Die Realität des „regionalen Flächenbrands“
Israel schafft sich und der Welt einen neuen Nahen Osten
Was macht die neue Qualität des Gewaltgeschehens aus, das Israel in Auseinandersetzung mit seinen Gegnern seit einem Jahr vorantreibt? Israels Führer sind selber von Herzen uneinig über das, was sie da ins Werk setzen, über die Konsequenzen und Perspektiven sogar bis an den Rand der Feindseligkeit zerstritten; und zwar nicht trotz der Lage, in die sie ihre Nation und die umgebende Region stürzen, die „eigentlich!“ doch nationale Geschlossenheit fordert, sondern exakt darum: Der eskalierende nationale Streit, den sich Israels politische und militärische Führung und ihr jeweiliger Volksanhang liefern, zeugt seinerseits, ist nämlich Teil davon, dass diese Nation mit ihrem Regionalkrieg einen imperialistischen Fortschritt neuer und eigener Art macht.
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Systematischer Katalog
Gliederung
- 1. Israels Gaza-Krieg
- 2. Israels Libanon-Krieg und seine Erweiterung auf Syrien, Irak und den Jemen
- 3. Israels kriegsgestützter Umgang mit den anderen staatlichen Mächten des Nahen Ostens
- 4. Israels Umgang mit der restlichen, an seinem Krieg interessierten Staatenwelt
- Fazit
- 5. Israels militärische Konfrontation mit Iran und ihr unauflöslicher Widerspruch
Die Realität des „regionalen Flächenbrands“
Israel schafft sich und der Welt einen neuen Nahen Osten
So mancher beobachtet so manche Neuheit an dem Kriegsgeschehen, das seit Herbst vergangenen Jahres im Nahen Osten abläuft: Die einen betonen, dass noch nie so viele Palästinenser im Rahmen eines einzelnen der zahlreichen Kriege Israels umgebracht worden sind; die anderen legen Wert auf die Feststellung, dass noch nie so viele Israelis an ein, zwei Tagen von feindseligen Arabern getötet worden sind und auch seither der israelische Bodycount bisher ungewohnte Ausmaße annimmt; Kenner israelischer Luftabwehrpotenzen betonen, dass so viele Raketen wie nie zuvor auf Israel abgeschossen werden und dort tatsächlich ihr Ziel erreichen und eine Rückkehr zur zivilen Normalität wirksam verhindern; wer sich von noch höherer Warte für die Perspektiven einer ‚Zwei-Staaten-Lösung‘ nach dem Krieg interessiert, muss registrieren, dass Israel noch nie so gründlich alle sachlichen Voraussetzungen und Minimalbedingungen eines staatlichen oder überhaupt eines Lebens im für besagte Lösung vorgesehenen Gazastreifen auf Jahrzehnte hinaus zerstört hat; wer die wirksame Abschreckung Irans zum Objekt seiner Sorge erklärt, kommt nicht umhin zur Kenntnis zu nehmen, dass sich Israel zum allerersten Mal überhaupt direkt mit Iran einen Raketen- und sonstigen Luftwaffenschlagabtausch liefert; wer der Vorstellung von einem Israel als ‚safe haven‘ für alle Juden auf der Welt anhängt, muss nun konstatieren, dass Israel der unsicherste Ort für Juden weltweit geworden ist; usw.
Keine der Beobachtungen ist falsch; ein zutreffendes Urteil darüber, was da seit geraumer Zeit im Nahen Osten abläuft, sind die teils erschrocken, teils hämisch, teils distanziert interessiert zur Kenntnis genommenen bzw. gegebenen quantitativen Gewaltsuperlative aber auch nicht. Zu klären bleibt, was die neue Qualität des Gewaltgeschehens ist, das Israel in Auseinandersetzung mit seinen Gegnern seit einem Jahr vorantreibt. Die Auskünfte, die man diesbezüglich von Israels Führern bekommt, sind hierfür nur bedingt hilfreich. Diese Herrschaften sind selber von Herzen uneinig über das, was sie da ins Werk setzen, über die Konsequenzen und Perspektiven sogar bis an den Rand der Feindseligkeit zerstritten; und zwar nicht trotz der Lage, in die sie ihre Nation und die umgebende Region stürzen, die „eigentlich!“ doch nationale Geschlossenheit fordert, sondern exakt darum: Der eskalierende nationale Streit, den sich Israels politische und militärische Führung und ihr jeweiliger Volksanhang liefern, zeugt seinerseits, ist nämlich Teil davon, dass diese Nation mit ihrem Regionalkrieg einen imperialistischen Fortschritt neuer und eigener Art macht.
1. Israels Gaza-Krieg
a)
In den vergangenen Jahrzehnten hat Israel eine Art Koexistenz mit der als Terror-Organisation geächteten Hamas praktiziert. Auf Basis seiner unzweifelhaften totalen militärischen Überlegenheit und unter der Prämisse, dass dem Programm einer palästinensischen Staatsgründung nicht die geringste Aussicht auf Verwirklichung eingeräumt wird, hat es sich militärisch und zivil aus dem Streifen zurückgezogen und einen nahezu perfekten Sperrriegel eingerichtet. Unter Ausnutzung einer von den Palästinensern selbst bewerkstelligten politischen Spaltung hat es das Landstück samt Bevölkerung und herrschendem Establishment aus der Besatzungsdiplomatie ausgeklammert, die es in Bezug auf das Westjordanland und die dort von ihm geduldete Autonomiebehörde pflegt; es hat sich die faktische Herrschaft über die Grenzen des Gazastreifens und alle legalen Grenzübergänge gesichert und nach ausschließlich eigenen Berechnungen den legalen Verkehr zwischen dem Streifen und der Außenwelt zugelassen oder unterbunden. Der Hamas hat Israel in keiner Hinsicht rechtlich, aber faktisch zugestanden, sich um die Palästinenser, mit denen es selbst programmatisch nichts zu tun haben will, zu kümmern und unter denen für eine unter den gegebenen Umständen auch Israel dienliche Ordnung zu sorgen; ansonsten hat es ihr jeden Status eines unter welchen Vorbedingungen auch immer politisch verhandlungs- oder auch nur administrativ absprachewürdigen Gegenübers verweigert. Die einzigen Formen eines offiziellen diplomatischen Umgangs mit dieser Organisation waren auf die stets indirekten Verhandlungen über Dritte beschränkt, wenn es galt, Phasen unmittelbarer bewaffneter Auseinandersetzungen zu beenden. Solche waren regelmäßig fällig als integraler Bestandteil der Lösung des israelischen Hamas-Problems als Dauerveranstaltung: Aus unterschiedlichen Anlässen hat Israel den Gazastreifen mit seiner Luftwaffe und land- bzw. seegestützter Artillerie beschossen, militärische und zivile Substanz im Gazastreifen zerstört und jeweils ein paar Tausend Gaza-Palästinenser sterben lassen, um in jede Richtung klarzustellen, dass das von Israel auf diese Weise territorial ab- und eingegrenzte und unterdrückte politische Programm der Hamas und diese selbst absolut illegal sind und ihre Existenz mit den Opportunitätskalkulationen Israels steht und fällt.
Was für Israel kein gutes, aber im Großen und Ganzen funktionierendes Arrangement seines Gaza-Palästinenser-Problems war – und für die Bevölkerung ein unabsehbares Elend –, das hat die Hamas für ihren politischen Zweck genutzt. Mit ihrem De-facto-Regime über das bisschen Land und seine 2 Millionen Einwohner hat sie eine Art Staat in Gründung geschaffen und eine Untergrund-Quasi-Militärmacht aufgebaut. Mit der hat sie im Oktober ’23 zugeschlagen: Israels so perfekt gesicherte Grenze überschritten, ein demonstratives Massaker verübt, außerdem Raketen aufs israelische Kernland abgeschossen und über 200 Leute als Geiseln genommen. Der unmissverständlichen Absicht nach hat sie damit Israel den Krieg erklärt: einen Staatsgründungskrieg aus dem Status beinahe totaler militärischer Unterlegenheit, buchstäblich aus dem Untergrund heraus.
Tatsächlich hat Israel darauf zuerst auch wie auf den Angriff eines Feindstaats reagiert, mit Vernichtung der Invasoren und einem Luftkrieg gegen militärische Stellungen und andere lohnende Ziele in Hamas-Land. Dabei ist es allerdings schon von Beginn an nicht wirklich darum gegangen, mit vernichtenden Schlägen gegen die menschlichen und sachlichen Mittel und Ressourcen einer feindlichen Militärmacht deren – bedingungslose – Kapitulation zu erzwingen. Den Status einer zu entmachtenden Herrschaft hat Israel der Hamas nie und nach ihrem großen Überfall schon gleich nicht zugebilligt. Es hat nicht gegen eine feindliche Armee Krieg geführt, sondern der erklärten Absicht nach eine Vernichtungsaktion gegen eine Bande von Terroristen gestartet. Dabei war das Etikett ‚Terrorismus‘ nie bloß als moralische Rechtfertigung des eigenen kriegerischen Terrors gemeint, sondern ganz praktisch als Richtlinie für den Auftrag, Todfeinde der staatlichen Hoheit, somit der Existenz Israels überhaupt, zu eliminieren; so unbedingt und kompromisslos eben, wie ein Staat – ein jeder – gegen innere Feinde seines Gewaltmonopols vorgeht: Die müssen mitsamt ihrer staatsfeindlichen politischen Gesinnung ausgeschaltet und für ihr Aufbegehren bestraft werden, um die verletzte Hoheit der Höchsten Gewalt rechtsförmlich wiederherzustellen. Nur eben mit dem entscheidenden Unterschied, dass die Hamas gerade keine innerisraelische Terrortruppe ist, sondern eine äußere Macht. Aber aus israelischer Sicht erst recht kein Staat mit einem eigenen Recht auf Militär und Krieg; vielmehr so etwas wie eine NGO ungesetzlicher Kämpfer, als solche definiert durch Israels Beschluss der absoluten Unvereinbarkeit zwischen dem von der Hamas militant vertretenen palästinensischen Staatswillen und der staatlichen Existenz Israels; ein Haufen Outlaws mit einem staatenlosen Volk als Massenbasis.
Was an Zerstörungswillen und ausgesuchter Rücksichtslosigkeit der IDF (Israel Defense Forces) im Gaza-Streifen – und seit längerem auch im Libanon – zu besichtigen ist, sind die Konsequenzen der hybriden kriegerischen Terrorvernichtungsaktion, die die Netanjahu-Regierung in Auftrag gegeben hat, um besagten längst gefassten Unvereinbarkeitsbeschluss definitiv, endgültig, wirklich ein für allemal in die Tat umzusetzen. Logischerweise gibt es für diese Tat kein Kriegsziel von der Art der früheren israelischen Staatsgründungskriege, wie Eroberung von Land und Vertreibung der Bevölkerung, um es nachhaltig in Besitz zu nehmen. Mit der totalen Ächtung aller irgendwie fassbaren Befehlshaber des Hamas-Militärs als absolut verhandlungsunwürdige Terroristen ist überhaupt die Beendigung des Krieges durch die Kapitulation einer befehlshabenden Autorität ausgeschlossen. Und das nicht nur im Prinzip und der israelischen Absicht nach: Mit der gezielten Tötung aller Verantwortlichen und verantwortlich Gemachten aufseiten der Gaza-Palästinenser wird ein derartiges Kriegsende absichtsvoll unmöglich gemacht. Was Israel an Vernichtungsaktionen unternimmt, ist damit auf Dauer gestellt, die Dauer ganz ins Belieben der israelischen Führung; nur konsequent, dass die jede wohlmeinende – und erst recht jede kritisch gemeinte – Aufforderung ins Leere laufen lässt, sie möchte doch mal ein realisierbares Kriegsziel oder Bedingungen für ein Kriegsende angeben. Der Zweck der Terrorvernichtung durch Krieg ist eben so lange nicht erreicht, wie sich in dem zerstörten Landstreifen noch ein wie auch immer organisierter Staatsgründungswille rührt, den Israel nach seinem freien Ermessen als Anschlag auf seine Existenz einstuft.
Außer Kraft oder vielmehr gar nicht erst in Kraft gesetzt ist mit diesem Kriegszweck jede auch nur ideelle Unterscheidung zwischen bewaffneten feindlichen Kräften und Zivilbevölkerung. Wo es aus israelischer Sicht keine irgendwie anzuerkennende regierende Autorität gibt, da gibt es auch kein Staatsvolk, auf das sich kriegs- und womöglich nachkriegsmäßige Kalkulationen richten würden oder gar das Kriegsrecht mit seinen Vorschriften zur Schonung einer militärisch nicht aktiven Einwohnerschaft anzuwenden wäre, sondern nur eine Menschenmenge, in der der auszulöschende Terroristenhaufen sich schändlicherweise versteckt. Deswegen kann es da auch keine Rücksichtnahme geben, sondern nur Kollateralschäden, die die bekämpften Politverbrecher zu verantworten haben. Auch errichtet Israel, ebenso folgerichtig, kein Besatzungsregime über diese Landesbewohner, das für den Besatzer mit Abwägungen in Bezug auf irgendeine Minimalversorgung der Leute einherginge, denen er sich in Form eines Besatzungsrechts verpflichten würde: Die Armee ist ja nicht zum Erobern oder Entmachten, sondern allein in der Mission ‚Terroristen jagen, fangen, ausschalten‘ unterwegs. Sie fungiert nicht als Ersatz für eine entmachtete Regierung, weil es eine solche ja nie gegeben hat; eine de facto zuständige Autorität wie die jahrzehntelang in dieser Funktion geduldete Hamas-Administration gibt es auch nicht mehr, soll und darf es auch nicht mehr geben, weil die Duldung ja gerade der Fehler war, den Israel sich seit dem Oktober ’23 nicht mehr verzeiht. Die Versorgungsfunktionen, die der Hamas-Apparat allenfalls noch erledigt, entfallen damit auch: Alle Hamas-Aktivitäten, auch die, fallen unter das Verdikt ‚Terrorismus‘. Und wenn auswärtige Helfer sich an der Gazawi-Ernährung zu schaffen machen, begegnen sie dem schwer auszuräumenden Bedenken, letztlich würden sie damit doch nur Israels gerechten Antiterrorkampf behindern.
Ein Volk ohne Rechtsstatus, unter keinerlei verantwortlichem Regime, gnadenlos bombardiert, wo immer Israels tüchtiger Geheimdienst einen illegalen Kämpfer ausfindig gemacht haben will, und beiseitegeräumt, wo es stört: wie das überleben kann, das ist, nach der menschlichen Seite hin, die Versuchsanordnung, die Israel mit der offensiven Beendigung seiner feindlichen Koexistenz mit der Hamas als De-facto-Verwaltung des Gaza-Streifens hergestellt und auf Dauer gestellt hat.
Darüber leistet sich Israel einen der Sache angemessenen innenpolitischen Streit.
b)
Im Prinzip seit Beginn des Krieges streitet sich Israel um die Geiselfrage, wobei sich der Charakter der Querelen mit den Fortschritten des Krieges verändert hat. Aufgebracht vor allem von den Angehörigen der Geiseln hat der sich am Anfang darum gedreht, was für Zugeständnisse Israel der Hamas machen soll, um möglichst viele der Geiseln möglichst schnell zurückzubekommen. Das ist Geschichte. Wie auch immer es die Angehörigen sehen mögen, der Streit steht nun für etwas anderes: Praktisch dementiert ist jeder falsche Schein, was israelische Staats- und Schutzmachträson gegenüber den eigenen Bürgern bedeutet und was nicht, durch den Fortschritt Israels bei der Bekämpfung der Hamas und den politischen Fortschritt des Verhältnisses zu den Palästinensern überhaupt, der nun vollzogen und von Netanjahu verantwortet wird. Was – zum Unverständnis bzw. zur Empörung von Teilen der israelischen Öffentlichkeit – die Befreiung der Geiseln per Verhandlung tatsächlich unmöglich macht, das ist die neue Unbedingtheit, mit der ein irgendwie – und sei es nur in ganz kriegsimmanenten Fragen – wirksames Arrangement mit der zur Vernichtung ausgeschriebenen Hamas und ihrem Anhang ausgeschlossen ist. Zu ihrem sehr absehbaren Schicksal werden die restlichen Geiseln durch die neue Linie Israels verdammt, dessen Führung in ihre Selbstkritik praktisch – und bei Gelegenheit in aller Öffentlichkeit ausdrücklich – auch ihre nunmehr ad acta gelegten Verhandlungsstrategien einbegreift, mit denen sie zwar früher so manchen Bürger wieder heimgeholt, aber dem Gegner auch die Atempausen und politisch die Anerkennung verschafft hat, die jetzt nicht mehr infrage kommen dürfen. Eine Rückkehr der Geiseln gibt es entweder als Ergebnis der oder Beitrag zur Vernichtung jedes politischen Palästinawillens oder gar nicht; das ist die Zumutung, die die neue Dimension des antipalästinensischen Krieges dem bisher etwas anderes gewohnten Volk bzw. Teilen von ihm bereitet, also die Lektion, die israelische Menschen jetzt über die Essentials ihres Staatsbürgerdaseins zu lernen haben.
In ganz anderer Weise reiben sich militärische bzw. alternative politische Führer an dem Fortschritt, den Netanjahu seinem Land verordnet. Aus borniert militärischer Sicht ist das politische Kriegsziel nämlich unmöglich zu bewerkstelligen und der Versuch, es dennoch zu erreichen, eine Vergeudung wertvoller militärischer Potenzen. Auch dafür stand u.a. der nunmehr entlassene Verteidigungsminister Gallant: Vom Standpunkt des politischen Militärs braucht es ein klares operatives bzw. operationalisierbares Kriegsziel, ausgedrückt als Forderung nach fixier- und überprüfbaren Bedingungen für ein Kriegsende. Genau das ist mit dem objektiven Fortschritt, den Israels Feind- und Selbstdefinition im Verlaufe des Krieges macht, so nicht zu haben, und daran stören sich die Vertreter des prominent von Gallant personifizierten Standpunkts. Mal sehen sie militärische Ahnungslosigkeit, mal politische Selbstsüchtigkeit des Premiers im Spiel, wenn der seine politische Hoheit über den israelischen Militärapparat dafür benutzt, den Gazastreifen in ein Trümmerfeld zu verwandeln, auf dem Palästinenser in Zukunft nicht nur ohne Aussicht, sondern auch ohne jede noch so machtlose Ambition auf einen Staat Palästina hausen sollen. Das sei nie und nimmer militärisch erreichbar, lautet die professionelle Kritik an der neuen Generallinie, so als ob es sich bei der um eine militärische Fehlkalkulation handelte. [1] Wer sich schwertut, dem Übergang zu folgen, den Netanjahu anführt, wer sich dabei an vergangenen Kriegen orientiert und die in deren Zuge auch an den geringen eigenen Opfern bewiesene Überlegenheit Israels zum Maßstab nimmt, der macht – was inzwischen zum guten Ton dieser Abteilung Opposition gehört – auch und gerade die steigenden Zahlen toter und verletzter IDF-Leute zum Argument: So wird der politische Streit in die angemessen verlogene Frage überführt, ob die eigenen Toten die Notwendigkeit des Krieges belegen, die Nation und ihren Führer adeln, oder ob sie Konsequenz und damit Ausweis eines Krieges sind, der sinnlos wird, wenn er kein gebührendes Ende findet.
Um den neuen Status, den sich Israel im Verhältnis zu seinen Palästinensern seit einem Jahr per Krieg verschafft, streiten sich seine Fraktionen auch entlang der heißen Frage, wie nach dem Krieg mit dem Gazastreifen umzugehen sei. Netanjahu lehnt diese Frage als solche ab – und zwar dadurch, dass er allen bestimmten Antworten darauf eine Absage erteilt. Gegeben werden diese Antworten selbstverständlich trotzdem, und auch sie zeugen davon, dass sich die israelische Nation in eine neue Phase ihrer staatlichen Existenz hineinbombt und -schießt. Zum einen von denen, die sowieso noch nie verstanden haben, warum Israel seine Besatzungstruppen aus dem Streifen seinerzeit überhaupt abgezogen und im Zuge dessen sogar die dort schon errichteten Siedlungen wieder aufgegeben hat. Die sehen sich durch die militärischen Entwicklungen bestätigt, denen sie entnehmen, dass ohne eine dauerhafte militärische Präsenz der Gazastreifen gar nichts anderes sein bzw. demnächst wieder werden kann als ein Hort antiisraelischer Militanz. Das verknüpfen sie mit größter Leichtigkeit mit der Logik, nach der ihr feines Land schließlich überhaupt entstanden ist: Eroberung und Bewachung für Besiedlung, Besiedlung für die Bewachung und Sicherung alles Eroberten. [2] Und folgerichtig sind mit oder ohne Altes Testament auch Teile der Regierung dafür, den Gazastreifen wieder zu besiedeln. Prompt melden sich zum anderen aus der Regierung oder von Parteien der demokratischen Opposition sowie aus dem Militär Widersacher zu Wort, die in einem solchen Szenario eine Fesselung militärischer, ökonomischer, politischer Potenzen sehen, die doch durch den Abzug von vor zwanzig Jahren gerade so schön überwunden wurde. Sie sehen die Gefahr, dass Israel auf die Weise endgültig zu einem von religiösen Fanatikern beherrschten Staat wird, der seine herrlichen Gewaltpotenzen auf so archaische Dinge wie Blut und Boden konzentriert. Einen Staat Palästina sehen sie alle nicht mehr vor, und darum zerstreiten sie sich nur noch, aber dies umso heftiger, darüber, wie den Palästinensern die De-Nationalisierung des national definierten Kollektivs, zu dem Israel sie macht, beizubringen wäre – bzw. ob dies überhaupt möglich oder wegen der Beschaffenheit der arabischen Nationalseele nicht ein Versuch ist, der augenscheinlich in der Vergangenheit schon gescheitert ist, weil er scheitern musste. [3]
*
Die Frage, ob Israel mit seinem Antiterror-Krieg richtig liegt und alles richtig macht, wird nicht nur in Israel heftig diskutiert. Sie wird auch im interessierten Ausland gerne gestellt, um sie mit einer entschlossenen Parteinahme zu beantworten oder auch aus der Distanz bloß moralischer Betroffenheit mit einem wohl abgewogenen „teils – teils“. Eine andere Antwort – abgesehen von fachkundigen Beiträgen zum Erfolgsproblem – lässt die Frage auch gar nicht zu: Sie zielt auf gute Gründe für die Gewaltorgie, die ihr zuzubilligen sind oder nicht.
Es bleibt die Frage, warum Israel auf den Hamas-Überfall so reagiert, wie es das schon mehr als ein Jahr lang tut. Dass der angegriffene Staat reagiert, kann nicht die Antwort sein. Eher schon, dass er als nationaler Gewaltmonopolist, der seinem Volk inmitten eines unfreundlichen bis feindlichen Umfelds Unverwundbarkeit versprochen hat, durch den terroristischen Ausbruch der Hamas aus ihrem total eingezäunten Streifen eine Blamage erlitten hat, die durch einen absolut unverhältnismäßigen Vernichtungsschlag quasi ungeschehen gemacht, moralisch gesehen gerächt werden muss. Aber so ist es ja nicht, dass dieser Staat mit seiner unendlich überlegenen Militärmacht zu der x-fach wiederholten Verwüstung des kleinen Landstreifens am Mittelmeer mit zehntausenden toten Gazawi, und das als Open-End-Veranstaltung, durch den insoweit längst bewältigten Gewaltakt der Hamas genötigt wäre.
Der Regierungschef gibt mit der Rechtfertigung seiner Unerbittlichkeit auf die Warum-Frage jedenfalls eine weiterführende Antwort. Die lautet Iran. Und das ist so gemeint und deswegen auch ernst zu nehmen, dass Israels Todfeindschaft gegen diesen Staat nicht die Konsequenz aus dem vom Iran gesponserten Kriegsversuch der Hamas ist, sondern Israels Dauerkrieg gegen diesen geächteten und eingezäunten Störfaktor Teil einer Offensive gegen den Hauptgegner einer israelischen Diktatfriedensordnung in der und für die Region. Nach der Logik geht die Netanjahu-Regierung jedenfalls vor, weitet den Gaza-Krieg immer weiter auf die Umgebung aus – Anlässe finden sich, und wenn nicht, werden sie provoziert – und blamiert alle Warnungen vor einem „Flächenbrand“, der unbedingt zu vermeiden sei: Sie macht ihn.
Das ist sie der Sicherheit ihres Volkes schuldig.
2. Israels Libanon-Krieg und seine Erweiterung auf Syrien, Irak und den Jemen
a)
Militärisch findet diese Offensive vor allem an Israels nördlichem Frontabschnitt statt, und ihre Dimension wird zuallererst daran kenntlich, dass inzwischen mindestens der halbe Libanon unter die Kategorie „Nordfront“ fällt. Das israelische Vorgehen wird mit dem hinhaltenden Solidaritätsraketen- und -drohnenkrieg begründet, den die libanesische Hisbollah den IDF und dem mehrstufigen Luftabwehrschirm liefert, den Israel über sich aufgespannt hat. Als Kriegsziel wird die Rückkehr der offiziell 70 000 aus dem Norden des Landes evakuierten Israelis in ihre Ortschaften und Siedlungen verkündet; als entscheidende Bedingung dafür definiert Israels Führung die Dezimierung der Hisbollah, nämlich deren Rückzug nach Norden mindestens bis an den Fluss Litani sowie die Zerstörung ihrer Potenzen, sodass zu keinem Zeitpunkt in der Zukunft von diesem antiisraelischen Verein wieder eine Gefahr für Israel ausgehen wird. Dieser Kriegsanspruch wird peu à peu in die Tat umgesetzt, und alle eventuellen Ähnlichkeiten zum Krieg in Gaza sind ganz sicher kein Zufall. [4]
Politisch ist das bemerkenswert, weil dieser Gegner etwas anderes ist, ebenso wie das ‚Umfeld‘, in dem und aus dem heraus er agiert. Denn der Libanon ist zwar ein ‚failed state‘, aber eben ein Staat, dem auch Israel als solchem die Existenzberechtigung nicht abspricht. Seinen Ausschließlichkeitsanspruch auf Staatlichkeit fürs jüdische Volk, den Israel auf ganz Palästina erstreckt, hält es gegen Libanon nicht hoch; es hat sogar vor einiger Zeit im Zuge der Arrondierung von Besitzansprüchen in Bezug auf ein Gasfeld im Mittelmeer ein Seegrenzabkommen mit der Regierung des Libanon abgeschlossen, freilich ohne dass daraus der Beginn einer wunderbaren Staatenfreundschaft oder auch nur offizieller diplomatischer Beziehungen geworden wäre. Die gegenüber der Hamas zum Vernichtungsvorhaben gediehene Linie totaler Nichtanerkennung macht es nur gegenüber der Hisbollah geltend. Doch was heißt da schon ‚nur‘? Denn die Hisbollah ist inzwischen integraler Bestandteil der formell in Ämtern organisierten, periodisch auch gewählten staatlichen Herrschaft, zugleich stärkste Kraft innerhalb des andauernden Machtkampfes, der sich um den Zugriff auf die paar verbliebenen regulären wie die nicht so regulären Pfründen dreht, sowie Vertreter der größten libanesischen Volksgruppe – der Schiiten –, die die Hisbollah als ihre spezielle Machtbasis auch sozial betreut. Damit hat sie so viel Erfolg erzielt, dass sie auch in militärischer Hinsicht die wichtigste, von ihren innerlibanesischen Rivalen immer wieder angefeindete, aber praktisch nicht zu besiegende, geschweige denn zu beseitigende Macht im Libanon darstellt. Auf dieser Basis hat sie sich sowohl Bündnispartner innerhalb der politischen Eliten verschafft, deren Klientel andere Volksgruppen sind, als auch eine Popularität in der libanesischen Bevölkerung, die über den Kreis der Schiiten hinausgeht. Mit eigenen und iranischen Geldern hat es die Hisbollah zu einer gegen Israel gerichteten Aufrüstung gebracht, die der eines veritablen Staates zumindest nahekommt und deren antiisraelisch wirksames Rückgrat in einem beachtlichen Arsenal an Raketen unterschiedlicher Bauweise und Reichweite sowie Drohnen besteht. Diesen Gegner nimmt sich Israel nun nach einem Muster vor, als ob es bei ihm lediglich um eine etwas zu groß geratene Terrorbande ginge, deren rechtzeitige und gründliche Liquidierung die dafür eigentlich zuständigen Organe im Libanon ein bisschen zu lange versäumt hätten.
Israel trägt damit seine neue Entschlossenheit, sich mit keinem praktisch agierenden Gegner mehr zu arrangieren, aus der Sphäre seines territorial gegenüber allen anderen abgeschirmten Verhältnisses zu den im Zustand der Staatenlosigkeit gefangen gehaltenen Palästinensern in seine staatliche Nachbarschaft; und insofern ist dieselbe Linie in Bezug auf die Hisbollah etwas anderes und von einem exemplarischen Charakter eigener Art: Gegenüber der Hisbollah und an ihr kündigt Israel seine regionalpolitische Leitlinie der letzten Jahrzehnte. Die allen überlegene Militärgewalt Israels hat sämtliche arabischen Staaten der Region in den Zustand einer Abschreckung versetzt, mit dem die auf unterschiedliche Weise umgegangen sind: Manche haben sich in offiziellen Friedens- und Anerkennungsabkommen mit dem staatlichen Fremdkörper abgefunden, den Israel in der von ihnen als arabisch beanspruchten Region darstellt; andere haben sich zu einer Anerkennung nicht durchgerungen, aber sich praktisch jede Bekämpfung Israels abgeschminkt; wieder andere haben sich auf die mehr oder minder offene, mehr oder minder relevante Unterstützung nicht-staatlicher Palästinensergruppierungen verlegt, waren dabei immer weniger dazu aufgelegt, eine direkte Konfrontation mit Israel zu riskieren; und wieder anderen ist ihr antiisraelischer Elan dadurch abhandengekommen, dass sie sich in inneren Kriegen haben zerlegen lassen müssen... Diesen Zustand erfolgreicher Abschreckung aller staatlichen arabischen Gegner und Rivalen findet nun Israel selbst ungenügend. Anlässlich des auf den Libanon ausgeweiteten Gaza-Krieges behandelt es das bis dato hergestellte, gepflegte, durch gelegentliche Waffengänge erneuerte Ungleichgewicht des Schreckens im Nachhinein als Praxis einer nicht länger haltbaren strategischen Selbstbeschränkung.
Für die Hisbollah, von Netanjahu ausdrücklich als Beispiel für die neue Linie apostrophiert, [5] heißt das, dass sie sich aktuell auf eine Bekämpfung und auch perspektivisch auf ein Schicksal einzustellen hat, das dem in weiten Teilen ähnelt, was Israel für die Hamas und seine anderen Gegner aufs Programm gesetzt hat. Mit der Eliminierung der Führungsetagen und allen Personals, das von unten nach oben nachrückt, beschädigt Israel nicht nur die antiisraelische Kriegführungspotenz der Hisbollah, sondern räumt mit den politischen Führungskräften auch jeden potenziellen Ansprechpartner für irgendeine Kriegs- oder Waffenstillstandsdiplomatie ab; ihre Kämpfer werden gejagt, wo sie sich aus der Deckung trauen oder Israel sie in ihren Verstecken aufspürt, ihre Waffen- und Munitionsarsenale werden ausfindig gemacht und vernichtet, und auch ihre sonstige Infrastruktur wird Stück für Stück kaputt gemacht.
Damit verpasst Israel dem restlichen Libanon die Rolle eines gezielt und exemplarisch herbeigeführten staatlichen Kollateralschadens mehrdimensionalen Ausmaßes: Die Staatlichkeit wird Libanon nach wie vor nicht bestritten, sie wird ‚nur‘ unter die Bedingung gestellt, dass ihre Organe die Hisbollah, die ein Teil dieses Staates ist, so wirksam bekämpfen bzw. nach erfolgter Bekämpfung in Schach halten, dass Israel sich damit zufrieden geben will. Der Eindruck, dass Israel von der Kooperationsbereitschaft des libanesischen Staats abhängig sei, kommt dabei folgerichtig gar nicht erst auf, und auch allen internationalen Vermittlern macht Israel klar, dass ihre Aufgabe darin besteht, seine Ultimaten in Beirut vorzubringen, die nur die Alternative Erfüllungshilfe oder weitere Zerstörung zulassen. Geografisch heißt das fürs Erste, dass Israel im Süden Libanons die volle militärische Kontrolle und Bewegungsfreiheit erlangen und behalten will, für die es dort Stellvertreter oder Handlanger weder gebrauchen kann noch will, was der Forderung nach einer territorialen Zweiteilung des Libanon gleichkommt. Bezogen auf den Rest des Libanon praktiziert Israel seine totale Lufthoheit und verkündet das auch als Recht, besteht also auf der ungehinderten Freiheit zum Zuschlagen überall im Libanon. Ansonsten dürfen sich die in der Nordhälfte agierenden Protagonisten libanesischer Staatlichkeit daran abmühen, ihre christlich-katholische oder -orthodoxe, sunnitische oder drusische Feindschaft zur Hisbollah endlich in der Weise geltend zu machen, dass sie diesen ‚Staat im Staate‘ aus eigenem Interesse, aber nach israelischen Prüfkriterien militärisch entwaffnen und politisch an den Rand drängen.
Wenn sie durch diese Prüfung fallen, bevor sie sich an der abarbeiten; wenn die israelischen Bedingungen für eine Eingrenzung des Zerstörungswerks sich schon mit ihrer Formulierung als unerfüllbar erweisen, dann ist das zwar für den Libanon, seine größte schiitische und alle anderen Bevölkerungsgruppen schade, aber so ist der neue Sicherheitsfundamentalismus Israels nun einmal beschaffen: Er nimmt darauf schlicht keine Rücksicht. Und genau da liegt die exemplarische Bedeutung des militärischen Zerstörungswerks der IDF im Libanon, das von fürsorglichen Aufrufen selbst von Netanjahu persönlich begleitet wird, der das libanesische Volk per Fernsehansprache dazu ermuntert, sich von der Hisbollah zu befreien, damit in Zukunft israelische und libanesische Kinder in Frieden usw.: Am Libanon führt Israel allen anderen mehr oder weniger mächtigen bzw. funktionierenden Staaten in der Region vor, was ihnen blüht, wenn der Staat der Juden, der nur in Frieden leben will, zu dem Befund kommt, dass sich auf ihrem Territorium, in ihrer Ökonomie, in ihren staatlichen Strukturen Gegner Israels herumtreiben, mit deren Existenz Israel sich nicht mehr abfinden will. Und noch davor wird ihnen demonstriert, wie machtlos ihr Interesse am Libanon selber ist, ihr Bemühen um Einflussnahme auf eine der rivalisierenden bis verfeindeten innerlibanesischen Fraktionen: Sobald und soweit Israel das politische, ökonomische, volksmäßige Innenleben des Libanon zum Sumpf erklärt, in dem der Terror der Hisbollah gedeiht, bleibt ihnen nur, dabei zuzuschauen, wie dieses Objekt ihrer rivalisierenden Einflussversuche und damit jede potenzielle Nützlichkeit des Libanon bzw. von Teilen des Libanons für sie zerstört wird. Davor haben sie zu kapitulieren.
Im November wird unter dem Druck der USA [6] ein Waffenstillstand vereinbart, den Israel als Kapitulation seines Gegners definiert und so auch praktisch handhabt:
- Während die Hisbollah sich sofort hinter die vereinbarten Linien zurückzuziehen hat, verbleiben israelische Truppen bis auf Weiteres im Südlibanon und haben zwei Monate Zeit, ihren Rückzug zu vollenden. Für viele Ortschaften im Südlibanon ruft Israel nach Inkrafttreten des Waffenstillstands ausdrücklich ein Verbot der Rückkehr der Einwohner bzw. eine Ausgangssperre für die Verbliebenen aus.
- Offiziell kündigt Israel an, jeden Bruch der Waffenruhe mit eigener Gewalt zu beantworten, während die eigenen verbliebenen Truppen weiter auf Ziele in Städten und Dörfern im Südlibanon schießen, die offenbar auf der noch nicht abgearbeiteten Zielliste stehen.
- Ebenso verkündet Israel offiziell, dass es als Bruch des Abkommens nicht erst den erfolgten Einsatz von Waffen seitens der Hisbollah definiert, sondern alles, was seine Geheimdienste und Militärs als Vorbereitung dazu einstufen. Dafür besteht es auf „voller Bewegungsfreiheit“ im gesamten Südlibanon, die im Vertragstext nicht vereinbart und von der libanesischen Seite auch prompt dementiert wird.
- Auf die Garantieleistungen der Weltgemeinschaft, Abteilung UNO-Truppen, verlässt sich Israel nicht, sondern hat erfolgreich die USA als den wirklichen, praktisch vor Ort aktiven Garanten der Ent-Hisbollahisierung des Südlibanon ins Boot geholt. Und nicht nur des Südlibanon: Israel und die USA verkünden als entscheidende Aufgabe, auch die militärische und finanzielle Präsenz und Potenz der Hisbollah nördlich der Rückzugslinie konsequent weiter zu bekämpfen – parallel zu israelischen Ankündigungen, auch dort wieder militärisch zuzuschlagen, wenn es nötig erscheint.
- Mit Frankreich hat Israel auf europäischer Seite die am Libanon am meisten interessierte und praktisch allenfalls relevante Macht als zweiten Garanten seiner einseitigen Herrichtung Libanons zum Vorfeld seiner Regionalgewalt an seine Seite geholt. Und Macron, dessen in den letzten Monaten zunehmend bittere Beschwerden über die israelische Obstruktion jeder französischen Einmischungsambition in Gaza und Libanon Israel weltöffentlich ins Leere hat laufen lassen, erklärt sicher rein zufällig quasi zeitgleich mit der Verkündung des Waffenstillstands, für den sein großartiges Frankreich von Israel nun endlich als Mitpatron geduldet wird, dass seiner Meinung nach Netanjahu Immunität gegenüber allen Verfolgungen seitens des ICC genießt.
Und für alle interessiert humorigen Diplomaten und Kommentatoren, die angesichts dessen, was sie als ‚Waffenruhe‘ an Israels Nordfront begrüßen, von einem ‚Hoffnungsschimmer für Gaza‘ reden, betont Netanjahu mehrfach täglich, dass die Haupterrungenschaft des Abkommens darin besteht, dass Israel sich nun auf den verstärkten Kampf gegen die Hamas und die Eskalation mit Iran konzentrieren kann. So viel Frieden für die Bewohner Nord-Israels muss sein.
b)
Am Rumpfstaat Syrien, dessen Führer erst vor kurzem wieder damit beginnen konnte, die weitgehende regionale Isolierung zu überwinden, demonstriert Israel ebenfalls, dass eine staatliche Herrschaft in dieser Gegend sich entweder erfolgreich der Bekämpfung antiisraelischer Umtriebe verschreibt oder von Israel im Zuge seiner eigenen Terrorbekämpfung als Feind behandelt und nötigenfalls kaputt gemacht wird. Dass Assad die Hilfe der Hisbollah und anderer schiitischer, v.a. iranischer Milizen benötigt und benutzt, um sich seiner aus dem arabischen und westlichen Ausland finanzierten und ausgestatteten Gegner zu erwehren, schlägt nun so auf das von ihm offiziell regierte Syrien zurück, dass es von Israel zum erweiterten Schauplatz seines Libanonkrieges gemacht wird. Dass sich Assad mit seinen Truppen von jeder antiisraelischen Aktion zurückhält, weil er genug damit beschäftigt ist, die innersyrischen Verhältnisse unter Kontrolle zu halten, nützt ihm nichts: Seine Verbündeten sind es nun einmal, die sein Territorium für ihre Militanz gegen Israel nutzen. Und wenn er sie aus demselben Grund daran nicht hindern kann, aus dem er ihre Anwesenheit in seinem Land ja schließlich überhaupt nur zugelassen hat und weiterhin braucht – er ist mit seinen bewaffneten Kräften schlicht zu schwach, sich seiner Gegner zu erwehren –, dann schlägt Israel eben selber zu: im Prinzip in allen Teilen Syriens, wo es eine schiitische Regung ausmacht, die es präemptiv verhindert oder beendet. Dass es mit der Bombardierung der iranischen Botschaft in Damaskus auch die heiligen völkerrechtlichen Rechte des Gastgeberstaates verletzt, an ihm aller Welt vorführt, was seine Luftabwehr nicht vermag und sich seine Armee an Vergeltung nicht traut, reiht sich nahtlos ein in die israelische Linie, die Syrien sowieso bloß noch als Umfeld seines Libanonkrieges kennt. Israel nimmt sich daher sachgerecht die Freiheit, beide Länder als Abschnitte seines Krieges je nach eigenem Gutdünken zu verknüpfen oder voneinander abzuschotten: Als von der UN-Flüchtlings- und Hungerhilfe betreutes Auffangbecken für einen großen Teil derjenigen, die durch den Krieg im südlichen und östlichen Libanon fliehen sollen – ermuntert und angeleitet durch die aus dem Gaza-Krieg schon bekannten Aufrufe der israelischen Militär-PR –, ist Syrien ganz gut zu gebrauchen; als Nachschubreservoir für Hisbollah-Waffen und -Gelder muss man beide Staaten, deren Souveränität Israel praktisch zerstört, möglichst wirksam voneinander abtrennen. Dass die Hisbollah inzwischen einen Teil ihrer Kämpfer aus dem Südlibanon abgezogen hat, ist gut, dass sie sie nach Syrien verfrachtet, muss Israel mit immer heftigeren Schlägen auf dieses Nachbarland beantworten. Das trägt ganz wesentlich zu den Auseinandersetzungen bei, die momentan in Syrien toben. Die Tatsache, dass der prekäre innersyrische Nachkriegszustand nun – angeheizt durch die Flüchtlingsströme aus dem Libanon und fortgesetzten ökonomischen Zerfall – von den auswärtigen Paten des islamistischen Anti-Assad-Standpunkts und seinen innersyrischen Vertretern beendet und wieder in einen offenen Krieg überführt wird, nimmt sich vom Standpunkt des israelischen Sicherheitsfundamentalismus als klare Auftragslage aus: Verlangt ist offensives Einwirken, inzwischen mit der schon gelegentlich praktizierten Option, auch in diesem Land von den ohnehin besetzten Golanhöhen aus mit dem Einsatz eigener Bodentruppen dafür zu sorgen, dass die Kriegslage auch an diesem Frontabschnitt stets völlig unter israelischer Kontrolle bleibt. [7] Dem so gearteten strategischen Blick auf Syrien tut sich dann wie von selbst noch ein weiteres schönes Moment syrischer Zustände auf: Assad hat es nämlich unter anderem mit religiös-ethnischen Minderheiten zu tun, deren Lage sich womöglich von Israel ausnutzen lässt. In einer aus früheren Zeiten unbekannten Offenherzigkeit räsonieren israelische Strategen inzwischen darüber, ob bzw. wie sich Drusen und Kurden als fünfte Kolonnen gegen die fünften Kolonnen Irans in Stellung bringen, womöglich als Helfershelfer für eine Bodeninvasion im Süden Syriens benutzen lassen können. Auch dies zeugt von einem gewachsenen Anspruch Israels an sich selbst und hat wiederum exemplarischen Charakter: Die Gewaltauseinandersetzungen in seiner Region sind nicht zu fürchten als Treiber von Instabilität, die die überlegen kontrollierten Abschreckungsverhältnisse zu den umgebenden Staaten unterminiert, sondern mit allen überragenden Mitteln zu handhabende Hebel dafür, jede antiisraelische Ambition auszumerzen. Dass es im Libanon gleichzeitig mit der in Gaza sich entfaltenden eine nächste „humanitäre Katastrophe“ heraufbeschwört, geht Israel noch viel weniger an als im Gazastreifen; und auch der Umstand, dass es mit seinen Aktionen und den begleitenden Statements den ganzen von Assad regierten Rumpf Syriens zugleich selber noch unkontrollierbarer macht, ist für Israel kein Grund innezuhalten. Alles das muss sein, wenn nötig gleichzeitig.
In diesem Sinne schreitet Israel voran und verschafft sich quasi von selbst die neuen Fronten, an denen es darum auch überlegen präsent sein muss, weil bzw. sobald es sie gibt. Von Syrien aus tut sich da als nächstes der Irak auf – bzw. umgekehrt: Der Irak ist der nächste Nachbar und Einflussbereich des als eigentlich zu erledigende Bedrohung ausgemachten Iran, darum notwendigerweise wichtiges Objekt israelischer Gewaltentfaltung in der Region. Und darum spricht für Israel die Tatsache, dass es sich beim Irak um einen Staat handelt, der zwar halb kaputt ist, aber auf dessen Territorium sich Gewaltmittel weit größerer Dimension als im Libanon oder in Syrien versammeln, nur für das Eine: Gerade weil Irak sowohl für den Iran als auch für die USA eine besondere strategische Rolle spielt, haben sich alle darauf einzustellen, dass Israel sich weitere Angriffe von irakischem Territorium aus nicht gefallen lassen, sondern mit der nächsten Runde regionaler Eskalation beantworten wird. Was da ins Haus stehen könnte, hält es wie stets im abschreckend wirkenden Ungefähren, deutet aber die Dimension immerhin diplomatisch schon einmal an: Mit einer offiziellen Eingabe an den UN-Sicherheitsrat, den es bei anderen Gelegenheiten als tendenziell antisemitische Schwatzbude abzutun pflegt, warnt Israel unter Berufung auf das Völkerrecht, das es für seinen Krieg im Gazastreifen nicht gelten lässt, die irakische Regierung vor israelischen Luftschlägen, falls die ihrer Verpflichtung auf wirksame Unterdrückung jeglichen von ihrem Territorium ausgehenden Terrors nicht sofort nachkommt. [8] Dieses Ultimatum entfaltet seine Wirkungen: Streit im Irak, regierungsoffizielles Verbot weiterer Angriffe auf Israel durch die antiisraelische Milizenkoalition, praktische Versuche der Regierungstruppen zur Unterbindung solcher Angriffe, diplomatische Bemühungen im amerikanisch-irakisch-iranischen Dreieck zur Verhinderung einer von allen Dreien befürchteten israelischen Attacke. Diese Wirkungen beobachtet Israel aufmerksam, und zwecks Ermunterung der erwünschten Bemühungen einseitiger Deeskalation schlägt es dann auch exemplarisch zu: Im Osten Syriens unternimmt Israel den größten einzelnen Militärschlag seit einem Jahr gegen seine schiitischen Feinde, bombardiert eine Zusammenkunft von Vertretern libanesischer, irakischer, iranischer Kräfte und syrischen Stammesvertretern, tötet dabei fast 80 Leute und wartet wieder und weiter ab, dass alle Feinde und Freunde, die es angeht und die es vermögen, in seinem Sinne tätig werden. Dafür, dass das die einzige zur Verfügung stehende Option dafür ist, wie der Irak sich vor der Erweiterung des israelischen Regionalkrieges auf sein Territorium schützen kann, hat es nicht zuletzt selbst gesorgt: Israelische Emissäre haben sich in der jüngeren Vergangenheit im Ausland offenbar erfolgreich darum bemüht, die Beschaffung eines modernen Luftabwehrsystems durch die irakische Regierung im Ausland zu hintertreiben. Dass ein Staat in seiner Nachbarschaft, der antiisraelische Kräfte beherbergt, sich wirksam gegen Angriffe aus der Luft verteidigen kann, ist mit Israels neuem Sicherheitsanspruch an die Region nicht mehr vereinbar, also setzt es seine über die Region offenbar weit hinausgehenden Hebel dafür ein, dass es zur schlimmen Bedrohung durch einen zur Selbstverteidigung fähigen Irak gar nicht erst kommt. [9]
Auch die geografisch noch weiter entfernt gelegenen jemenitischen Unterstützer des palästinensischen Kampfes gegen Israel erfahren, dass Entfernung nicht vor asymmetrischen Gegenschlägen schützt. Die wiederholte Bombardierung eines im Zugriff der jemenitischen Huthi-Fraktion befindlichen Hafens dient nicht nur dazu, den Huthi einen entscheidenden Schlag gegen ihre Infrastruktur zu versetzen, sondern ist für Israel zugleich die Gelegenheit, allen anderen zu demonstrieren, dass seine Ankündigungen, sich in der gesamten Region keine praktizierte Gegnerschaft mehr gefallen zu lassen, wirklich so gemeint sind.
c)
Nicht ausbleiben können innerisraelische Bedenklichkeiten, ob der Mehrfrontenkrieg, an dessen Notwendigkeit in Israel keine relevante öffentliche Stimme zweifelt, auch ausreichend klug und vor allem mit der nötigen Härte geführt wird. Diese Diskussion belegt zwar immerhin so viel, dass sich auch diese stärkste aller nahöstlichen Mächte in einer Weise strapaziert, die sie seit dem Oktoberkrieg von 1973 nicht mehr nötig hatte. Aber von so etwas wie Vorsicht oder gar Zweifeln an der eigenen Kriegsfreiheit ist sie eher nicht bestimmt: Was gehen soll, das muss und das kann auch gehen. Es kommt nur auf die richtige Kriegführung und darauf an, sich nicht vorschnell auf ein von dritten Mächten vermitteltes Ende des Gewalteinsatzes einzulassen, das im Zweifelsfall bloß verhindert, dass die unterlegenen Feinde ihrer verdienten Liquidierung zugeführt werden. Der Beginn des veritablen Luft- und Bodenkrieges gegen den Libanon schärft daher auch den kritisch-oppositionellen Blick auf den ohne jede Gnade für die Palästinenser weiter geführten Gaza-Krieg und heizt die oben charakterisierte Debatte zusätzlich an, die sich um die neuen Ansprüche und die damit einhergehenden Widersprüche dreht.
In Bezug auf die Konfrontation und Eskalation im Libanon selber sind in deutlichem Kontrast zur innerisraelischen Debatte um den Gaza-Krieg keine relevanten politischen Stimmen zu vernehmen, die vor einer unnötig harten, unnötig langen, womöglich sinnlosen Dauerkonfrontation mit der Hisbollah warnen, die sehr viel stärker ausgerüstet ist, als es die Hamas jemals war. Hier wird die Regierungslinie nicht mit widerstreitenden staatspolitischen Grundsatzerwägungen über Volk und Land, sondern mit der kritischen Überprüfung konfrontiert, ob das zweifelsfrei feststehende Recht Israels auch gebührend wahrgenommen, also der Terror an der Quelle mit aller Härte bekämpft und ausgemerzt wird. Die Messlatte dafür hat der amtierende Regierungschef selber gelegt: Die Rückkehr der aus dem Norden Israels evakuierten Israelis muss sein, und die ist nur zu haben, wenn die Hisbollah aus dem Süden Libanons vertrieben und ihr eine Rückkehr niemals mehr ermöglicht wird. Die zur israelischen Volksgewohnheit gewordene Tatsache, dass Israel ein von allen seinen Auseinandersetzungen wirksam abgeschirmtes Zivilleben beherbergt, wird so zum Anspruch an die Regierung selbst, sie solle jenseits der Grenze endlich aufräumen mit allem, was sich als Hindernis dafür bemerkbar macht, dass die Vorkriegsidylle wieder machtvoll Einzug hält. Dieser ins Volksempfinden übersetzte Standpunkt totaler Durchsetzung bestimmt die Kritik am Luft- und Bodenkrieg Israels, der das nördliche Nachbarland verwüstet und große Teile der Bevölkerung zur Flucht zwingt, und er kommt, wie absehbar, auf das Urteil, dass die IDF viel zu harmlos und halbherzig agieren. [10] Den Geist dieser Kritik hat die israelische Führung selber schon vor Jahren vorgegeben mit der Ankündigung, dass Israel es nicht zulassen werde, dass sich irgendjemand am Strand von Beirut vergnügt, während in Israel israelische Bürger in die Luftschutzbunker müssen: Es darf keinen Rest von ziviler Normalität im Libanon geben, wenn von dort aus der israelische Normalvollzug gestört wird. Und darum bestimmt dieser Geist erst recht die Kritik an dem Waffenstillstand, zu dem sich Netanjahu von den USA bewegen lässt: Dass die Bestimmungen der Einigung überhaupt noch eine förmliche Differenz zu dem Geist aufweisen, den Israels Führung ihnen beilegt und über den sie keinerlei Zweifel aufkommen lässt, ist der hinreichende Grund dafür, die Vereinbarung als Verrat am einzig infrage kommenden Kriegsziel zu verurteilen. So führen sich die Repräsentanten der nördlichen Siedlungskommunen auf und im Prinzip genauso die „linken“ und „zentristischen“ Oppositionsparteien, die hierzulande als die Vertreter des bürgerlich-liberalen Israel rangieren, das eigentlich nur spielen will, wenn man es nur ließe. Und die mit Netanjahu koalierenden Vertreter der religiösen Zionisten schlagen vor, was sie immer vorschlagen: Beseitigung jedes relevanten Widerstandes und Besiedlung des Libanon, der ja irgendwie Nordgaliläa ist und laut Altem Testament ...
Das beherrscht z.B. der mitregierende Anführer der radikalen Siedler, Bezalel Smotrich, auch in Bezug auf Syrien, über das er so viel weiß, dass es zusammen mit großen Teilen Jordaniens und einem Zipfel des heutigen Saudi-Arabien ebenfalls Teil des Geschenks ist, das Gott den Juden gemacht bzw. versprochen hat. Er und andere beschwören das Ideal eines territorial quer zu allen aktuellen Grenzen verlaufenden Großisrael, das einem auserwählten Volk gehört und sich darum von keiner Instanz unterhalb von Gott irgendeine Weisung geben lassen muss oder darf. So sorgt der imperialistische Fortschritt, den Israel im Moment per Krieg macht, auch noch dafür, dass das aparte Selbstverständnis dieser Nation als göttlich gewollte und in Auftrag gegebene Angelegenheit ganz entschieden Auftrieb bekommt, obwohl es dem Israel, für das sein wirklicher Lenker und Führer steht, nun wirklich nicht um die Erfüllung hebräisch notierter Verheißungen geht. Und nebenbei taugt dieser durch die praktische Gewalt nie zu saturierende, sondern stets nur aufgestachelte Überschuss an Eroberungs-, Säuberungs- und Beherrschungsphantasie dafür, die wirklichen Großtaten der sich neu definierenden Regionalmacht Israel wie Zurückhaltung aussehen zu lassen.
3. Israels kriegsgestützter Umgang mit den anderen staatlichen Mächten des Nahen Ostens
Die seit einem Jahr praktizierte Härte, mit der Israel alle Register seiner konventionellen Übermacht zieht, gilt nicht zuletzt denjenigen staatlichen Mächten, gegen die sich diese Gewalt gar nicht unmittelbar richtet. Sie sollen sich durch die Anschauung der israelischen Zerstörungsleistungen in den Palästinenser- und umliegenden Staatsgebieten ganz grundsätzlich dahingehend beeindrucken lassen, Israel auf jeden Fall alles machen zu lassen, was es in Sachen ‚Sicherheit für das jüdische Volk‘ für unverzichtbar erklärt. Durch die bisher eingefahrenen Erfolge dieser Abschreckung sieht sich Israels Führung darin bestätigt, dass sie mit allem Recht in dieser Weise agieren und immer weiter gehen kann, so als ob allen anderen Mächten gar nichts anderes übrig bliebe, als sich das israelische Vorgehen gefallen zu lassen. Das heißt für unterschiedliche Adressaten dieser offensiven Abschreckungspolitik Unterschiedliches.
a)
Ägypten und Jordanien bekommen vorgeführt, dass ihnen ihre über vierzig bzw. fast dreißig Jahre alten Friedensverträge mit Israel keinerlei Rücksicht auf ihre souveränen Belange garantieren; Israel führt nun jede Kalkulation ad absurdum, sich per Friedensvertrag in ein irgendwie berechenbares, für die eigenen Belange ausnutzbares Verhältnis zu Israel setzen zu können. Berechenbarkeit haben die Friedensabkommen von Camp David und Wadi Araba nur für Israel zu bringen: den Verzicht auf jeden praktischen Einspruch gegen Israels Krieg, von dem diese beiden Nachbarstaaten auf unterschiedliche, aber jeweils heftige Weise betroffen sind. Jordaniens Monarchie sieht sich dadurch in Bedrängnis gebracht, dass die praktische Zusammenarbeit, zu der sie sich durch Israels Übermacht erpresst sieht, ihr immer mehr innere Ordnungsprobleme mit der in weiten Teilen Palästina-solidarischen Bevölkerung einbringt. Die wird zudem in jüngerer Zeit auch davon in Mitleidenschaft gezogen, dass ihr König sein Territorium als Vorfeld der israelischen Luftabwehr zur Verfügung stellt. [11] In Person der rechten Minister in Netanjahus Regierung muss das Königshaus sich zudem immer wieder öffentlich vorführen lassen, dass auch Kernbestände seiner Souveränität von Israels Gnade abhängen, also davon, wie der innerisraelische Streit darum ausgeht, welcher Fortschritt welchen Preis wert ist. [12] Zu dieser praktischen Vereinnahmung des in Bedrängnis geratenen herrschaftlichen Opportunismus gegenüber israelischen Vorgaben, die nur durch amerikanische Zuwendungen an die Haschemiten-Monarchie für diese überhaupt noch aushaltbar sind, kommen die gezielten diplomatischen Demütigungen: Wo sich der Monarch und seine Regierung darum bemühen, den Schein zu zerstreuen, sie machten Jordanien aus Gründen des Selbsterhalts zum Handlanger des israelischen Regionalkriegs, da wird ihnen genau diese Leistung von israelischer Seite aus genüsslich offiziell gedankt. Auch das ist nicht einfach eine Gemeinheit, sondern markiert das neue israelische Anspruchsniveau in Bezug auf Jordanien, das auch dieses bisschen Rücksicht, diese Gegenleistung in Form von ein bisschen Hilfe bei der Unterdrückung innerjordanischer Opposition nicht mehr vorsieht.
Auch Ägypten mit seiner riesigen Bevölkerung und seiner stattlichen Armee wird von Israel nicht als Hindernis für die Umsetzung seines neuen anspruchsvollen Standpunkts betrachtet. In Kairo laut werdende Androhungen einer offiziellen Kündigung des Friedensvertrags werden von Israel gar nicht erst kommentiert. Die Beschwerden Ägyptens darüber, dass Israel mit der Besetzung des Grenzstreifens zum Sinai die geltende bilateral abgemachte Rechtslage verletzt, übergeht Israel ebenso kühl. Den zwischenzeitlichen Aufmarsch von ägyptischen Streitkräften an der Grenze zum Gazastreifen nimmt es schon gleich nicht als Drohgebärde ernst, sondern genau umgekehrt als die total unzureichende Hilfe dabei, die Hamas zwecks endgültiger Erledigung endlich ohne jedes Schlupfloch auch nach Süden hin zu isolieren. Was Israel dem großen Nachbarland als Bedingung für einen dauerhaften Waffenstillstand ansonsten noch anzubieten hat, ist eine Hightech-Grenzüberwachung, die ganz auf israelische Sicherheitsansprüche zugeschnitten werden und vor allem unter technischer und administrativer Hoheit Israels errichtet und dauerhaft bleiben soll – also nichts. Die Vermittlungsdienste Ägyptens in Sachen Geiseln und Waffenstillstand waren willkommen, solange Israel selber noch wenigstens daran interessiert war, mit einem zeitweiligen Waffenstillstand so viele der Geiseln wie möglich zurückzubekommen. Dass Ägypten sie auch weiterhin anbietet, obwohl Israel offen jeden möglichen Erfolg dieser Diplomatie obstruiert, wird seitens der israelischen Diplomatie einfach ignoriert – zumindest so lange, wie Ägyptens Diplomaten hinnehmen, dass es durch sie nichts zu vermitteln gibt.
b)
Auch den gut betuchten Ölmonarchien von der Arabischen Halbinsel gilt der israelische Mehrfrontenkrieg. Nicht in dem Sinn, dass der die Vorbereitung dafür wäre, sie als nächste mit der israelischen Luftwaffe und Raketenartillerie zu traktieren; auch nicht in dem Sinn, dass sie durch diesen Krieg per praktizierte Vernichtungsdrohung von jeder Feindschaft zu Israel abgebracht und dauerhaft abgehalten werden sollen. Adressaten der kriegerisch eingesetzten Abschreckungsmacht Israels sind sie auf einer höheren imperialistischen Ebene.
Von einer wirksamen Unterstützung palästinensischen Widerstands gegen israelische Landnahme und Zerstörung jeder palästinensischen Staatsperspektive haben sie sich schon lange abbringen, sich von Israels Überlegenheit und amerikanischem Einwirken davon überzeugen lassen, dass ihre Ambitionen, aus dem Petrodollar-Reichtum nationale Größe zu verfertigen, in den Palästinensern keinen Hebel haben. Zwei von ihnen – die Vereinigten Arabischen Emirate und Bahrain – haben sich 2020 zusammen mit Marokko und Sudan sogar schon darauf eingelassen, mit einem offiziellen, vom Größten Dealmaker aller Zeiten vermittelten Abkommen förmliche diplomatische Beziehungen zu Israel zu eröffnen. Auch und gerade das Angebot an Saudi-Arabien, nach diesem Muster einen israelisch-saudischen Normalisierungs- und Friedensvertrag zu schließen, bleibt auf dem Tisch und wird von Netanjahu periodisch als Kernstück der schönen Perspektive beschworen, aus dem ewig unfriedlichen Nahen Osten endlich einen Hort der Völkerverständigung und der gemeinsamen Prosperität zu machen. Saudi-Arabien und den anderen Golfstaaten gegenüber hat die ungehemmte Entfaltung israelischer Kriegsmacht in der Umgegend den Sinn einer Klarstellung darüber, wie der Frieden gemeint ist, den Israel für die Region im Angebot hat. Das wird ihnen auch noch ausdrücklich vermittelt, z.B. von Netanjahu in der Weise, dass er als Alternative zur von den arabischen Mächten einst gewählten Losung „Land für Frieden“ [13] eine eigene Friedensformel für die Region in den Raum stellt – nicht Land für Frieden, sondern: „Ich beharre auf Frieden für Frieden, Frieden aus Stärke heraus mit wichtigen Ländern im Nahen Osten.“ (Times of Israel, 4.11.23) Frieden mit Israel um des Friedens willen, also bedingungslose Einordnung in eine Friedensordnung, deren einzige feststehende Eigenschaft darin liegt, dass Israel sie allen anderen diktiert. [14] Dessen, dass sich auch und gerade die ehrgeizigen Mächte Arabiens ausgerechnet auf einen solchen Frieden einlassen sollten, ist Netanjahu sich sicher – so viel regionalimperialistische Gelehrsamkeit traut er den angesprochenen Araberführern jedenfalls zu: „Diese und andere Länder sehen sehr deutlich, welche Schläge wir denen zufügen, die uns angreifen, der iranischen Achse des Bösen.“ (Ebd.) Auf diese Weise ist mit hinreichender Genauigkeit das zweite entscheidende Moment der beschworenen regionalen Friedensordnung benannt, das den einzigen Anknüpfungspunkt darstellt, den Israel allenfalls strategisch bei diesen Mächten findet: seine Feindschaft zu Iran, die es den zur Unterordnung aufgeforderten arabischen Mächten als die gemeinsame aufdrängt, was – wie stets bei solchen Gemeinsamkeiten – umso glaubwürdiger ist, je weniger Israel irgendetwas praktisch davon abhängig macht, ob es die an die Anti-Iran-Front gebetenen Herrschaften auch so sehen.
Was Israel in Bezug auf diese noch intakten, teilweise ausgesprochen üppig gedeihenden Staaten also praktiziert, ist einerseits so etwas wie die radikalisierte Fortsetzung seiner schon ein halbes Jahrhundert alten Politik, sie unter Ausnutzung ihrer teils ganz unterschiedlichen Lagen, teils verfeindeten Ansprüche voneinander zu separieren und ihnen jeweils einzeln gegenüber die eigene Überlegenheit umso machtvoller auszuspielen. Das tut es andererseits heute von der Warte einer im Vergleich zu früher vervielfachten Kriegsmacht und mit Verweis auf ein neuartiges regionales Kriegsgeschehen: Weil es allen zusammen überlegen ist, soll sich jede einzelne dieser Mächte darum kümmern, sich auf dem Platz im Nahen Osten einzufinden, den Israel als einen Ring von zur Anti-Iran-Solidarität eingeladenen Souveränen minderen Ranges vorsieht. „Frieden aus der Stärke heraus“, das Recht der stärkeren Kriegsmacht – einen anderen Frieden und ein anderes Recht will Israel für sich nicht mehr gelten lassen, also müssen alle anderen davor klein beigeben. Dass es damit bei diesen Mächten, die von ihren politischen Ambitionen für die Region ja keinesfalls einfach so ablassen, Gründe dafür schafft, ihren Ehrgeiz dann eben auch gegen israelische Friedensvorstellungen zu verfolgen, ist im Preis der kriegerischen Neuordnung der Region enthalten. Die ist anders nun einmal nicht zu haben, als dass erst einmal die eingerissenen, auf ihre Weise für Israel bisher schon funktionierenden Gewalt- und Machtverhältnisse aufgemischt werden. Vom Standpunkt des israelischen Aufbruchs her zeugt der Umstand, dass sich die ehrgeizige imperialistische Militärmacht die eine oder andere neue Gegnerschaft einzuhandeln droht, eben nur davon, dass dann die bisherigen Freundschaften oder zumindest stillschweigenden Duldungen nichts wert waren – und jedenfalls jetzt nichts mehr wert sind, wenn es ihre Fortsetzung nur um den Preis gibt, Abstriche von Israels Aufbruch zu machen.
Ein gewisser Sonderfall dabei ist das dollarstrotzende Gasscheichtum Katar, und auch dessen Behandlung durch Israel ist weit über das bilaterale Verhältnis hinaus für Klarstellungen nützlich. Katar tut sich seit Beginn des Gaza-Krieges als zweiter relevanter arabischer Vermittlerstaat neben Ägypten hervor, und es muss sich von Israel in zunehmend schrillen Tönen genau das vorwerfen lassen, was notwendigerweise zum Status eines Vermittlers gehört: Zu einem solchen qualifiziert sich ein Staat dadurch, dass er gute bzw. überhaupt irgendwelche Beziehungen zu beiden Seiten pflegt, zwischen denen er vermittelt, dass er sein Gewicht im jeweils bilateralen Verhältnis ins Spiel bringt, um das jeweilige Gegenüber zu Kompromissen zu bewegen, die im direkten Verhältnis zum Gegner als ausgeschlossen gelten. Dieses Verhältnis Katars zur Hamas hat Israel jahrelang akzeptiert und in so manchen Verhandlungsrunden nach vorhergehenden Kriegsaktionen benutzt; es hat nicht nur vom finanziellen Engagement des ehrgeizigen weltpolitischen Emporkömmlings gewusst, sondern es als berechen- und kontrollierbare Alternative zur iranischen Hamas-Solidarität gewollt, verstanden und begutachtet. Seit Israel nun gegenüber der Hamas den Übergang von der kontrollierten Einhegung und Unterdrückung zur totalen Vernichtung gemacht hat, ist von seinem Standpunkt aus auch das Einklinken Katars obsolet, hat also zu unterbleiben. Vorzuwerfen ist diesem Staat nun, dass er das nicht von selbst versteht und nicht von sich aus alle Hilfe kündigt, die inzwischen ja sowieso schon darauf reduziert ist, die Kriegsopferversorgung mitzufinanzieren und ein paar Führungsgestalten der Hamas bei sich leben zu lassen. Das und alles andere gilt nun bestenfalls als nutzlos, schlimmstenfalls als Terrorunterstützung. Zu seiner Rolle als Mediator ist also festzuhalten: Wenn Israel sich zu Verhandlungen herbeilässt, dann ausdrücklich mit der Position, dass die Hamas ohne jede Gegenleistung die Geiseln freizulassen habe. Und wenn es Katar nicht gelingt, seine Kumpane dazu zu bewegen, diesen Hebel gleich selbst aus der Hand zu geben, von dem Israel sich ohnehin nicht mehr zu irgendeiner Relativierung seines Kriegszwecks bewegen lässt, dann liegt offenbar Kumpanei vor. [15] Sodass sich auch alle anderen Staaten fragen sollten, wie sie mit einem solchen Staat umzugehen gedenken.
Apropos „alle anderen“:
4. Israels Umgang mit der restlichen, an seinem Krieg interessierten Staatenwelt
Seit seinem Beginn ist Israels Krieg eine internationale Sache. [16] Damit geht es offensiv um.
a)
Die supranationalen Instanzen der Weltordnung benutzt Israel, soweit sie dafür geeignet sind, als Bühne dafür, seinen Standpunkt permanent zu wiederholen, dass jede Gewalt, die von ihm ausgeht, absolut gerechtfertigt ist, weil es sich dabei um Notwehr gegen die Eliminierung als einzige Garantiemacht jüdischen Lebens auf dem Globus handelt. Eigentlich von Bedeutung auf dieser Ebene sind aber eher nicht diese Kundgaben, sondern die inzwischen völlig unverhohlene Stellung, die Israel dazu einnimmt, dass besagte Instanzen irgendwelche anderen Stellungnahmen, gar die von Israels Gegnern, überhaupt noch zulassen. Insbesondere die UNO in Gestalt der Generalversammlung disqualifiziert sich nach Auffassung Israels als verlängerter Arm derjenigen, die Israel vernichten wollen, wenn dort Reden gehalten werden dürfen, die zwar gar nicht zur Vernichtung Israels, sondern zu einem allseitigen Ende der Gewalt aufrufen, aber damit eben auch Israel ausdrücklich dafür verurteilen, dass es die Palästinenser mit seiner Gewalt überzieht. Der israelische UN-Abgesandte Danon sagt passenderweise offen heraus, wie er seine Tätigkeit in New York versteht: „‚Ich sage meinen Kollegen in Israel: Macht weiter‘, sagte Danon. ‚Tut alles, was ihr gegen die Hisbollah, gegen die Hamas tun müsst. Ich weiß, wie man mit diesen Leuten hier umgeht‘, fügte er hinzu.“ (jns.org, 24.9.24) Seine Forderung an die in New York diplomatisch versammelte Weltgemeinschaft lautet, sie möge sich heraushalten: „Man muss neutral sein. Man muss versuchen, die Seiten zu einem Punkt zu bringen, an dem sie sich einigen können. Aber was wir bei den meisten Ländern hier sehen, ist, dass sie nur Israel beschuldigen wollen.“ (Ebd.) Darüber, was er mit „neutral“ meint, lässt Danon ebenfalls keinen Zweifel: „Wenn jemand heute einen Krieg zwischen Israel und dem Libanon vermeiden will, sollte er sich heute gegen die Hisbollah aussprechen und Druck auf die libanesische Regierung ausüben.“ (Ebd.) Und alle, die es versäumen, einseitig gegen die Hisbollah neutral zu sein, lässt der gute Mann vorsorglich wissen, was ihre weitere Rolle bei dem sein wird, was sein Land unter der Verhinderung von Krieg versteht: „All diejenigen, die damit spielen, Israel anzugreifen, sollten nicht erwarten, dass wir ihnen erlauben, zu kommen und Teil des Prozesses zu sein.“ (Ebd.)
Die ganze Welt hat sich Israels Bedrohungs- und Feindschaftsdefinitionen anzuschließen, also deren Exekution ohne Abstriche gutzuheißen. Als Alternative stellt Israel – ein Land mit nicht ganz 10 Millionen Einwohnern – nicht sein schlimmes Schicksal, sondern die Isolierung aller Verweigerer und darüber hinaus die Bedeutungslosigkeit der supranationalen Institution UNO in Aussicht. Ächtung steht im Raum – nicht Israels durch die anderen, sondern seitens Israels von allem, was es an diplomatischem Überbau zum Ringen der Nationen um Macht und Bedeutung gibt, insofern es eine Relativierung seines unbedingten Rechts entdeckt; das ist es sich schuldig, das traut es sich offenbar zu. Der in der UNO formvollendet organisierten Weltgemeinschaft spricht Netanjahu in Gestalt ihres obersten Repräsentanten diese Ächtung offen aus: Er erklärt UN-Generalsekretär Guterres zur Persona non grata, weil der den Idealismus eines über den Staaten stehenden Rechts, dessen Instanzen und Adressaten sie alle gleichermaßen sein sollen, gegen Israels gewaltsames Ausgreifen hochhält.
Auch und erst recht da, wo die Vereinten Nationen nicht einfach nur als Schwatzbude vorhersagbar nerven – „‚Das haben wir erwartet‘, sagte Danon zu den Verurteilungen Israels“ (ebd.) –, sondern wo sie praktisch ins Kriegsgeschehen eingreifen, legt Israel sich mit dem an, was ihm als ‚Staatengemeinschaft‘ irgendwie in die Quere kommt. Die UNRWA (Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten), die sich im Rahmen ihres Mandats und mit den Mitteln williger Geberstaaten sozial um Palästinenser kümmert, ist im laufenden Gaza-Krieg der entscheidende Akteur bei der Versorgung der Gazawi mit Lebensnotwendigem. Den Streit um das offizielle Mandat und die politische Bedeutung dieses UN-Clubs führt Israel schon seit langem, und nachdem es mit dessen Einstufung als verlängerter Arm der Hamas nur bei manchen relevanten Staaten – und auch bei denen nur bedingt – Anklang gefunden hat, [17] macht es auch hier Nägel mit Köpfen: Es verbietet dieser UN-Unterorganisation kurzerhand die Betätigung bei sich und in den von ihm besetzten Gebieten. Auch an dieser Stelle treibt Israel seinen Standpunkt konsequent fort, dass es sich mit einem politischen Rechtsanspruch, den die Palästinenser erheben können und den das Kollektiv der Staaten verbürgt, nicht länger arrangieren will. Wenn es Hungerhilfe für Palästinenser zulässt, dann jedenfalls nicht als Kotau vor dem politischen Junktim zwischen deren physischem Dasein vor Ort und ihrem international verbürgten Staatsanspruch, das auch die UNRWA verkörpert, sondern nur noch als seinen Krieg gefälligst nicht behindernden Humanismus pur ohne weitere politische Perspektive. Mit dieser praktisch vorgenommenen Umwidmung der UNRWA fordert Israel die Weltgemeinschaft, d.h. ihre dazu materiell überhaupt fähigen Mitglieder zu der Kalkulation heraus, was ihnen diese Kriegsopferbetreuung wert ist – angesichts dessen, dass Israel niemanden diese neue und alle nächsten Phasen der Lösung seines Palästinenserproblems sowie aller anderen seiner existenziellen Sicherheitsprobleme mitgestalten lässt.
Noch deutlicher wird Israel in dieser Hinsicht bei seinem Krieg im Südlibanon, der von vornherein eine noch ganz anders internationalisierte Angelegenheit ist, weil es seine Gewalt da auf das Territorium eines anerkannten Mitgliedstaats der UN erstreckt und weil dritte Mächte in diesen Gegensatz schon längst in Form einer UN-Truppe, der UNIFIL (United Nations Interims Forces in Lebanon), eingemischt sind. Die höchste Form des Respekts vor dieser Truppe, also vor dem Aufsichtsanspruch, den diejenigen Mächte mit ihrer Präsenz dort verbinden, die diese per Sicherheitsratsbeschluss einst herbeigeführt haben, besteht von Israels Seite aus darin, sie zur Evakuierung aufzufordern. Das handhaben die zuständigen Stellen der IDF ja ansonsten schon gegenüber im Südlibanon Ansässigen so, dass denen zur Flucht nur die Alternative bleibt, zum Kollateralschaden des israelischen Krieges gegen die Hisbollah zu werden. Schuld daran ist letztlich auch die UNIFIL, weil die darin versagt hat, den Südlibanon im Interesse Israels Hisbollah-frei zu halten – dafür wird sie nun bestraft, indem Israel ihr Mandat ganz praktisch beendet; dass es im Zuge dessen zu ein bisschen Konfrontation israelischer Panzer mit den Blauhelmen kommt, mag bedauerlich sein, wäre aber – ausschließlich – durch deren rechtzeitigen freiwilligen Abzug zu verhindern gewesen.
Was die Zukunft des Libanon anbelangt, an der, weil kriegerisch umkämpft, die relevanten Mächte der Welt gerade ihr Interesse neu entdecken, so hat Israel diese Mächte ebenfalls schon verplant – nämlich exakt der Logik folgend, die Danny Danon in New York zum Besten gegeben hat. Die müssen sich von Israel vorbuchstabieren lassen, dass es auf die von ihm selbst geforderte Umsetzung ihrer Sicherheitsresolution 1701 keinen Wert mehr legt, wenn die nicht ein paar entscheidende Änderungen erfährt, die der Intention komplett widersprechen, mit der sie einst beschlossen wurde: Israel verlangt die Freiräumung des Südlibanon zu einer Art Niemandsland, verbunden mit dem Recht, über dem ganzen Libanon jederzeit die volle Bewegungsfreiheit seiner Luftwaffe und im Süden des Landes die Freiheit zu jederzeitigen Vorstößen mit Bodentruppen zu haben: Israel macht der in seinen Krieg eingemischten Staatengemeinde klar, dass es die für den Libanon bisher geltenden Beschlüsse, Regelungen und deren Handhabungen vollständig der Kritik unterzieht, dass es sich die Garantie seiner Sicherheit von befreundeten oder angeblich befreundeten, jedenfalls durchweg unzuverlässigen Mächten hat aus der Hand nehmen lassen – was ihm definitiv nicht mehr passieren wird. Das bekommt zwischendurch die Fassung einer Waffenstillstandsvereinbarung, in deren Ausarbeitung und Vermittlung die UNO nicht eingemischt ist. Dass es damit selbst westliche Verbündete vor den Kopf stößt, nimmt Israel in Kauf: Neben Norwegen, Spanien, Irland und anderen europäischen Staaten, die Palästina als Staat anerkannt und sich prompt entsprechende diplomatische Auseinandersetzungen mit Israel eingehandelt haben, steht nun auch das auf seiner ‚traditionellen Verbindung mit der Region‘ insistierende Frankreich in der Kritik Israels, weil aus Paris Einsprüche dagegen geäußert werden, dass Israel das Recht zu schlechthin jeder Gewalt hat, die es für nötig hält. Diesen und alle anderen Verbündeten, die sich seit einem Jahr um materielle Unterstützung des israelischen Vorgehens verdient machen und gegenüber dem Rest der Welt auf ihren verharmlosenden Sprachregelungen als dem einzig zulässigen Blick auf die israelischen Gewaltleistungen bestehen, serviert es ab, sobald sie Andeutungen bzw. Anläufe dazu machen, Israels Krieg nicht mehr per se für legitim zu halten und ihm irgendwelche Schranken aufzuzeigen: Es verlangt von allen Beihilfe zu seiner Gewaltdurchsetzung ohne Anspruch auf Mitsprache.
b)
Verhaltenen Streit gibt es in Israel auch darüber. Denn dass sich Israel unter Führung seines Sicherheits-Premiers gegenüber allen großen und kleinen, verbündeten und nicht verbündeten Mächten so aufführt, als ob denen gar nichts anderes übrig bliebe, als sich den israelischen Vorgaben zu beugen, und dass es bis jetzt damit weitgehend, wenn auch nicht ohne gewisse Reibungsverluste, durchgekommen ist, heißt ja wirklich nicht, dass das auch in Zukunft eine garantierte Sache ist. Kein Wunder, dass sich da Bedenkenträger zu Wort melden, die anmerken, dass vielleicht ein bisschen weniger offene Konfrontation gegenüber den wichtigen Verbündeten ganz nützlich wäre, solange darauf geachtet wird, dass Israel in der Sache keine Abstriche macht. Der Verteidigungsminister Gallant galt den Protagonisten dieser Position als Garant dafür, dass Israel es sich mit seinen westlichen Verbündeten nicht vollends verscherzt und das ‚wechselseitige Vertrauen‘ bei aller israelischen Unnachgiebigkeit dadurch gewahrt bleibt, dass man ihnen klarmacht, dass Israel ihrer Anmaßung, in allen Gewaltaffären auf der Welt bestimmend eingemischt zu sein, gar nicht generell eine Absage erteilen will, nur leider in Bezug auf seine Gewaltaffären keinen Platz einräumen kann.
Ansonsten aber herrscht nationaler Konsens darüber, dass Israel jedes und erst recht jedes befreundete Ausland daran messen darf und muss, ob es jeden Gewaltbedarf anerkennt, den Israel dadurch anmeldet, dass es ihn praktiziert. Und Israel ist selbstbewusst genug, diesen Anspruch auch auf das Innenleben der Nationen zu erstrecken, die dann jeweils beweisen dürfen, ob sie Freunde oder angebliche Freunde sind. Anlass dafür bieten die antiisraelischen bzw. propalästinensischen Proteste in der westlichen Welt, bei denen sich die betreffenden Staaten von Israel daraufhin prüfen lassen müssen, ob sie ihre Repressionsapparate auch hart genug gegen jede Kritik an Israel einsetzen; wenn sie es dabei nach Israels Geschmack schleifen lassen, müssen sie sich auch kritische Einmischung gefallen lassen. Netanjahu schämt sich für seine amerikanische Alma Mater, und überhaupt sehen israelische Botschafter in westlichen Ländern das dortige Judentum bedroht, das sie selbst ohne nachzufragen zum Kronzeugen für jeden Gewaltakt der IDF im Nahen Osten machen. Im Sinne der von ihnen vertretenen Gleichung von israelischen Terrorvernichtungsfeldzügen und der Sicherheit der jüdischen Diaspora leisten sie – gerade angesichts dessen, dass diese Gleichung sich als wüste Ungleichung erweist – entsprechende Lobbyarbeit für eine Verschärfung der nationalen Gesetzgebungen bzw. ihrer polizeilichen und juristischen Umsetzung. Das ist ein, gemessen an der wirklich tobenden Gewalt im Nahen Osten, lächerlicher Nebenschauplatz, aber auch auf dem macht Israel klar, dass es der ganzen Welt die Zustimmung zu seinem antiterroristischen Gewaltbedarf aufdrängt – wobei einzig Israel entscheidet, wann es sie als gegeben und wann als nur geheuchelt sieht, wenn es sie zum Maßstab macht, an dem es alle Staaten misst und auf der nicht sehr breiten Skala von befreundet über irrelevant bis feindlich einstuft.
*
Fazit:
Die Ausweitung des Gewaltgeschehens, das als israelischer Vernichtungskrieg gegen die Hamas im Gazastreifen begonnen hat, auf die gesamte Region ist nicht die Folge dessen, dass da etwas außer Kontrolle geraten, unvorhergesehener- und unglücklicherweise über eine mit den Titeln ‚Selbstverteidigung‘ bzw. ‚Kampf gegen den Terror‘ eigentlich gezogene Grenze geschwappt wäre oder Ähnliches; sie hat ihre Logik. Die liegt nicht darin, dass die Palästinenser vom Libanon bis nach Jemen Verbündete finden, die ihnen mit solidarischen Angriffen auf Israel zur Seite springen und damit Israel dazu nötigen, den Radius seiner Selbstverteidigung immer mehr auszuweiten. Es ist umgekehrt.
Dass Israel die regionale Unterstützungsgewalt für die Palästinenser so bekämpft, wie es das seit mehr als einem Jahr in immer neuen Eskalationsrunden tut, beweist, dass es selber längst einen Anspruch auf die gesamte Region hat und praktiziert, den es nun kriegerisch vorantreibt: Woran sich Hisbollah, irakische und sonstige propalästinensisch aktiv werdende Gegner vergehen, das ist der praktizierte israelische Imperativ, dass es allein an Israel ist, Gegnerschaften zu eröffnen und auszutragen. Tatsächlich hat ja Israel schon längst die Karriere von einem mit der dazu nötigen Gewalt in die Region hineingepflanzten Staat, der seinen Gegnern die Hinnahme seiner Existenz als Macht in der Region einschließlich aller Eroberungen überlegen aufzwingt, hin zu einer Regionalmacht durchgekämpft. Als solche hält es Feindschaften nicht mehr einfach überlegen aus, sondern nimmt sie vorweg: Es verhindert, dass sie wirksam zum Zuge kommen, indem es jeden wirklichen und jeden potenziellen Gegner, also die Region als ganze mit seiner militärischen Abschreckungsmacht konfrontiert, die alles übersteigt, was die Gegner Israels und ihre Ansätze von Allianzen aufzubieten haben. Ausgestattet mit seinem nuklearen Bedrohungsarsenal und einem von da aus abwärts auf jeder Ebene konventioneller Kriegführung überlegenen Arsenal an Kriegsmitteln verfügt Israel über die in der Region einzigartige Freiheit, gegen alle anderen seine Sicherheit dadurch zu definieren, dass es sie alle permanent in den Zustand der Abschreckung versetzt und es ganz allein bestimmt und beschließt, wann die so verletzt ist, dass ihre Erneuerung einen Krieg braucht. Dabei führt es stets vor, wie empfindlich, nämlich wie weitreichend der Anspruch auf überlegene Abschreckung ist: Des Öfteren hat allein der Versuch einer als feindselig eingestuften Macht, sich Souveränitätsmittel zu verschaffen, die Israel ihm nicht zugestehen will, dazu gereicht, durch militärisches Zuschlagen klarzumachen, dass Israel sich mit Gegnern nur dann abfindet, wenn diese ihm gegenüber machtlos sind und bleiben. Im Prinzip sind Israels Kriege also seit Jahrzehnten schon regionale Ordnungskriege. Und im Verlaufe dieser Jahrzehnte ist an und zwischen den periodisch fälligen Kriegen auch immer deutlicher geworden, was der Gehalt der Ordnung ist, die Israel der Region aufzunötigen trachtet: Es subsumiert die gesamte Weltgegend unter seine Feindschaft gegen den Iran.
5. Israels militärische Konfrontation mit Iran und ihr unauflöslicher Widerspruch
a)
Die Zuordnung aller einzelnen Schauplätze seines ausufernden regionalen Kriegsengagements zur Hauptfront mit Iran samt der Zuspitzung der von Iran ausgehenden, an ihm zu bekämpfenden Gefahr auf die Frage der iranischen Atomwaffenpotenz ist Konsequenz davon und Beleg dafür, dass sich Israel im Laufe seines Aufstiegs als Macht im Nahen Osten an eine Schranke hingearbeitet hat, die es nun nicht mehr hinzunehmen bereit ist. Der Iran ist die einzige Macht, die ihm noch gefährlich werden könnte, und darum eine unbedingt zu beseitigende Gefahr, weil sie ringsum über das einzige Vernichtungspotenzial verfügt, das Israel noch eine Grenze bei der freien Handhabung seines eigenen setzt. Die darf es sich nicht gefallen lassen. Die Zuspitzung seines Mehrfrontenkrieges auf den unmittelbaren Schlagabtausch mit Iran markiert einerseits den Statusgewinn, den sich Israel schon verschafft hat, andererseits den neuen Status, den es sich im Zuge dessen erobern will.
Tatsächlich ist Iran ein Sonderfall in der Region: Diese Macht hat es hinbekommen, sich in aller Feindschaft zu Amerika und Israel zu behaupten. Mit seiner Landmasse, seinem großen und offenbar patriotisch leidensfähigen Volk und den ererbten Reichtumsmitteln und -quellen ist Iran zu sehr viel autarker Gegenwehr in der Lage; und auf dieser Basis ist das Land für andere, noch größere Mächte interessant genug, um ihm bei seiner Selbstbehauptung gegen Israel und Amerika wirksam beizuspringen. Gegen alle amerikanischen Einschnürungs- und Erdrosselungsversuche mit unterschiedlichen Mitteln und Helfershelfern, gegen alle praktische Sabotage durch Israel hat der Iran nicht nur überlebt, sondern ist erstens zu einer Politik der regionalen Vorneverteidigung übergegangen, in deren Rahmen er nicht zuletzt die israelischen Todfeinde in den Palästinensergebieten zu ihrer Militanz befähigt. Zweitens hat er sich selber ein Arsenal an weitreichenden Zerstörungsmitteln zugelegt, mit dem er die benachbarten Staaten bedrohen, also die und alle anderen an der Region interessierten Mächte beeindrucken kann. Und drittens hat er sich technologisch zu einer Nuklearmacht emporgearbeitet, die alle Mittel und damit die autonome Entscheidungsfreiheit bezüglich eines Übergangs zur Atomwaffenmacht besitzt. Ihrem Anspruch nach bestreitet die Islamische Republik die Rolle Israels als regionaler Hegemonialmacht, ihrer Praxis nach stört und verletzt sie diesen Anspruch, so gut sie und überall da, wo sie kann; und sie verfügt über die Potenz, die Rückversicherung Israels für seinen Anspruch auf Alleinhoheit über die Gewaltverhältnisse in der Region, seine Atomstreitmacht, dadurch entscheidend zu relativieren, dass sie das regionale Monopol Israels auf diese Waffe durchkreuzt.
Also macht sich Israel unter Führung Netanjahus daran, dieses letzte Hindernis seiner regionalen Hegemonie abzuräumen. Dass sich Israel damit eine Art von Risiko einhandelt, die im Verhältnis zu allen bisherigen Konfrontationen mit seinen Nachbarn neu ist, wird dabei durchaus in Rechnung gestellt. Zunächst schlicht dadurch, dass ja schon die laufende Bearbeitung aller Nebenfronten den einen entscheidenden strategischen Sinn hat, Iran die Hebel seiner regionalen Vorneverteidigung Stück für Stück aus der Hand zu schlagen. In dieser Hinsicht hat Israel in seinem jetzt mehr als ein Jahr andauernden Mehrfrontenkrieg auch entscheidende Erfolge zu vermelden: Seine überlegene Abschreckungsmacht hat offenbar so viel Eindruck gemacht, dass Iran sehr lang zugesehen hat, wie Israel ihm seine verbündeten Bewegungen und Milizen peu à peu zusammenschießt.
Die Bombardierung des völkerrechtlich sanktionierten Heiligtums seiner diplomatischen Vertretung in Syriens Hauptstadt will die iranische Führung aber dann doch nicht unbeantwortet lassen. Sie entschließt sich ihrerseits dazu, die militärische Eskalation auf ein neues Niveau zu heben. Auch dies gerät, zumindest einerseits, zur Bestätigung der israelischen Linie souverän kalkulierter Eskalation: Die erste Salve ballistischer Raketen, die Iran auf Israel schießt, wird durch die israelische Luftabwehr und die umfassende Unterstützung seiner westlichen Alliierten – USA, Großbritannien, Frankreich – fast vollständig wirkungslos gemacht. Außerdem darf Israel registrieren, dass Irans Führung mit diesem für Israel so gut wie gar nicht zerstörerischen Angriffsversuch den Luftangriff auf sein Botschaftsgelände für hinreichend geahndet erklärt, also von sich aus zu der indirekten Auseinandersetzung der letzten Jahre und Monate zurückkehren will. Andererseits ist schon dieser erste direkte iranische Angriff, auch wenn er von der israelischen Führung und weiten Teilen der israelischen Öffentlichkeit als lächerlich und als Blamage für die großspurigen Mullahs abgetan wird, ein strategisches und politisches Novum in der israelischen Kriegsgeschichte, das deutlich macht, mit wie viel Abenteurertum die Entschlossenheit Israels einhergeht, die Region gemäß seinen Sicherheits-, also antiiranischen Vormachtansprüchen umzukrempeln: Denn die iranische Führung hat sich nun einmal nicht davon abschrecken lassen, diesen in seiner Art erstmaligen Angriff auf Israel zu führen – so viel Mischung aus Selbstvertrauen und Fundamentalismus ist offenbar auch in Teheran beheimatet –, und hat damit die hochtechnisierte Luftabwehr Israels herausgefordert. Die konnte diese Herausforderung offensichtlich bloß deswegen mit dem für Israel halbwegs glimpflichen Ergebnis bewältigen, weil sich andere Mächte militärisch als Ergänzung zur Verfügung gestellt haben: eine für Israel gar nicht freudige Tatsache, weil erstmals ein Feind den hochgerüsteten Luftabwehrschirm Israels bis an den Rand seiner Leistungsfähigkeit ausgetestet hat.
In dieser letzten Hinsicht noch viel entschiedener und in den Wirkungen deutlicher verlief der zweite iranische Raketenangriff, den der Iran als Vergeltung für die israelische Eskalation – die Tötung des zur Amtseinführung des neuen Präsidenten offiziell geladenen Hamas-Führers Haniyeh mitten in der iranischen Hauptstadt – geführt hat. Die Trefferwirkungen dieses zweiten direkten Angriffs Irans muss Israel nach dem von der israelischen Militärzensur bekannten anfänglichen Leugnen schließlich doch eingestehen. Zusammen mit dem Dauerraketen- und -drohnenkrieg, den ihm die Hisbollah aufnötigt, war der iranische Angriff vom Oktober dazu geeignet, Israels fast perfekten Abwehrschirm zumindest ansatzweise überzustrapazieren. Diese Blamage will Israel auf keinen Fall gelten lassen. Das eine entscheidende Moment der Glaubwürdigkeit seines strategischen Auftrumpfens in der Region: die Fähigkeit, jede größere Zerstörung von sich fernzuhalten und das Schlachtfeld immer von sich weg zu definieren, funktioniert nicht perfekt. Kaputt ist damit nicht die israelische Überlegenheit, zumal es im Hintergrund ja seine Atomwaffe als Basis jeder Abschreckung und der darauf gründenden Offensiven hat. Beschädigt ist aber dieses Moment totaler Offensiv- und Eskalationsfreiheit, das es Israel seit langer Zeit ermöglicht hat, Frieden und Krieg nicht als strategische Alternativen handhaben zu müssen, sondern jeden für fällig erachteten Krieg in die nähere oder weitere Nachbarschaft tragen zu können.
Also steht für Israel fest, dass es ‚antworten‘ muss, und zwar diesmal auf diesem Niveau, also wiederum in einer Weise, die ein Novum für die Geschichte seines gewaltträchtigen Gegensatzes zu Iran darstellt: Es „muss“ ein offener Angriff mit der eigenen Luftwaffe auf das Territorium Irans sein, alles andere wäre in der Logik des israelischen Regionalkrieges, nämlich in der Logik des imperialistischen Status, den es mit diesem Krieg beansprucht und praktiziert, ein Eingeständnis und damit eine Niederlage. Nach ein paar Wochen befiehlt Israels Führung die Bombardierung von Anlagen, die für die Herstellung von Raketentreibstoff und damit für die Einsatzfähigkeit des ballistischen Raketenarsenals Irans entscheidend sind, sowie von einigen wichtigen iranischen Luftabwehreinrichtungen; die IAF führt den Befehl in gewohnt beeindruckender Maßarbeit aus, ohne dass die israelischen Angreifer irgendwelche Verluste erleiden. Und Irans Führung macht sehr schnell deutlich, dass sie diesen Schlag nicht in der Fortsetzung der bis dahin praktizierten Logik eskalierender Gegenschläge beantworten wird, sondern diesen Beweis der bis auf ihr Territorium erstreckten israelischen Luftüberlegenheit hinnimmt.
Trotzdem kommt in Israel keinen Moment lang Zufriedenheit damit auf, dass Iran bis auf Weiteres wirksam abgeschreckt und in die Schranken gewiesen worden ist. Offenbar ist Israel über so einen Erfolgsmaßstab inzwischen selber hinaus.
b)
Davon zeugt nicht zuletzt der innerisraelische Streit, der im Vorfeld der Luftattacke auf Iran begonnen hat und durch deren erfolgreiche und verlustfreie Durchführung nicht zu befrieden ist.
Die geäußerte Unzufriedenheit geht schon damit los, dass es so lange gedauert hat, bis Israel zurückschlägt; sie entzündet sich im Weiteren daran, dass der dann ausgeführte Luftschlag so wenig desaströs ausgefallen ist, was von denen, die diesen Standpunkt vertreten, damit bebildert wird, was stattdessen hätte zerstört werden müssen: in großem Stil Anlagen der Förderung, Verarbeitung und Verschiffung von Öl und Gas, weil daran die ökonomische Existenz Irans hängt; zentrale iranische Führungseinrichtungen vor allem in der Hauptstadt, weil nicht zuletzt an denen das effektive Regime der Mullahs über ihre Nation hängt; vor allem aber: die nuklearen Anlagen Irans, weil die dem Feindstaat das Maß an strategischer Autonomie verschaffen, das ihm nicht zusteht. Insgesamt laufen die Kritiken darauf hinaus, dass Israel den Teheraner Strategen überhaupt noch einen berechnenden Umgang mit seiner überlegenen Militärmacht ermögliche, statt ihnen alle Mittel, auf die sich ihre Berechnungen allenfalls beziehen können, ein für allemal aus der Hand zu schlagen, ohne dass sie sich dagegen wehren können.
Diese Wortmeldungen sind keine Dokumente einer die wirkliche israelische Kriegsräson überschießenden Kriegsmoral. Sie machen vielmehr den Standpunkt namhaft, zu dem sich Israel gegenüber der iranischen Feindmacht tatsächlich vorgearbeitet und den es zur Leitlinie seines gesamten Regionalkrieges gemacht hat: Es ist in seiner imperialistischen Karriere so weit gekommen, dass es den Iran nicht mehr nur als größten Gegner definiert, der letztlich hinter allen minderrangigen Gegnern steht, die Israel überhaupt noch spürbar attackieren, sondern als die existenzielle Bedrohung, mit der eine Koexistenz auch unter der Bedingung überlegener Abschreckung nicht mehr sein soll. Dieser Beschluss zur Unvereinbarkeit zwischen Israels Existenz als Staat, die es gleichsetzt mit seiner Existenz als Regionalmacht, und der Existenz Irans als autonom agierender Macht in der Region ist der wirkliche Grund und strategische Gehalt von Israels nicht endender Vernichtungsaktion im Gazastreifen, der Grund für die Ausweitung auf die gesamte Umgebung; und darum ist es folgerichtig auch zur unmittelbaren kriegerischen Konfrontation zwischen diesen beiden Mächten gekommen.
Zwar folgt, wie sollte es auch anders sein, deren Praxis der kriegsimmanenten Logik eskalierender Abschreckung: Israel greift immer massiver iranische Verbündete, dann militärische und politische Vertreter Irans selbst in der Region an, fordert ihn mit diesen Schlägen zu einer Vergeltung heraus und macht mit diesen Schlägen zugleich klar, dass der sich diese Vergeltung lieber nicht leisten sollte. Das treibt Israel bis zu dem Punkt, an dem Iran sich nicht mehr abschrecken lässt und erstmals selber mit seinem eigenen Raketenarsenal auf Israel zurückschlägt. Dem begegnet Israel seinerseits damit, dass es die insoweit nicht mehr funktionierende Abschreckung durch die nächste Runde der Eskalation auf höherer Stufenleiter wiederherstellt.
Den innerisraelischen Kritikern ist das zu wenig, und damit treffen sie die Sache: Es geht nicht – mehr – um überlegene Abschreckung der iranischen Feindmacht, sondern um ihre Beseitigung. Das geben auch diejenigen zu Protokoll, die die Luftkriegsaktion Israels gegen Iran als gelungen verteidigen: Ihre zwei Hauptargumente lauten, dass mit der Zerstörung der Anlagen für die Raketentreibstoffproduktion dem Iran ein entscheidendes Mittel seiner ohnehin unterlegenen Gegenabschreckung genommen sei und die gezielte Zerstörung wichtiger Luftverteidigungssysteme ihn bis auf Weiteres noch viel verwundbarer gemacht habe als bisher. Beide Verweise unterstellen und bezeugen den in Israel durchweg geteilten Standpunkt, dass dieser Luftschlag nicht das vorläufige Ende der Eskalation wegen erfolgreich wiederhergestellter Abschreckung gewesen sein soll, sondern der Auftakt dazu, auf besagten Ausgangspunkt zurück- und mit dessen Exekution endlich den entscheidenden Schritt voranzukommen: Es geht um die Zerstörung Irans als Macht auf regionaler Ebene. Daraus macht vor allem der politische Oberbefehlshaber und Repräsentant des israelischen Aufbruchs kein Geheimnis. Mal in Form des Lehrsatzes, dass 95 % aller Sicherheitsprobleme Israels vom Iran produziert werden, mal in der Form eines grafisch veranschaulichten Countdowns bis zur Katastrophe der iranischen Verfügung über eine Atomwaffe: stets macht er klar, dass im Nahen Osten Israels kein Platz für eine iranische Macht ist.
c)
Genau dies ist aber für Israel so gar nicht zu haben. Insofern zeugt die innerisraelische Debatte nicht nur vom Anspruch Israels auf Entmachtung Irans, sondern zugleich von dem Widerspruch, der darin enthalten ist: Israel ist zu groß, um neben der Macht Iran, so wie sie inzwischen beschaffen ist – in offensiver und defensiver Hinsicht autonom kriegsfähig –, noch länger koexistieren zu wollen. Aber Iran ist zu groß, um ihn in der Weise zu bearbeiten und wegzuschaffen, wie Israel es mit allen anderen Gegnern tut. Dazu, ihn als die existenzielle Bedrohung, nämlich die Bestreitung des israelischen Alleinherrschaftsanspruchs über die Staaten der Region auszuschalten, ist Israel nicht mit der fraglosen und autonomen Überlegenheit in der Lage, die es sich selbst abverlangt. Was aus seiner Sicht unbedingt fällig ist: die Zerschlagung Irans als strategische Macht, kann es aus dem identischen Grund nicht autonom vollstrecken.
Darüber macht sich in Israel unter denen, auf die es ankommt, auch niemand etwas vor. Die nehmen diesen objektiven Widerspruch ihres imperialistischen Status und des daraus verfertigten Programms als Provokation dazu, ihn zu lösen. Und auch darüber, wo die Lösung einzig zu suchen und zu finden ist, existiert in Israel kein Streit: in der Allianz mit der Weltmacht USA. [18]
Die benutzt Israel in seinem Regionalkrieg bereits ausgiebig und erfolgreich. Schon die Freiheit, die Israel sich an allen Nebenfronten nimmt, gegen jeden Einspruch von Dritten die von ihm ausgemachten Gegner zu vernichten, lebt entscheidend davon, dass Amerika den überbordenden Bedarf nach Nachschub bedient, den der hybride Krieg gegen die Palästinenser auf israelischer Seite erzeugt – und davon, dass es mit seiner sowieso in der Region vorhandenen und zu Kriegsbeginn massiv verstärkten militärischen Präsenz die israelische Gewaltentfaltung abschirmt: Bidens drohendes „Don’t! Don’t!“ vom Oktober 2023 war formell an alle gerichtet, die über eine störende Einmischung in Israels Vernichtungsfeldzug gegen die Hamas auch nur nachdenken könnten; der Sache nach war es auf Iran gemünzt. Diese amerikanische Abschreckungskulisse stand und steht zweifelsfrei felsenfest und wurde von niemandem ernsthaft herausgefordert, sodass die amerikanische Garantie für die israelische Kriegsfreiheit hinter deren autonomer Wahrnehmung durch Israel an allen Nebenfronten zurückgetreten ist: Die USA unterstützen und beschützen die autonome Kriegführung Israels. Das sehen die israelischen Strategen so, dass sie es vermocht haben, die USA dazu zu verpflichten. Damit haben sie insofern recht, als die Allianz ihrer Regionalmacht mit der amerikanischen Weltmacht tatsächlich seit Jahrzehnten so funktioniert, dass Amerika auf Basis von im Großen und Ganzen deckungsgleichen Feindschaften in der Region sich von Israel ein ums andere Mal hat vorgeben lassen, wie die genau beschaffen und wie sie zu handhaben sind. Noch stets hat sich im Ergebnis jede aufkommende Differenz in diesen Fragen dadurch praktisch erledigen lassen, dass Israel seine Feindschaften vorangetrieben und sich damit immer wieder neu in Lagen gebracht hat, die für Amerika keine Alternative dazu zulassen sollten, dem kleineren Verbündeten mit materieller Unterstützung und strategischer Abschirmung zur Seite zu springen, um ungeschehen zu machen, dass der gewaltmäßig permanent über seine Verhältnisse wirtschaftet.
Für Israels Führung steht damit eines fest: Die für Israel auf diese Weise prächtig funktionierende Allianz, die es dazu befähigt hat, erfolgreich bis an den Punkt zu kommen, an dem es jetzt steht, muss und kann auch dafür taugen, den alles entscheidenden Übergang zur regionalen Supermacht hinzubekommen, also die systemische Störung Iran auszuräumen. Nach demselben Muster wie in allen bisherigen Fällen eskaliert Israel daher die Konfrontation mit Iran. Es verlangt und bekommt auch beim Übergang zu direkten wechselseitigen Angriffen die umfassende und vorbehaltlose Unterstützung der USA, die sich für die Abwehr iranischer Raketenangriffe nützlich machen und zwecks weitergehender Abschreckung Irans auch ihre um ihn herum dislozierten Potenzen für einen umfassenden Offensivschlag aufstocken.
Darin liegt aber zugleich der entscheidende Unterschied im Verhältnis zu der Rolle, die Amerika in Bezug auf die anderen Fronten Israels spielt: Die Weltmacht ist mit ihren einzigartigen Kriegspotenzen hier nicht mehr als Garant israelischer Kriegsautonomie, sondern als Ersatz dafür gefragt, weil Israel dem Iran gegenüber über diese Autonomie nicht verfügt. Der Iran ist zu groß und Israels strategischer Kriegsbedarf in Bezug auf Iran ist zu anspruchsvoll, als dass es allein in der Lage wäre, den von ihm als Notwendigkeit beschworenen Endkampf um seine regionale Suprematie so autonom zu führen und von vornherein so zweifelsfrei zu gewinnen, wie es die damit zu vollendende Suprematie verlangt. [19] Für Israels imperialistisch gereifte Führung ist das gleichbedeutend mit dem Auftrag, die USA dann eben dazu zu nötigen, ihr bis dato stets verlässliches Schutzversprechen auch noch darauf zu erstrecken und den von Israel auf die Tagesordnung gesetzten Krieg gegen Iran zu ihrer eigenen Sache zu machen. Entsprechend eskaliert Israel parallel zur Kriegslage seine Anti-Iran-Kriegsdiplomatie gegenüber Amerika in der bewährten Dialektik von Abhängigkeit und Eigenmächtigkeit: Es provoziert die zweite große Macht in der Region dazu, die Auseinandersetzung auf ein neues Niveau zu heben, das den Krieg für Israel gefährlicher macht als alle seine vorherigen bzw. parallel dazu ablaufenden militärischen Auseinandersetzungen; und es bringt immer offener seine eigene atomare Kriegsmacht als ultimative Eskalationsoption ins Spiel. [20] Die soll nun der Hebel dafür sein, aus dem Dilemma von Notwendigkeit und Unmöglichkeit der autonom zu vollziehenden kriegerischen Erledigung Irans herauszukommen. Israel bemüht sich nach Kräften darum, das eigene Dilemma durch die USA lösen zu lassen; dadurch nämlich, dass die realisieren, wofür Israel seine eigene Kriegsmacht definitiv überstrapazieren müsste, also aufs Spiel setzen würde. Amerika soll die Entmachtung des Iran mit seinen überlegenen konventionellen Mitteln wahrmachen, um Israel am Einsatz seiner Atomwaffen zu hindern, der als absoluter Ernstfall durchaus im israelischen Kriegskalkül enthalten ist; und um damit vor allem sich einen solchen Gewaltakt seines Schützlings zu ersparen, der eine mit Amerikas Weltaufsichtsmacht absolut unvereinbare Freisetzung des militärischen Gebrauchs dieser ultimativen Vernichtungswaffe bedeuten würde. Dieses Risiko der zielstrebigen Eskalation des israelischen Vorgehens gegen den Erzfeind soll die USA dazu nötigen, Israel zu dem Sieg zu verhelfen, den es für seine nicht mehr bestreitbare Regionalmacht braucht.
d)
Allerdings: Amerika lässt sich nicht instrumentalisieren; auch durch Israel und dessen selbst definierte Existenzfrage nicht. Amerika ist kein Hebel für die Lösung des antiiranischen israelischen Regionalmacht-Dilemmas; und zwar aus genau dem Grund, aus dem Israel auf Amerika setzt: Weltmacht sind die USA gerade darin, dass sie allein und ganz von sich aus über Freund- und Feindschaften und ihren Umgang damit entscheiden; dass sie sich ihre Weltpolitik von keiner anderen Macht vorgeben, schon gar nicht durch andere in Kriege – so wenig wie in Friedensregelungen – verwickeln lassen. Amerikas überlegene Kriegsmacht, die Israel für sich funktionalisieren will, erweist sich gerade darin als Weltmacht, dass sie zu deren weltweitem Einsatz jederzeit fähig ist, aber ohne Konzession an andere sich vorbehält, wo und wie der fällig ist.
Für Israel hat das zwei Konsequenzen.
Ein eigenmächtiger Einsatz der israelischen Atombombe kommt für Amerika tatsächlich definitiv nicht infrage. Das würde die regionalen Gewaltverhältnisse – absehbarerweise – in einem nicht mehr beherrschbaren Ausmaß aufmischen; damit würde – ebenso absehbar – der Schützling der Weltmacht sich die irreversible Ächtung und politische Isolierung durch die Staatenwelt einhandeln, deren Konsequenzen auch die USA nicht ungeschehen machen könnten; vor allem aber wäre damit ein Präzedenzfall für den Übergang zum Atomkrieg in der Welt, der zunichtemachen würde, was Amerikas Weltmacht in letzter Instanz ausmacht, nämlich sein durch einseitige Abschreckung gesichertes Monopol darauf. Daraus folgt, dass die USA sich auch durch die Drohung mit einem solchen Übergang auf keinen Fall erpressen, auch nicht zu einem Entwaffnungsschlag gegen den Iran nötigen lassen können: Eine solche Nötigung durch die angedrohte Eigenmächtigkeit einer anderen Macht, sei sie auch noch so verbündet, wäre schon die nicht hinnehmbare Verletzung des Atomkriegsmonopols, auf dem die Weltmacht besteht. Wozu Israel die USA drängt, findet wenn, dann nach einem amerikanischen Kalkül statt, das auf jeden Fall, schon allein wegen des Verhältnisses von Schutzmacht und Schützling, anderen, ganz anders beschaffenen weltpolitischen Ansprüchen folgt als dem Drängen Israels, sich unter dem Schutzschirm der wirklichen als die kleine Weltmacht „vor Ort“ zu etablieren. Die ganze Region ernstlich der eigenmächtigen Kontrollmacht Israels zu überlassen: das kommt für die USA nicht infrage – und wäre auch dann nicht wahr und nicht das letzte Wort, wenn sie die stets präsente Option eines vernichtenden Schlags gegen die Macht des „Mullah-Regimes“ in die Tat umsetzen.
Die dritte Konsequenz ist im Übrigen diejenige, die von den israelischen Kämpfern für einen iranfreien Mittleren Osten unter ihrer Suprematie tatsächlich ergriffen wird: Unterhalb des ihnen nicht zu Gebote stehenden Übergangs zum antiiranischen Endkampf setzen sie die israelische Militärmacht immer weiter dafür ein, die Region praktisch zur geschlossenen Front gegen Iran herzurichten, was ganz selbstverständlich ein noch gar nicht absehbares Maß weiterer Verwüstung einschließt. Was nicht zuletzt dazu taugen soll, die amerikanische Macht, deren Entscheidungshoheit über Krieg und Frieden für Israel unverfügbar ist, mit konstruktiven Beiträgen zur inneramerikanischen Entscheidungsfindung zu versorgen, in deren Ergebnis Amerika sich aus strategischer Einsicht dazu bereitfindet zu akzeptieren, dass die Vollendung der Suprematie Israels über den Nahen Osten letztlich doch alternativlos für die Suprematie Amerikas über den Rest der Welt ist.
Sinnlos gestorben, getötet und zerstört wird also im Nahen Osten auch bis auf Weiteres nicht.
[1] Auf ihrer Seite wähnt die professionelle Kritik, dass die israelische Armee ausrüstungsmäßig und personell nicht vorbereitet sei – was nicht von der Hand zu weisen ist, weil, was eine Banalität darstellt, auch diese Armee nun einmal auf die Kriege getrimmt worden ist, die sich als militärische ‚Szenarien‘ aus den politisch begründeten Ansprüchen der Nation und ihren Feindschaften ergeben: Die Politik der Landeroberung in den ersten Jahrzehnten israelischer Staatsexistenz ist der raumgreifenden Absicherung per Abschreckung durch jederzeit wirksame Offensivmacht gewichen; dafür hat sich Israel eine der größten und modernsten Luftwaffen der Welt zugelegt, flankiert von den alle Experten beeindruckenden Raketenabwehrfähigkeiten. Die regulären stehenden Boden-, insbesondere Panzertruppen sind im Verhältnis dazu immer weniger wichtig geworden, und da, wo sie jetzt in den innerstädtischen Kampf verwickelt werden, erleiden sie Verluste, die für die israelische Armee und die nationale Öffentlichkeit tatsächlich gewöhnungsbedürftig sind. Zugleich stützt sich die israelische Armee eben wegen ihrer Konzentration auf die Hightech-Luftwaffe mit entsprechendem hochqualifiziertem Personal in viel höherem Maße als andere Armeen auf einen riesigen Pool an ausgebildeten Reservisten, was ebenfalls zu den aus den letzten Jahrzehnten gewohnten Kurz- und Blitzkriegen, aber immer weniger zu einem sich hinziehenden Dauerkrieg gegen eine nicht ausrottbare Guerilla passt.
[2] Zum Beispiel Smotrich: „Wo es keine zivile Präsenz gibt, dort gibt es keine langfristige militärische Präsenz, es gibt keine Sicherheit und es besteht eine existentielle Bedrohung für den Staat Israel und seine Bürger, und das dürfen wir nicht zulassen.“ (Middle East Monitor, 28.10.24)
[3] Der eine mitregierende Führer der religiösen Zionisten hält sich da einstweilen in der Mitte: „Darüber hinaus fügte er [Smotrich] hinzu, dass die Palästinenser nur eine begrenzte lokale Selbstverwaltung ‚ohne nationale Merkmale‘ behalten sollten, und erklärte, dass diejenigen, die auf einem palästinensischen Staat beharrten, gezwungen sein würden, wegzuziehen. ‚Diejenigen, die ihre nationalen Ambitionen nicht aufgeben wollen oder können, werden von uns Unterstützung erhalten, um in eines der vielen arabischen Länder auszuwandern, in denen die Araber ihre nationalen Ambitionen verwirklichen können, oder in jedes andere Ziel in der Welt‘, sagte er.“ (Ebd.)
[4] Von der technischen Infiltration der Hisbollah, prominent geworden an der gezielten Sprengung mehrerer Tausend mobiler Kommunikationsgeräte von Hisbollah-Funktionären und -Kämpfern, über die Bombardierungen von Beiruter Wohnvierteln – freilich nicht ohne vorherige Ankündigung, wie es sich für den Humanismus der humanistischsten Armee der Welt gehört – bis hin zur Ausradierung ganzer Dörfer unter dem Gesichtspunkt „Terrorinfrastruktur“ wiederholen sich die Bilder, die man aus dem Gazastreifen kennt.
[5] „Die Beseitigung von Nasrallah ist eine notwendige Voraussetzung für die Verwirklichung der von uns gesetzten Ziele: die sichere Rückkehr der Bewohner des Nordens in ihre Häuser und die Veränderung des Kräfteverhältnisses in der Region auf Jahre hinaus.“ (Erklärung von Premierminister Netanjahu, gov.il, 28.9.24)
[6] Seinem Anspruch auf unteilbare Autonomie über Krieg und Frieden mit seinen Nachbarn schuldet es Israel, die vielfach verbreitete Meldung nicht zu kommentieren, dass die USA mit einer Einschränkung von Waffenlieferungen gedroht hätten, um Israel zum Abschluss eines Waffenstillstandsdeals zu drängen.
[7] Vor allem im Süden Syriens bereitet Israel sich darauf vor, das syrische Territorium nicht nur als Hinterland der Hisbollah untauglich, sondern es zugleich als Vorfeld eigener Offensiven tauglich zu machen: Es wurde damit begonnen, eigene Minenfelder auf den besetzten Golanhöhen an der Grenze zur demilitarisierten Zone am Ostrand des Golan zu räumen; Wege werden angelegt und Befestigungen errichtet, die einen schnellen Vorstoß eigener Bodentruppen auf syrisches Territorium ermöglichen sollen, wenn es sich anbietet, der im Südlibanon agierenden Hisbollah eine Front in ihrem östlichen Rücken zu eröffnen. Zum Zwecke der Absicherung dieser Tätigkeiten gegenüber eventuellen Überfällen aus syrischem Terrain heraus sind israelische Panzer und andere Militärfahrzeuge auch schon auf syrischen Boden jenseits der demilitarisierten Zone vorgedrungen, die Israel sowieso nicht mehr gelten lassen will.
[8] „‚Heute Abend habe ich einen Brief an den Präsidenten des UN-Sicherheitsrates geschickt, in dem ich sofortige Maßnahmen gegen die Aktivitäten der proiranischen Milizen im Irak fordere, dessen Territorium für Angriffe auf Israel genutzt wird‘, sagte Saar in einem Beitrag auf X, der eine Kopie des Briefes enthielt. Saar wies darauf hin, dass Israel gemäß der UN-Charta das Recht hat, sich selbst zu verteidigen, und sagte, dass der Irak ‚nach internationalem Recht dafür verantwortlich ist, die Nutzung seines Territoriums als Basis für Angriffe gegen andere Nationen zu verhindern‘. ‚Israel fordert die irakische Regierung auf, dieser Verpflichtung nachzukommen und unverzüglich Maßnahmen zu ergreifen, um diese Angriffe zu stoppen und zu verhindern‘, so Saar weiter. Saar sagte, Israel werde ‚alle notwendigen Maßnahmen ergreifen, um sich und seine Bürger vor den vom Iran unterstützten Milizen zu schützen‘.“ (iraqinews.com, 19.11.24)
[9] Die modernen russischen Luftabwehrsysteme kamen für die irakischen Waffenhändler nicht infrage, weil sich Irak damit in das Fadenkreuz westlicher Sanktionen gebracht hätte; die seit Anfang des Jahres laufenden Verhandlungen der Iraker mit möglichen Lieferanten aus Frankreich, Deutschland und Italien hat Israel wirksam ins Leere laufen lassen. Geblieben ist Irak nun die Option, von Südkorea ein erstens veraltetes System zu erwerben, das zweitens erst irgendwann im nächsten Jahr geliefert werden soll.
[10] Ihre Anhaltspunkte finden die Kritiker, die Netanjahus offizielle Drohung, aus dem Libanon einen Gazastreifen im Großformat zu machen, gnadenlos ernst nehmen, in der kriegsimmanenten Eskalation von Schlag und Gegenschlag: Weil die überhaupt den Schein israelischer Reaktion erweckt, die an vorhergehenden Aktionen der Hisbollah irgendein Maß nimmt, wird sie als eine einzige große Inkonsequenz gegeißelt. An Luftschlägen auf Beirut, der gezielten Sprengung von Pagern und Funkgeräten, dem Einmarsch in den Südlibanon, der Einäscherung kompletter Ortschaften entdecken die Kritiker stets zielstrebig, was alles nicht angerichtet wurde.
[11] Die Trümmer von durch die jordanische Luftabwehr oder ausländische Kräfte auf jordanischem Boden abgeschossenen iranischen Raketen haben in Jordanien inzwischen schon einige Schäden angerichtet und dienen der jordanischen Opposition gegen die Linie des Königs als Beleg dafür, dass die von der königlichen Propaganda beschworene souveräne Äquidistanz Jordaniens in Bezug auf die iranisch-israelische Auseinandersetzung in Wahrheit ein total unsouveränes Einknicken vor israelischen Drohungen und amerikanischen Erpressungen darstellt.
[12] Der religiös-zionistische Sicherheitsminister Ben-Gvir provoziert immer wieder damit, dass er mit viel bewaffneter Entourage auf dem Tempelberg persönlich aufkreuzt, über den gemäß geltender jordanisch-israelischer Rechtslage eine jordanische Stiftung die Verwaltungs- und Sicherheitshoheit ausübt. Und sein religiös-zionistischer Kabinettskollege Smotrich bringt von Zeit zu Zeit öffentlich die Option ins Spiel, unliebsame Palästinenser nach Jordanien zu deportieren, was der jordanischen Herrschaft gleichfalls vor Augen führt, wie wenig sie Herr ihrer Verhältnisse ist.
[13] „Land“ stand seinerzeit für die Bedingung, die erfüllt sein muss, damit sich die arabischen Mächte zu einer Anerkennung Israels und zu zivilen Beziehungen mit ihm bereitfinden, nämlich die Rückgabe der von Israel 1967 besetzten Gebiete. Seit geraumer Zeit schon steht „Land“ nicht mehr wirklich für diese Bedingung, sondern für den Anspruch der arabischen Staaten auf den von Israel anzuerkennenden Status, überhaupt Bedingungen an einen förmlichen Frieden mit Israel stellen zu können. Und genau das ist von Israel nun ausdrücklich nicht mehr zu haben, auch nicht als irgendeine verlogene Aussicht.
[14] Auch hier demonstriert Israel diesen Anspruch dadurch, dass es den betroffenen Staaten öffentlich in die übliche Praxis hineinpfuscht, zwecks Beruhigung antiisraelischer Vorbehalte im Volk ein bisschen demonstrative Anti-Israel-Rhetorik zu verbreiten und den Grad der praktischen Zusammenarbeit zu leugnen: Nach dem großangelegten Luftüberfall auf die jemenitische Hafenstadt Al-Hudaida haben sich israelische Politiker offiziell bei Saudi-Arabien dafür bedankt, dass es der IAF die Benutzung des saudischen Luftraums für einen Großteil der Flugstrecke genehmigt habe. Prompt hat sich die saudische Außenpolitik zu einem Dementi genötigt gesehen. Und wieder ist egal, welche der beiden Seiten lügt: Entscheidend ist das Moment von diplomatischer Demütigung, mit dem Israel seinen Anspruch auf Beihilfe zu seinen Gewaltaktionen verdeutlicht.
[15] Schon im Januar hat Netanjahu geäußert, dass „Katar einen mächtigen Einfluss auf die Hamas habe und dass die Rolle Dohas bei der Vermittlung der Verhandlungen zur Befreiung der Geiseln bis jetzt keine Früchte getragen habe...“ „Ich denke, man muss entsprechende Forderungen an Katar stellen, es beherbergt die Hamas, es finanziert die Hamas... Die Welt als ganze muss die Rolle Katars genau überprüfen.“ (Asharq Al-Awsat, 29.1.24)
Sein Sohn Jair Netanjahu darf etwas deutlicher werden: „Es gibt noch einen zweiten Terrorpaten, das ist Katar. Diesem sehr reichen Staat wird aus irgendeinem Grunde in Washington und New York der rote Teppich ausgerollt, aber meiner Meinung nach ist es der zweitgrößte Terrorist der Welt nach Iran.“ (amad.com.ps, 15.7.24)
[16] Siehe dazu den Artikel Humanitär begleitet, rechtlich begutachtet, moralisch umstritten: Israels Gaza-Krieg – Herausforderung an die Mächte und die Moralisten der imperialistischen Welt in Heft 2-24 dieser Zeitschrift.
[17] Zur Rolle der UNRWA vor dem Krieg und zu dem verschärften Streit seit Beginn des Gaza-Kriegs siehe den oben genannten Artikel in GegenStandpunkt 2-24.
[18] Das liest sich dann z.B. so:
„Nach dem zweiten iranischen Angriff kann man sich die Frage stellen, ob eine Reaktion nur um der Reaktion willen aus strategischer Sicht richtig ist. Ist ein Angriff nach zwei Runden notwendig? Diese Fragen müssen gestellt werden, wenn beschlossen wird, dass Israels nächster Schritt strategisch und nicht taktisch sein muss. Meiner Ansicht nach würde eine Reaktion eher im taktischen Bereich verbleiben und Israels Abschreckung eher schaden als sie stärken.
Wenn die israelische Armee maßvoll und begrenzt zuschlägt, um eine Eskalation zu verhindern, wird die Verteidigungsleistung vergeudet. Und wenn Israel militärische und zivile Infrastrukturen in großem Umfang angreift, wird der Iran zu einer Antwort gezwungen sein, und Israel wird sich in einer anderen Art von langem, schädlichem und gefährlichem Zermürbungskrieg mit Angriff und Gegenangriff wiederfinden. Dies ist eine Falle, in die man besser nicht tappt und die die israelische Errungenschaft einer verstärkten Abschreckung zunichtemachen könnte. Die einzige Antwort, die infrage kommt, ist daher eine strategische: das iranische Atomprogramm, das Potenzial für die einzige existenzielle Bedrohung des Staates Israel. Die Regierung und die israelischen Verteidigungskräfte müssen sich nur darauf konzentrieren. Und zwar in einer umfassenden strategischen Weise, nicht in einer taktischen, und sie dürfen den Kampf gegen diese Bedrohung keinesfalls nur einer taktischen Antwort unterwerfen.
Die meisten derjenigen, die sich mit dieser Arbeit befassen, sind sich einig, dass eine enge Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten erforderlich ist, um der iranischen Atomwaffe erheblichen Schaden zuzufügen. Am Vorabend der Wahlen in den Vereinigten Staaten ist eine solche Zusammenarbeit offensichtlich nicht möglich, aber nach November könnte sie möglich werden.
Es ist nicht klar, ob sich die Vereinigten Staaten nach den Wahlen an einem Angriff auf nukleare Anlagen im Iran beteiligen wollen, aber es obliegt Israel, dies zu versuchen. Bis dahin wird jeder andere offensive Schritt unsererseits gegen den Iran nur eine taktische Reaktion auf den gescheiterten Angriff sein.“ (Omer Bar-Lev, ehemals Kommandeur einer Spezialeinheit des israelischen Militärgeheimdienstes und späterer Minister für Öffentliche Sicherheit, in Haaretz, 10.10.24)
[19] Dieser Mangel an autonomer israelischer Kriegsfähigkeit gegen den Iran spitzt sich wiederum in der Frage der Vernichtung des iranischen Atompotenzials zu, das für Israel die Quintessenz dessen darstellt, was am Iran so unerträglich ist: Die entscheidenden Komponenten des iranischen Atomprogramms sind in Bunkeranlagen installiert, die auch mit den massivsten bunkerbrechenden Bomben, über die Israel verfügt, nicht kalkulierbar zu zerstören sind. Das vermögen nur amerikanische Bomben der Bauart GBU-57 – wie man erfährt, wurden die nicht zuletzt mit Blick auf die unterirdischen Atomanlagen Irans entwickelt –, die allein in amerikanischem Besitz sind; zudem hat Israel keine Flugzeuge, die in der Lage sind, diese Bomben zu transportieren.
[20] Israel hatte sich vor einigen Jahrzehnten von den USA dazu drängen lassen, seine Verfügung über die Atomwaffe, von der freilich alle wussten, nicht offiziell zuzugeben, also damit nicht offen diplomatisch als Drohkulisse zu hantieren. Aus dieser Not haben die israelischen Strategen schon vor langer Zeit die Tugend einer eigenen Doktrin gemacht, die sie „absichtliche Uneindeutigkeit“ getauft haben, was immerhin für die Bekräftigung der Unberechenbarkeit getaugt hat, vor der sich seine Gegner fürchten sollten. Für den Übergang, an dem Israel aktuell arbeitet, erscheint es offenbar immer mehr parteilich mitdenkenden Strategen passend, dass sich Israel wie eine ‚richtige‘ Atomkriegsmacht aufbaut, bei der der Besitz des ultimativen Zerstörungsmittels mit dem öffentlich zelebrierten Recht auf dieses Mittel zusammenfällt, das schließlich für die Überlegenheit sorgen soll, die aus jeder eigenen Gewalt legitime Gewalt macht.