Europa (V): Die innere Verfassung
Die Krise des europäischen Projekts und ihre Produktivkraft für den Machtkampf der EU-Nationen
Die EU-Nationen streiten ums gemeinsame Geld, ausgerechnet die deutschen Erfinder des Stabilitätspakts und Frankreich nehmen für sich in Anspruch, dass der Stabilitätspakt für sie nicht gilt, wenn die Krise der kapitalistischen Akkumulation dazu führt, dass ihre Haushaltsrechnungen nicht mehr aufgehen. Damit ist der Kampf um Über- und Unterordnung in Europa neu eröffnet. Die EU-Staaten streiten auch um ihre strategische Ausrichtung darum, wie sich jeder Staat für sich und alle gemeinsam aufstellen sollen gegen das von den USA geforderte Weltordnungsmonopol. Und sie streiten um die europäische Verfassung, die zum Inhalt haben soll, die faktischen Kräfteverhältnisse zwischen den Nationen in der verfassungsmäßig festgelegten Hierarchie widerzuspiegeln – ein für alle Mal.
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Europa (V): Die innere Verfassung
Die Krise des europäischen Projekts und ihre Produktivkraft für den Machtkampf der EU-Nationen
Eins kann man Europas unierten Vaterländern nicht bestreiten: Sie haben es weit gebracht mit ihrem Projekt, eine gemeinsame Macht auf die Beine zu stellen, dieser eine gewisse eigenständige Existenz zu verleihen und den einschlägigen Institutionen Hoheitsrechte zu übertragen, ohne ihre Souveränität wirklich zugunsten eines neuen Souveräns aufzugeben. Ihrer Konkurrenz gegeneinander – um Welterfolge bei der nationalen Erwirtschaftung kapitalistischen Reichtums und um politische Zugriffsmacht auf andere Staaten – haben sie die fest institutionalisierte Zielrichtung gegeben, auf dem Wege wechselseitiger Ausnutzung und einer kollektiven Aufsicht darüber gemeinsam stärker zu werden, nämlich zum dominierenden Wirtschaftszentrum der kapitalistischen Welt aufzusteigen und sich aus eigener Kraft die strategische Ordnungsmacht zu verschaffen, die eine solche kapitalistische Supermacht zu ihrer Sicherheit braucht. Sie haben keinen Widerspruch und keine noch so verwegene Konstruktion gescheut, sind mit einander und mit der kapitalistischen Weltmacht Nr. 1, den USA, die verlogensten Kompromisse eingegangen, um ihren Staatenbund nach und nach zu einem imperialistischen Machtzentrum fortzuentwickeln, als dessen Teilhaber sie national ganz entscheidend mehr vermögen und ausrichten als „im Alleingang“. Den in ihrer Konstruktion programmierten mehrschichtigen Konkurrenzkampf – der mächtigen Teilnehmer untereinander um die politische Federführung in ihrer „Union“ sowie mit den Schwächeren und den Kleineren um deren freiwillige berechnende Unterordnung und Beihilfe – führen sie so, dass sie ihn im Rahmen einer von den jeweiligen Gegenspielern noch tolerierten Erpressung halten oder immer wieder darauf zurückbiegen, ohne das Ziel einer einheitlich und entsprechend druckvoll handelnden kollektiven Weltmacht aus den Augen zu verlieren.
Derzeit allerdings sind die EU-Mitgliedsstaaten dabei, ganz neu auszutesten, was sie in ihrem Machtkampf um ihre projektierte kollektive Weltmacht einander zumuten können.
I. Wem gebührt die Macht über das Geld Europas?
a) Die Staaten der Europäischen Union streiten sich ums Geld. Aber nicht bloß – wie immer – ums Geben und Nehmen von Haushaltsmitteln. Sie streiten untereinander und mit der EU-Kommission über nationale Schulden-Bilanzen und die Eröffnung von Strafverfahren nach Maßgabe der Kriterien des „Stabilitätspakts“, also um den erlaubten oder unerlaubten Gebrauch des Gemeinschaftsgeldes. Und das in einer Frontstellung, an die bei der Einführung dieses Vorschriftenkatalogs und des neuen Geldes wirklich nicht gedacht war: Ausgerechnet den beiden Stärksten, dem ökonomischen „Schwergewicht“ der EU, Deutschland, sowie Frankreich präsentieren ausgerechnet etliche kleinere und notorische „Nettoempfänger“-Länder sowie der zuständige EU-Finanzkommissar, der Kontrollbeauftragte der Gemeinschaft, die kritische Abrechnung und verlangen ein förmliches Einschreiten. Ausgerechnet der deutsche Urheber und Hauptverfechter der ominösen Kriterien verstößt gegen sie, kündigt gar die Wiederholung des Verstoßes für das nächste Jahr an und wehrt sich gegen die fällige Anwendung des vorgesehenen „Sanktionsmechanismus“ auf den eigenen staatlichen Geldgebrauch.
b) Grund für diesen Streit ist einerseits die ökonomische Krisenlage der beiden Führungsnationen. Noch weniger als bei allen anderen gehen bei ihnen die nationalen Haushalte so auf wie geplant. Statt wachsender Einnahmen sind stets aufs Neue auf der einen Seite Steuerausfälle, auf der anderen Seite unproduktive Zahlungsverpflichtungen und folglich wachsende „Finanzierungslöcher“ zu verbuchen. Der andauernde „Konjunktureinbruch“ beschert den Regierungen in Berlin und Paris mittlerweile Haushaltsdefizite und Schuldenanhäufung über das Maß hinaus, das ihnen der Stabilitätspakt genehmigt. Auf einmal werden sie zum Objekt jenes politischen Aufsichtsregimes, dessen berufene Hüter sie sein wollten. Und das ist nicht bloß für sie eine Blamage, sondern zugleich für das wirtschaftspolitische Erfolgsrezept, das im Inneren der Union gegen alle Widerstände verbindlich institutionalisiert wurde, um – so die offizielle Maßgabe – dem neu geschaffenen Gemeinschaftsgeld trotz Abwesenheit eines einheitlichen politischen Kommandosubjekts das Vertrauen der internationalen Kapitalbesitzer und damit die nötige Schlagkraft in der Konkurrenz nach Außen zu sichern. Die einschlägige Legende hieß: Unsolides Staats-Haushalten durch zu viel Schulden macht Geld weich und ist deshalb schuld an wirtschaftlichem Niedergang. Ein gemeinsam nach strengen Verschuldungsregeln gebrauchtes und gehütetes Geld sollte umgekehrt Stabilität und Schlagkraft des verfügbaren Nationalkredits und damit ein beständiges Kapitalwachstum verbürgen, das die EU zum gleichwertigen Konkurrenten der USA bei der Beherrschung der Weltmärkte aufsteigen lassen würde. Dieser Königsweg zum Erfolg erweist sich als politischer Idealismus. Die Krise ist die praktische Klarstellung, dass die Tauglichkeit des Kreditgeldes, das Staaten „schöpfen“ und wie pfleglich auch immer dosieren, sich dann doch daran entscheidet, ob es sich als Ausgangspunkt und Mittel lohnender Geschäfte bewährt und damit auch Staatsschulden in Kapital verwandelt und auf diese Weise rechtfertigt. Sie ist, dasselbe umgekehrt, die Demonstration, dass, wenn „das Wachstum fehlt“, der Imperativ: „Keine Erhöhung der Verschuldung!“, um die „Geldwertstabilität“ zu gewährleisten, nicht einzuhalten ist und dass er – erzwungenerweise wahr gemacht – genauso kontraproduktiv wirkt wie eine Aufblähung unproduktiver Schulden..
Da hilft es auch nichts, dass, Krise hin, Haushaltsdefizite her, der Euro so „stark“ ist wie nie: Seine interne Härte – „aktuell geringe Inflationsgefahr“ – ist die Folge dessen, dass er zu wenig als Geschäftsmittel benutzt wird, weil die beschränkte zahlungsfähige Nachfrage des „Marktes“ den gewinnträchtigen Verkauf von Waren untergräbt. Deshalb die nicht ausgeräumten Sorgen um eine womöglich doch drohende Deflation. Seine Stärke im Verhältnis zum Dollar ist überdies auch kein Grund zur Freude, sie ist ja gerade nicht Ergebnis eines wachsenden Konkurrenzerfolgs, der vom europäischen Kapitalstandort ausginge. Der dumme Spruch der „Analysten“, dass „nicht der Euro stark, sondern der Dollars schwach ist“, drückt dies aus und will vor der gefährlichen Abhängigkeit ‚unserer‘ europäischen Währung von den „Daten“ warnen, welche die USA vorgeben. Der hohe Eurokurs ist das Resultat dessen, dass Amerika mit seinem Dollar hemmungslos den Kredit der ganzen Welt benutzt, um die globale Vorwärtsverteidigung seiner Weltmachtinteressen zu finanzieren, damit weit höhere Wachstumsraten bewirkt, als die EU zustande bringt, und sich nicht einmal darum kümmert, dass „die Kapitalmärkte“ den exorbitanten Schuldenstand der USA mit Abstrichen beim Dollarwert quittieren.
c) Die Krise der kapitalistischen Akkumulation mit ihren Auswirkungen auf die nationalen Haushalte ist andererseits nicht mehr als die ökonomische Lage, mit der die großen Kapitalstandorte Europas sich auseinandersetzen müssen. Zum Streit kommt es, weil alle Beteiligten mit dieser Lage entschieden national umgehen. Und das eben nicht nur in dem Sinn, dass alle EU-Regierungen das gleiche Krisenbewältigungsrezept verfolgen, nämlich national und gegeneinander mit großzügiger „Entlastung“ des Kapitals – Steuersenkung plus Verarmung der von Arbeit lebenden oder frei gesetzten Menschheit zwecks Abbau von „Lohnnebenkosten“ – und „Innovations“-Offensiven dem Wachstum an ihrem Standort auf die Sprünge zu helfen versuchen. Zum gegenwärtigen Streit kommt es dadurch, dass die einen sich einseitig von den Pflichten des Stabilitätspakts dispensieren, andere gegen diesen „Bruch des Paktes“ vorgehen – von beiden Seiten her das Gegenteil der Schlussfolgerung, die im Sinne der Zielsetzung der Union ja durchaus zu ziehen wäre: dass ein gemeinsamer Wirtschaftsraum mit einem gemeinsamen Geld auch eine gemeinsame Wirtschaftspolitik braucht, die Suche nach einer neuen Wachstumspolitik für die gesamte Union ansteht, oder irgendetwas von der Art. Um eine „angemessene Konjunkturpolitik“ für den gesamten Laden dreht die Kontroverse sich überhaupt nicht – was man auch daran ersehen kann, dass der EU-Kommissionspräsident – und nicht nur er – denselben Pakt, den er neulich noch als „dumm und unflexibel“ kritisierte, jetzt verteidigt, indem er auf seiner Gültigkeit und konsequenten Anwendung besteht. Was die EU-Kommissare und Staaten gegeneinander aufbringt, sind keine Meinungsverschiedenheiten und Interessengegensätze in der Frage einer zweckmäßigen Krisenbewältigungspolitik der Gemeinschaft, weshalb eine einvernehmliche Beratung und Beschlussfassung hinsichtlich einer neuen geld- und wirtschaftspolitischen Ausrichtung der Union auch erst gar nicht beantragt wurde.
d) Der Inhalt des Streits ist vielmehr die Frage, wer was darf. Deutschland und Frankreich bestehen auf der Unbestreitbarkeit ihres nationalen Rechts, dem eigenen Haushalts- und Wachstumsinteresse Vorrang vor Gemeinschaftsregeln einzuräumen, die es behindern. Ihre Finanzminister unterstreichen die Kompromisslosigkeit, mit der sie europäische Kontroll- und Sanktionsrechte gegen das eigene Haushaltsgebaren zurückweisen, mit Totschlags-‚Argumenten‘ des Typus „Meine Regierung ist vom deutschen Volk gewählt und ich bin für seinen Nutzen verantwortlich!“ (Eichel), also mit der feierlich beeideten Pflicht, sich keinem höheren Interesse aus Brüssel oder anderswo zu beugen. Umgekehrt die anderen. Sie bestehen auf der gleichen Pflicht aller Mitgliedstaaten, sich dem einmal vereinbarten Vorschriften- und Sanktionswesen zu unterwerfen, bestreiten den Großen also das Recht, dieses, im Falle der Betroffenheit ihrer Nationen, einfach außer Kraft zu setzen. Die Berufung auf die Wohlfahrt des europäischen Großen und Ganzen, die natürlich alle Seiten beherrschen, ist eine Heuchelei, die den eigentlichen Kern der Auseinandersetzung kein bisschen relativiert, eher noch unterstreicht: Es geht darum, welche Nation und in welchem Maße ihre Interessen tatsächlich mit denen der EU gleichsetzen, d.h. in ihr durchsetzen kann – also um die Machtfrage, die im Stabilitätspakt schon immer enthalten und in dem damit verbundenen Kontrollregime auch schon ziemlich hart beantwortet war. Denn mit der allgemeinen Verpflichtung auf währungspolitische Disziplin sind dem freien Gebrauch des vergemeinschafteten Kreditgeldes, also einer eigenmächtigen Haushaltspolitik und damit dem nationalen Regieren überhaupt gewisse Schranken gesetzt worden: Die nach wie vor auf eigene Rechnung kalkulierenden und haushaltenden Euro-Nationen haben sich mit dem Mechanismus des Stabilitätspakts so etwas wie ein reales wirtschaftspolitisches Regime auferlegt, ohne eine wirkliche Wirtschaftsregierung zu schaffen – eine EU-typische Ersatzkonstruktion für die Unterordnung unter einen neuen wirtschaftspolitischen Souverän, für die Preisgabe nationaler Souveränität, die kein Mitgliedsstaat zugestehen wollte und will. Dabei haben vor allem die Deutschen sich nicht bloß als Vorbild gesehen, dem alle anderen nacheifern sollten – ohne deshalb selber zu lauter kleinen Deutschlands zu werden, der Aufstieg zu ebenbürtigen Konkurrenten der BRD war nicht im Angebot! –, sondern in der Rolle der Kontrollmacht, der als Haupt-„Sponsor“ des neuen Gemeinschaftsgeldes und als dem entscheidenden Garanten seines Werts und eines dadurch induzierten Wachstums automatisch ein maßgeblicher Einfluss auf den Geldverbrauch der minder großen und minder bemittelten Partner zufallen müsste. Jetzt steht die BRD nicht mehr für garantierten Erfolg; entscheidend für die Macht des europäischen Kreditgeldes und das Wachstum in Europa ist sie aber auch mit ihren mangelnden Erfolgen und mit ihrer krisenhaft angefressenen Ökonomie nach wie vor. Diese Machtposition macht die deutsche Regierung – gemeinsam mit der französischen – geltend und nimmt sich die Freiheit heraus, die eigene Unterordnung unter das Euro-Regime praktisch aufzukündigen, es also als kollektiv gehandhabtes Ordnungsinstrument insoweit unwirksam zu machen.
Damit haben die BRD und Frankreich den Kampf um Über- und Unterordnung in Europa neu eröffnet.
e) Es ist daher auch keine Überraschung, dass die EU-Kommission – unter Berufung auf ihren Auftrag als überparteilicher Hüter und Vollstrecker des beschlossenen Geldbetreuungs-Regimes – auf dem vorgesehenen Kontroll- und Sanktionsverfahren, auch gegen derart prominente Verstoßer, besteht. Sie sieht in der deutsch-französischen Selbstermächtigung zur Missachtung der Imperative aus Brüssel einen Angriff auf die gültige Geschäftsordnung der Europäischen Union und darin nicht zu Unrecht den Versuch einer Entmachtung der Gemeinschaftsinstitutionen, allen voran der Kommission selbst.[1] Dabei aber bleibt es nicht. Eine Reihe von Regierungen, deren Nationen eher für die Rolle der Kontrollierten als für die der Kontrolleure „vorgesehen“ waren, entdecken in der deutsch-französischen Blockade des Stabilitätspakts, gleichfalls nicht zu Unrecht, die Beanspruchung von exklusiven Vor-Rechten und einer neuen Sorte von wirtschaftspolitischer Definitionshoheit durch die „Achse Paris–Berlin“. Sie entwickeln ein Gespür für die „Gunst der Stunde“ und fabrizieren aus dem wirtschaftspolitischen Schaden, der die Stärksten und damit nicht bloß diese trifft, sondern alle anderen ebenfalls in Mitleidenschaft zieht, eine Gelegenheit, ein disziplinierendes Vorgehen gegen die schwächelnden „Zuchtmeister“ zu beantragen und zu betreiben. Sie bestehen auf Kriterien und Sanktionsmechanismus; nicht aus Sorge um die Stabilität des gemeinsamen Kreditgelds, sondern mit dem Ziel, die Gleichheit aller Euro-Nationen vor dem vereinbarten Regelwerk einmal praktisch wahr werden zu lassen und so den Anspruch der Deutschen und der Franzosen zu entkräften, ihnen käme allein wegen ihrer faktisch entscheidenden Größe auch schon die maßgebliche Entscheidungsmacht über die Handhabung des Geldes und der Aufsicht darüber zu. So versuchen sie, die Krise und die dadurch gegebene Bedrohung der deutsch-französisch-europäischen Konkurrenzposition zu nutzen, um eine Korrektur der politischen Kräfteverhältnisse innerhalb der Union zu bewirken, d.h. für ihre Nationen Vorteile in der – nach wie vor unentschiedenen – Machtfrage herauszuschinden.
f) Die so angegriffenen Führungsmächte kommen ihrerseits ganz brutal auf denselben Kern der Sache. Wenn sie das nationale Anliegen, das sie gegen die Regeln des Stabilitätsregimes durchpowern, als Vorteil für die Union als ganze deklarieren; wenn sie unter gar nicht dezentem Hinweis auf ihren mächtigen Anteil an der gesamten EU-Wirtschaftskapazität ihre wirtschaftspolitische Rücksichtslosigkeit als Bedingung für einen Aufschwung aller anderen ins Feld führen; wenn sie also die Abhängigkeit des Rests der Union von ihrer Reichtumsproduktion betonen und daraus ableiten, dass sie nie und nimmer Opfer eines Haushaltskontrollregimes sein können, sondern ihnen als den maßgeblichen Wirtschafts-Subjekten die „flexible Interpretation“ des Vertragstextes, also die Entscheidung über seine korrekte Anwendung obliegt; dann machen sie ganz ohne Umweg über den quasi unpersönlichen, „automatisch“ in Gang gesetzten Mechanismus eines alle gleichermaßen verpflichtenden Stabilitätspakts dessen machtpolitischen Sinn und Zweck geltend: Sie bestehen auf ihrer Freiheit im Gebrauch von Geld und Kredit, sprich: der Mittel der Gemeinschaft, und darauf, dass die anderen die Folgen solch souveräner Selbstbedienung hinzunehmen haben. Sie beanspruchen – ausdrücklich – eine Sonderstellung, welche die oberste Verfügungs- und Leitungskompetenz in Sachen Wirtschaften im gesamten Euro-Raum wie selbstverständlich einschließt. Sie fordern das Eingeständnis der anderen sowie der Gemeinschafts-Institutionen, dass ihnen dieses Recht auch zusteht, den Kleineren also nichts anderes übrig bleibt, als sich ihren Weisungen zu fügen. Für den „Motor“ der EU, als der sich Deutschland und Frankreich immer schon verstehen, hat spätestens die krisenbedingte Betroffenheit durch den Pakt bewiesen, dass dieses Regime ohnehin kein tauglicher Ersatz für ein effektives Kommando über die Schöpfung und Verwendung des gemeinsamen Kreditgeldes darstellt – wie sie es gern hätten. Mit dem schieren ‚Argument‘ der ökonomischen Überlegenheit bestehen sie nunmehr auf der Anerkennung des Kräfteverhältnisses innerhalb der Union als hinreichendem Grund für die Unterordnung der Politik der Union und aller sonstigen Mitglieder unter ihre nationalen Interessen an und Kalkulationen mit Europa. So machen sie aus der Krisenlage ihrer Ökonomie eine Offensive in der Machtfrage; eine Offensive, welche die indirekten Mittel des quasi-sachlichen, kollektiven Kontrollregimes durch die Instrumente regelrechter Erpressung ersetzt und auf die Art die Entscheidung des innergemeinschaftlichen Machtkampfes vorantreibt.
II. Wer schafft die strategische Macht (über) Europa?
a) Die EU-Staaten streiten um ihre weltpolitische und strategische Orientierung: um den „richtigen“, d.h. Erfolg versprechenden Standpunkt in den großen Fragen des „Imperialismus heute“, den die Union und jedes ihrer Mitglieder einnehmen sollen; um den strategischen Stellenwert in den Gewaltaffären auf dem Globus, den sie selber anstreben und für die Union als ganze vorgesehen haben; dementsprechend um die Bedeutung der Allianz mit der Weltmacht USA und den wünschenswerten Grad sicherheitspolitischer Autonomie. Sie streiten über die dafür aufzuwendenden militärischen Mittel, über das nötige bzw. wünschenswerte Maß an „Kooperation“, „Integration“ und „Bündelung der Kräfte“ und um die Verfügungsgewalt über das in Europa bereits angehäufte, noch einzugemeindende und noch zu beschaffende Arsenal an menschlichem und technischem Kriegsgerät.
b) Dieser Streit hat einerseits seine aktuelle Schärfe dadurch bekommen, dass die USA mit ihrem „Krieg gegen den Terrorismus“ neue weltpolitische und strategische Fakten gesetzt haben, die die bisherigen Geschäftsgrundlagen der internationalen Konkurrenz und damit den Erfolgsweg, den erreichten politökonomischen Besitzstand und erst recht die ehrgeizigen Zukunftsprojekte der europäischen Nationen massiv in Frage stellen:
- Ansatzweise und soweit sie es vermag, verfügt die US-Regierung die Zulassung zum und den Ausschluss vom globalen Geldverdienen nach Maßgabe der „Willigkeit“, die andere Staaten im Kampf gegen das von Washington identifizierte Böse an den Tag legen. Das gefährdet die ordnungspolitische Grundlage des europäischen Wirtschafts-Imperialismus. Diese bestand in der Lizenz zum freien kapitalistischen Zugriff auf alle möglichen Reichtumsquellen, „Märkte“ wie Produktionsstandorte, beschränkt nur durch das jeweilige nationale Vermögen, die Mittel zu ökonomischer Ausnutzung und friedlicher Erpressung, sowie durch den selbstverständlichen Vorbehalt, dass die „europäischen Partner“ mit ihren Konkurrenzpraktiken den Rahmen der „westlichen“ Weltordnung nicht sprengen, vielmehr ihren Beitrag zu deren erfolgreicher Globalisierung gegen das „Reich des Bösen“ leisten. Jetzt sind die EU-Mitglieder vor die Entscheidung gestellt, wie sie ihre Teilhabe am Weltgeschäft in Zukunft sicherstellen wollen: mit den USA, also in Unterordnung unter deren Maßregeln und Ansprüche, oder gemäß autonomer Kalkulation und nur soweit unvermeidlich in Respekt vor den Direktiven und den Interessen Washingtons.
- Mit dem Afghanistanfeldzug und erst recht der Eroberung des Irak haben die USA die Durchsetzung einer neuen Weltgewaltordnung: die aktive Unterbindung und Eliminierung aller wirklichen und denkbaren Gefahren für die Sicherheit ihrer Interessen überall auf der Welt, in Angriff genommen. Sie haben ihre Entschlossenheit zur – wo immer nötig – kriegerischen Umgestaltung der lokalen und regionalen Herrschaftsverhältnisse, und zwar für Freund und Feind gleichermaßen eindeutig, unter Beweis gestellt. Sicherheit für Amerika und Frieden für die Welt sind Synonyme, erstere die Bedingung für letzteren. Bei der Vollstreckung dieses Programms gegen dementsprechend definierte Feinde lässt sich Amerika von nichts und niemandem aufhalten. Seine militärische Überlegenheit gibt ihm Recht. So macht die Weltmacht die Welt radikal unsicher, darunter nicht wenige Ergebnisse erfolgreicher diplomatisch-erpresserischer Beziehungen, welche die europäischen Nationen für sich verbuchen konnten. Dabei und dafür, also für die pro-amerikanische Unterwerfung des Globus, nehmen die USA die politischen Machtmittel und militärischen Potenzen ihrer Verbündeten in Anspruch, wie selbstverständlich – denn wozu wären sie sonst Verbündete – und bei Strafe imperialistischer „Irrelevanz“ im Fall verweigerter Solidarität. Sie untergraben damit alle Ambitionen der Europäer – und dies ist durchaus beabsichtigt! –, sich ihrerseits zum „weltpolitischen Akteur“ zu „emanzipieren“, also vermehrt und zunehmend eigenmächtig strategischen Einfluss auf den Gang des Weltgeschehens zu nehmen. Und sie stellen damit die Europäische Union, genauer: deren einzelne Mitglieder, abermals vor die Entscheidung, sich als mehr oder weniger wertvolle Helfershelfer Amerikas dessen politische Anerkennung zu verdienen oder bei strategisch wichtigen Etappen und Schauplätzen der gewaltsamen Neuordnung und Neuaufteilung der imperialistischen Zuständigkeiten ganz aus den für sie folgenschweren Entscheidungen ausgeklinkt zu werden – also so oder so den Verlust weltpolitischer Bedeutung zu riskieren.[2]
c) Dass die Europäer auf diese von den USA geschaffene „Lage“ mit Streit reagieren, ist andererseits ganz und gar die eigene Leistung der EU-Nationen selber. Das Ideal, dem sie sich explizit verpflichtet haben, würde umso mehr Zusammenschluss gebieten; im Sinne der immer wieder beschworenen Notwendigkeit einer „Politischen und Sicherheits-Union“ und damit eines „handlungsfähigen“, was soviel heißt wie: nicht zu übergehenden Machtsubjekts wäre das Vorgehen der USA als Provokation zu nehmen und als ultimativer Anlass, beschleunigt und entschieden mit einer gemeinsamen Außen- und Militärpolitik ernst zu machen. Das Gegenteil ist der Fall: Die Regierungen beziehen eine auf nationale Machtentfaltung berechnete Position und konkurrieren einzeln und in Koalitionen gegeneinander um deren Durchsetzung in Europa. Der Inhalt des Streits ist weder, wie Fischer und Co. suggerieren, die Wahl der „richtigen“ Methode weltpolitischer Ordnungsstiftung und Aufsicht im Allgemeinen noch die Zweckmäßigkeit einer eher friedlichen oder kriegerischen weltordnungspolitischen „Sanierung“ des Nahen und Mittleren Ostens im Besonderen, sondern das Verhältnis zur Weltmacht Amerika und die Frage, wer darüber entscheiden darf, welches Verhältnis sich für die EU gehört. Die Bedrohung des europäischen ‚Besitzstandes‘ und erst recht seines Zuwachses durch den amerikanischen Mehrfrontenkrieg um das Weltordnungsmonopol provoziert die Mitgliedstaaten der EU, alte wie neue, dazu, ihre divergierenden imperialistischen Zielsetzungen zu offenbaren und ihren internen Kampf um die weltpolitische Generallinie zu eskalieren:
- Die deutsch-französische „Ablehnungsfront“ sagt Nein zu einem „unilateral“ diktierten Irakfeldzug. Sie eröffnet mit ihrem diplomatischen Widerstand gegen den kategorischen Gefolgschaftsimperativ der USA eine politische Konkurrenz gegen die einzig verbliebene Weltmacht und ihren Weltordnungsmonopol-Anspruch; fürs Erste in der embryonalen Form, dass die beiden EU-Hauptmächte für sich das Recht auf autonome Definition von „Terrorismus“ und „ordnungs“dienlichem Kriegsbedarf reklamieren. So melden sie immerhin ein eigenständiges weltpolitisches Interesse an, das sich naturgemäß auf einen deutsch/französisch bzw. europäisch brauchbaren Zustand der Staatenwelt bezieht. Damit erheben sie, im Prinzip jedenfalls, einen vom amerikanischen Weltherrschaftsprogramm abweichenden Kontrollanspruch.[3] Der trägt sich, in Ermangelung materieller Durchsetzungsmittel, bloß, aber immerhin unüberhörbar, in der idealistischen Beschwörung einer maximal friedensorientierten Alternative von Weltpolitik vor und kommt praktisch-diplomatisch als nachdrückliches Gesuch um eine echte mitbestimmende Rolle daher, die sich „unter Partnern“ doch wohl gehöre. Der seiner relativen Ohnmacht bewusste Antrag auf Berücksichtigung nimmt im Fall des Irakkriegs die Form einer Verweigerung an, welche – wiewohl mitnichten als Kündigung der transatlantischen Allianz gemeint – die Amerikaner als Affront werten, der Rest der Welt wahlweise als unerhörte oder als mutige, gar ein Signal setzende Herausforderung der Weltmacht zu würdigen weiß. Dabei muss Frankreich seine nationale Linie der „Bremsung“ amerikanischer „Alleingänge“ nicht weiter korrigieren, allerdings in einer wesentlichen Hinsicht neu justieren: Durch die Entscheidung der Deutschen, erstmals in dieser Deutlichkeit und Eindeutigkeit ihre überkommene Vasallenrolle im Verhältnis zu den USA zu kündigen, bekommt der jahrzehntelang mehr ideelle als praktizierte antiamerikanische Konkurrenzwille Frankreichs eine praktische Perspektive.
- Auf der anderen Seite positioniert sich, noch bevor Deutschland und Frankreich sich zu einem definitiven Nein durchgerungen haben, eine Negativkoalition aus EU-Mitgliedern zweiter Ordnung wie Italien und vor allem Spanien einerseits, den mittel-osteuropäischen Beitrittskandidaten andererseits. Sie alle bieten den Amerikanern ihre besonderen Dienste an. Und das nicht etwa deshalb, weil sie ernsthaft ein Losschlagen Saddams mit Massenvernichtungswaffen und befreundeten Al Kaida-Kommandos befürchten würden und sich dagegen durch eine Waffenbrüderschaft mit Amerika sichern wollten. Sie spekulieren vielmehr ganz grundsätzlich darauf, ihre nationalen Interessen und ihren Machtstatus durch die aktive Unterordnung unter die ohnehin unanfechtbare Weltmacht allemal wirkungsvoller zu schützen bzw. zu befördern als durch ein ohnmächtiges Contra oder Stimmenthaltung und passives Abseits an der Seite der Kriegs-Gegner. Auf diese Weise machen sie sich nicht nur zu Vasallen Amerikas und Kontrahenten ihrer bis dato unbestrittenen europäischen Führungsnationen; vielmehr kalkulieren die Meisten von ihnen geradezu darauf, durch Teilnahme an der „Koalition der Willigen“ ihr nationales Gewicht innerhalb der europäischen Rangordnung zu erhöhen und – als neu-europäische Front zum Gegengewicht vereinigt – gegen ein „deutsch-französisches Direktorat“ in Stellung zu bringen.[4] So machen durchaus potente Kernstaaten der EU sowie ausgerechnet die Neuen aus dem Osten, welche in Berlin, Paris und Brüssel schon als strategische Verstärkung auf dem Wege zu einem einheitlich-kontinentalen EU-Imperialismus verbucht waren, deutlich, dass sie ein anderes Europa wollen und gar nicht das Bedürfnis einer sicherheitspolitischen Emanzipation aus der Abhängigkeit von Amerika verspüren. So tragen sie kräftig dazu bei, dass die Suprematie der USA, die Frankreich und Deutschland mittels europäischer „Integration“ zu „einer außenpolitischen Stimme“ relativieren wollen, gleich wieder gefestigt wird.
- Großbritannien stellt sich den USA von Anfang an als bedingungslos verlässlicher Verbündeter zur Verfügung, führt sich ihnen und der Welt gegenüber dabei als Mitmacher aus eigener imperialistischer Berechnung und auf eigene militärische Rechnung auf, schickt dafür fast seine gesamten Interventionskräfte ins Feld und demonstriert Interoperabilität auf höchstem Kriegsniveau. Und es bekommt den angestrebten Status eines „partner in leadership“ – immerhin, aber auch bloß: – zugestanden. Großbritannien belässt es auf der anderen Seite nicht bei seinem Affront gegen die „Ablehnungsfront“, sondern teilt auch deren Ambition auf eine stärkere Entfaltung militärischer Eigenmacht – im europäischen Verbund – zur Erringung von mehr imperialistischer „Kompetenz“. Aus diesem Widerspruch versucht es eine Vermittlerposition zu verfertigen: zwischen den großen EU-Mächten und den USA sowie innerhalb der EU zwischen den einen und den andern. Sein Ziel ist, darüber in beide Richtungen an Einfluss zu gewinnen: auf die Politik der großen Führungsmacht wie auf die künftige Linie und die „richtige“, britisch inspirierte Gewaltformation Europas.
d) In diesem verzwickten Gegeneinander und in Anbetracht der destruktiven Resultate, welche die Spaltung der EU in der entscheidenden Kriegs- und Bündnisfrage für alle Beteiligten unvermeidlich hervorbringt, ringen die drei Führungsmächte miteinander um die Durchsetzung ihres jeweiligen „Europakonzepts“, das den Anspruch auf einen für sie imperialistisch brauchbaren Staaten-Verein erfüllt. Frankreich und Deutschland setzen darauf und arbeiten daran, ihrerseits – das amerikanische Vorbild lässt grüßen – die minder gewichtigen Partner vor die Alternative Unterordnung oder Irrelevanz zu stellen und so zur Unterwerfung unter deutsch-französisch(-britisch)e Richtungsentscheidungen und Machtzuwachs-Perspektiven zu bewegen. Sie bestehen auf der – nach dem Irakkrieg erst recht – dringlichen Notwendigkeit einer vom US-Kommando getrennten, autonomen europäischen Gewaltpotenz, um die leidige, in der Nato institutionalisierte strategische Abhängigkeit von den USA zu vermindern und bei der ‚Neuaufteilung‘ der Welt künftig ein nicht mehr überhörbares Machtwort mitzureden.[5]
Sie formieren sich als Kern einer kriegspolitischen Avantgarde und drohen einen Alleingang an, der die „langsamen“, „unsicheren“ und fremdgehenden Kantonisten ins Abseits stellt. Deren wohl berechneter nationaler Vorbehalt wird ab sofort nur noch als Schranke für die nötige europäische „Kräftebündelung“ durch Gleichschaltung wahr-, d.h. als Hindernis für die Ansprüche der eigenen Nation aufs Korn genommen. Indem die französisch-deutschen Euronationalisten die pro-amerikanische Fraktion der Union sowie die widerstrebenden „Neutralitäts“-Statisten mit ihrer Entschlossenheit konfrontieren, sich nicht länger von einem Konsens bei der Festlegung des imperialistischen Bedarfs abhängig zu machen, sondern notfalls zusammen mit allen Willigen vollendete militärpolitische Tatsachen zu schaffen und so die ‚Anerkennung‘ ihrer Richtlinienkompetenz in Sachen „Europäische Verteidigungs-Union“ zu erzwingen, werden sie selber ein Stück weit ehrlich. Dass auch ihr jahrzehntelang voran getriebenes „friedliches Einigungswerk“ zwischen souveränitätsbewussten Nationen, wenn überhaupt, dann nur auf dem Wege handfester Erpressung durch überlegene Macht zu vollstrecken ist, diese Wahrheit kommt jetzt als ‚realistische‘ Strategie zur Herstellung einer echten politischen Einheit des Kontinents daher. Die Avantgarde-Europäer kennen sich aus: Erst wenn, und in dem Maße, wie die potenten EU-Nationen ihren Willen und die Kriegsfähigkeiten aufbieten, die „vitalen Interessen“ Europas auf eigene Faust und Rechnung zu schützen, erledigt sich das Problem mit den Abweichlern, da so – und nur so – der Nährboden für die Suche und Wahl einer sicherheitspolitischen Alternative entfällt. Es ist demnach die eigene weltpolitische Ohnmacht, welche nicht nur, aber vor allem die soeben befreiten, „undankbaren“ Provinzen/Ost, deren Herren immer noch vor allem die Russen fürchten, an die Seite der einzig verbliebenen Weltmacht treibt.[6] Für einen Erfolg des (über)fälligen militärischen Aufbauprogramms, das auf die endgültige Eroberung der Macht in und über Europa zielt, wird die Einbindung Großbritanniens, des treuesten Verbündeten der USA, betrieben, was freilich, infolge der Kräfteverhältnisse, eher angebotsorientiert vonstatten geht. Gebraucht werden die Briten in doppelter Hinsicht: militärisch, wegen ihrer „unverzichtbaren“ Schlagkraft sowie als Dritter im Führungsbund, um Resteuropa die beabsichtigte Erpressung zur Subordination überzeugend servieren zu können und eine pro-amerikanische Gegenkoalition unter britischer Führung zu verhindern. Großbritannien nimmt die Einladung an, um seinen Anspruch als Führungsnation „im Zentrum Europas“ geltend zu machen und damit zugleich einen deutsch-französisch dominierten Euroimperialismus zu verhindern. Es hält sich, als mächtigster Krieger in der EU, für prädestiniert, die Option zu kollektiver Kriegsführung und den Bedarf an militärischem Machtzuwachs maßgeblich mitzuorganisieren, allerdings – zu eigenen Bedingungen. Und die Hauptbedingung heißt nach wie vor: „Nato first“ statt „multipolare Weltordnung“, Kooperation mit den USA statt Konkurrenz gegen sie! Für diese strategische Ausrichtung fördert und benutzt England die Front des pro-amerikanischen „neuen Europa“ und die Pression der USA gegen das „alte“, wie es umgekehrt gegenüber dem – ob der Zustimmung Blairs zur Bildung einer rudimentären „Planungs- und Führungseinheit“ für autonom-europäische Militäreinsätze alarmierten – amerikanischen Freund die Vereinbarkeit der ESVP mit den Imperativen der Weltmacht verbürgt. Unter diesem nationalen Vorzeichen teilen die britischen US-Alliierten das Projekt der deutsch-französischen Dissidenten, eine europäische Kriegs- und Rüstungskollaboration per „verstärkter Zusammenarbeit“ voranzubringen und dem Rest der Willigen oder Unwilligen die Bedingungen des Mitmachens oder eben des Ausschlusses von den kriegspolitischen Weichenstellungen der Union zu diktieren.[7]
Auf diese Weise erteilen sie ihren minder bemittelten Partnern und „trojanischen Pferden“ den unmissverständlichen Bescheid, dass die Europäische Union, die sie – ja schließlich – wollen, nicht anders zu haben ist als so, wie die drei Mächtigen sie haben wollen. Welche Vorteile EU-Mitmacher und Kandidaten sich auch immer von ihrer Teilhabe am europäischen Projekt ausrechnen – der Preis, den sie dafür zu entrichten haben, soll ab sofort die Unterwerfung unter die Grundlinien des europäischen Militarismus einschließen, die ihnen drei Nationen unter Hinweis auf die Kräfteverhältnisse innerhalb des Euro-Clubs vorbuchstabieren. Ein Imperativ, der sich unbekümmert über die gegensätzlichen (bündnis-)politischen Kalkulationen und nationalen Souveränitätsansprüche der sonstigen EU-Mitglieder hinwegsetzt und deshalb ein Sprengsatz für die ganze Union ist.
III. Von welcher europäischen Machtordnung profitiert welche Nation?
a) Die EU-Staaten streiten um die erste gemeinsame Verfassung und damit um eine neue Verfassung für ihren Club. Und der Streit deckt auf, was interessanterweise keinem Nationalisten ein Geheimnis ist, aber immer bloß vorwurfsvoll an den Nationalisten fremder Couleur entdeckt und gegeißelt wird: Es geht in diesem Streit mitnichten um die Optimierung irgendwelcher Verfahren, um eine besser organisierte Entscheidungsfindung oder dergleichen, wie unter Verweis auf die Unhandlichkeit einer 25-er Gemeinschaft mit entsprechend aufgeblähten Gremien immerzu behauptet wird.
b) Es geht um neue Verfahrensregeln, die – mehr als die bislang geltenden – die Hierarchie der Mitglieder widerspiegeln, dem faktischen Kräfteverhältnis auch formell Rechnung tragen, es dadurch auch bekräftigen und wirksamer machen.
- Dafür kämpfen jedenfalls die einen, vor allem eben Deutschland und Frankreich, die auf eine institutionalisierte Chance zur Majorisierung eventuell unwilliger Mitglieder sinnen, also auf verfahrensordentliche Unterbindung abweichender und spalterischer Umtriebe. Sie halten die traditionellen Entscheidungsprozeduren, einschließlich der noch gar nicht in Kraft getretenen Reformen des „Nizzavertrags“, für nicht mehr tragbar, da sie die für dringlich erachtete Erschließung und Instrumentalisierung der Potenzen ihrer geschätzten Partner zu sehr „blockieren“. Die Einführung des „Prinzips der doppelten Mehrheit“ – einfache Mehrheit der Staaten, sofern diese mindestens 60% der EU-Bevölkerung repräsentieren – bei qualifizierten Entscheidungen; die Reduzierung von Beschlüssen mit Einstimmigkeitszwang (Vetorecht); das Recht zur Aushebelung von Vetorecht und „Widerstand“ gegen Projekte wie die „Europäische Verteidigungs-Union“ durch eine Blankovollmacht zu „verstärkter Zusammenarbeit“ etc. – all diese vom EU-Konvent neulich abgesegneten Verfassungs-Vorschläge stehen für ihre Absicht, sich mehr Freiheit zur „Gestaltung“ einer passenden EU zugestehen zu lassen. Per Verfahrensordnung festschreiben: „Dem zweistaatlichen Motor der EU ist Folge zu leisten!“ – das geht schließlich nicht; aber gerade weil es Deutschland und Frankreich darauf ankommt, ihren Anspruch auf politische Führung geltend zu machen, bestehen sie auf dem förmlichen Abnicken des „geschnürten Pakets“ und verbitten sich jede Widerrede. Ihr kompromissloses Antreten beim „Verfassungsgipfel“ in Brüssel hat also Methode: Sie fordern die Anerkennung ihres Kommandos und testen die diesbezügliche Bereitschaft der Mitglieder.
- Der Test geht fürs Erste schief. Denn andere, vor allem Polen und Spanien, kämpfen aus komplementären Gründen um ihre Sperrminorität und ihren in einem Kommissar personifizierten Einfluss in „Brüssel“; zum Teil so erbittert, als stände tatsächlich schon die Preisgabe der nationalen Souveränität und damit Bestand oder Untergang der Nation auf dem Spiel; und als wäre sowieso klar, dass sie und ihre nationalen Interessen sich jeweils in der Minderheitsposition befänden und niedergebügelt werden sollten. Der Grund für ihre Prinzipienreiterei ist kein Geheimnis: Sie entnehmen der verstärkten Achsenbildung von Deutschland und Frankreich (und deren Werben um britische Unterstützung) sowie den in der Geld- und Gewaltfrage gelaufenen Erpressungsmanövern einen rücksichtslosen Vormachtsanspruch; und das, im Falle von Polen und Spanien, kombiniert mit einem Angriff auf den eigenen, in Nizza verbürgten Machtstatus als „Großer“. Folglich gehen sie zur Selbstbehauptung über, um ihre Interessen zu wahren. Und sie verteidigen, trotz aller Pressionen natürlich mit bestem nationalen Gewissen, mit Hilfe der ihnen (und eben auch dem Noch-Kandidaten Polen) aus der überkommenen Verfahrensordnung zustehenden (Veto-)Rechte den Machtstatus, den sie „haben“, kämpfen also, zum Teil mit berechnender Billigung der Briten und mit der Sympathie anderer Ostkandidaten, um eine Machtordnung, in der sie eine gewisse Versicherung dafür erblicken, dass ihre Anliegen – und das in ihnen wurzelnde alternative „Europakonzept“ – erfolgreich zur Geltung kommen.[8]
c) Die auf dem Dezember-Gipfel der EU fürs Erste gescheiterten kompromisslosen Verfechter einer Re-Formierung der Unions-internen Entscheidungsstruktur kündigen umgekehrt die alte europapolitische Sitte der führenden Vereinsmitglieder auf, mit Nachgiebigkeit in Formfragen – bzw. in Angelegenheiten, die sie im Bedarfsfall zu bloßen Formfragen herunterdefinieren – ihre Sache zu fördern und abzusichern. Mit der Drohung eines „Kerneuropa“ als unvermeidlicher Alternative für den Fall fortgesetzter Verweigerungshaltung sowie mit dem Verweis auf das Geld, das sie zum Unions-Haushalt beisteuern und von dem andere ihre Haushaltsmittel aufbessern, dokumentieren sie eindrucksvoll und endgültig unmissverständlich, dass es ihnen wirklich ums Prinzip geht, nämlich um die grundsätzliche Lösung der Machtfrage, wer in und über Europa zu entscheiden hat; und dass die Verfassungsreform zwar nur als ein Hilfsmittel, aber als ein Hilfsmittel dafür vorgesehen ist.
Wenn Deutschland und Frankreich wenige Tage nach dem geplatzten EU-Gipfel unter dem Motto „Jetzt erst recht!“ ein Ultimatum verkünden für die Zustimmung zur Verfassung (Ablauf der Frist: Ende 2004) – andernfalls als „Pioniergruppe“ auf die Verfassung pfeifen und „entschlossen vorangehen“ wollen; wenn sie, statt einen Blauen Brief aus Brüssel entgegenzunehmen, einen Brief der „Nettozahler“ nach Brüssel schicken, in welchem der Kommission die dauerhafte Deckelung des EU-Haushalts trotz der Osterweiterung um 12 „arme Länder“ verordnet wird[9]; wenn der Bundeskanzler an die Adresse der Polen und Spanier süffisant mitteilt, „es gibt keinen direkten Zusammenhang zwischen der Verfassungsfrage und der Entscheidung über die künftigen Subventionszahlungen“, aber beides laufe jetzt „leider“ parallel; wenn der gesittete französische Präsident die Renitenz der Ost- und Südvölker ganz ohne rassistische Wortwahl mit kultureller Unreife und „einem unterschiedlichen Entwicklungsstand in Demokratie, Wirtschaft und Sozialem“ begründet; dann bieten sie zielstrebig lauter Belege für ihre Unzufriedenheit mit der gültigen EU-Hausordnung und für ihre Entschlossenheit, mit dem Verhältnis von Führung und Gefolgschaft in ihrem Club ernst zu machen. Sie lassen keinen Zweifel daran, dass sie dabei ganz auf die ihren Nationen verfügbaren, in der „Achse“ zusammengelegten überlegenen Machtmittel setzen und auf die Fähigkeit, die anderen Mitglieder des Vereins mit der erreichten politisch-ökonomischen Abhängigkeit erfolgreich erpressen und so zur Loyalität zwingen zu können. Natürlich unter Berufung auf sämtliche Ideale und Ehrentitel der abendländischen Zivilisation, die in Europa bewahrt und in die Welt exportiert gehören. Vorhaben und Methode erinnern schon ein wenig an das aktuelle Vorbild einer „Koalition der Willigen“ um eine Führungsmacht herum, die durch die Fakten, die sie setzt, die anderen ultimativ zu einer Entscheidung zwischen Marginalisierung oder Unterwerfung nötigt. Zumindest hätten sie’s gern so, die Oberkritiker amerikanischer Alleingänge.
d) Virulent wird dabei allerdings zugleich der Widerspruch, auf dem die Europäische Union mit ihren bis dato bilanzierten Erfolgen beruht, und an dem sie in den Augen der auf ‚Handlungsfähigkeit‘ pochenden Führungsmächte gegenwärtig vor allem laboriert: Diese Gemeinschaft der unerschütterlichen Vaterländer soll ein schlagfertiges imperialistisches Subjekt sein, muss dafür eine einige Gewalt bilden – und das durch eine freiwillig und von allen beteiligten National-Unionisten akzeptierte Satzung. Den Widerspruch wird die EU auch da nicht los, wo ihr „Motor“ die definitive Vereinheitlichung der Macht durch erpresserische Unterordnung des Rests auf die Tagesordnung setzt. Das Bestehen auf eine machtvolle ‚Problemlösung‘ nimmt deshalb eine potentiell finale Krise des ganzen Unternehmens in Kauf. Das Ultimatum ‚Entweder ihr beugt euch freiwillig unter unsere Regie, oder wir zwingen euch eben durch eine Neugründung (Kern-)Europas in die Rolle unmaßgeblicher und abhängiger Randstaaten!‘, ist nämlich so zwingend nicht: Es gebricht ihm an der Überzeugungskraft, d.h. an der Macht der „Avantgarde“, Fakten zu setzen, die den Widerstrebenden tatsächlich keine Alternative mehr offen lassen. Die Fakten, die Deutschland und Frankreich – und ohne Großbritannien gilt das erst recht – den minder gewichtigen Mitgliedern vor die Nase zu setzen vermögen, relativieren sich nämlich an den weltwirtschaftspolitischen und strategischen Vorgaben der Weltmacht Amerika, die den Unwilligen allemal eine Alternative bietet und im Falle des Falles erst recht bieten wird: statt Unterwerfung unter das „alte“, das unamerikanische Europa das schützende Bündnis mit den USA! Dies ist zu guter Letzt eben auch der doppelte Grund, weshalb die selbst ernannten „Pioniere“ eines weltpolitisch vollwertigen, d.h. wirklich ernst zu nehmenden Europas ihrerseits eine konfrontative „Neugründung“ (Kern-)Europas „vermeiden wollen“ (Schröder): weil eine solche erstens den erreichten politischen Besitzstand – und damit das Potential zur Weltmacht – aufs Spiel setzt und zweitens eine Konfrontation mit Amerika heraufbeschwört, die man sich nicht leisten kann und deshalb nicht riskieren will.
e) Was „man“ stattdessen leisten will, verdeutlicht das Gipfeltreffen Schröder / Chirac / Blair Mitte Februar in Berlin.
- Die „Großen Drei“ beschließen in exklusiver Runde, dass weder sie noch Europa sich künftig eine Kommissionspolitik leisten können, die ihr nationales Bedürfnis nach Beseitigung von „Wachstumshindernissen“ nicht fördert, sondern durch lauter „bürokratische“ Auflagen (Umwelt- und Gesundheitsauflagen für die Chemieindustrie, Wettbewerbsregeln für die Automobilkonzerne etc.) torpediert. Sie fordern von der EU-Kommission, dass sie dieses ihr Bedürfnis bedient, indem sie sich umorganisiert und einem von ihnen bevollmächtigten „Superkommissar“ (der nicht so heißen muss, aber Vizepräsident sein soll) die entsprechenden Kompetenzen einräumt. Die wirtschaftspolitischen Weisungen, die sie erteilen, auch ohne einer förmlichen Lizenzierung als „Wirtschaftsregierung“ zu bedürfen, geben sie konziliant als guten „Rat“ aus – den freilich keiner ablehnen können soll, „weil es sich um Notwendigkeiten für ganz Europa handelt“. In ihrer Eigenschaft als Oberkommandierende über immerhin mittelmächtige Militärarsenale beschließen die drei Regierungschefs, auf eigene Faust und in „verstärkter Kooperation“ schnelle Eingreifbrigaden von je 1500 Mann aufzubieten, „egal, ob das von einer Verfassung gedeckt ist oder nicht“.[10] Diesen Beschluss reichen sie als „Vorschlag“ an die nicht geladenen Kollegen weiter, ergänzt um die Aufforderung, mit eigenen Kontingenten dazu beizutragen. Und das schnell: „bis Ende 2007 soll die Aufstellung abgeschlossen sein“!
- Mit dem Selbstbewusstsein, die tonangebenden Mächte Europas zu repräsentieren, verwahren sich die Drei gegen die entschiedenen Proteste der übergangenen Partner gegen ein „Direktorat“, das stellvertretend für alle die Entscheidungen in der und über die EU trifft. Wenn Tony Blair sich nach dem Berliner Dreier-Gipfel jede Kritik mit dem Hinweis verbittet, dass „unsere drei Länder mehr als die Hälfte der EU-Bevölkerung und fast 60% der Wirtschaftskraft“ des Gesamtvereins stellen, dann verweist er schlicht auf die kollektive Macht, die sie haben und als Erpressungsmittel zur Durchsetzung der „nötigen Reformen“ in der EU zu handhaben gedenken. Der Beschwichtigung des deutschen Kanzlers, man wolle selbstverständlich „niemanden dominieren“, folgt ebenso die offensive Bekräftigung, man lasse sich von niemandem das Recht nehmen, „diese Treffen fortzusetzen“, zumal der ganze Rest letztlich darauf angewiesen sei, dass die drei Großen sich einig werden.
Damit ist immerhin so viel erreicht und klargestellt:
- Aus den demnächst 25 Mitgliedern der Europäischen Union heben sich klar und eindeutig drei Führungsmächte heraus, die mehr denn je entschlossen sind, vermittels der Union zur Weltmacht zu werden. Deutschland, Frankreich und Großbritannien wollen nicht bloß in einem Club der Zweitmächtigsten dabei sein; jede dieser drei Nationen will vermittels der EU zum gleichrangigen Gegenüber der USA aufsteigen.
- Die zuständigen drei Regierungen haben sich zu der Einsicht durchgerungen, dass die Gemeinschaft anders funktionieren muss als bisher, damit sie im Sinne ihrer imperialistischen Interessen zweckmäßig funktioniert. Für die entsprechende Indienstnahme der Partner brauchen sie einen „Dritten Weg“ der erpresserischen Einflussnahme: Die herkömmliche Methode des Kompromisses gibt das unerlässliche Maß an Unterordnung der andern definitiv nicht her; für die Methode, Fakten zu setzen, die ihren Partnern keine Wahl lassen, ist die Macht der Fakten, die Amerika setzt, bis auf Weiteres zu groß.
- Von einem solchen „Dritten Weg“ haben die Europa-Politiker in Berlin, Paris und London übereinstimmende Vorstellungen entwickelt: Die Brüsseler Gemeinschafts-Organe müssen viel klarer und eindeutiger als bisher auf eine politische Linie festgelegt werden, die ihrem jeweiligen Nationalinteresse entspricht. Die EU-Kommission soll weder eine eigene Politik probieren, die am Ende doch bloß den Konsens der minder wichtigen Mitglieder widerspiegelt, noch bloß den erreichten Stand verwalten, sondern exekutieren, womit eine Führungsmacht mit klarer Richtlinienkompetenz sie beauftragt.
- Dafür ist jede der drei großen Führungsmächte zu klein: Das ist für jede von ihnen die schlechte Nachricht. Gemeinsam wären sie stark genug, um unionspolitisch das Heft in die Hand zu nehmen und der Brüsseler Exekutive eine imperialistische Generallinie verbindlich vorzugeben: Das ist für alle Drei eine attraktive Perspektive. Hinreichend attraktiv jedenfalls, um den Versuch zu starten und untereinander einen Aufgabenkatalog auszuhandeln, den die Union demnächst abzuarbeiten hat.
- Fürs Erste fallen Blair, Chirac und Schröder nämlich tatsächlich genügend übereinstimmende Interessen ein, um den Widerspruch ihres multilateralen Euro-Imperialismus auf eine neue Spitze zu treiben und die Konkurrenz ihrer Nationen gegeneinander einen historischen Moment lang zurückzustellen hinter ihrem gemeinsamen Anliegen, sich mit vereinten Kräften der Unions-Politik zu bemächtigen und als eine Art oberstes Führungsorgan zu etablieren, jenseits und auf alle Fälle oberhalb der formellen Entscheidungsverfahren der Union. Das Gezeter der Partner zeugt von der Härte der Wahl, mit der sie sich konfrontiert sehen: als Bruchstücke der kleineren EU-Hälfte der größeren Hälfte offen Widerstand zu leisten oder sich der dominierenden Dreiheit sei es unterwürfig-konstruktiv, sei es in zersetzender Absicht beizugesellen.
[1] Klar, dass die EU-Kommission in diesem Streit einen Präzedenzfall sieht. Die Mehrheit der Kommissare will mit dem Stabilitätspakt auch die in der existierenden Geschäftsordnung verankerte Machtverteilung gegen deutsch-französische Alleingänge verteidigen: Der europäische Kommissar für Wirtschaft und Finanzen, Pedro Solbes, sagte (…), dass die Forderung der Minister des Ecofin einen ‚institutionellen Bruch‘ bedeutet, der die Union in eine sehr ‚ernste‘ Situation der Ungleichheit zwischen den verschiedenen Ländern bringt. ‚Man kann sich nicht aus den Verfahren ausklinken, wenn sie einem nicht passen‘.
(El País, 26.11.03)
[2] Dazu der ausführliche Artikel: Amerika definiert den Weltfrieden neu, in GegenStandpunkt 2-03, S.92
[3] Vgl. dazu: Von Europa muss mehr Gewalt ausgehen! In GegenStandpunkt 3-03, S.119
[4] Während der EU-Mitbegründerstaat Italien in Gestalt Berlusconis sich so gegen den Abstieg aus der Ersten Liga wehrt, will der Aufsteiger Spanien, der sich in der EU unter Wert gehandelt sieht, auf diese Art die ewige Bevormundung durch die alten Zentralmächte Europas loswerden: Im selben Atemzug, in dem Aznar mitten in Washington vor dem in Europa kursierenden „Klischee“ des Antiamerikanismus warnt, bestreitet er den europäischen Führungsanspruch Frankreichs, indem er das Ende der historischen Unterdrückung Spaniens durch den Nachbarn verkündet: Er sagt, dass die spanische Außenpolitik seit dem 18. Jahrhundert ‚Frankreich unterworfen war, was jetzt nicht mehr der Fall ist‘. Und er sagt, dass er sich freut, dass ‚Spanien heute seine eigenen Entscheidungen fällt‘ und ein Land in der ‚Avantgarde‘ ist.
(El País, 16.1.04) Und die lange „von der (kapitalistischen) Geschichte benachteiligten“ Bruderstaaten in der östlichen Hälfte Europas wollen sich „nicht zwischen Amerika und Europa entscheiden“ (so der polnische Präsident); sie entscheiden sich deshalb dafür, mit Amerika die Russen im Osten niederzuhalten und die Germanen und Franzosen im Westen daran zu hindern, im Namen Europas zu einer „Politik des Diktats“ zurückzukehren. Wenn es nach ihnen ginge, garantieren ihnen die USA die Souveränität und die EU einen florierenden ökonomischen Unterbau.
[5] Die schlichte Formel des Hohen Vertreters Solana „Unsere Einwohnerschaft darf nicht von anderen verteidigt werden!“ (El País, 1.2.04) enthält eine komplette Kampfansage an die USA, die in der Fähigkeit zur Selbst-„Verteidigung“ Europas eine nicht hinnehmbare Rivalität erblicken. Der deutsche Verteidigungsminister liefert einen regelrechten imperialistischen Sachzwang zur Entwicklung weltmächtiger Kriegspotenz gleich in 4 Variationen: „Europa war immer mehr als nur ein ökonomisches Projekt. – Sein politisches und wirtschaftliches Gewicht, – die Verflechtungen mit anderen Regionen der Welt, – seine globalen Interessen und – seine Gefährdungen durch globale Risiken zwingen das integrierte Europa dazu, eine Rolle als selbständiger Akteur innerhalb und außerhalb Europas wahrzunehmen.“ (Struck, 9.12.03) Dass sich die Verfechter einer autonomen europäischen Kriegsmacht EU bewusst sind, dass eine auf Weltniveau „konkurrenzfähige“ Gewalt nicht nur die Bedingung allen erfolgreichen Konkurrierens ist, sondern dass auch und gerade deswegen umgekehrt nach Innen ein ‚Sachzwang‘ zu rücksichtsloser Verarmung des Kostenfaktors Mensch besteht, drückt der deutsche Kanzler auf seine unnachahmliche Weise wie folgt aus, als er auf die „zwei großen Herausforderungen“ des Jahres 2003 angesprochen wird, nämlich die „innenpolitischen Reformen“ und das Nein zum Irakkrieg: Im Übrigen waren das Vorgänge, die in einem inneren Zusammenhang stehen. Der Zuwachs an Selbständigkeit in der Außenpolitik – an mehr Verantwortung und Eigenverantwortlichkeit, wenn Sie wollen – muss materiell durch Reformen unterlegt sein. Nur ein wirtschaftlich starkes Deutschland kann glaubwürdig eine selbstbewusste Rolle im Bündnis spielen.
(Spiegel Nr. 1, 2004)
[6] Die französische Regierung will den Ostkandidaten durch weiteren Ausbau der Kriegspotenz die Unvermeidlichkeit ihres Anschlusses an eine autonome europäische Verteidigungspolitik beibringen: „Es ist heute an der Zeit, die alte, aber falsche Debatte zwischen ‚Atlantikern‘ und ‚Europäern‘ zu überwinden. Die Länder, die eingeladen worden sind, sich der Atlantischen Allianz anzuschließen, sind auch zukünftige Mitglieder der Europäischen Union. Da sie jetzt sehen können, dass das Europa der Verteidigung Wirklichkeit wird, bekunden sie ihren Willen, daran teilzunehmen. Wie hätten sie das auch vor einigen Jahren tun sollen, als dieses Europa der Verteidigung nur auf dem Papier existierte? Seitdem wir unsere operationellen Kapazitäten unter Beweis stellen, stehen sie nicht länger vor der Wahl ‚Atlantische Allianz oder gar nichts‘, und sie sollten sich immer mehr an der ESVP beteiligen.“ (Aktuelles Bulletin der französischen Regierung, 31.1.04)
[7] Dem Ideal einer weltpolitisch „handlungsfähigen EU“ wollen die aufeinander angewiesenen EU-Hauptmächte mit „verstärkter Zusammenarbeit“ näher kommen. Deren Teilnehmer wollen laut Verfassungsentwurf exklusiv über Militäreinsätze und deren (bündnis)politische Bedingungen (als Teil der Nato, unter Rückgriff auf Nato-Kommandostrukturen oder EU-autonom?) beschließen, was in der Tat auf eine faktische Entmachtung der Restmitgliedschaft hinausliefe: „Welche Kontrolle haben sie (die kleineren und mittleren Staaten) darüber, wie diese Streitkräfte eingesetzt und welcher Außenpolitik sie dienen werden? Tatsächlich werden Frankreich, Deutschland und Großbritannien über Europas Verteidigungs-, Außen- und Sicherheitspolitik entscheiden.“ Als Haken fällt dem kritischen Beobachter deshalb sofort ein, ob die Mannschaft sich so etwas gefallen lässt, zumal man sich gar nicht einig ist im politischen Ziel: Alle würden weniger Groll empfinden, wenn die augenblickliche Stimmung günstiger wäre und es eine gemeinsame Auffassung über die Identität und Perspektive Europas gäbe.
(Observer, 30.11.03) Die meisten EU-Mitglieder, darunter die derzeitigen Regierungen von Italien und Spanien, verwahren sich dagegen, dass die Drei „das europäische Allgemeinwohl kidnappen“; sie sind der „festen Überzeugung“, „ein Direktorium“ oder ein „EU-Sicherheitsrat“ werde „nicht gebraucht“. (Süddeutsche Zeitung, 19. bzw. 20.9.03)
[8] Während hierzulande für jedermann klar ist, dass die Polen und Spanier „schuld“ sind am Scheitern des Gipfeltreffens, weil sie „die nationalen Interessen vor die europäischen gestellt haben“ (Schröder), sehen das jene ganz anders, nämlich umgekehrt. Der unbeugsame polnische Ministerpräsident hätte sich zu Hause überhaupt nicht wieder blicken lassen können, wenn er nicht den „Diktaten“ der franko-germanischen Achse widerstanden hätte. Kollege Aznar aus Madrid entlarvt die Heuchelei des Herrn Schröder mit der punktgenauen Rückfrage „Wer definiert, was europäisches Interesse ist?“ und weist so die deutsch-französische Definitionshoheit zurück. Auch der kühne Verweis aus Berlin und Paris, die Berücksichtigung der Bevölkerungszahl sei ein Akt der „Demokratisierung“, der „für die Akzeptanz Europas wichtig“ ist, beeindruckt ihn wenig. Er stellt fest, dass der Franzose Chirac neulich noch den Nizzavertrag und ein Stimmengleichgewicht mit Deutschland – trotz dessen Bevölkerungsdichte – mit Zähnen und Klauen verteidigt hat und jetzt plötzlich scharf darauf ist, die schiere Anzahl der Bürger im Machtstatus zu honorieren und so den deutschen Kompetenzzuwachs als Stärkung der Majorisierungspotenz der „Achse“ für sich zu verbuchen – und zwar auf Kosten des spanischen Gewichts zur Verhinderung einer solchen Majorisierung.
[9] Finanzminister Eichel begründet diese Position erstens damit, dass die Aufstockung des EU-Haushalts ab 2007 von 1% auf 1,24% des EU-weiten BSP im Jahr 2013 der Erfüllung der Brüsseler Sparauflagen für Deutschland „widersprechen“ würde, die dieses Deutschland erklärtermaßen zu erfüllen ablehnt. Zweitens bemühen er und seine Regierungskollegen, die im Zuge ihrer „Sozialreformen“ der Mehrheit ihrer Bürger immer mehr zumuten und dieses Programm „konsequent fortsetzen“ wollen, tatsächlich das Argument, sie könnten „unserem Volk weitere Sparmaßnahmen“ – nämlich diejenigen von der EU und für die EU – „nicht mehr zumuten“. Und es lacht niemand. So mobilisiert eine europäische Führungsnation den Nationalismus im Volk, auf den sie sich beruft, um ihre Forderungen an „Brüssel“ und gegen andere Mitgliedsnationen durchzusetzen. Deren Regierungen tun dasselbe, sie haben schließlich den Nutzen ihres Volkes zu mehren. Kein Wunder, dass sich inzwischen kein nationaleuropäischer Zeitungsschreiber mehr wundert, dass „laut neuester Umfrage schon mehr als 50% der EU-Bürger die EU ablehnt“, Tendenz steigend.
[10] So zitiert die SZ einen Brüsseler Diplomaten, der sich über die Eigenmächtigkeit der ‚Großen 3‘ beschwert.