Europas Krise 20.14

Durch die Krise und durch die erbitterte Konkurrenz der mit einem gemeinsamen Geld wirtschaftenden Staaten um ihre Bewältigung kommt den Euro-Ländern die Herrschaft über ihren nationalen Reichtum abhanden – so hatten sie sich das bei der Schaffung eines gemeinsamen Kreditgelds für einen immerwährenden ge­meinsamen und je nationalen Aufschwung nicht gedacht. Jetzt erfahren Gewinner wie Verlierer der Euro-Konkurrenz die Abhängigkeit vom gemeinsamen Geld als Sachzwang statt wie gedacht als Garantie allgemeinen und nationalen Wachstums: Den ‚Krisenstaaten‘ wird die Hoheit über ihre nationalen Budgets durch eine übergeordnete Finanzaufsicht aus der Hand genommen. Die besser Gestellten, der Konkurrenzgewinner Deutschland zumal, werden nolens volens für die Finanzierung des Fortbestands ihrer Union, also ihrer schwächeren Partner in Haftung genommen. Das lässt nicht bloß die Interessengegensätze aufleben; die er­reichte Einheit behindert zugleich die Austragung dieser Gegensätze, führt die Konkurrenten in unlösbare Widersprüche zwischen Abhängigkeit und Selbstbehauptung – und stellt sie gerade wegen dieser Abhängigkeit gegeneinander auf. Die Krisenkonkurrenz um die Rettung des nationalen Ertrags aus dem gemeinsamen Geld fördert nicht nur die politische Unzufriedenheit der Regierenden, das gibt auch einer radikalen nationalen Opposition Auftrieb – in Gestalt europakritischer Parteien und separatistischer Bewegungen.

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Gliederung

Europas Krise 20.14

I. Europa rettet und zerstört dadurch seinen Kredit

Die Widersprüche der Währungsunion sind von der nun schon Jahre andauernden Krisenbewältigung im Euro-Raum durchaus zu unterscheiden. Praktisch zu trennen sind die Durchsetzung der Entwertung von Kapital und die Konkurrenz um einen national tauglichen gemeinsamen Kredit aber nicht. Schon gar nicht in der neuesten Phase von Krise und Konkurrenz.

Diese Phase steht, was die Krise und ihre Bewältigung betrifft, im Zeichen der Warnung der berufenen Währungshüter vor einer Deflation. Und was die Konkurrenz der Partner angeht, so kämpfen alle, freilich gegeneinander, um die kapitalistische Effizienz ihrer staatlichen Schulden, die einen mit dem Antrag auf mehr davon, die anderen mit einem Einspruch dagegen: ein Kampf mit zunehmend eindeutigen Wirkungen.

1. Das Rezept der EZB gegen die Krise: Mit In- gegen die Deflation – Wachstum durch immer mehr überschüssiges Kreditgeld

Die EZB beschwört die Gefahr einer Deflation im Euro-Land. Darunter versteht sie eine „Negativspirale“ aus tendenziell sinkenden Preisen, dadurch nicht etwa vermehrtem, sondern wegen Kaufzurückhaltung einer auf weitere Preissenkung spekulierenden Kundschaft verringertem Absatz, folglich ausbleibenden Investitionen, Rückgang der Produktion mit Entlassungen, sinkender Kaufkraft, deswegen weiter zurückgenommener Preise usw. – so oder so ähnlich jedenfalls wird von berufener Seite dem Publikum die tödliche Gefahr erläutert, die dräut, wenn womöglich ausnahmsweise einmal nicht „dauernd alles teurer“, sondern alles dauernd billiger wird: kein Schnäppchenparadies, sondern flächendeckender Niedergang. Neben der fatalen Berechnung der Marktteilnehmer, lieber nichts zu kaufen, um es später billiger kaufen zu können – und dann erst recht nichts zu kaufen, bis sie gar kein Geld mehr haben... –, wird als Erklärung für mangelhaftes, demnächst vielleicht ganz ins Minus umkippendes Wirtschaftswachstum ein Querschnitt durch die Weltlage angeboten, die demnach im Wesentlichen aus Putin und der Ukraine, verringerten Wachstumsraten der VR China, dem Ebola-Virus, dem IS, den Kriegen im Nahen Osten überhaupt und speziell in Deutschland einer unvernünftigen Renten- und Frauengleichstellungspolitik besteht. Der gemeinsame Nenner, der diese disparaten „Phänomene“ zu einem einzigen ökonomischen Unheil verdichtet, heißt Unsicherheit, fürs Geschäft nämlich und dessen gedeihlichen Fortschritt auf der Welt; und das rückt die Legende von der Käuferpsychologie als Deflationsursache schon mal ein bisschen zurecht. Denn darin wenigstens angedeutet ist der sachliche Befund, der da an beliebigen missliebigen Umständen der Weltpolitik und -wirtschaft festgemacht wird: Das Geschäftemachen lohnt sich derzeit nicht mehr; mehr Kapitaleinsatz bringt nicht entsprechend mehr Gewinn, oft genug noch nicht einmal ein gleichbleibender Vorschuss den bisherigen Ertrag. Als Ursache dafür kommt alles Mögliche in Frage, wovor das berühmte „scheue Reh“ sich fürchtet, weil der wirkliche Grund feststeht: Investieren wirft derzeit nicht das ab, worauf ein Investor ein Recht hat.

Die Abhilfe, die die EZB nunmehr schon seit Jahren leistet und weiter zu leisten verspricht – ihr Kampf gegen die ausgemachte Deflationsgefahr mit Unmassen frischem Kreditgeld, zum Nulltarif an die Geschäftsbanken ausgereicht und für den Aufkauf von Schuldpapieren öffentlicher wie privater Kreditnehmer eingesetzt, um das Leihgeschäft wieder in Schwung zu bringen und darüber Wachstum zu erzeugen –, stellt die Zusammenhänge zwar auf den Kopf, bestätigt und verdeutlicht aber zugleich den Befund. Denn Draghi & Co haben ja Recht, wenn sie davon ausgehen, dass Kapitalwachstum durch Kredit in Gang gesetzt wird, mit dem Gebrauch von Schulden als Vorschuss anfängt und darin besteht, dass Schulden zu profitbringendem Kapital werden. Wenn aber der Kredit nicht mehr von den Geschäftsbanken aus eigener Berechnung geschöpft, vergeben und allein im üblichen Umfang von der Notenbank mit-finanziert wird; wenn stattdessen die Notenbank die Geschäftsbanken mit praktisch zinslosem Kreditgeld „überschwemmt“, das dann gar nicht in produktive Unternehmungen fließt, sondern an Staaten, die damit ihre Schulden refinanzieren, oder an Spekulanten, die es teils in zunehmend fragwürdige Börsenwerte, teils in Firmenwachstum per Aufkauf anderer Firmen – in die Zentralisation statt in die Akkumulation von Kapital [1]) – investieren; wenn nicht einmal das Geld, das mit den laufenden Geschäften echt verdient wird, für deren Fortsetzung gebraucht wird, sondern in wachsendem Umfang als unverzinsliches Vermögen auf Bankkonten liegen bleibt: dann findet auf die Art praktisch ein großer Offenbarungseid statt. Dann wird nämlich offenbar, ganz generell: dass eben nicht bloß das Geschäft von seiner Finanzierung abhängt, sondern der dafür vergebene Kredit vom Gelingen der kreditierten Geschäfte – und ganz speziell: dass im Verhältnis zum zirkulierenden Kredit viel zu wenig Geschäft gelingt. Was nicht an zu vielen Unterlassungen liegt, sondern in der Logik marktwirtschaftlicher Aktivität: Rücksichtslos gegen „den Markt“ ist immer mehr und schon längst viel zu viel Kredit vergeben und Kapitalvorschuss geleistet worden, als dass damit noch ein Profit zu machen wäre, der den Kredit bezahlt macht. Die Deflation, die die EZB befürchtet und mit immer mehr immer billigerem Kreditgeld bekämpft, ist nichts als die nächste Form der notwendig daraus folgenden Krise: des Umschlags eines Übermaßes an kreditfinanziertem Wachstum in eine allgemeine Stockung des Geschäftsgangs.

Unrecht hat die EZB daher, wenn sie mit ihrer Geldschwemme das Ziel verfolgt, durch Kredit zum Nulltarif lohnende Geschäfte wieder in Gang zu bringen und die Wirtschaft zu neuem Wachstum anzustacheln. Mit all ihren in dieser Hinsicht notorisch fehlschlagenden Bemühungen führt sie nur den Beweis, dass der Kredit nicht zu teuer und nicht zu knapp ist, um sich in Kapital zu verwandeln, sondern schon viel zu reichlich in Verkehr gebracht worden ist, um noch etwas kapitalistisch Produktives auszurichten. Doppelt Unrecht hat sie, wenn sie sich – bzw. der von ihr mit Geld „überschwemmten“ Unternehmenswelt – in der frommen Absicht einer allgemeinen Geschäftsbelebung ein sogar noch mit 2 % beziffertes Inflationsziel setzt. Tatsächlich bezeichnet „Inflation“ einen Effekt des staatlich approbierten, mit gesetzlichen Zahlungsmitteln operierenden, von der zuständigen Notenbank freigesetzten Kreditgeschäfts; den negativen nämlich, dass mit den verfügbaren Finanzmitteln mehr Geschäft in Gang gesetzt als lohnend zu Ende gebracht wird, weil die kreditfinanzierte Nachfrage nicht entsprechend mehr profitbringendes Warenangebot hervorbringt, sondern allseits die Freiheit zur Durchsetzung von Preissteigerungen befördert. Dass Profit aus bloßem Preisaufschlag, mit dem Unternehmer sich reihum zur Kasse bitten und schadlos halten, nicht ihren Reichtum, sondern bloß die Zahlen wachsen lässt, die ihn beziffern, macht sich unter solchen Umständen als Entwertung der Einheit geltend, in der dieser Reichtum sein Maß hat. Doch selbst ein solcher Effekt, und schon gleich eine Inflation, wie die EZB sie sich wünscht, die nämlich ein Kapitalwachstum nicht bloß durch steigende Preise vorspiegelt, sondern einen wirklichen und wirksamen Zuwachs an kapitalistischer Geldmacht relativierend begleitet: selbst das ist nur zu haben, wenn die Geschäftswelt aus eigener Berechnung auf Kredit als Wachstumsmittel zugreift. Theoretisch gesehen ist daher der Plan, per Inflation Wachstum zu induzieren, also vermittels Überreichlichkeit von Wachstumsmitteln, schon vorab gemessen in einer prozentualen Minderung des Geldwerts des kapitalistisch fungierenden Reichtums, die Akkumulation von Kapital loszutreten, ein einigermaßen absurdes Quidproquo. Praktisch gesehen ist dieser Idee immerhin zugutezuhalten, dass die EZB kein anderes Mittel zur „Ankurbelung der Wirtschaft“ hat als ganz viel ganz billiges Kreditgeld; insoweit kommt dem falschen Bewusstsein der Notenbanker eine gewisse der Profession geschuldete Notwendigkeit zu. Der unmittelbare Grund und praktische Zweck ihrer Maßnahmen ist aber sowieso nicht die Erzeugung von ein bisschen Inflation, sondern der Aufkauf von Staats- und anderen Schulden zwecks Aufrechterhaltung ihres längst angezweifelten, zwischenzeitlich schon weitgehend annullierten Börsenwerts, also zur Rettung des allgemeinen Zahlungsverkehrs und der ökonomischen Handlungsfähigkeit der Staaten, die den Euro benutzen.

Vor allem aber ist das Eine nicht zu übersehen: Dass der Euro trotz Infragestellung und zeitweiliger massiver Entwertung der auf Euro lautenden Bank- und vor allem Staatsschulden und trotz Kompensation dieser Entwertung durch EZB-Kreditgeld keinen inflationären Wertverlust erleidet; dass die Krise der Kreditgeschäfte im Euro-Land samt Verhinderung eines expliziten Offenbarungseids der Finanzwelt durch die EZB nicht zur Entwertung der Geldeinheit führt: dafür kann die EZB nichts. Das liegt an der ganz besonderen Konstruktion der EWWU, der Europäischen Wirtschafts- und Währungs-Union, deren Mitglieder ihre Geldhoheit auf die EZB übertragen haben, um national um ein und dasselbe Geld, den Euro eben, zu konkurrieren.

2. Die prekäre Stärke des Euro

Es ist, wie Kohl und Waigel es seinerzeit, vor Einführung der neuen Gemeinschaftswährung, versprochen haben: ‚Der Euro wird so stark wie die Mark!‘[2] Von Beginn an repräsentiert das neue Geld den innereuropäischen und weltweiten Konkurrenzerfolg der Unternehmen, die von Deutschland und ein paar anderen zentralen Standorten aus die Märkte beherrschen und den im Euro realisierten kapitalistischen Reichtum in ihren Stammländern konzentrieren und wachsen lassen; die Staatsschulden, die das gemeinschaftliche Kreditgeld auch repräsentiert, gelten der Finanzwelt als durch erzielte und erwartete Wachstumserfolge gerechtfertigt, also in ihrer eigenen Kalkulation schlicht als besonders sichere Geldanlage. Dass diese Erfolge sich zwischen den Nationen, deren Unternehmen und Banken überall mit demselben Geld wirtschaften und ihre Konkurrenzmacht ohne jede Modifikation durch veränderliche Wechselkurse frei zur Geltung bringen, höchst ungleich und immer einseitiger verteilen, belebt zusätzlich das Kreditgeschäft innerhalb der Union: Von jedem Wechselkursrisiko befreit, finanzieren die Geldhäuser, bei denen sich der akkumulierende Geldreichtum ansammelt, die Defizite der Länder, deren Firmen in der freigesetzten Konkurrenz schwach und immer schlechter abschneiden. Dass diese Nationen den Kredit, der ihnen gegeben wird, gar nicht zu Kapital machen, sondern in zunehmendem Maß für die Kompensation ihrer Konkurrenzschwäche verbrauchen; dass also die Wirtschaft dieser Länder das Geld, das dort ausgegeben wird, gar nicht reproduziert, geschweige denn in wachsendem Umfang: das stört bis auf Weiteres nicht, schon gar nicht die geschäftstüchtigen Finanziers. Die verbuchen es im Gegenteil als großes Plus, dass das Geld, das sich in diesen Ländern verdienen lässt, kein einheimisches Produkt ist, das mit seinem Wert, also als Maßeinheit des nationalen Kapitals und dessen Wachstums, die Schwäche der dortigen Ökonomie, die Defizite in der Reproduktion des dort verfügbaren und verbrauchten Reichtums widerspiegelt; sie profitieren davon, dass dieses Geld stattdessen das Wachstum repräsentiert, das insgesamt in der Union zustande kommt und sich in Form von wertstabilen Schuldpapieren in den Händen von Geldanlegern sowie in den erfolgreichen Nationen als Akkumulation von Gewinnen niederschlägt. Dass die im Euro-Land freigesetzte Konkurrenz das nationale Kapital in etlichen Ländern schrumpfen lässt, wirkt so als besonders günstige Geschäftsbedingung für die siegreichen Unternehmen wie fürs innereuropäische Finanzwesen und macht den Euro ‚hart‘ und ‚stark‘.[3]

Diese Idylle wird durch die Finanzkrise zerstört. Die Banken, die am heftigsten im globalen Spekulationsgeschäft mitgewirkt und folglich, nachdem die Entwertung uneinlösbarer Vermögenstitel einmal in Gang gekommen ist, am meisten zu streichen haben, „konsolidieren“ ihre Geschäftstätigkeit; sie legen an ihre weltweiten Engagements kritischere Maßstäbe an und ziehen sich aus weniger wichtigen und aussichtsreichen Geschäftssphären zurück. Das wirkt sich auf die unterschiedlich erfolgreichen Länder der Euro-Union unterschiedlich und je länger, umso drastischer aus. Die konkurrenzstarken Nationen bleiben oder werden als erste wieder Zielorte für Investitionen und ziehen vom international Anlage suchenden Geldkapital größere Anteile als zuvor auf sich. In den anderen Nationen wächst das notorische Defizit, und dessen Refinanzierung wird problematischer, also gemäß finanzkapitalistischer Logik teurer. Die Kreditwürdigkeit dieser Länder und da vor allem der Staatsgewalt, die für ihre Bewirtschaftung des eigenen Standorts und schon für ihre Selbsterhaltung Euro-Kredit braucht, wird nicht länger nach der Qualität des Geldes beurteilt, mit dem sie sich finanzieren und das nach wie vor keinem Wechselkursrisiko ausgesetzt ist, sondern an deren autonomer Leistungsfähigkeit gemessen und dementsprechend herabgestuft; das verteuert die Kredite, erschwert dementsprechend deren Refinanzierung, mindert die Kreditwürdigkeit weiter und führt die Staaten an den Rand des offiziellen Bankrotts. So bringt die Krise es an den Tag, dass etliche Mitglieder der Wirtschafts- und Währungsunion schon längst und bei Weitem nicht in der Lage sind, den kapitalistischen Reichtum zu reproduzieren – geschweige denn im Maße der akkumulierten und weiter wachsenden Schulden zu vermehren –, von dem sie leben. Sie bringt das in der Form an den Tag, dass diese Länder überhaupt kein Geld mehr haben, das für die Aufrechterhaltung ihres marktwirtschaftlichen Betriebs da sein muss: Was Staat und Geschäftsleben brauchen, um sich zu finanzieren, wird ihnen nicht mehr geliehen – und ein eigenes Kreditgeld, das ihrer Unfähigkeit zur Reproduktion ihres Geldreichtums die Form eines Wertverfalls der nationalen Maßeinheit geben würde, haben sie nicht mehr; genau das haben sie ja mit ihrem Beitritt zur Euro-Union gegen das nicht mehr national herstellbare, dafür wertstabile Gemeinschaftsgeld eingetauscht.

Die Zahlungsunfähigkeit wenden die Partnerländer, deren Schulden – mangels Alternativen mehr denn je – Anerkennung und Wertschätzung genießen, in Kooperation mit dem IWF durch Kredithilfen und -garantien ab. Die EZB übernimmt darüber hinaus mit dem Versprechen, Staatsschuldpapiere und andere Finanztitel auch aus den überschuldeten Nationen in nicht vorab begrenztem Umfang aufzukaufen, die Garantie für den Wert der Euro-Kredite, die niemand mehr haben und geben will; mit den Massen von Kreditgeld, die sie schöpft und in Verkehr bringt, sorgt sie für die Wiederbelebung des Handels mit solchen Schulden – sei es auch bloß in der Form, dass die auf ziemlich kurzem Weg bei ihr landen – und stellt so die Zahlungsfähigkeit der in der Konkurrenz unterlegenen Nationen sicher. Sie tut das gegen Widerstände und bleibende Vorbehalte der konkurrenztüchtigen Euro-Staaten, der deutschen Regierung insbesondere. Die setzt außerdem für Kredite an die sonst zahlungsunfähigen Partnerländer und für entsprechende Kreditgarantien restriktive Bedingungen durch, die auf Einhaltung der einst beschlossenen „Maastricht“-Kriterien für eine stabile Gemeinschaftswährung um jeden Preis, praktisch also darauf abzielen, den Geldverbrauch der entsprechend unter Aufsicht gestellten Länder auf das von ihnen selbst erwirtschaftete Quantum zu reduzieren. Erklärter Zweck dieser „harten Linie“ ist die Schonung der Steuerzahler in den erfolgreichen Nationen, die, in welcher Form auch immer, für die unproduktiven Schulden der schwachen Partner haften müssten – ein ehrliches Bekenntnis zum nationalen Egoismus und zum innereuropäischen Konkurrenzgeist und dazu, dass man sich diese Tugenden auf keinen Fall abkaufen lässt. Unabhängig davon jedoch, wie die politisch Zuständigen den Zusammenhang zwischen den schlechten Schulden ihrer Partner und der Belastung ihres nationalen Reichtums sehen, und erst recht unabhängig davon, wie sie ihn ihrem als „Steuerzahler“ angesprochenen heimischen Publikum vorbuchstabieren: Eine Gefahr für den kapitalistischen Erfolg der Konkurrenzgewinner ist mit der Wiederherstellung der Zahlungsfähigkeit der vor dem Bankrott geretteten Euro-Staaten und mit der „Geldschwemme“ der EZB tatsächlich gegeben. Nämlich die, dass das dermaßen vermehrte, von den Defizitländern in großem Umfang kapitalistisch unproduktiv verbrauchte europäische Kreditgeld schlicht aufgrund seiner unproduktiv eingesetzten Masse immer weniger den Geschäftserfolg vergegenständlicht, der sich in den Erfolgsnationen angesammelt hat und in freilich schwindendem Umfang noch anhält, stattdessen zunehmend die Unfähigkeit der schwachen Euro-Länder widerspiegelt, Euro-Kredit produktiv zu machen und den Geldreichtum zu reproduzieren, den sie verzehren. Einen politökonomischen Automatismus gibt es da zwar nicht. Zwischen der kapitalistischen Leistungsfähigkeit der Nationen und dem Wert des Geldes, das für die Kapitalverwertung am Standort geschöpft und verwendet wird, steht allemal die vergleichende Bewertung der Bilanzen der gegeneinander konkurrierenden Geldmächte, der vorliegenden wie der erwarteten, durch die Geld- und Finanzmärkte. Die haben aber immerhin schon einmal den schwächsten Mitgliedern der Euro-Union den Kredit gekündigt und damit die Gemeinschaftswährung selber in Gefahr gebracht. Denen ist daher auf alle Fälle zuzutrauen, dass sie, wenn Kreditgarantien und die EZB mit ihrer Geldschöpfung weiterhin und auf Dauer für eine Gleichbewertung der Staats- und andren Schulden aller Länder des Euro-Raums sorgen, also die Wirkungen eines zwischen den Euro-Ländern differenzierenden Kredit-Ratings weiter außer Kraft setzen, ihre Schlüsse auf den Wert des Geldes ziehen, das so viele und immer mehr „faule“ Schulden repräsentiert. Und dann wäre in der Tat mit dem Euro der gesamte darin gemessene Reichtum entwertet, den in so einseitig vorteilhafter Weise die Gewinner der innereuropäischen Konkurrenz bei sich akkumuliert und mit dem sie in der weltweiten Konkurrenz noch allerhand vorhaben.

Genau dagegen richtet sich die geld- und kreditpolitische Linie dieser Staaten und speziell der Deutschen. Wenn die eine gemeinsame Haftung der Euro-Länder für ihr gemeinsames Kreditgeld strikt ablehnen, den schwächeren Partnern die rigide Ausrichtung ihrer Haushalte an den – für sie längst unerfüllbaren – „Maastricht“-Kriterien zumuten, die Geldschöpfung der EZB öffentlich kritisieren, und wenn die deutsche Führungsmacht ihre Selbstverpflichtung auf schuldenfreie Budgets und die „schwarze Null“ in ihrem nächsten Bundeshaushalt mit so viel öffentlichem Lärm als historische Errungenschaft feiert, dann mögen manche Begründungen dafür noch so absurd sein: In der Sache wird da ein Kampf um den Wert des Euro geführt – also darum, dass ungeachtet der Finanzkrise, ihrer Folgen für die Haushalte der Euro-Länder und der Kompensation sich ausweitender Zahlungsunfähigkeit durch EZB-Geld die Gemeinschaftswährung von den Geldmärkten nicht an der Wachstumsschwäche der Verlierernationen gemessen, sondern nach wie vor als Resultat und Ausdruck der positiven Akkumulationsbilanz der Krisengewinner gewürdigt wird.

Die Reaktion der Märkte zeigt, dass dieser Kampf im Urteil der opportunistisch spekulierenden Schiedsrichter in den Zentralen des weltweiten Geldhandels keineswegs entschieden ist. Geführt wird er, mit zunehmender – zwischenzeitlich auch wieder nachlassender – Erbitterung, an der Front der Haushaltspolitik.

3. „Wachstum durch Schulden“ gegen „Schwarze Null“: Die Krisenkonkurrenz der Euro-Partner

Europas ‚Krisenstaaten‘ brauchen und wollen für ihren Haushalt mehr Kredit, als die Maastricht-Kriterien erlauben und als Deutschland und einige andere Partner ihnen zugestehen. Sie brauchen mehr, um ihren politischen Betrieb überhaupt noch funktionsfähig zu halten. Und sie wollen deutlich mehr, um damit ihr Land aus der Krise herauszuwirtschaften und auf Wachstumskurs zu bringen. Was sie verlangen, ist im Prinzip nichts Außergewöhnliches, sondern „antizyklische Konjunkturpolitik“: Mit mehr kreditfinanzierten Staatsausgaben will man das nationale Kapital zusätzliches Geld verdienen lassen und dazu bringen, auch mehr Gewinne zu erwirtschaften, entsprechend mehr zu investieren, dadurch noch mehr Gewinne zu machen und so immer weiter. Und wie die EZB, die mit ihrer Kreditgeldschöpfung das gleiche Ziel verfolgt, so haben auch die Haushaltspolitiker der ‚Krisenländer‘ in einer Hinsicht Recht: Die moderne Staatsgewalt setzt nicht bloß die rechtlichen Bedingungen für die kapitalistische Produktionsweise, die in ihrem Land herrschen und gedeihen soll, sondern auch wesentliche ökonomische. Speziell mit ihren Schulden stiftet sie auf der einen Seite einen Geschäftsartikel, der den Finanzinstituten als sicherer Posten für Investitionen und damit als Rückhalt für ihre Kredit- und Kreditgeldschöpfung willkommen ist. Mit den mobilisierten Mitteln schafft die Politik auf der anderen Seite Anreize für die produktive Verwendung verfügbarer Finanzmittel oder stellt sogar auf eigene Rechnung Kapitalvorschüsse bereit. Die dafür aufgenommenen Schulden belasten zwar den Staatshaushalt auf Dauer und wirken insoweit wieder beschränkend auf die Fähigkeit des Staates zu ausgiebiger Wirtschaftsförderung. Unter Umständen stiftet er damit aber Geschäfte oder sogar ganze Geschäftszweige, die in der Folge von sich aus Kapital verwerten und vermehren. Im Erfolgsfall rechtfertigt die nationale Kapitalakkumulation die staatlichen Schulden, die selbst nicht dazu da sind, zu profitbringendem Kapital zu werden. Darin liegt allerdings auch die Grenze der Macht staatlicher Konjunkturpolitik überhaupt: Sie will und soll kapitalistisches Geschäft nicht ersetzen, sondern voranbringen; die Geschäftswelt muss also schon aus eigener Berechnung und mit erfolgreicher Selbstbereicherung auf die Anreize einsteigen, die die Staatsgewalt mit ihrer Nachfrage und ihren Nachhilfen fürs Gewinnemachen und Reinvestieren setzt. Und damit ist im besonderen Fall staatlicher Krisenbewältigungspolitik klar: Wenn die Geschäftswelt mit ihren Unternehmungen gar keine Erlöse mehr erzielt, die den Aufwand rechtfertigen; wenn sie am Markt darauf stößt, dass sie schon längst zu viele Wachstumstitel und -mittel geschaffen und zum Einsatz gebracht hat, als dass die oder sogar noch mehr davon ihren Reichtum vergrößern könnten; wenn sogar dessen Reproduktion stockt: dann bleiben die vom Staat hergestellten Geschäftsbedingungen bloße Bedingungen, bedingen also gar nichts, und die dafür aufgewandten Gelder vermehren bloß den Bestand an staatlichen Defiziten.

Sicher, auch in der Krise können staatliche Gelder in einer Hinsicht einiges bewirken. Wenn genug davon zielstrebig genug eingesetzt wird, dann lassen sich damit eventuell zwischenstaatliche Konkurrenzverhältnisse verschieben; Geschäftserfolge ausländischer Konkurrenten können kaputt gemacht und auf Staatskosten ins eigene Land geholt werden. Und dass die Verlierer der innereuropäischen Konkurrenz um solche Fortschritte für ihre Nation kämpfen, wenn sie für sich den Zugriff auf mehr Finanzmittel, im eigenen wie auch in den Haushalten ihrer erfolgreicheren Partner, einfordern, das liegt auf der Hand; schließlich werden die Zuständigen ja laufend von ihren Kollegen ermahnt, mehr für die Konkurrenzfähigkeit ihrer Nationalökonomie zu tun. Aber dass sie inmitten der andauernden allgemeinen Geschäftskrise mit zusätzlichen Mitteln für ein Wachstum, das infolge allgemeiner Überakkumulation des kapitalistischen Reichtums allgemein auf der Strecke geblieben ist, schaffen könnten, was sie über die Jahrzehnte ihres Gemeinsamen Marktes und die anderthalb Jahrzehnte ihrer Währungsunion nicht geschafft haben, nämlich Geschäft im eigenen Land zu halten bzw. so viel ins eigene Land zurückzuholen, wie sie an auswärtige Konkurrenten verlieren: das ist eher nicht zu erwarten. Und schon gar nicht, dass es ihnen ausgerechnet in dieser Lage und auf diese Weise gelingen könnte, die in dieser Zeit akkumulierten Verluste und verfestigten Konkurrenzschwächen wettzumachen. Was ihnen bleibt, ist eine Erfolgsperspektive, die als Rezept zur Krisenbewältigung nicht besser ist als das Programm der EZB, durch exzessive Geldvermehrung eine wachstumswirksame Inflation herbeizuführen: Von ganz viel zusätzlichen Staatsschulden, umgesetzt in entsprechend viel zusätzliche Zahlungsfähigkeit, versprechen sich die für Europas ‚Krisenländer‘ zuständigen Regierungen eine Minderung des Außenwerts des Euro, dadurch eine Verbesserung ihrer Position in der Konkurrenz auf außereuropäischen Märkten und als Folge einer verbesserten Außenhandelsbilanz mehr Wachstum. Richtig liegen sie mit dieser Spekulation insofern, als der Wechselkurs der heimischen Währung zweifelsohne eine Konkurrenzbedingung fürs heimische Geschäft ist. Weniger richtig ist die Vorstellung, durch Manipulationen am Verhältnis von Angebot und Nachfrage ließe sich eine nachhaltige Verschlechterung des Außenwerts einer frei gehandelten Währung erzielen und damit die Konkurrenzsituation des Kapitals, das damit wirtschaftet, durchgreifend verbessern. Einfach ausschalten lässt sich der Umstand jedenfalls nicht, dass der Wechselkurs eines Kreditgelds zuerst einmal das Ergebnis des laufenden Außengeschäfts ist und ein verschlechterter Wechselkurs ein negatives, nämlich das Resultat eines notorischen Überschusses der Kreditschöpfung in einem Währungsgebiet über die Fähigkeit der dort agierenden Unternehmen, daraus sich verwertendes Kapital zu machen; also eine Bilanz flächendeckend fehlender Produktivkraft und nicht selbst eine. Zum andern sind die Wirkungen einer Minderung des Außenwerts einer Währung auf die Konkurrenzmacht der Unternehmen, die damit wirtschaften, alles andere als eindeutig; eindeutig ist nur, dass der Nutzen, der daraus erwachsen kann, hauptsächlich den ohnehin erfolgreichen Firmen zugutekommt, die auch mit höheren Importpreisen zurechtkommen und auf auswärtigen Märkten schon präsent sind – per Saldo also wieder den erfolgreichen Mächten der Währungsunion, zu denen der geschädigte Rest aufschließen will. Die finden deswegen an diesem einen Punkt in der Vorschlagsliste der ‚Krisenländer‘ auch ein gewisses Gefallen, allerdings ohne vom Standpunkt einer ‚starken‘ Gemeinschaftswährung abzurücken. In deren Kalkül stehen Größe und Erhaltung der erwirtschafteten Kapitalmacht gegen Vorteile bei deren funktionalem Einsatz.

Das ganze Experiment, mit ganz viel Euro-Kredit für die Staatshaushalte speziell der ‚Krisenländer‘ der Union deren desolate Lage zu beheben, kommt allerdings gar nicht erst in die Gänge, schon gar nicht nach Wunsch der Staaten mit dem übergroßen Kreditbedarf, weil die ökonomische Führungsmacht zusammen mit gleichgesinnten Partnern Einspruch einlegt. Sie setzt dagegen das Programm, Wachstum mit Solidität zu verbinden und jede staatliche Schuldenmacherei an die Verpflichtung auf ein ausgeglichenes Budget zu knüpfen. Ihre eigene „schwarze Null“ erklärt die Berliner Regierung zum Beweis, dass und wie gut das geht, empfiehlt sie als zwingende Richtlinie, bezweckt mit dem Selbstlob für diese großartige Errungenschaft also nicht bloß den guten Eindruck, den die Finanzmärkte von Deutschland und seinem Euro bekommen und behalten sollen, sondern auch Druck auf die Schuldenpolitik der Partner. Den verschärft sie noch nachdrücklich mit dem Verweis, dass die Euro-Länder mit dem größten Defizit und dem höchsten Schuldenstand auch die geringsten Wachstumsziffern vorzuweisen haben, womit die Untauglichkeit freihändig vermehrter Staatsschulden für ein nationales Wachstum eindeutig bewiesen sei – und hat damit in dem einen Punkt allemal Recht: Ein verlässlicher Automatismus, dass öffentliche Schulden Wachstum generieren, existiert generell nicht; übrigens auch dann nicht, wenn Verwendung geliehener Summen ausdrücklich als „investiv“ deklariert wird; und schon gar nicht, wenn Krise herrscht, Kapital sich also flächendeckend nicht mehr verwertet. Auch ohne politökonomische Begründung steht man in Berlin derzeit jedenfalls auf dem Standpunkt, mit kreditfinanzierter staatlicher Nachfrage ließe sich allenfalls ein „Strohfeuer“ entfachen. Im Namen dieser haushaltspolitischen Weisheit erlaubt man sich, den Zusammenhang zwischen staatlicher Überschuldung und nationaler Wachstumsschwäche, den es tatsächlich gibt, auf den Kopf zu stellen und dem Defizit die Schuld an seiner Ursache, der mangelhaften Erfolgsquote der nationalen Ökonomie, zu geben. Mit der Empfehlung, Wachstum gefälligst ohne vermehrte Verschuldung herzustellen, setzen die vorbildlichen deutschen Budgetpolitiker dem verzweifelten Programm ihrer Partner, mit mehr Schulden wieder konkurrenzfähig zu werden, ein nicht minder absurdes Rezept entgegen – und muten ihnen damit nichts Geringeres zu als die Einschränkung der gesamten staatlichen Tätigkeit aufs autonom mit Steuermitteln Finanzierbare. Was die Zentralmacht der Euro-Union damit kundtut, ist ihre Entschlossenheit, weder ihr Interesse an einem ‚starken‘ Weltgeld zu relativieren noch von der erreichten Überlegenheit der eigenen Nation in der innereuropäischen und ihren Stärken in der weltweiten Konkurrenz irgendetwas preiszugeben.

Der „Vorschlag zur Güte“, den der neue EU-Kommissionspräsident Juncker gleich zu Beginn seiner Amtszeit ausarbeiten lässt, fasst diese ganze Kontroverse zusammen. Die Idee, mit bloß wenigen dutzend Milliarden Euro aus den Staatshaushalten mehrere hundert Milliarden Euro in aller Welt für Investitionen in Europa, und zwar unterschiedslos in allen Euro-Ländern, flüssigzumachen, soll den deutschen Vorbehalten Rechnung tragen und gleichwohl ein so überwältigendes Investitionsvolumen akquirieren, dass die Konjunktur um einen Aufschwung gar nicht mehr herumkommt; dabei sollen alle Partner gleichermaßen, ohne Diskriminierung wegen bisheriger Konkurrenzschwäche, mit Investitionen bedacht werden. Die ‚Krisenländer‘ begrüßen die Aussicht, zu gleichen Konditionen wie die Konkurrenzgewinner an Wachstumsmittel heranzukommen; es wäre ihre Chance, den Konkurrenzkampf gegen die überlegenen Partner nicht bloß mit dem Mittel der Senkung der Lohnstückkosten durch Verarmung ihres Volkes, sondern auch mit vergrößertem Kapitaleinsatz führen zu können, durch den Armut erst kapitalistisch produktiv wird. Die deutsche Reaktion ist ebenso eindeutig: Die „Strukturreformen“, die Berlin den schwächeren Partnern abverlangt, dürften deswegen auf keinen Fall unterbleiben. Im Übrigen, so die prompte erste Antwort aus dem Finanzministerium, sei doch sehr zweifelhaft, ob es etwas nützt, in einer Lage, wo sowieso schon vorhandene, von der EZB in den Finanzmarkt gedrückte Milliardensummen nicht produktiv investiert werden, noch mehr Geld und dazu noch lauter Projekte, für die die Geschäftswelt sich nicht von sich aus interessiert, „ins Schaufenster zu stellen“. Wozu man in Deutschland allenfalls bereit wäre, das sind Umschichtungen auch in den eigenen Budgets zugunsten staatlicher Ausgaben, die in der Begriffswelt der Staatsökonomie als „investiv“ gelten und so elementare Geschäftsbedingungen wie solide Eisenbahnbrücken betreffen – und die auf alle Fälle eines nicht bewirken, nämlich eine „künstliche“ Angleichung der Verwertungsbedingungen fürs Kapital in den so verschiedenen Partnerländern. Der Missbrauch gemeinschaftlich mobilisierter Finanzmittel für einen Angriff auf Deutschlands überlegene Konkurrenzmacht, und das, ohne dass die notorischen ‚Krisenländer‘ zuvor ihre Völker mit massiver Minderung von Erwerbsquellen und Lebensstandard die Überakkumulation des europäischen Kapitals ausbaden und die Kosten der Krise zahlen lassen: das kommt überhaupt nicht in Frage.

So mag Junckers gut gemeintes Projekt ein bisschen verdecken, was es aber überhaupt nicht verhindert, sondern auf den Punkt bringt: Über den Haushaltsstreit der zuständigen Regierungen entwickelt sich die Krisenkonkurrenz der Euro-Länder zu einer politischen Streitsache, die nicht bloß die Budgetplanung der Finanzminister belastet, sondern die auf Europa ausgerichtete Staatsräson aller Beteiligten fundamental in Frage stellt.

II. Europa vollendet und zerstört dadurch seine Union

1. Die Zersetzung der europäischen Staatsräson der EU-Partner

Durch die Krise und durch die Konkurrenz um ihre Bewältigung kommt den Euro-Ländern die Herrschaft über ihren nationalen Reichtum abhanden – so hatten sie sich das bei der Schaffung eines gemeinsamen Kreditgelds für einen immerwährenden gemeinsamen Aufschwung nicht gedacht! Verloren geht nicht bloß die Fiktion, die politischen Machthaber hätten die Mehrung des kapitalistischen Reichtums in ihrem Land im Griff, könnten sie herbeiregieren und auf souverän gesetzte Ziele hinsteuern, wenn sie nur alles richtig machen. Die Unionsländer büßen wirklich etwas ganz Entscheidendes ein: die freie Verfügung der Regierenden über das Geld, das sie aus ihrer nationalen Wirtschaft herausziehen und mit dem sie ihre sämtlichen politischen Aktivitäten bezahlen, mit dem sie insbesondere Investitionen fördern, Unternehmen lenken, soziale Kosten übernehmen, also alles das tun, was die Bürger wie ihre demokratischen Herren immer wieder an die planmäßige Steuerung der Marktwirtschaft als Aufgabe guter Politik glauben lässt. Verloren geht nichts Geringeres als das souveräne staatliche Regime über den nationalen Haushalt.

Diese Einbuße trifft, auf unterschiedliche Weise, alle. Den ‚Krisenstaaten‘ wird die Hoheit über ihre nationalen Budgets durch europarechtlich geltende und geltend gemachte Einschränkungen oder sogar zeitweilig durch eine übergeordnete Finanzaufsicht aus der Hand genommen. Die finanziell besser gestellten Partnerländer einschließlich der ökonomischen Führungsnation werden, gleichfalls per Vertragsrecht und mehr oder weniger ungeachtet ihrer Parlamentsvorbehalte, eines Einspruchsrechts ihrer obersten Gerichte und aller politischen Widerstände, nolens volens für die Finanzierung des Fortbestands ihrer Union, also ihrer schwächeren Partner in Haftung genommen. Die einen wie die anderen sind nicht mehr uneingeschränkt Herr ihrer Herrschaftsmittel; und das nicht bloß aufgrund rechtlicher Verpflichtungen, die ein Souverän allemal in seinem Sinne interpretieren oder notfalls kündigen könnte, sondern als Mitglieder eines Clubs mit eigenen Kompetenzen und Institutionen, der lauter politische Fakten geschaffen hat und schafft, sowie infolge der Vergemeinschaftung ihrer Märkte, in der Euro-Zone eben sogar ihres Geldes, und der vielen ganz realen ökonomischen Sachzwänge, die sich daraus ergeben.

Diese Einbuße war gewollt. Und sie war in der Rechnung der beteiligten Souveräne gerechtfertigt durch den Erfolg, genauer: durch die Aussicht auf eine fürs nationale Wohl förderliche nationale Teilhabe am Gesamterfolg der vergemeinschafteten europäischen Wirtschaftsmacht. Mit der Krise ist dieser gute Grund verschwunden. Was bleibt, ist der Souveränitätsverlust, der sich als Einschränkung bis beinahe zur Entmachtung beim Umgang mit der herrschenden Krisenlage bemerkbar macht. Und diese Beschädigung der finanziellen Potenz und der politischen Kompetenz der nationalen Staatsgewalten passiert – und wird von denen wahrgenommen – als Einschränkung resp. Inanspruchnahme durch die Partner sowie durch eine Unionsbürokratie, die im Dienst oder zumindest im Verdacht des Dienstes an den Eigeninteressen der jeweils anderen steht. Der Souveränitätsverlust erscheint nicht nur, sondern findet praktisch statt als eigennütziger Übergriff der Partner.

Die Konsequenz hat etwas von einer historischen Ironie an sich: Das Vorhaben, zu einer immer engeren, praktisch nicht mehr auflösbaren Symbiose zu gelangen, ist gelungen – mit der Folge, dass die Krisenkonkurrenz nicht bloß die Interessensgegensätze aufleben lässt, die zwischen konkurrierenden Staaten in einer Krisenlage der Weltwirtschaft allemal an der Tagesordnung sind. Gerade die erreichte Einheit behindert zugleich die Austragung dieser Gegensätze, führt die Konkurrenten in unlösbare Widersprüche zwischen Abhängigkeit und Selbstbehauptung und stiftet zwischen ihnen einen von spezieller Feindseligkeit geprägten Dauerstreit. Mit dem machen die Partnerstaaten sich gegenseitig das politische Ziel kaputt, das jeder von ihnen verfolgt, nämlich als mit den anderen gleichberechtigter, von allen respektierter Souverän vom immer engeren Zusammenschluss national zu profitieren, ökonomisch wie weltpolitisch. Ihre Krisenkonkurrenz ist das Scheitern der europäischen Staatsräson der EU-Mitglieder.

2. Auftrieb für Europas Opposition: Eine Orgie des Nationalismus, mit ein paar Variationen

Es liegt in der demokratischen Natur der Sache, dass dieses Ergebnis die Oppositionskräfte in den EU-Ländern kräftig aufleben lässt. Die nehmen, eine jede auf ihre Art, das Scheitern der europäischen Staatsräson ihrer Nation als Versagen ihrer Regierung wahr und bauen ihren Befund in ihr überkommenes, bislang nicht zum Zuge gekommenes politisches Anliegen ein oder zu einem radikalen Angriff mal mehr auf die Führung der eigenen Nation, mal mehr auf die EU bzw. die übergriffigen europäischen Nachbarn aus. So oder so betätigen sie sich als Protagonisten des Standpunkts, dass „es“ wie bisher nicht mehr weitergehen kann, und machen auf die Weise in ihren Ländern die Notwendigkeit einer politischen Neuorientierung virulent, die aus der Krisenkonkurrenz ihrer Nationen folgt. Und fast alle kennen nur eine Alternative: mehr Vaterland.

– In den imperialistisch ambitionierten Mitgliedsstaaten, die unbedingt als maßgebliche Subjekte in ihrer Union mittun und anerkannt sein wollen, diesen Status aber durch Krise und Europas Krisenpolitik gefährdet finden, reagiert die oppositionelle demokratische Meinungsbildung mit einem entschieden antieuropäischen Nationalismus. So sieht in Frankreich der Front National seine Grande Nation durch Diktate aus Berlin angegriffen, vor allem durch die strenge ‚Austeritätspolitik‘, der Deutschland den gesamten Euro-Raum und eben auch Frankreich unterwerfen will, in ihrer Handlungsfähigkeit nach außen wie sogar im Innern beschränkt, insgesamt zur Zweitrangigkeit degradiert und dadurch gedemütigt. In Italien wirbt eine aus der bislang separatistischen Lega Nord hervorgehende gesamtnationale Partei unter Berufung auf eine verheerende Schadensbilanz als Resultat des Euro und des deutschen Euro-Regimes für die Emanzipation von ruinöser und beleidigender Bevormundung durch die Währungsunion und deren Berliner Oberaufseher. In beiden – und etlichen anderen – Fällen stellen rhetorische Angriffe aufs große Finanzkapital als einzigen Nutznießer, Appelle an die „kleinen Leute“ als die zu Unrecht Geschädigten der Krisenbewältigungspolitik der EU die Gleichung zwischen dem einfachen Volk und der Ehre der Nation her: der Ehre, die von der EU und ihrer deutschen Führungsmacht mit Füßen getreten und von der eigenen Obrigkeit nicht verteidigt wird.

– Auf der anderen Seite verfestigt sich in der BRD der Verdacht, die Erfolgsnation und deren emsige Steuerzahler würden zunehmend für den mangelnden Sparwillen ihrer schwachen Partner in Haftung genommen, zu dem Vorwurf, die Berliner Regierung ließe es zu, dass Deutschland durch die Gemeinschaftswährung, die das Land an südliche Pleiteländer fesselt, unweigerlich demnächst verarmt; als seriöser Vertreter dieses Urteils und eng verwandter Sorgen um eine intakte Heimat erzielt die AfD erste Wahlerfolge. Auf die Republik Österreich übertragen und frei von Rücksichten auf die in Deutschland noch gepflegte Moral des Anti-Rassismus und der Ächtung des Faschismus elaboriert die FPÖ diesen Standpunkt zu einem Gesamtprogramm zu restaurierender Heimatliebe, die vor allem im härteren Ausschluss von Fremdlingen und deren kompromissloser „Ausschaffung“ – wie die Schweizer Gesinnungsgenossen von der SVP sagen würden – konkret und praktisch wirksam werden will.

– Auf einer dritten Seite sieht sich Großbritanniens antieuropäischer Patriotismus durch die Krise des Euro und die Folgen der Widersprüche ihrer politischen Bewältigung oder genauer: durch die tröstliche Vorstellung, dank Distanz zum „Kontinent“ von der Finanzkrise weniger betroffen zu sein als die Euro-Länder, in seiner Absage an ein auf „Zusammenwachsen“ programmiertes Europa bestätigt; die UKIP zieht daraus die radikale Konsequenz, fordert den Ausstieg aus dem gescheiterten Unternehmen und bringt damit die etablierte Parteienlandschaft des Landes durcheinander. Auch für andere euroskeptische Oppositionsparteien – die Wilders-Partei PVV in den Niederlanden, die dänische Volkspartei, die Wahren Schweden und Finnen... – bestätigen die Wirtschaftskrise und die Schäden, die sie in ihren Ländern bewirkt, nur ihre grundsätzliche Absage an die Union: Sie nehmen den europäischen Supranationalismus ernster, als er bisher ist, nämlich tatsächlich als die Nötigung, als Europäer den angestammten nationalen Standpunkt zu verlassen und gegen einen europäischen einzutauschen; das lehnen sie ab. Das Anschauungsmaterial für das Unrecht, das die überstaatliche Gemeinschaft ihrer nationalen antut, finden sie in den armen Zuwanderern, für die sie die EU, nämlich deren Arbeitnehmerfreizügigkeit oder Asylpolitik verantwortlich machen. In der Anwesenheit der Ausländer identifizieren sie den eigentlichen, erlebbaren Anschlag des „künstlichen europäischen Multikulturalismus“ auf ihr Volk: Er verwischt die Grenze von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit. Durch die Zumutung der Präsenz von Fremden entfremdet die EU die Einheimischen ihrem Gemeinwesen und damit das nationale Kollektiv von sich selbst. Diese alternativen Nationalisten verstehen die Union als eine gewollte Verunsicherung der unbedingten Zusammengehörigkeit ihres Volkes und die ebenso gewollte Zerstörung von allem, worauf ein Patriot will stolz sein können. Europas Krise brauchen sie für diese Diagnose nicht; sie lässt sie aber auf Zulauf hoffen.

– In manchen Fällen macht sich Enttäuschung über den gescheiterten Erfolgsweg der Nation weniger oder gar nicht an der Union und deren internen Machtverhältnissen fest, stattdessen oder hauptsächlich an den Sachwaltern der eigenen Staatsgewalt, denen die Folgen der Krise und der Krisenbewältigungspolitik als fundamentales Versagen in ihrer Verantwortung für die Verfassung des Volkes angekreidet werden. Für zwei unterschiedliche Varianten dieser Opposition bietet Spanien ein Beispiel. Die Regionalparteien Kataloniens, die schon immer den Standpunkt verfechten, ihre Provinz wäre unter Wert in den Zentralstaat inkorporiert und zu Unrecht zur bloßen Provinz degradiert, wissen damit auch schon, wem sie solche Katastrophen wie eine geplatzte Immobilienblase und für die Allgemeinheit ruinöse Bankenrettungsprogramme zu verdanken haben. Weil sie diese Lage von vornherein nicht vom Standpunkt der Gesamtnation aus wahrnehmen, sondern im Namen ihres kleineren „Wir“, als Sachwalter ihrer politisch nicht zugelassenen (sub-)nationalen Sache kritisch bewerten, beweist sie ihnen einmal mehr die Ausplünderung Kataloniens durch eine anmaßende Zentrale; von solcher Fremdherrschaft befreit, wäre man ein durchaus erfolgreicher Teil der EU, Mitglied des Euro-Gewinnerteams, zu dem der Rest des Landes eindeutig nicht gehört. Ohne eine solche (sub-)nationale Ersatzperspektive artikuliert im Zentrum Spaniens eine Protestbewegung ihre radikale politmoralische Absage an die regierenden Verwalter der nationalen Wirtschaft und ihrer Krise und präsentiert sich als Wahlpartei mit Namen „Podemos“. Der Titel hat die reine kollektive Selbstermunterung zur politischen Tat ohne politische Zielsetzung, die irgendeinen guten Willen aus der großen Gemeinde der Gutwilligen ausschließen könnte, zum Inhalt und passt insofern gut zu dem Vorwurf, der einstweilen das Parteiprogramm ausmacht: Korruption. Das politische Establishment, so die kritische Diagnose, würde nur in die eigene Tasche wirtschaften anstatt zum Wohl des Landes; deswegen kann die Therapie nur lauten: Sie sollen abhauen, alle! So eine totale Subsumtion unter ihre moralischen Unsauberkeiten und allfälligen rechtlichen Verfehlungen muss eine Herrschaft sich gefallen lassen, wenn von nationalen Erfolgen, die rechtfertigen, was sie sonst noch tut und wie sie mit ihrem Volk umspringt, weit und breit nichts zu sehen ist. In der gleichen Situation und mit dem gleichen Moralismus, angereichert mit einem das Internet fetischisierenden autoritären Basisdemokratieidealismus, mit Polemik gegen das Finanzkapital und die deutsche Kanzlerin sowie mit genügend anarchischem Geist, um jede Mitwirkung an der Politik zu verweigern, erobert in Italien die Bewegung der „5 Sterne“ Parlaments- und Senatssitze.

Die politischen Standpunkte im Spektrum zwischen Nationalismus und Politmoralismus, Anarchismus und Separatismus, mit denen alte wie neu gegründete Oppositionsparteien in Europa auffällig werden, sind ebenso wie die flächendeckende Ausländerfeindschaft nichts Neues und kein Krisenprodukt. Ihre zunehmende Stärke ist aber ein Symptom; und ihre Gemeinsamkeit in dem kompromisslosen Urteil, dass „es“ in der Politik und mit deren Machern nicht so weitergehen kann wie bisher, deutet an wofür: Eine solche Opposition zeugt davon, dass in den EU-Ländern eine im Prinzip akzeptierte, weil nationalen Erfolg versprechende pro-europäische Staatsräson als festes Fundament für einen funktionierenden demokratischen Pluralismus verloren geht.

3. Die neue Perspektive der EU: Nach dem Ende der „deutsch-französischen Achse“ ein Kampf um und gegen Deutschlands Hegemonie

Die Regierungen der EU-Staaten – sogar in den zwei Sonderfällen Großbritannien und Ungarn – halten an ihrer Union fest: als der am meisten Erfolg versprechenden Option für ihre Nation, als einer aus praktischen Gründen gar nicht ohne Weiteres kündbaren politischen Realität, deswegen als fortgeltender erster Prämisse ihrer Politik. Was sie sich auf dieser Grundlage vornehmen und was sie unternehmen, um mit ihrer Krisenlage und mit ihren so eng verbündeten Konkurrenten fertigzuwerden, ist aber eines ganz sicher nicht mehr: die Fortsetzung ihrer alten Europa-Politik, in der es um einvernehmliche Funktionalisierung der Gemeinschaft, also der anderen Mitglieder fürs je eigene Wachstum an Macht und Geld ging und gehen konnte, weil und solange die – freilich schon immer sehr unterschiedliche – Teilhabe der einzelnen an einem allgemeinen Wachstum den Widerspruch des Unternehmens aushaltbar und damit haltbar gemacht hat.

Worum es stattdessen geht, das wird am Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich, den beiden zentralen Staaten der Euro-Zone und den Führungsmächten der EU, nicht bloß exemplarisch deutlich. Dort, im Verhältnis zwischen den beiden Hauptmächten, wird der Widerspruch der europäischen Einigung seit jeher ausgetragen und weiterentwickelt. Jahrzehntelang ging das in der Form vonstatten, dass diese beiden Staaten ein Einvernehmen darüber suchen, wie das Verhältnis zwischen einzelstaatlicher Autonomie und „Brüsseler“ Kompetenzen, zwischen nationalem Eigennutz und gemeinschaftlicher Haushaltsführung, zwischen Souveränität und Supranationalismus überhaupt zu gestalten wäre. Die bemerkenswert wirksame Methode, vor allem auf dem Feld der Ökonomie Sachzwänge der wechselseitigen Abhängigkeit der Mitgliedsländer zu stiften und daraus gesamteuropäische Regelungsbedürfnisse und -kompetenzen zu entwickeln, hat nie von allein funktioniert, sondern allemal den Konsens der beiden Großmächte gebraucht, um wirklich politisch wirksam zu werden. Schon immer war das ein Konsens ungleicher Partner: zwischen einem weltweit erfolgreichen kapitalistischen Koloss auf der rechten Rheinseite, der mit seiner Weltwährung, der D-Mark, für die Konkurrenz der nationalen Ökonomien Europas die Maßstäbe gesetzt hat, und einer auch ökonomisch einigermaßen ebenbürtigen Atommacht auf der anderen Seite, die das ökonomische Übergewicht der Deutschen im gemeinsamen Markt politisch relativiert, eine deutsche Hegemonie in und über Europa verhindert und dadurch das widersprüchliche Konstrukt einer Union nationaler Souveräne unter kollektiver Leitung, mit gleichen Rechten für alle und eindeutiger Hierarchie zwischen den Mitgliedern, überhaupt erst möglich und wirklich gemacht hat: eine Kombination, die sogar nach der Verschiebung der innereuropäischen Machtverhältnisse durch die Ausdehnung der BRD bis an Oder und Neiße sowie durch die Befreiung des Frontstaats der Freien Welt von der „sowjetischen Gefahr“, wenn auch nur mühsam, noch aufrechterhalten wurde.

Von dieser für die EU essentiellen „deutsch-französischen Achse“ ist mittlerweile fast nur noch im Rückblick die Rede. Zu offensichtlich ist, dass beide Seiten diesen Konsens, wenn sie ihn überhaupt suchen, nicht mehr so richtig finden. Wenn die deutsche Regierung ihren französischen Partner mit seiner Forderung nach Vergemeinschaftung wenigstens eines Teils wenigstens der neu aufzunehmenden Euro-Staatskredite oder wenigstens einer gewissen Haftung dafür seit Jahren auflaufen lässt, wenn sie ihm aktuell den Wunsch nach einer gemeinsamen, gemeinschaftlich finanzierten Wachstumspolitik abschlägt und stattdessen penetrant die eigene Forderung nach Haushaltsdisziplin und „Strukturreformen“ entgegenhält, wenn sie auch Frankreich gegenüber auf planmäßiger Reduzierung der Budgetdefizite besteht, weil sonst der „Reformeifer erlahmen“ könnte, dann sind da nicht bloß verschiedene, eigentlich unvereinbare wirtschaftspolitische Konzepte im Spiel, die in der Europa-üblichen Manier auf irgendeinen gemeinsamen Teiler heruntergebrochen werden. Vielmehr bekundet da die deutsche Seite ihre prinzipielle Missbilligung der Politik, die in Paris gemacht wird; das will sie schon klargestellt haben, dass sie Frankreich als Verlierer der laufenden Krisenkonkurrenz einschätzt und zu behandeln gedenkt und Gleichrangigkeit im Regime über den europäischen Wirtschaftsraum und dessen Reichtum nicht mehr zubilligen kann. Deutschland präsentiert sich so eindeutig, wie es diplomatisch gerade noch geht, als die Garantiemacht der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, als Garant des gemeinsamen Kreditgelds und insofern der Kreditwürdigkeit der Euro-Partnerländer, also auch der Zahlungsfähigkeit Frankreichs. Für Deutschland fällt das nationale Interesse an einer starken Währung und an der Durchsetzung strikter Haushaltsdisziplin in den Euro-Ländern gemäß deutschem Vorbild und unter deutscher Regie nahtlos zusammen mit den Notwendigkeiten des ökonomischen Überlebens der Union, in deren Namen man auch dem großen Partner Frankreich die souveräne Verfügungsmacht über seinen nationalen Reichtum bestreitet, der eben nicht mehr allein sein nationaler Reichtum ist. Wenn auf der anderen Seite die französische Regierung für Konzessionen in der Budget-Frage und um eine gemeinschaftliche Wachstumspolitik streitet, dann hat sie die Schwächen des nationalen Kapitalismus im Blick, die unter dem Diktat der geforderten ‚Sparpolitik‘ jedenfalls nicht zu beheben sind; sie hat außerdem eine zunehmende Arbeitslosigkeit im Land vor Augen und eine weitere Reduzierung ihrer Mittel, damit sozialpolitisch umzugehen; und nicht nur das. Was Berlin verlangt, ist ein Schlag gegen die Handlungsfähigkeit des französischen Staates überhaupt, den die Regierung in Paris nicht bloß dulden, sondern selber führen soll: vom französischen Standpunkt aus nicht viel weniger als ein Verrat an der großen Sache der Grande Nation. Und trotzdem sieht man sich in Paris nicht in der Lage, schlicht und entschieden zurückzuweisen, was de facto und im eigenen Urteil die Degradierung Frankreichs zur Zweitrangigkeit im europäischen Verbund bedeutet.

Natürlich wird das deutsch-französische Einvernehmen, dem seine Basis und seine europapolitische Substanz abhanden gekommen ist, von keiner Seite offiziell gekündigt. Das Bemühen darum hat aber einen neuen Inhalt. Für die eine Seite geht es um die zugestandene Durchsetzung ihrer Richtlinienkompetenz; die andere Seite kämpft schon mehr um die Begrenzung und Beschönigung als um die Verhinderung ihres Statusverlusts. Eine „Achse“, ohne Bild gesprochen: die Fortführung des Kunstwerks einer gemeinsamen Dominanz in und über Europa ist das auf alle Fälle nicht mehr. Damit kommt nicht bloß den deutsch-französischen Beziehungen die entscheidende Geschäftsbedingung, sondern der EU insgesamt und der Währungsunion ganz speziell ihre unerlässliche Funktionsbedingung abhanden: die Freiheit eines jeden Mitglieds, sich in die Unions-Hierarchie ein- und einem gemeinsamen Regime unterzuordnen und dabei vorzubehalten, welcher Seite im „Führungs-Duo“ man sich zuordnet, und auf die Art mitzuentscheiden, wie es mit Regime und Hierarchie weitergeht. An die Stelle tritt ein Machtkampf mit neuem Inhalt. Der deutschen Seite geht es um die teils dementierte, teils mit allerlei Seufzern über die schwere Verantwortung in Anspruch genommene Führerschaft im Bündnis, eben um die Hegemonie, die bislang eine mit Frankreich geteilte und insofern keine war; und dabei, weil den Partnern ihre Souveränität ja nicht genommen wird, nicht einfach um Gefolgschaft, sondern um die Zustimmung der Partner zu ihrer Unterordnung unter die Bedingungen, die man in Berlin für den souveränen Gebrauch der nationalen Macht erlässt, also zur Einordnung in eine endlich eindeutige Hierarchie. Die Partner ihrerseits stehen vor der Entscheidung, ihre bisherige Europa-orientierte Staatsräson durch einen Kampf entweder gegen ihre Unterordnung unter Deutschlands Richtlinienkompetenz oder um ein nationales Arrangement damit zu ersetzen – oder dann doch das Abenteuer einer Kündigung zu wagen.

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Wie der Fortgang der Krise, die Widersprüche der europäischen Krisenpolitik, der jeweilige innere oppositionelle Aufruhr und die Notwendigkeiten einer gründlichen Umorientierung der Staatsräson – also was im vorliegenden Artikel als Europas neue Lage skizziert ist – Deutschlands Partnerländer durcheinanderbringen, soll in den folgenden Nummern an einigen Fällen, teils im Anschluss an die Artikelfolge in den Heften 1 bis 3-13, untersucht werden. Den Anfang macht der Aufsatz über den ganz speziellen Fall Ungarn in dieser Ausgabe.

[1] Alles Wissenswerte dazu steht schon in dem Artikel Mega Mergers – Kapitalkonzentration im globalen Maßstab in Heft 4-98.

[2] Es lohnt sich, dazu in den Heften 2-97, 3-97 und 2-98 den Artikel über die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion: Europa verschafft sich neues Geld – und verliert dabei seinen Kredit nachzulesen.

[3] Von den zahlreichen Artikeln zum Thema im Gegenstandpunkt ist speziell der aus Nummer 1-13 einschlägig: Von der D-Mark zum Euro und keinesfalls wieder zurück: Deutschlands Anteil an Europas Finanzkrise und sein imperialistisches Interesse an ihrer Bewältigung.