die darin bezifferte Spekulation einzulösen und ihre überlegene Ertragskraft auch praktisch wirksam unter Beweis zu stellen.
Und das immerhin unter denkbar schwierigen Voraussetzungen. Denn das ist ja erklärtermaßen der Ausgangspunkt des ganzen Manövers: Der Markt, allemal heiß umkämpfte Stätte der Bereicherung, bietet auf gar keinen Fall mehr Wachstumschancen für alle Wettbewerber, die sich auf ihm drängeln. Die Fusion macht Ernst mit diesem Befund; durch sie soll das neu zustandegebrachte Unternehmen zur großen Ausnahme werden. Und damit ist diese Aktion zuerst einmal das klare Eingeständnis, daß ein gesichertes Wachstum des eingesetzten Kapitals durch Akkumulation überhaupt nicht mehr herzukriegen ist. Wertzuwachs der Firma, wie es die Erfolgsspekulation eines „Merger“ antizipiert, geht fürs erste nur noch durch Konzentration bereits vorhandener Kapitale in einer Hand, also ohne daß per Saldo irgendetwas wächst: als Vergrößerung ohne Wachstum, per Umverteilung gewissermaßen. Wenn ein Wachstum des kapitalistisch angewandten Reichtums aber schon gar nicht mehr stattfindet und darauf auch gar nicht gesetzt – sondern eben fusioniert wird, dann ist auch die überlegene Ertragskraft, die dadurch hergestellt werden soll, eine höchst relative Angelegenheit. Dann geht es nämlich gar nicht darum, die Akkumulationsrate in neue, nie dagewesene Höhen zu treiben, sondern um die Okkupation der Erträge anderer Anbieter – wofür schiere Größe nun in der Tat das adäquate und sogar das einzige erfolgversprechende Mittel ist, allerdings in einem ziemlich negativen Sinn: Mit ihr gebietet die neue Firma nur über eine neue „Potenz“, nämlich über größere Reserven an Profitmasse und Kapitalsubstanz, die sich mobilisieren lassen, um Konkurrenten zu unterbieten. Kalkuliert wird mit einem Verzicht auf eigene größere Überschüsse als Weg, anderen Unternehmen Gewinne und einen dauerhaften Akkumulationserfolg nicht bloß der Größe nach, sondern grundsätzlich zu bestreiten, ihnen Verluste zuzufügen und davon zu profitieren: eine Strategie, die davon ausgeht, daß die vielen laufenden Geschäfte sowieso schon nicht mehr um Profitanteile und Zuwachs konkurrieren, sondern einander längst ausschließen und gegeneinander um ihren bloßen Fortbestand kämpfen. Dann besteht das insgesamt in diesen Geschäften engagierte Kapital selbst aber schon nur noch auf dem Papier: Was die konkurrierenden Firmen sich an zukünftiger Ertragskraft und von da her – allesamt nach demselben Muster wie das fusionierte Unternehmen – als ihren gegenwärtigen Wert und ihren Teilhabern als deren Vermögen zurechnen, ist durch ihren Geschäftsgang und ihre Geschäftsaussichten längst nicht mehr gerechtfertigt.
Wenn große Firmen aus solchen Gründen fusionieren, geben sie damit also Auskunft über eine allgemeine Lage. Dann hat es die Wirtschaft mit der Akkumulation erspekulierter Firmenwerte – wieder einmal – dahin gebracht, daß diese fiktiven Vermögenswerte insgesamt die Mittel und Möglichkeiten ihrer Einlösung durch wirkliche Akkumulation schon überschritten haben. Das wirkliche, in Gelderlösen resultierende Geschäft versagt den Vermögenstiteln, die sich aus weiterhin wachsenden Erträgen errechnen, den Dienst, setzt sie ökonomisch nicht mehr ins Recht. Es ist Krise; und daran ändert auch die Fusion nichts: Der von allen Konkurrenten herbeigewirtschaftete Widerspruch zwischen wertpapiermäßig festgeschriebener Spekulation und tatsächlichem Wachstum wird nicht kleiner, wenn die insgesamt fragwürdig gewordene Spekulation zu größeren Teilen in einer Hand zusammengefaßt wird.
2.
Eine Revision der allgemeinen Lage soll so ein „Megamerger“ freilich auch gar nicht leisten; schon deswegen nicht, weil seine Veranstalter von einem derart allgemeinen Widerspruch gar nichts wissen wollen. Sie nehmen zwar allgemeine und absolute Wachstumsschranken ins Visier, sehen sich aber keineswegs zusammen mit ihren Konkurrenten, die alle in derselben Weise auf Zuwachs spekulieren, widerlegt und eines kollektiven Schwindels überführt, sondern von der Konkurrenz herausgefordert; und aus dieser Sicht der Dinge leiten sie den Beschluß ab, ihrerseits die Konkurrenz herauszufordern. Freilich zu einem Wettbewerb besonderer Art, nämlich ums Aushalten und Überdauern – also um die Verteilung des allgemein bereits eingetretenen Schadens. Den Fusionsmanagern geht es ausschließlich darum, sich gegen ihre Konkurrenten durchzusetzen; doch wenn sie das schaffen, dann ist das Ergebnis eben von etwas anderer Art als sonst ein Konkurrenzerfolg. Sie zwingen dann anderen einen Konkurs oder zumindest Verluste auf und setzen damit die praktische Anerkennung und Realisierung des Minus an fiktiver Kapitalgröße wie an produktiv tätigem Kapital durch, das die Kapitalisten mit ihrer unverdrossenen Zuwachsspekulation allgemein herbeigewirtschaftet haben. Umgekehrt: Die allgemein fällige Kapitalvernichtung findet statt als Werk der Konkurrenz, die gewisse Großfirmen mit ihren Mega-Zusammenschlüssen eröffnen.
Ob sie auch gewinnen, am Ende sogar als Krisengewinnler aus dem Konkurrenzkampf hervorgehen, den sie mit einem so gewaltigen spekulativen Kapitaleinsatz führen, ist eine andere Frage. Oft bringen sie es schon gar nicht zum geplanten Zusammenschluß; und auch das ist sehr folgerichtig. Als spekulative Tat der gehobenen Klasse verlangt die Zusammenlegung von Firmen nämlich die Offenlegung der bisherigen Spekulation, die Überprüfung aller Gewinnerwartungen und Verlustrisiken; eine Saldierung von Ansprüchen und Verbindlichkeiten wie sonst nur im Konkursfall. Und das ist eine heikle Angelegenheit, wenn es um die Durchsetzung in einem Wettbewerb geht, der erklärtermaßen auf Verdrängung und Vernichtung von Konkurrenten zielt. Unter diesem Kriterium erweist sich mancher Fusionsaspirant als Sanierungsfall und damit als Untergangskandidat. Deswegen gehört zur laufenden Fusionswelle eine solche der Stornierungen geplanter Zusammenschlüsse. Und deswegen ist es auch kein Wunder, daß es die ganz besonders guten Firmen sind, denen derzeit ein entsprechend spektakulärer Zusammenschluß glückt.
3.
Manchmal soll es freilich auch vorkommen – so angeblich bei der großen bayrischen Bankenfusion –, daß die großmächtigen Manager eines „Megamerger“ erst hinterher bemerken, mit was für einem schlechten Risiko sie ihr potentes Unternehmen da zusammengetan haben. Sehr glaubwürdig ist das allerdings nicht; die Rettung eines Wackelkandidaten wird in solchen Fällen – auch in dem bayrischen wird das als offenes Geheimnis gehandelt – schon der Zweck der Sache sein. Natürlich nicht der des stärkeren Partners, sondern jener höheren Instanz, die bei Konkurrenzmanövern dieser Größenordnung ohnehin immer mit von der Partie ist.
Die Staatsmacht findet sich nämlich betroffen und in ihrer wirtschaftspolitischen Verantwortung herausgefordert, wenn Großfirmen fusionieren; aus gutem Grund. Schließlich nähren solche Konkurrenzmanöver die Spekulation auf zukünftige Wachstumserfolge, beleben also die Kapitalmärkte; auf der anderen Seite verschärfen sie die Konkurrenz der Kapitale zum weltweiten Verdrängungswettbewerb und spitzen so den Gegensatz zwischen spekulativem und wirklichem Wachstum erst so richtig zu der kritischen Geschäftslage zu, die die Fusionspartner auf sich zukommen sehen und von sich abwenden wollen. Nach beiden Seiten hin greifen „Megamergers“ in das Finanzsystem der Nationen ein, fördern oder gefährden, je nachdem, den erfolgreichen Fortbestand des Kreditüberbaus, in dem das kapitalistische Vermögen der Nation seine Existenz hat und von dem daher der Fortgang des nationalen Geschäftslebens überhaupt abhängt. Das gilt erst recht, wenn Unternehmen sich zusammenschließen, bei deren Geschäftsartikel es sich gleich um den fiktiven Reichtum und den spekulativen Geldbedarf der Geschäftswelt selber handelt – und gerade die Großbanken sind derzeit alle auf Vergrößerung durch Fusionen oder Zukäufe aus. Denn die großen Finanzinstitute fassen in ihrem Geschäftsgang die Ertragskraft und die Kreditwürdigkeit ihrer gesamten Kundschaft zusammen, entscheiden also auch mit ihren Erfolgen und Mißerfolgen darüber; von den größten hängt am Ende die Solidität und Konkurrenztauglichkeit des ganzen nationalen Finanzwesens ab, das der Staat als Kreditquelle der von ihm regierten Ökonomie braucht und mit seinem Geld als Geschäftsmittel unterhält.
Entsprechend rege ist das Interesse der Staaten, wenn die Finanz- und anderen Multis dieser Welt in immer gewaltigerem Umfang das vorhandene Kapital bei sich zentralisieren, das insgesamt schon gar nicht mehr wächst, stattdessen durch Zusammenschlüsse nur immer einseitiger umverteilt wird. Sie beugen sich nicht einfach den freien Entscheidungen der großen kapitalistischen Konkurrenten und bilanzieren Zunahme oder Verfall der Geldmacht, die durch Zufluß von Kapital in ihr nationales Finanzsystem bzw. durch Abfluß von Geldanlagen aus demselben bewirkt wird. Sie tun vielmehr alles, um das Interesse der großen Kapitale mit ihren offensiven Konkurrenzstrategien auf ihren Standort zu lenken, nämlich auf die dort gegebenen Spekulationschancen. Fusionsprojekte, die dem Kreditgeschäft in ihrem nationalen Geld zugute kommen, werden als nationale Anliegen anerkannt, betreut und unterstützt; nötigenfalls werden sie von der Staatsmacht als ideellem Gesamtkapitalisten in die Wege geleitet, um das heimische Kreditsystem krisenfest zu machen.
Mit solchem Engagement bekennen sich die Staatsgewalten am Ende des Jahrhunderts dezidiert und alternativlos zur Spekulation als nationalem Lebensmittel. Vorbehalte gegen das „raffende Kapital“, das um des Erfolgs seiner Gewinnerwartungen willen die „schaffenden“ Kollegen aussaugt und zugrunderichtet, sind von den weltwirtschaftlich aufgeklärten regierenden Nationalisten auf dem „Misthaufen der Geschichte“ abgelegt worden. Die konkurrieren stattdessen darum, den Kredit der Geschäftswelt auf die gewinnverheißenden Geschäfte im je eigenen Zuständigkeitsbereich zu ziehen. Wenn dadurch das Wachstum insgesamt nur immer fragwürdiger wird; wenn der Zunahme spekulativer Gewinnansprüche eine Abnahme der tatsächlichen Wachstumsraten des kapitalistischen Reichtums bis tief in den Minusbereich hinein korrespondiert; wenn sich schließlich der Gegensatz zwischen kreditiertem und wirklich realisiertem Gewinn krisenhaft geltend macht – dann kommt es eben nur um so mehr auf die Stabilisierung des eigenen nationalen Anteils am globalen Kreditüberbau an. Also darauf, daß nicht zu vermeidende Zusammenbrüche anderswo stattfinden.
Und so kommt es dann auch.
III. Rußland-Pleite, Brasilien-Krise, volatile Weltbörsen: Niederlagen ohne rechten Gewinn in der Konkurrenz der Nationen um Kredit
Mittlerweile hat nicht bloß Der Spiegel herausgefunden: In Rußland haben arrogante Berater und die Rezepte der Chicago-Boys versagt. Die goldrichtigen Rezepte des Präsidenten Cardoso haben in Brasilien freilich auch nicht viel Stabilität fürs Geld bewirkt. Jedenfalls sind die nächsten zwei Regionen „in der Krise“ – und den Krisengewinnern machen äußerst unsichere Börsen und unbegreifliche Wechselkurse zu schaffen. Das ist auch nicht ganz dasselbe wie ein solides Wirtschaftswachstum.
1.
Im August bricht der russische Finanzmarkt zusammen. Vorangegangen sind Bemühungen der Regierung, ihren Staatsschuldverschreibungen durch das Versprechen exorbitanter Zinsen – im Juni zeitweise über 200% (HB, 15.10.98) – wieder einen Absatz zu verschaffen, nachdem kaum ein Kreditgeber sie mehr haben will. Dieses Angebot hat zwar – zunächst – Erfolg, steigert aber das Mißtrauen in die Haltbarkeit des Rubelkurses, der zuvor immerhin über Jahre zur großen Zufriedenheit der Finanzwelt eben mit dem Mittel weit überdurchschnittlich verzinster Rubelanleihen bei freiem Umtausch von Rubel in bessere Devisen stabil gehalten worden ist. Um diesem Mißtrauen zu begegnen und sich zugleich die drückende Zinslast sowie drängende Tilgungsverpflichtungen zu erleichtern, bietet die Regierung die Umwandlung kurzfristig fälliger Staatsobligationen, die auf Rubel lauten, in Dollar-Obligationen mit hinausgeschobenem Fälligkeitsdatum – eine Hälfte im Jahr 2005, die andere 2018 – und einer Verzinsung von ca 15% an; außerdem gibt sie neue Dollar-Anleihen aus. Für die in Moskau tätigen in- wie ausländischen Geld- und Schuldenhändler ist dies das eindeutige Signal, daß dem Rubel endgültig nicht mehr zu trauen ist. Was sie an Rubelforderungen und -guthaben besitzen, tauschen sie schleunigst in Dollar um – und überfordern damit in kürzester Zeit die Devisenbestände der Zentralbank. Die kann den Wechselkurs nicht mehr verteidigen und gibt ihre Interventionen auf; der Rubel verliert die Hälfte und mehr von seinem behaupteten Wert, Devisen sind nicht mehr zu haben, der Devisenhandel wird eingestellt. Die entwerteten Rubel gibt es auch nicht mehr – ein nettes Rätsel für Knappheitstheoretiker –, weil die Regierung sie nach wie vor nicht einfach druckt, sondern nur per Staatsanleihen vermehrt, für die sie nun aber erst recht keine Interessenten mehr findet; nicht einmal genug, um mit dem Erlös ihre Zinspflichten zu bedienen; womit ihre alten Anleihen auch jeden Wert verlieren. Schließlich erklärt die Regierung sich und ihre Notenbank gegenüber einheimischen wie auswärtigen Gläubigern in Rubel wie in Dollar für zahlungsunfähig, dekretiert einen Aufschub aller eigenen Zins- und Tilgungszahlungen und macht damit die allgemeine Zahlungskrise offiziell; anschließend wird sie vom Staatspräsidenten entlassen. Und die internationale Geschäftswelt verbucht einen Krisenfall mehr.
Das ist die vorläufige Zwischenbilanz eines allerdings auch neuartigen und einigermaßen extremen finanzkapitalistischen Experiments, das gutwillige Herrscher und auswärtige Interessenten unter dem Titel „marktwirtschaftliche Reformen“ mit dem zur Freiheit bekehrten Rußland angestellt haben.[4] Ein nach allen Regeln der Finanzwirtschaft durchgestyltes Kreditsystem haben sie dem Land verpaßt, ohne sich im geringsten durch die Tatsache irritieren zu lassen, daß nirgends auch nur Spuren einer kapitalistischen Akkumulation zu verzeichnen oder herbeizuführen waren, aus deren Gang sich der im Nu recht voluminöse Kredit-„Überbau“ wenigstens in spekulativer Perspektive hätte rechtfertigen können. Dessen Geschäftsgang nährte sich von Anfang an so ausschließlich von staatlichen Schulden, als sollte einmal allen Ernstes ausprobiert werden, ob eine demokratische Staatsmacht nicht doch auch völlig ohne die Mühen einer Ware produzierenden und dadurch Geld verdienenden Nationalökonomie, einfach nur vermittels der Vermehrung ihrer Zahlungsmittel, diesen papierenen Versprechen den Charakter echten Geldes verleihen könnte. Und immerhin hat dieses Geschäftsgebaren erfahrenen auswärtigen Kreditagenturen dermaßen eingeleuchtet – manchen wahrscheinlich deshalb, weil ihre mit allen Wassern gewaschenen Fachidioten so niedere ökonomische Aktivitäten wie Warenproduktion und Güterzirkulation als Bedingungen ihres Geschäfts selber schon längst aus den Augen verloren haben; anderen wohl eher unter dem Gesichtspunkt, daß auf diese Weise der Abschied vom realsozialistischen System mit der Liquidierung seiner systemeigenen Machtmittel unwiderruflich wurde –, daß sie es ihrerseits kreditiert haben: Eigenes gutes Geld haben sie in die Spekulation investiert, Staatsmacht und Finanzkapital in Moskau könnten überhaupt und würden auch zuverlässig als Quelle der Vermehrung ihres Kapitaleinsatzes funktionieren. Ein paar Randbedingungen haben zwar immer nicht so recht gestimmt; die einkommenden Steuern z.B., mit denen nach kapitalistischen Maßstäben die staatlichen Schulden ins Recht zu setzen wären, ließen stets extrem zu wünschen übrig. Doch auch da hat die fachliche Borniertheit der ausländischen Berater und Geldgeber in Verbindung mit ein paar politischen Berechnungen, den Abbruch postsowjetischer Machtpositionen betreffend, völlig ausgereicht, um noch den eklatantesten Widerspruch zwischen staatlicher Kreditaufblähung und Fehlanzeige auf Seiten des nationalen Wachstums in ein Problem sparsamer Haushaltsführung zu übersetzen, für dessen Bewältigung man guten Rat wußte.
Am Ende ist es dann also doch nicht gegangen: Die Rußland-Spekulation ist geplatzt, der große Haufen staatlicher Anleihen wertlos, der Rubel – das auf diese Schulden hin geschaffene und ausgegebene Geld – kaputt. Bei der Ursachenforschung hält sich der kapitalistische Sachverstand zwar weiter an seine scharfe Analyse, derzufolge die Finanzpolitik des Staates schuld sein muß, wenn ihre Ergebnisse dermaßen betrüblich ausfallen; außerdem hätte dann die ostasiatische Krise auch Rußlands Geldgeber „verschreckt“. Ein wenig schimmert aber noch in den sachverständigsten Expertisen die banale Wahrheit durch: Die Spekulation auf eine kapitalistisch ertragreiche Zukunft der großen russischen Nation gerät irgendwann mit sich selbst in Konflikt, wenn sie sich so ausschließlich an staatlichen Wertpapieren mästet und darüber Fabriken und Eisenbahnen verrotten. Als Auslöser des Krachs reicht dann tatsächlich der kleine Anstoß, daß anderswo sowieso schon Krise ist und der Preis des Erdöls sinkt, mit dem die Nation überhaupt bloß noch richtiges Geld verdient.
Der Zusammenbruch der großen postkommunistischen Rußland-Spekulation trifft die verschiedenen Gläubiger naturgemäß unterschiedlich. Definitiv wertlos werden Rubelschulden und die Währung, die gar nichts anderes als diese Schulden repräsentiert. Der Schein, die in Staatsobligationen verbriefte Spekulation auf eine dereinstige kapitalistische Nationalökonomie wäre bares Geld wert, wird annulliert, sofern das geplatzte Versprechen auf Rubel lautet. Sofern Dollar- oder DM-Erträge versprochen sind, ist die Spekulation zwar, wenn sich das überhaupt noch steigern ließe, noch viel gründlicher blamiert; unterstellt sie doch, daß in Rußland irgendwann ein Akkumulationsprozeß in Gang kommt, der genügend solides Weltgeld ausschwitzt, um die akkumulierenden Ansprüche auf dessen Vermehrung zu bedienen. Die in gutem Geld notierten Schulden bleiben aber als Forderungen an Rußland bestehen, auch wenn das Land in Gestalt seiner Regierung bekennt, überhaupt kein Geld zu haben. Es wird gleichwohl mit allem, was es noch hat – an verkäuflichem Rohmaterial z.B. –, dafür haftbar gemacht, diese Spekulation auszuzahlen, und zwar in voller Höhe des Vermögens, das die Gläubiger sich gutgeschrieben haben. Das mag sich zwar nicht ganz durchsetzen lassen; auch ausländische Geldanleger haben Verluste zu realisieren. Das trifft aber – erst einmal – nicht den Finanzplatz, auf dem diese Gläubiger zu Hause sind; auch wenn eine Spekulation aufgeflogen ist und Ausfälle zu verzeichnen sind, ist noch lange nicht das ganze System der Schuldenfortschreibung angegriffen. Deswegen ist auch das Geld nicht entwertet, auf dessen Vermehrung die mehr oder weniger uneinbringlichen Forderungen der Dollar- und DM-Gläubiger lauten: Es bleibt in all seiner Härte das Maß des Reichtums, für dessen Vermehrung in Gläubigerhand der große kaputte Schuldnerstaat haftet. Das unterscheidet eben den Kredit aus Ländern, die in der Konkurrenz der Nationen um viel und soliden Kredit zu den notorischen Gewinnern gehören und deshalb mit ihrem Kreditgeld die Funktionen des Weltgelds mono- oder oligopolisiert haben, vom Kredit und dem Nationalgeld der Verlierer.
Im Fall Rußland tobt nun der Streit zwischen den ausländischen Gläubigern, die an dem absurden Moskauer Finanztheater unbedingt mitverdienen wollten, um Schadloshaltung oder wenigstens Minderung ihres Schadens. Engagiert sind vor allem – wie man als Zeitungsleser mitgeteilt bekommt – größere Hedgefonds, die mit Währungs-„Wetten“ gegen russische Partnerbanken ihre Spekulation auf Moskauer Staatsanleihen termingeschäftlich abgesichert hatten und nun Mühe haben, die eigentlich gewonnenen Dollar-Summen einzutreiben. Immerhin haben sie hierbei Recht und Gewalt ihrer Heimatländer sowie die Erpressungskunst aller supranationalen Kreditagenturen auf ihrer Seite – und, was noch wichtiger sein dürfte, ein sehr handfestes materielles Interesse der Staaten, auf deren Geld ihre unbedienten Forderungen an die russische Seite lauten. Die beharren nämlich erstens aus prinzipiellen Gründen darauf, daß ein ausländischer Kreditnehmer ihr gutes Geld, wenn er es denn schon geborgt kriegt, als unbedingten Höchstwert respektiert und solche Schulden pünktlich bedient. Und deswegen mögen sie es zweitens überhaupt nicht, wenn sich so allmählich die Fälle mehren, in denen ganze Nationen vor den spekulativen Ansprüchen versagen, die das Finanzkapital unter Einsatz ihrer Währung aufgehäuft hat. Am Ende relativiert sich nämlich doch der große Unterschied, auf den es ihnen ankommt: daß ihr Weltgeld nur gute, durch kapitalistisches Wachstum gerechtfertigte Kredite repräsentiert, wohingegen die Last, mit unproduktiver Aufblähung die vielen spekulativen Fehlschläge zu bilanzieren, aufs sowieso schlechte Kreditgeld der Verlierernationen entfällt.
Doch wie ist diese Trennung sauber herzukriegen? Die Frage wird für die Regierungen der erfolgreichen Weltgeld-Nationen mit jeder Pleite eines Landes, das ihre Geldindustriellen sich zum Spekulationsobjekt erkoren haben, dringlicher. Und die Kette derartiger Pleiten ist mit Rußlands ganz speziellem Beitrag noch lange nicht zu Ende.
2.
Mitten im schönsten Wahlkampf ums Präsidentenamt ist die Republik Brasilien damit konfrontiert, daß auswärtige Geldanleger geschäftstäglich eine runde Milliarde Dollar aus dem Finanzsystem des Landes herausziehen; auch eine Erhöhung der Zinsen für Staatsanleihen auf 50% hilft dagegen nichts. Die Devisenreserven der Zentralbank halten das sogar eine ganze Weile aus; aber das Ende ist absehbar – und damit der nächste Krisenfall akut.
Die Spekulation auf einen Verfall brasilianischer Finanzwerte, dem verantwortungsbewußte Finanzmanager das Vermögen ihrer Fonds und Kreditgeber rechtzeitig entziehen wollen – womit sie ihn nach den tiefsinnigen Regeln der Marktwirtschaft herbeiführen –, trifft eine Nationalökonomie, die sich schon seit langem als Anlagesphäre für produktives Kapital bewährt, den großen Autofirmen der Welt und nicht bloß denen ein gutes Stück Kapitalakkumulation beschert, also echte Wachstumschancen bietet. Auf diese Gelegenheiten – „der vielversprechendste neue Markt für Autos“, „natürliches Eingangstor zu Südamerika mit seinen mehr als 300 Millionen Konsumenten“ (IHT, 28.9.98) – sind nicht bloß VW, GM und Ford eingestiegen; auf einen Standort mit solchen Qualitäten hat auch die Internationale der Geldhändler größere „Investments“ gesetzt und den Staat, der für die Pflege dieser kapitalistischen Brutstätte Schulden macht, wie dessen heimisches Kreditgewerbe kreditiert. In Präsident Cardoso hatte sie dafür den richtigen Mann an der Staatsspitze. Denn der hat den kategorischen Imperativ der Finanzmärkte – ‚Sorge in Deinem Land für ein Geld, wie Du es als Finanzkapitalist selber gerne verdienen würdest!‘ – richtig verstanden und beherzigt: Mit schönen, aber nicht übertriebenen Zinsen hat er für Nachfrage nach brasilianischen Anleihen gesorgt, gestützt auf diesen Geldzufluß eine glaubwürdige Garantie für den Erhalt des Werts der Währung abgegeben und so die Spekulantengemeinde zweifach gut bedient. Umgekehrt paßte das Engagement der Finanzwelt zum Interesse der Staatsmacht und ihres Chefs: Das nationale Finanzsystem bekam genügend auswärtigen Kredit, um seinerseits als Quelle tauglicher Finanzmittel für Staat und Wirtschaft Brasiliens zu fungieren.
Bis zum September. Dann haben die Kreditgeber, die ihr gutes Geld im Maße der innerbrasilianischen Verzinsungsrate zu vermehren gedachten, angefangen, ihre Beteiligung am Kreditwachstum der Nation zu kündigen. Nach ihren Motiven mag man gar nicht fragen – kompetente Kommentatoren bieten einfühlsame Erläuterungen wie: „Der Schock kommt aus Asien… Auch Ökonomien, die nicht so eng mit Asien verknüpft sind, kommen unter Verdacht; nach den Abwertungen in Asien bezweifeln Investoren deren Solidität… Nach Asien kann die geringste Schwäche einer Wirtschaft nicht verziehen werden…“ (IHT, 3.10.98) – und liegen damit womöglich sogar richtig. Auf alle Fälle geht daraus der wirkliche Grund des Crashs hervor: Wenn eine derartige Skepsis bereits ausreicht, um eine ganze große Nation in eine Zahlungskrise zu stürzen, dann ist das Hinweis genug auf das objektive ökonomische Verhältnis zwischen dem Kredit, den das Finanzsystem dieses Landes schafft, und dem, den es von auswärtigen Investoren braucht und bekommt. Offenbar ist die Zahlungsfähigkeit, die die Kreditinstitute dieses Landes mit ihrer Spekulation auf künftige nationale Wachstumserfolge schöpfen und für die ihr Staat das gesetzliche Zahlungsmittel beisteuert, nicht von der Art, die freien Zugang zum Weltgeschäft eröffnet; dem Kreditgeld fehlt die allgemeine Anerkennung als universelles kapitalistisches Zugriffsmittel. Um als Teil des globalen Reichtums zu zählen und Anteil daran zu bekommen, ist und bleibt das gesamte Geld- und Kreditwesen dieser Nation vielmehr darauf angewiesen, als verläßlich anerkannt, i.e. kreditiert zu werden; mit Geldmitteln, die einem notorisch erfolgreichen nationalen Finanzsystem entstammen und durch dessen überlegene Ertragskraft eine unzweifelhafte Gültigkeit besitzen. Das ist eben das Peinliche an der Geschäftslage eines Landes, das – bei aller Professionalität seiner Kreditschöpfung und aller Attraktivität der geschaffenen „Produkte“ – im praktischen Konkurrenzvergleich der Nationen dann doch nie genügend Zuspruch für seinen fiktiven Reichtum findet, um damit selber als autonomer Geldstifter und als Kreditgeber für andere Nationalökonomien auftreten zu können. Den Zuspruch der Kapitalisten, den es braucht, muß ein solches Land sich immerzu verdienen: durch ein Wachstum des erzeugten und realisierten Reichtums, das dem heimischen Kredit soviel Glaubwürdigkeit verleiht, daß die auswärtigen Geldanleger mit ihrer Spekulation auf diesen Kredit – sein Wachstum wie seine Solidität – sich gut bedient sehen. Die Bedingung, daß das Risiko eines generellen Wertverlustes des so kreditierten Kreditgelds gegenüber der kreditierenden Weltwährung ausgeschlossen sein und notfalls vom Kreditnehmer getragen werden muß, geht in dieses Kriterium der Glaubwürdigkeit mit ein.
Damit ist nun freilich alles beisammen für einen nicht leicht zu bewältigenden ökonomischen Widerspruch. Auf der einen Seite ist eine hohe Verzinsung, also ein erheblicher unproduktiver Geldaufwand nötig, um den Zuspruch auswärtiger Geldanleger zu erhalten und denen Wechselkursverluste zu ersparen; auf der anderen Seite sind unter demselben Gesichtspunkt dem Einsatz des Kredits zur Herstellung eines produktiven Wachstums von hinreichender Höhe enge Schranken gesetzt. Bleibt dann auch noch mangels ausreichender Akkumulationsraten die Produktivität des Kapitals hinter den Fortschritten der großen Konkurrenten zurück, dann gerät der Imperativ des stabilen Geldwerts auch noch in Konflikt mit den Außenhandelsbilanzen der Nation, die wiederum für den Bedarf an Devisenkrediten von Belang sind, und außerdem schon wieder mit den benötigten Wachstumsraten des nationalen Kapitals, das sich dann mit dem Exportieren ebenso schwerer tut wie mit dem Konkurrieren gegen Importware. Wenn schließlich Konkurrenten aus Staaten, die die Entwertung ihres Kredits und den Verfall ihrer Währung schon hinter sich haben, mit Billigwaren auf den Weltmärkten antreten – dann ist es am Ende allerdings kein Wunder, wenn die Meister des weitsichtigen Finanzinvestments umdisponieren und aus brasilianischen Wertpapieren herausgehen. Wenn dadurch das Land mit seinem Finanzsystem in eine Krise rutscht, dann dürfen sie das als Beweis nehmen, wie berechtigt ihr Mißtrauen war: Mit der Krise des Kredits, seiner Streichung und dem Wertverlust des lokalen Geldes, das beides repräsentiert, den Kredit wie seine Krise, wird ja praktisch darüber entschieden – und eine andere Entscheidung dieser Frage gibt es sowieso nicht –, wo Spekulation und Wachstum endgültig zu weit auseinandergelaufen sind.
Die Länder mit dem guten Geld, die Kreditgeber für Staaten mit schwächlichem Kreditsystem, haben damit den permanenten kritischen Vergleich der Anlagesphären und -währungen einmal mehr für sich entschieden. Eine – weitere – Anlagesphäre, an deren Kreditwachstum sich immerhin eine Zeitlang flott verdienen ließ und durchaus weiterreichende spekulative Erwartungen geknüpft waren, ist damit freilich auch kaputt. Und damit drängt sich dann doch immer heftiger die Frage auf, was die Sieger am Ende von den Niederlagen ihrer Konkurrenten eigentlich haben.
3.
Von den Nationen mit dem machtvollsten Kredit und dem anerkannten Weltgeld sind – komplementär zu den Krisen anderswo – zunächst einmal Erfolge zu melden. Der Zusammenbruch der Kreditgebäude in Südostasien sowie die Rezession in Japan bescheren den Börsen in Europa und den USA über ein halbes Jahr hinweg einen nie dagewesenen Boom. Schließlich müssen die Kreditmanager mit dem ihnen anvertrauten Geldkapital ja irgendwohin. Und wenn es in Japan absehbarerweise keinen Zuwachs gibt, im Gegenteil noch unabsehbare Kreditstreichungen bevorstehen; wenn in ganz Südostasien die Wachstumschancen, auf die man nun wieder spekulieren könnte, fürs erste gering bemessen sind; was bleibt dann übrig außer der „Flucht“ in Finanzanlagen, die zwar keine übermäßige Rendite, aber wenigstens Sicherheit versprechen?! Die Zentren des Weltkapitalismus ernten also den Zuspruch des Kreditgewerbes, das die Anlagemöglichkeiten in aller Welt vergleicht – und so war sie doch gemeint, die Konkurrenz der Nationen um Kredit.
Bloß haben es die Finanzmärkte bei einem fulminanten Aufschwung nicht belassen. Kaum um die Hälfte angestiegen, sind die Aktienkurse in New York und Frankfurt wieder eingeknickt; der soeben erfreulich gestiegene Börsenwert der dort notierten Firmen ist beinahe unters vorherige Niveau gefallen, und einiges an Geldvermögen ist nicht bloß nominell vernichtet worden. Die festverzinslichen Wertpapiere – die sichere Alternative – steigen zwar noch im Kurs, werfen folglich aber keine festen, sondern kaum noch Zinsen ab; und wo die besseren Gewinnversprechen winken, da melden gleichzeitig die Hedgefonds Verluste. Überhaupt haben es die kapitalistischen Großmächte mit lauter Unsicherheiten in ihrem Kreditsektor zu tun. Ihrer überlegenen Erfolge werden sie nicht recht froh.
Das ist auch kein Wunder. Denn tatsächlich stehen sie gar nicht bloß als Standort- und Kredit-Konkurrenten, also in einem quasi externen Verhältnis zu den Verlierern. Nicht bloß, daß die unschlagbare Exportindustrie der erfolgreichen Nationen über „wegbrechende Märkte“ jammert – der Trost, die Verluste seien so bedeutend nicht, eher bloß marginal verglichen mit den Umsätzen zwischen den Großen, ist als Beruhigungsinstrument verräterisch und nicht einmal besonders gut in einer Konkurrenzlage, in der gerade die Margen über Geschäftserfolg und -mißerfolg entscheiden. Von Gewicht ist vor allem, daß die Krisenländer den Nationen mit den großen Finanzplätzen als Anlagesphäre für deren Kredit verbunden sind: Ihr gesamtes Geschäftsleben ist seiner maßgeblichen Zweckbestimmung nach eine einzige Dienstleistung für das Wachstum des Kapitals der Kreditgeberländer – und daraus wird nun also nichts. Das kostet manchen Anleger sein „Investment“; aber nicht nur das. Den großen Kreditschöpfern gehen ganze Geschäftssphären verloren, die sie für die Vermehrung ihres Eigentums nicht bloß vorgesehen, sondern bereits spekulativ mit Beschlag belegt hatten; das rührt schon etwas grundsätzlicher an die Bedingungen solider Kreditakkumulation im Finanzsystem der Gläubigerländer. Und ganz grundsätzlich ist es überhaupt so: Wer mit der Macht eines allseits gefragten Kredits und eines weltweit anerkannten Geldes sämtliche Regionen des Globus für den einen ökonomischen Zweck in Anspruch nimmt, seinen Kredit und sein Geld vermehren zu lassen, der braucht dann auch „echtes“ Wachstum in aller Welt, um wirklich Kapital zu akkumulieren und nicht bloß Enttäuschungen. Der stößt daher auch an objektive Schranken der kapitalistischen Vermehrung seines Geldes, an die Schranken der Realisierbarkeit seiner spekulativen Kreditschöpfung, wenn in ganzen Weltgegenden das Geschäftsleben mit seinen Erträgen vor der Masse der darauf aufgebauten spekulativen Gewinnansprüche versagt. Der begegnet im Zusammenbruch der Krisenländer der Krise seines Kredits.
Freilich erwischt ihn diese Krise erst einmal nur indirekt. Das erfolgreiche Finanzsystem, das andere Nationen durch ihre Kreditierung mit Weltgeld überhaupt erst geschäftsfähig macht und erhält, bricht keineswegs gleich mit zusammen, wenn der so kreditierte Nationalkredit samt Währung kaputtgeht. Ein guter Teil seiner Forderungen hängt dann aber schon in der Luft; das schmälert zumindest die Rendite, stört den Geschäftsgang und ist eine gewisse Blamage für den Anspruch des verliehenen und nun verlorenen guten Geldes, akkumulierenden Reichtum und sonst gar nichts zu repräsentieren. Es kommt hinzu, daß sich in einem so enorm leistungsfähigen Kreditsystem, das mit seiner erstklassigen Geldware die ganze Restwelt kreditiert und in Dienst nimmt, ein Schaden durch auswärtige Zahlungsunfähigkeit nicht bloß die direkten Gläubiger trifft. Ein ganzer derivativer Sektor errichtet da außerdem seine Spekulationsgebäude auf der Spekulation, die die Weltgeldhändler mit dem Globus als Anlagesphäre anstellen, kann an Verlusten sogar verdienen, potenziert dann aber auch bloß die Verluste, die an anderer Stelle im Schuldengewerbe anfallen, und führt am Ende auf diese absurde Weise ganz praktisch den Beweis bis zu Ende durch, daß das Finanzsystem der Siegernationen tatsächlich nicht wegen ein paar Pleiten in Ostasien und Südamerika in irgendwelche Schwierigkeiten kommt, sondern längst mit seinen eigenen Vermehrungs- und Verwertungsmethoden in Widerspruch geraten ist.
Dieser Widerspruch wird genau dann ziemlich akut, wenn das Spekulationsgewerbe seine Außenstände – soweit sie eben noch nicht durch die Konsequenzen seines eigenen Mißtrauens entwertet sind – aus den kritisch gewordenen Auswärts-Engagements herauszieht und „daheim“, in Wertpapieren der erfolgreichen Kapitalstandorte investiert; also ausgerechnet dann, wenn der Zuspruch des Finanzkapitals zum Kredit der erfolgreicheren Nationen steigt, worauf doch alles ankommt. Der Zuspruch ist nämlich zu gar nichts nütze: Er treibt bloß den Kurs aller Wertpapiere – nach dem Urteil der Fachwelt selber: „erratisch“ – in die Höhe, bis die zuständigen Finanzstrategen nicht länger um die selbstkritische Frage herumkommen, ob die Summen, die sie für diese bei aller Erstklassigkeit ja doch fiktiven Kapitalgrößen hinlegen, überhaupt noch eine akzeptable Rendite erzielen und durch eine halbwegs stichhaltige Hoffnung auf künftigen Wertzuwachs des erstandenen Vermögenstitels gerechtfertigt sind. Sobald gestellt, ist diese spekulative Gretchenfrage auch schon negativ beantwortet, das Wertpapier und mit ihm die darin investierte Summe entwertet und praktisch klargestellt, daß die Spekulation mal wieder maßlos überzogen hat: Börsenkräche und Kreditstreichungen werden fällig. Zwar ziehen sie nicht gleich, wie in den Krisenländern, allgemeine Zahlungsunfähigkeit nach sich; das Privileg des stärksten Kredits und des anerkannten Weltgelds bleibt dem Finanzsystem der erfolgreichen Nation auch in dieser Situation erhalten – es gibt ja nichts, wohin die Geld- und Kredithändler ihren verbliebenen Reichtum gleich abfließen lassen könnten. Aber daß die mit ihren Finanzmitteln eben auch „daheim“ keine rentable Anlage finden; daß im Gegenteil ihre guten Finanztitel auch bloß noch spekulative Werte vorspiegeln, denen ihre Grundlage in einem absehbaren Wachstum hinreichender Größe schon abhanden gekommen ist; daß also ein kritischer Fall von Über-Spekulation vorliegt – das macht sich auch bei ihnen geltend.
Zum Beispiel so:
„Seit der russischen Phase der Turbulenzen hat es eine merkliche Verschärfung der Kreditkonditionen zwischen US-Finanzinstitutionen gegeben… Investoren sind aus riskanteren Instrumenten – nicht nur aus Schuldtiteln der emerging markets, sondern auch aus nationalen Titeln wie hochverzinslichen junk bonds – ausgestiegen und haben sich auf risikoarme Titel wie US-Schatzpapiere gestürzt. … Es besteht die Gefahr, daß das Verlangen nach risikofreien, liquiden Anlagen eine schwere Kreditklemme bei den Finanzinstitutionen herbeiführen könnte. Kunden könnten ihre Kreditlinien beschnitten sehen… Auch kreditwürdige Firmen, die Kredit aufnehmen oder eigene Schuldtitel in Umlauf bringen wollen, könnten in paralysierten Märkten nichts bekommen.“ (Financial Times, 8.10.98)
Dabei ist nicht einmal diese Bewegung eindeutig: Im nächsten Moment schieben die Finanzmanager ihre Kreditmassen doch wieder an die Börse und in spekulativere Papiere – immer hin und her zwischen den Gesichtspunkten der Rendite und der Sicherheit, die sie nicht mehr unter einen Hut kriegen. Mal steigern sie die Werte von Firmenpapieren, ohne daß solchem Zuwachs die Spekulation auf irgendeine verbesserte Ertragschance zugrunde läge; dann fassen sie wieder die absehbare Ertragslage der Firmenwelt kritisch ins Auge und behalten ihre Gelder lieber selbst. Der Zufluß von Kreditmitteln stabilisiert nichts, führt schon gar nicht zu einer Wiederbelebung des allgemeinen Wachstums, sondern stiftet Unsicherheit bis hinunter in die Sphären, wo „real“ gewirtschaftet wird. Daß da doch noch „einiges läuft“ – „bei uns“ jedenfalls, „in Europa“, „eigentlich“ –, ist eine Beschwichtigung, die nicht viel taugt: Damit wird so getan, als ließe sich der kapitalistische Geschäftsgang tatsächlich so von den „Wirren“ im Kreditwesen abkoppeln, wie dieses sich – letztlich dann doch nicht – von der Welt der ausgebeuteten Arbeit emanzipiert; das Produzieren und Handeltreiben wird einfach ohne das Verhältnis zum Geld begutachtet, für das es doch bloß stattfindet und geradestehen muß.
Das eingerissene Mißverhältnis zwischen Kreditvermehrung und Geldproduktion verschont auch das Geschäftsmittel selber nicht:
„Jetzt spielen die Währungen verrückt. Zwei Fünftel der Weltwirtschaft befinden sich in Rezession, und der Rest kämpft darum, sie zu vermeiden; da sind Währungsturbulenzen das letzte, was die Welt brauchen kann. Aber nach dem Zusammenbruch von Währungen in den emerging markets und der Erschütterung der Aktienmärkte im Westen sind die Währungsturbulenzen nun bei den beiden größten Ökonomien der Welt angekommen. Der US-Dollar, lange ein sicherer Hafen für demoralisierte Investoren, ist ganz plötzlich gegen den Yen gefallen… Der Absturz scheint den Gesetzen der Ökonomie ins Gesicht zu schlagen. Schließlich wird in den USA ein Wirtschaftswachstum von mehr als 3% in diesem Jahr erwartet, wohingegen die japanische Wirtschaft sich in der schlimmsten Rezession seit Kriegsende befindet.“ Aber: „Versuche, den Absturz des Dollar aus ‚fundamentals‘ zu erklären, gehen in die Irre. Die Bewegung dieser Woche ist eine Auswirkung der gewaltigen Kreditrücknahme, die seit der russischen Krise im August im Gange ist… Wieder einmal waren führende Hedgefonds maßgeblich beteiligt. Unter dem Druck ihrer Anleger, die ihr Geld abziehen, und ihrer Gläubiger, deren Forderungen zunehmend drängender werden, waren sie gezwungen, Positionen aufzulösen und Yen-Schulden zu bezahlen… Der Verlust der Kontrolle über die führende Weltwährung ist alarmierend.“ (FT, 9.10.98)
Inzwischen hat die „Fed“ die Zinsen gesenkt, und der Dollar ist – wieder gestiegen…
Offenbar spiegeln die Kursbewegungen der großen Weltwährungen derzeit eben hauptsächlich die Geldbedürfnisse wider, die aus der Auflösung unhaltbar gewordener spekulativer Kreditpositionen, der Realisierung von Verlusten entstehen – eine in der Tat „verrückte“ und von niemandem bestellte Art der Klarstellung, daß diese guten Gelder allesamt längst nicht mehr den zuverlässig akkumulierenden kapitalistischen Reichtum der Nationen – oder sonst irgendwelche „fundamentals“ – repräsentieren, sondern überakkumulierten Kredit ohne Wachstum. Brasilien – um das noch einmal in Erinnerung zu rufen – wäre mit einer derart „volatilen“ Währung längst geschäftsunfähig; umgekehrt wäre dem Rubel, an den überspekulierten Verhältnissen gemessen, fast eine gewisse Zurechnungsfähigkeit zuzubilligen. Nur weil sich hier zwei anerkannte und durchgesetzte Weltgelder aneinander messen, kommt die ökonomische Wahrheit über ihren Wert nicht als große Wegwerfaktion zur Geltung, sondern in so abartiger Form heraus: als absurdes Theater mit demoralisierten Wirtschaftskapitänen, sicheren Häfen ohne Sicherheit – und Rezensenten, die eins genau wissen: Irgendjemand muß jetzt alarmiert werden.
4.
Tatsächlich ist der zuständige Jemand längst in Alarmbereitschaft. Die Staatsmacht in den siegreichen Standorten ist zutiefst unzufrieden mit der „volatilen“ Verfassung ihres nationalen Geld- und Kreditsystems. Schließlich handelt es sich da nicht bloß um ein privates Gewerbe – was für sich auch schon ausreicht, um ein Menschenrecht auf staatsinterventionistische Pflege und Förderung zu begründen –, sondern um ihr Universalinstrument: um das ökonomische Mittel ihrer Herrschaft im Dienste der kapitalistischen Volksgemeinschaft. Und als solches versagt es seinen Dienst, wenn es seine Kredite haltlos und unberechenbar zwischen fragwürdigen Ertragshoffnungen und sicheren Verlustpositionen hin und her schiebt und mit heftigen Reaktionen auf Pleiten anderswo offenlegt, wie angefochten es selber ist. In dieser Verfassung bleibt das Finanzsystem die politökonomische Leistung schuldig, ein neues, umfassendes Wirtschaftswachstum anzustoßen, aus dessen Erträgen die höchste Gewalt sich finanzieren kann. Stattdessen fordert die machtvolle Finanz-„Industrie“ ihrerseits den Staat zu rettenden Interventionen heraus; die Geldpolitiker müssen aufpassen, daß der flüssige Gang des Kreditgebens und -nehmens nicht doch noch von irgendeiner Ecke her richtig zusammenbricht. An den Devisenmärkten muß die Staatsbank zwar nicht gerade die Gefahr einer Annullierung ihres Weltgeldes abwehren, wohl aber, und das mit beträchtlichen Milliardensummen, allzu „erratische“ Wechselkursschwankungen, die andernfalls den gesamten normalen Geschäftsgang durcheinanderbringen würden. Der japanische Staat muß sogar noch x-fach höhere Beträge an selbstgeschaffenem Kredit in seine Bankenwelt hineintun, damit die mit ihren Unmengen geplatzter – „fauler“ – Kredite und einer 0%-Rendite überhaupt noch irgendwie überlebt. Und das Ergebnis? Nichts funktioniert hinterher entscheidend besser; nirgends kommt etwas in Gang, was sich als Beginn des erwünschten allgemeinen Aufschwungs der Kapitalakkumulation interpretieren ließe. Wie auch: Durch die staatlichen Interventionen ist ja nur noch mehr Kredit in die Welt gekommen, dem es an Rechtfertigung durch realisierte Geldgewinne fehlt; daran, daß ein solches Wachstum fehlt, so daß der nationale Kredit mit sich und seiner ganzen Macht nichts mehr anzufangen weiß, hat sich dadurch gar nichts zum Besseren gewendet.
Die staatliche Ursachenforschung, die mangelhaften Leistungen des nationalen Finanzwesens betreffend, führt freilich in eine andere Richtung. Sie orientiert sich mehr an den offenkundigen Anlässen krisenhafter Zuspitzungen im Kreditgewerbe, am räumlichen Neben- und zeitlichen Nacheinander der Ereignisse, und wird in Ostasien, Rußland und Südamerika fündig: Von dort gehen die Wirkungsketten aus, die dann am Ende auf die Solidität des Kredits und die Wachstumsperspektiven in der EU und den USA durchschlagen; also werden dort auch die Ursachen dafür liegen. Für deren Identifizierung ist dann – sehr praktisch und angemessen für die Zwecke einer schlagkräftigen Wirtschaftspolitik – der Geist der Standortkonkurrenz zuständig; der Standpunkt nämlich, daß die Erfolgreichen alles richtig gemacht haben, woraus für die andern das Gegenteil folgt. Wenn also in Frankfurt und New York die Börsen spinnen, in London und Tokio die Devisenhändler durchdrehen, dann liegt das eindeutig daran, daß gewisse Krisennationen einen eigentlich astrein funktionierenden Kredit kaputtgewirtschaftet und die solidesten Währungskredite in den Sand gesetzt haben. Zu dieser Kritik gesellt sich gern das selbstkritische Eingeständnis, als Kreditschöpfer und Gläubiger solche Fehlentwicklungen bei den Schuldnern nicht rechtzeitig gesehen, schon gar nicht wirksam unterbunden, mit dem hergeliehenen guten Geld sogar eher ermöglicht und erleichtert zu haben. Fällig ist auf alle Fälle eine gründliche Revision der internationalen Kreditierungs- und Abrechnungsverhältnisse.
Und schon geht sie los.
IV. Streit um den IWF: Das große Ringen der Gläubigernationen um lauter untaugliche Alternativen, ihr Geld zu retten
Daß die Diskussion um den Internationalen Währungsfonds unter gewissen ideologischen Beschränkungen leidet, macht nichts. Da dieses Institut nun einmal keine Bank ist, die zuwenig in der Kasse hat, um es zu verborgen, ist die Bezweiflung seiner Leistungen doch ganz gut zu verstehen. Das Saldieren zwischen Nationen wird eben auch immer schwieriger, wenn dabei nirgends mehr ein Plus übrigbleibt. Mancher Staatsmann möchte da „sein“ Geld am liebsten überhaupt behalten. Nur gut, daß wenigstens die Notenbanken aufpassen und „die Fehler von 29“ nicht wiederholen wollen.
1.
Angesichts der bereits eingetretenen sowie weiterer drohender Zahlungsunfähigkeit ganzer Nationen zeigen die konkurrenztüchtigen Staaten, wozu sie in der Lage sind, wenn irgendwo auf der Welt ein Geld kaputtgeht und ihr dorthin ausgeliehenes Geld in Mitleidenschaft gezogen wird. Es kostet sie einen Beschluß, und der Internationale Währungsfonds steht mit zweistelligen Milliardensummen dafür ein, daß das Kreditgeschäft mit den bankrotten Ländern neu eröffnet wird bzw. weitergeht, so daß auch der Handel mit ihnen nicht zum Erliegen kommt. Dort, wo das international tätige Kreditgewerbe „flieht“ oder sogar schon seine Abrechnung durchgezogen und damit offengelegt hat, daß die Konkurrenzverlierer unter den Nationen eigentlich überhaupt kein Geld, nur Schulden haben, stellen die Staaten mit dem mächtigen Kredit und dem guten Geld durch noch ein paar Schulden mehr einen wirksamen, von der Finanzwelt auch durchaus akzeptierten Anschein von Zahlungsfähigkeit wieder her.
Diese hochvernünftige Art, den Erdball zu bewirtschaften, hat zuletzt so große Summen aus dem gemeinsamen Währungstopf gekostet, daß diesem beinahe die Mittel ausgegangen wären. Das liegt freilich nicht daran, daß das Institut all seine Schätze hergeliehen und seine eigenen Kreditlinien überzogen hätte. Der Fonds ist kein Unternehmen, das Geldmittel gegen Zins bei sich ansammelt und durch Kreditschöpfung mit dem Geld, auf das es Zugriff hat, Zahlungsfähigkeit stiftet, sondern eben eine gemeinsame Agentur der staatlichen Geldschöpfer mit dem Auftrag, Zahlungsprobleme von Nationen zu regeln. Dafür verfügt der IWF über soviel Rechte, für Schuldnerstaaten Zugriffsrechte auf Weltgeld her- und bereitzustellen, wie ihm – unter verschiedenen Titeln, die je besondere Eingriffstatbestände namhaft machen – von seinen maßgeblichen, weil gültiges Weltgeld emittierenden Mitgliedern zugesprochen werden. Daß die damit gesetzten Limits auftragsgemäßer Weltgeldschöpfung durch den Fonds fast erreicht worden sind, hat seinen Grund daher auch in der Entscheidung besagter wichtiger Mitglieder, einmal umgekehrt zu zeigen, wozu sie in der Lage sind – nämlich Länder ohne eigenes Geld vielleicht auch mal wirklich und offiziell bankrott gehen zu lassen. Vor allem den Bewilligungsinstanzen der Vereinigten Staaten paßt es schon lange nicht mehr, wie da eine supranationale Institution ihre Befugnis ausnutzt, in den Händen fremder Staaten amerikanisches Geld zu schaffen. Daß der IWF nun in einem halben Jahr immer wieder dermaßen hohe Kredite zugeteilt hat, ohne daß ein Ende seiner Interventionen abzusehen wäre, erscheint da als schlagender Beweis für eine gravierende Fehlentwicklung – nicht der Weltwirtschaft, sondern in der Finanzhilfepolitik des Fonds. Die vorgebrachten Einwände, die unter den Geldnationalisten der kreditstarken Nationen gleich viel Echo gefunden haben, machen sich an augenscheinlich kontraproduktiven Effekten der Bedingungen fest, unter denen Finanzhilfen überhaupt bloß gewährt werden. Sie zielen aber gar nicht auf vernünftigere Konditionen, sondern recht fundamental auf die unter welchen Auflagen auch immer bereitgestellten und zugewiesenen Geldsummen selbst und fassen sich in dem einen Vorwurf zusammen: Statt gesundes Wirtschaften zu erzwingen – wie er es mit seinen Kreditauflagen ja versucht –, verführt der IWF mit seinen Milliarden Schuldnerstaaten wie private Kreditgeber nur zur Verantwortungslosigkeit, weil er beide Seiten vor den Folgen eines wirklichen Bankrotts bewahrt. Von Nutzen seien diese Kredite bloß für Staaten, an denen sich dann doch genausowenig wie vorher, nämlich gar nichts verdienen läßt, die insofern also nichts zum Weltwirtschaftswachstum beitragen, sowie für Finanzmanager, die mit ihrer Spekulation auf derartige Staaten bloß die fürs Emittieren von Weltgeld zuständigen Länder abzocken, also auch keinen produktiven Beitrag zur kapitalistischen Vermehrung dieses Geldes liefern.
Die wirklichen Zusammenhänge stellt diese Anklage ziemlich genau auf den Kopf: Tatsächlich ist es ja eher so, daß umsichtige Spekulanten aus Sorge um die Haltbarkeit ihrer Kreditgebäude eine Abrechnung mit dem staatlich benutzten und unterhaltenen Finanzwesen eines nicht mehr hinreichend ertragreichen Standorts herbeiführen; die Staaten ihrerseits lassen so mit sich abrechnen und fügen sich in eine zweite Abrechnung des IWF mit ihrem Finanzgebaren, um in die soeben verlorene Konkurrenz um Geld und Kredit wieder einzusteigen. Die Frage ist aber sowieso nicht, ob die Diagnose stimmt. Wichtig ist, was sie ausdrückt, nämlich eine tiefe Unzufriedenheit mit den politökonomischen Erträgen des internationalen Finanzhilfewesens überhaupt. Sie verrät damit eine ganz andere Betroffenheit der Gläubigernationen als durch den so gern beschimpften „moral hazard“ spekulierender Wall-Street-Yuppies und korrupter Drittwelt-Staatsbanker – das alles war ja auch schon nicht anders und ließ sich gut aushalten, als die Erträge für die erfolgreichen Nationen insgesamt noch gestimmt haben. Mittlerweile steht es international eben so, daß auch mit viel politisch veranlaßtem Kredit keine gescheiten Wachstumsziffern und -raten mehr herzukriegen sind; schon gar nicht, wenn es mit einer Region erst einmal abwärts geht: Das Kreditieren anderer Nationen versagt als Wachstumsmotor. Als Eingeständnis einer allgemeinen Krisenlage ist das freilich nicht gemeint. Aus der geäußerten Unzufriedenheit folgt vielmehr die Forderung, endlich richtig ernst zu machen mit der erpresserischen Alternative: entweder produktiver Kredit oder keiner! Und weil von neuen lohnenden Geschäften weit und breit nichts zu sehen ist, wenn ein Schuldnerstaat nach dem andern seine Verbindlichkeiten schuldig bleibt, läuft die Beschwerde über lauter „Löcher ohne Boden“ „am Tropf des IWF“ auf den Antrag hinaus, eine derart unnütze Geldschöpfung einzustellen.
Gewisse Gläubiger des IWF wollen also – langer Beschwerden kurzer Sinn – ihr Geld lieber selber behalten. Sie geben es in dem Sinn zwar gar nicht aus; die natürlich wieder viel beschworene Symbolfigur des ungeschminkten staatlichen Materialismus in seiner borniertesten Fassung, „der Steuerzahler“, ist ausnahmsweise gar nicht richtig involviert, weil es nicht um seine Abgaben, sondern um die Ermächtigung des IWF zur Schaffung von Anrechten auf Weltgeld geht. Aber auch diese Summen haben ihren ökonomischen Effekt, und unter den gegebenen Umständen keinen günstigen, auf die Gläubigerstaaten: Deren Geldware bekommt es nicht gut, wenn Ansprüche darauf geschaffen, vergeben und dann überhaupt nicht durch ein Wachstum in den kreditierten Nationen gerechtfertigt werden. Denn dann finanziert das Geld eben bloß eine nutzlose Aufblähung des Kredits; die Masse, in der es vorhanden ist, widerspricht seiner lohnenden Verwendung. Und so sieht die internationale Geschäftslage derzeit aus: Dieses Eingeständnis ist der harte politökonomische Kern aller Anträge auf mehr geldpatriotischen Eigennutz.
Fragt sich nur, ob das Geld besser wird, wenn man es gar nicht erst hergibt.
2.
Gegen die Kritik am IWF, die gelegentlich in der Forderung nach dessen ersatzloser Abschaffung gipfelt, gibt es einen gewichtigen Einwand: den Blick auf die Folgen internationaler Kreditverweigerung. Damit würden nämlich die großen Gewinnernationen den Abrechnungen, die ihre Finanzkapitalisten mit einem wackligen Konkurrenzverlierer nach dem andern vornehmen, eine eigene Endabrechnung hinzufügen und regelrechte offene Staatsbankrotte herbeiführen. Damit wären nicht bloß sämtliche noch oder vielleicht wieder nützlichen Handelsbeziehungen zu diesen Ländern abgebrochen; vor allem könnte man dann endgültig und müßte auch ganz offiziell sämtliche offenen Forderungen an die betroffenen Nationen abschreiben, also Krediteinbußen hinnehmen, die sich auf der übergeordneten Ebene des Kreditmittels, des Weltgeldes der Gläubigernationen, zu genau dem Schaden aufsummieren, der doch vermieden werden soll. Und wenn man angesichts einer Vielzahl möglicher neuer Staatspleiten noch geteilter Meinung sein kann, ob nicht zumindest in dem einen oder andern Fall ein Abbruch der Geschäfte für das Geld, mit dem man sie sonst weiterfinanzieren müßte, bekömmlicher wäre als die Rettung der alten durch noch mehr neue Schulden: Eindeutig problematisch wäre der Verlust der sonst so selbstverständlichen, im IWF dann doch recht ordentlich institutionalisierten Kontrolle über die Bemühungen der Krisenstaaten, sich wieder geschäftsfähig zu machen. Fraglich wäre nicht bloß, ob es ihnen ohne neue Kreditierung ihrer Finanzen gelingen kann, in dem Sinne „wieder auf die Beine zu kommen“, wie dieser dumme Spruch es stillschweigend unterstellt – also ob sie überhaupt fähig sind, sich als ausnutzbarer Exportmarkt sowie als lohnende Anlagesphäre ins Weltgeschäft wieder einzuklinken. Es ließe sich nicht einmal ausschließen, daß in den Konkurs geschickte Staaten den Zwang zur Selbsthilfe in verkehrter Weise befolgen, den Willen zu erneuter Bewährung in der Konkurrenz, die sie verloren haben, aufgeben und auf eigene Faust lauter Dinge unternehmen, die den Konkurrenzregeln der Weltwirtschaft widersprechen. Am Fall der südostasiatischen Krisenländer wird durchdiskutiert, was da zum Beispiel denkbar und vom IWF mit seinen Kreditkonditionen zu verhindern – und womöglich sogar trotzdem zu befürchten ist: ein neuer Protektionismus im Warenhandel und, schlimmer noch, im Kapitalverkehr; die Ausnutzung der erlittenen Geldentwertung für ein aggressives Währungsdumping; ganz zu schweigen von der Gefahr verstärkter Staatskontrolle überhaupt… Ob in solchen Szenarios ein Bedenken zum andern paßt, ist völlig unerheblich für die Sorge, die sich darin äußert: Ohne IWF-Intervention ständen womöglich Fähigkeit und Bereitschaft zahlungsunfähiger Staaten auf dem Spiel, nach wie vor die Geschäftsordnung des internationalen Kredits anzuerkennen und sich mitsamt ihrem Standort weiterhin dem Interesse unterzuordnen, das eine weltweite Spekulation ihnen zuwendet.
Die Aufgabe des IWF – mit wechselseitiger Kreditierung dafür zu sorgen, daß die Konkurrenz der Nationen ihren Gang gehen kann, über jede Konkurrenzniederlage hinaus – ist damit auf ihren harten negativen Kern zurückgeführt: Er soll mit seinem Kreditregime als sachzwanghafte Vorkehrung dagegen wirken, daß Nationen für den Zweck, an ihnen gutes Geld zu verdienen, nicht mehr zur Verfügung stehen, bloß weil sie das mit ihrem nationalen Kapitalismus schon längst nicht mehr aushalten. Und auch nach der andern Seite hin ist die Zweckbestimmung des IWF-Kredits nurmehr negativ: Ums Gewinnen guten Geldes im Verkehr mit anderen Staaten, um die Stimulierung von Wachstum anderswo zwecks lohnender Beteiligung daran, geht es schon lange nicht mehr, wenn die internationale Gläubigergemeinde mit ihren kollektiven Milliardenkrediten bloß noch die Verhinderung systemwidrigen Verhaltens einzelner Mitgliedsstaaten bezweckt. Daß diese Kredite keinen positiven Nutzen bringen, mit der Kreditierung der Verlierer in der Konkurrenz der Nationen derzeit also nichts zu gewinnen ist: das ist da genauso eindeutig vorausgesetzt und eingestanden wie in dem Verdikt der IWF-Gegner, das die Finanzhilfen des Fonds direkt dafür verantwortlich macht, daß sie kein Wachstum wiederherstellen.
3.
Die Frage, ob die großen Weltgeld-Nationen ihr Geld nicht besser selber behalten sollten, statt es für die Fortführung eines Konkurrenzgeschäfts ohne für sie lohnende Erträge herzuleihen, ist deswegen auch für die Befürworter weiterer Kredithilfen keineswegs entschieden. Stillgelegt wird der IWF nicht; für Brasiliens Zahlungsfähigkeit werden seine Kredittitel heftig strapaziert und sogar mit neuen Ermächtigungen wieder aufgefüllt. Der Fall Rußland gerät andererseits – auch auf Grund der besonderen weltpolitischen Rahmenbedingungen – nach und nach zum Exempel dafür, daß man es wirklich auch mal mit einer Abschlußbilanz und der Zumutung an die bankrotte Nation versuchen könnte, sich selbst am eigenen Schopf aus dem Schuldensumpf zu ziehen – wie auch immer das gehen soll; ein Besserungsrezept ist das ja sowieso nicht und soll es auch gar nicht sein. Keine Alternative wird definitiv zurückgewiesen, vor beiden wird gewarnt: Offenkundig sind nationales Konkurrenzinteresse und Einsicht in die Notwendigkeit, das Konkurrieren zu kreditieren, nicht mehr zur Deckung zu bringen.
Die erste Konsequenz, die die großen Gläubigernationen aus dieser Krisenlage ziehen, ist die, bei der notwendigerweise gemeinsamen, fallweise auszuhandelnden Beschlußfassung über Finanzhilfen die Sorge ums jeweils eigene Geld gegeneinander geltend zu machen. Um die Ermächtigung des IWF zur Kreditvergabe streiten die Staaten, die um die meisten unbedienten Forderungen und die größten Exportgeschäfte zu fürchten haben, mit den andern, die an dieser Stelle den Aufwand für die Geschäftsfähigkeit von Bankrotteuren überhaupt nicht einsehen; Einigungen kommen darüber zustande, daß alle Hauptbeteiligten ihre speziellen Betreuungsfälle anzumelden haben – die Japaner Ostasien, die Europäer Rußland, die Amerikaner Brasilien… Auch dann schöpft der IWF aber nicht einfach aus den Titeln, über die er verfügen darf, sondern stellt aus eigenen Krediten und den Finanzzusagen der besonders engagierten Gläubigernationen – die damit die Hauptlast der Kreditierung auf ihr nationales Geld nehmen, dafür aber auch eine spezielle Zuständigkeit für das jeweils kreditierte Land beanspruchen – komplexe Finanzierungspakete zusammen. Deren Zusammensetzung spiegelt das Kräfteverhältnis im jeweiligen Streit der großen Konkurrenten um Finanzierungsanteile wider und verrät damit die Sorge aller Beteiligten, andere könnten sich und ihre Geldware der beschlossenen Kreditierungspflicht entziehen. Alle stellen sich an, als stünde mit den nächsten paar Milliarden zusätzlicher, absehbarerweise unproduktiver Kredite in ihrer Währung deren weiteres Schicksal auf dem Spiel – einigermaßen absurd, aber ein schönes Eingeständnis auch das: Wenn es darauf schon ankommen soll für die Qualität des nationalen Geldes, dann müssen dessen Hüter sich offenbar schon fragen, wieviele noch nicht geplatzte Wachstumshoffnungen das Weltgeld überhaupt noch repräsentiert.
Deswegen bleibt es auch nicht mehr allein beim Streit ums jeweils fällige Kredit-Paket. Alle Gläubiger rechnen mit neuen Krisenfällen und der Notwendigkeit immer neuer Rettungsaktionen, für die man dann schon wieder das Kreditvolumen in allmählich unüberschaubare Höhen aufstocken müßte, und suchen nach neuen Rezepten zur Sanierung ihres krisenträchtigen Ladens. Das erste ist auch schon gefunden und in Arbeit. Es empfiehlt Vorbeugen statt Heilen: Eine strenge und permanente Kontrolle über alle potentiellen Konkurskandidaten mit beschleunigter Informationsweitergabe soll jede drohende Zuspitzung in der Finanzlage einer Nation so rechtzeitig aufdecken, daß sie sich noch vermeiden läßt. Ex post glaubt man nämlich zu wissen, woran man schon Monate zuvor hätte erkennen können, daß die dann eingetretenen Krisenfälle eintreten würden. Das soll also ab sofort laufend ermittelt, überwacht und weitergemeldet werden; entsprechende Verpflichtungen sind bereits ergangen. Ob allerdings ein solches kontinuierliches theoretisches Abrechnen mit wackligen Volkswirtschaften und Finanzsystemen schon ausreicht, um die praktische Abrechnung des Finanzkapitals mit solchen Ländern zu verhindern, das erscheint den Aufsehern über das weltwirtschaftliche Geschehen selber zweifelhaft – zu Recht; denn das Agieren der im Nachhinein als Spekulanten beschimpften Investoren ist ein einziger Beleg, daß es an frühzeitigen Informationen über Geschäftslage und -entwicklung an den diversen Kapitalstandorten überhaupt nicht fehlt; die wissen immer, worauf sie wie zu reagieren haben; eben damit entscheiden sie ja darüber, wann und wo es zum sowieso fälligen Eklat kommt. Die Manager einer besseren weltwirtschaftlichen Ordnung sehen das auch, nämlich so, daß ein perfekteres Info-System nicht reicht. Um krisenträchtige Entwicklungen nicht bloß rechtzeitig zu erkennen – und dadurch womöglich bloß zu beschleunigen –, sondern abwenden zu können und „die Spekulation zu entmutigen“, beantragen sie – schon wieder, aber was auch sonst! – Kreditmittel für korrigierende Eingriffe. Dem Bedarf wird entsprochen; in der dem Medizingeschäft entlehnten Vorstellung, vorbeugende Kredite kämen billiger als Kreditoperationen am eingetretenen Fall, ist im IWF bereits Ende 97 eine „Supplemental Reserve Facility“ eingerichtet worden und ein zweites derartiges Instrument derzeit in Planung: „für die rasche Kreditgewährung an solche Länder, die sich einem plötzlichen Abfluss von Währungsreserven ausgesetzt sehen“ (NZZ, 31.10.98) und die für solche schnelle Hilfe gerechterweise höhere Zinsen zahlen sollen als für die erst hinterher eingreifenden Finanzhilfen. Ein bestechender Einfall! Demnächst wird es dann heißen, der IWF hätte Milliarden für die bloße Verzögerung einer Krise spendiert, die sich überhaupt nicht hätte aufhalten lassen, durch die flotten „SRF“s mit ihrer hohen Verzinsung nur vergrößert worden sei. Denn leicht wird es bestimmt nicht, den Widerspruch zwischen einer spekulativ auf die Spitze getriebenen Aufblähung eines nationalen Kredits und dem dafür haftenden nationalen Wachstum ausgerechnet dadurch aus der Welt zu schaffen, daß die überzogene und vom Finanzkapital selbst zurückgenommene Spekulation vorsorglich mit noch mehr, und zwar international organisiertem Kredit gefüttert wird. Auf ihre Art sehen die Arrangeure dieses neuen kostensparenden Interventionsmechanismus das auch so; sie kommen jedenfalls verstärkt auf ihr altes Bedenken zurück: Heißt das nicht schon wieder den „moral hazard“ honorieren, private Gläubiger wie öffentliche Schuldner zur Verantwortungslosigkeit verführen, unproduktive Schuldenverhältnisse verewigen – und dafür gutes Geld in ein „Loch ohne Boden“ werfen?!
Von europäischer Seite wird mittlerweile eine radikalere Lösung ins Spiel gebracht: ein Kontrollregime über alle Währungen und Paritäten, das der Freiheit des Spekulierens jedenfalls dort administrative Schranken setzt, wo sie in die Ruinierung von Nationen übergeht; am besten überhaupt gleich ein neues „Bretton Woods“, also eine Einrichtung und Handhabung des Geld- und Kreditverkehrs zwischen den Staaten von solcher Art, daß Krisen ausgeschlossen sind und eine Wiederbelebung des weltweiten Wachstums gar nicht ausbleiben kann. Zwar ist auch bei diesem Vorschlag nicht recht abzusehen, wie ausgerechnet der Teil des kapitalistischen Gesamtkunstwerks, der mit schöner Konsequenz für den immer wieder aufbrechenden Gegensatz zwischen Kreditaufblähung und Geldvermehrung – und mit seinen Krisen dann auch für dessen krisenhafte Reduzierung – sorgt, als Vorbeugung gegen seine eigenen notwendigen Wirkungen wirken soll. Es ergeht schlicht der Antrag an die Staatsmacht, für diesen Effekt zu sorgen. An diesem Punkt macht sich dann auch die kongeniale Kritik fest, die den Finanzpolitikern soviel Weisheit nicht zutraut, das voll geteilte absurde Ideal eines krisenverhindernden Kreditsystems vielmehr nur bei vollständig deregulierten Finanzkapitalisten gut aufgehoben sieht; umgekehrt läßt sich wiederum leicht darauf verweisen, daß die freien Kreditmärkte derzeit eben diesen Dienst schuldig bleiben. Wie richtig oder falsch sie sein mögen, das ist bei den in Bonn und Paris „angedachten“ Besserungsideen aber sowieso nicht das Entscheidende. Was sie auf alle Fälle ausdrücken, ist der Wunsch nach einem IWF neuer – oder ganz alter – Art, der die internationalen Geld- und Kreditverhältnisse insgesamt neu ordnet und einem effektiveren Regime unterwirft – also, negativ, eine Absage an das bisherige Wirken des Fonds und dessen Ergebnisse. Und darin steckt immerhin die Härte, daß unter die bisherigen Geschäftsverhältnisse zwischen den Nationen und die Paritäten zwischen ihren Währungen insgesamt ein Schlußstrich gezogen, die aufgelaufene Masse unbedienbarer Schulden saldiert und jedes Weltgeld neu bewertet werden sollte. Es würde also genau das, und zwar als politischer Beschluß der maßgeblichen Weltwirtschaftsmächte, umfassend und bis zur letzten Konsequenz durchgezogen, was das Finanzkapital gerade in ein paar Fällen praktiziert und womit es bereits etliche Standorte in eine akute Zahlungskrise gestürzt hat: ein Abrechnung zwischen den Nationen.
Einstweilen bleibt es stattdessen bei dem unaufgelösten Widerspruch zwischen nationalem Konkurrenzinteresse und Kooperationsbedarf bei der Kreditierung des Fortgangs der weltweiten Konkurrenz. Allerdings kann nicht davon die Rede sein, daß die großen Weltgeldnationen sich mit diesem Zustand abfinden würden. Schließlich kostet er sie ihr gutes Geld – und wenn auch nicht wirkliche Haushaltsmittel, die dann anderswo fehlen, so sehen sie eben doch durch die unproduktive Aufblähung des auf ihre Währung lautenden Weltkredits deren Qualität beeinträchtigt. Und wenn dagegen schon nichts hilft, so bleibt immer noch eins: eine neue kritische Kosten-Nutzen-Analyse; eine unvoreingenommene Bilanz der Schäden, die ihnen einerseits aus dem sicheren Ruin gewisser Schuldnerländer, andererseits aus der Verschleuderung ihres guten Geldes für deren – dann doch nicht gesicherte – Rettung entstehen; eine Bestandsaufnahme, in welchem Umfang man von auswärtigen Krisen überhaupt wirklich betroffen ist. Schon das Bedürfnis nach einer solchen Prüfung verrät das Interesse; und das Ergebnis sieht dann auch entsprechend aus: Manche Weltwirtschaftsmacht sieht sich von der Weltwirtschaft, zumindest großen Teilen derselben, nicht übermäßig tangiert und ganz gut gerüstet, um ein bißchen mehr auf eigene Rechnung weiterzuwirtschaften. Am deutlichsten sind diese Töne derzeit in der EU zu vernehmen: Da gratuliert man sich zur neuen Einheitswährung, die ihre erste Bewährungsprobe gut bestanden habe, noch bevor es sie überhaupt gibt – tatsächlich wird es schon so sein, daß der definitive Beschluß einer Währungsunion den europäischen Staaten einen erneuten spekulativen Test auf die Haltbarkeit der schwächeren Gemeinschaftswährungen erspart hat. Aus dem Befund wird gleich eine Art Programm: Mit dem Euro und seinem großen Binnenmarkt wäre Europas Wirtschaft eigentlich schon bedient. Der Anteil des Exportgeschäfts am Gesamt-Bruttosozialprodukt der Union wird auf schlappe 10% heruntergerechnet; erst recht verschwindend nehmen sich die Wirtschaftsbeziehungen zu den Krisenländern aus, infolge des Zusammenbruchs dort sei schlimmstenfalls mit einer Minderung des Wachstums um 0,5%-Punkte zu rechnen. So verrückt die meisten dieser Rechnungen sein mögen: Der politische Wille, der ihnen zugrunde liegt, ist nicht mißzuverstehen. Das Dementi eigener größerer Betroffenheit drückt klar die Absicht aus, die Einbrüche im Weltgeschäft als wirklich bloß lokale Ereignisse zu behandeln, die Europa weiter nichts ausmachen dürfen; schon gar nicht soviel, daß man auch nur unter den Gesichtspunkten der Schadensvermeidung und der Gefahrenabwehr größere Summen für verlorene Kredite übrig haben müßte – selbst im besonders verflochtenen deutsch-russischen Verhältnis hat der neue Kanzler bei erster Gelegenheit diesen distanzierten Ton angeschlagen. Fast klingt manches so, als wollten Europas weltoffene Finanzpolitiker nicht gelten lassen, was sie unter dem Stichwort „Globalisierung“ immer verkünden. Die US-Kollegen hören die Tendenz, sich vom Problem der Zahlungsfähigkeit bankrotter Nationen zu dispensieren, natürlich gleich heraus, warnen deshalb Europa vor einem neuen „Protektionismus“ und betonen die universelle Bedeutung eines Krisenfalles wie Brasilien, der deshalb keinesfalls eintreten darf – nachdem sie selber in der Kritik des IWF vorangegangen sind und mit ihrer Theorie vom „moral hazard“ die Maxime aufgestellt haben, schon aus sittlichen Gründen dürfe amerikanisches Geld nicht länger leichtfertig verborgt werden. Derweil verlangt man in Japan in Form höflicher Grußadressen an die neue europäische Weltwährung eine größere Bereitschaft ihrer politischen Manager, dem Schwinden weltweiter Zahlungsfähigkeit entschieden entgegenzuwirken…
Die führenden Weltwirtschaftsmächte gehen eben alle davon aus, daß es ihnen nichts nützt und ihrem Geld nur schadet, wenn sie es weiterhin auch in den jetzigen Krisenzeiten nach den bislang geltenden Regeln schaffen und weltweit verleihen lassen. Selber behalten, damit es stark bleibt: das ist ihr geldpolitisches Gebot der Stunde, auch wo sie sich dann doch zu milliardenschweren Interventionen entschließen. Um es zu bewahren, scheint es ihnen nicht mehr abwegig, auch einmal richtige Staatsbankrotte in Kauf zu nehmen. Dann haben sie am Ende ein gutes Geld – das sich nur dummerweise in der großen weiten Welt nicht mehr vermehrt…
4.
Selbst diese reizvolle Perspektive ist im Gespräch. Es sind die obersten Geldhüter der freien Welt höchstpersönlich, die in diesem Sinne deutlich werden, wenn sie der Weltwirtschaft eine Warnung und einen Trost mit auf den Weg geben: Sie warnen vor der Gefahr einer Deflation und verkleinern sie sogleich zu einem bloßen „Gespenst“ aus der Zeit vor 70 Jahren, weil schließlich niemand vorhätte, die „Fehler von damals“ zu wiederholen und in eine lehrbuchgerechte Weltwirtschaftskrise hineinzustolpern.
Nun ist es schon etwas kühn, die damalige Krise als eine Kette von Mißgriffen (weg-) zu erklären. Aber wenn schon, dann gehört zu den Maßnahmen, mit denen „die Fehler von 29“ ein für allemal verhindert und neue Krisen unmöglich gemacht werden sollten, die Einrichtung des IWF: eines nach festen Regeln verfahrenden internationalen Kreditierungswesens zur Vorbeugung gegen Geschäftsabbruch infolge Zahlungsklemme, gegen Protektionismus als defensive, Abwertungswettlauf als offensive Waffe in der Krisenkonkurrenz der Nationen. Mit eben diesem wunderbaren Instrument haben sich nun die großen und kleinen, die erfolgreichen und eher erfolglosen nationalen Kapitalstandorte in die kritische Lage hineingewirtschaftet, in der auf allen Ebenen Kreditvermehrung und Kapitalwachstum auseinanderfallen, Gelder in Gefahr geraten und neue „Lösungen“ verlangt sind.
Und welche könnten das sein? Deflation jedenfalls nicht – dekretieren die verantwortlichen Währungshüter und meinen damit offensichtlich nicht etwa das gute und nützliche Gegenteil des altbekannten „Krebsübels“ der Inflation, sondern einen nicht minder beklagenswerten Zustand des Geldes: eine derartige Stabilität und sogar zunehmende Kaufkraft der nationalen Zahlungsmittel, daß immer weniger davon in Umlauf kommt und folglich kein Wachstum mehr stattfindet, die Wirtschaftsleistung sogar insgesamt zurückgeht. Als gelehrte Menschen bringen sie es also fertig, den Krisenverlauf der Weltwirtschaft am Geld auszudrücken, als dessen „übermäßige“ Härte – so daß alles schön auf dem Kopf steht: Wo tatsächlich die Lage die ist, daß der Kredit kein kapitalistisches Wachstum mehr bewirkt und folglich unter den Instanzen, die für die Inszenierung eines solchen Wachstums zuständig sind und ihre Kreditsysteme entsprechend aktivieren, der Standpunkt um sich greift, die Reduzierung des Kredits wäre die beste Art, den Wert ihres Geldes zu erhalten, da belehrt das Stichwort ‚Deflation‘ dahingehend, daß in Wirklichkeit das zurückgehaltene Geld mit seinem übertriebenen Wert der Grund dafür wäre, daß nichts mehr läuft – ein Quid-pro-quo aus dem Geist der Verantwortung, die sich die Hüter und Manipulateure des nationalen Geldes und Kredits nicht streitig machen lassen. Einen solchen bedenklichen bis schädlichen deflationären Zustand ihrer Weltgelder sehen die Hauptverantwortlichen derzeit einerseits nicht gegeben, die Gefahr andererseits aber schon. So lassen sie also eine Warnung los, die das logische und ideologische Kunststück fertigbringt, das Eingeständnis, wie es ums Wachstum des kapitalistischen Reichtums bestellt ist, als Möglichkeit auszudrücken, die die Verfassung ihres Geldes bedroht.
Eines ist also durchaus schon so wie 29: Alle Nationen sind mit der Rettung ihres Geldes befaßt. Wenn das kein gelungener Scherz ist…
[1] Vorangegangene Episoden sind behandelt in GegenStandpunkt 4-97, S.161: Börsenkrach und Währungsturbulenzen in Ostasien; GegenStandpunkt 1-98, S.191: Acht Bemerkungen zur ostasiatischen Krise des Weltkreditsystems; GegenStandpunkt 3-98, S.117: Drei Anmerkungen zur ‚Japan-Krise‘.
[2] Alles Wissenswerte zur Frage, wie das funktioniert, und überhaupt eine ausführlichere Darstellung des ganzen Metiers steht in dem Aufsatz zur seinerzeitigen Baring-Pleite in GegenStandpunkt 2-95, S.24: Geschäfte mit Optionen und Futures: Spekulation auf die Spekulation. Für alles nicht Wissenswerte und praktische Tips nerve man seine Bank oder Sparkasse.
[3] Alles Nötige über Zweck, Durchführung sowie den nationalökonomischen Nutzen derartiger „Megamergers“ steht in dem so betitelten Aufsatz in diesem Heft. Hier geht es nur um die Ironie der Geschichte: was Konkurrenzstrategen alles tun, um Marx’ Theorie über den tendenziellen Fall der Profitrate praktisch wahr zu machen.
[4] Alles Nähere zu diesem trüben Kapitel des modernen Imperialismus steht in dem versprochenen Sonderheft des GegenStandpunkt über Rußland.