Die Heimstatt des jüdischen Volkes in Aufruhr
Anmerkungen zum Zusammenhang zwischen dem Erfolg der israelischen Kein-Staat-Lösung für Palästina und der Staatskrise in Israel
Seit Monaten wälzt sich in Israel ein als nationale Spaltung und Staatskrise gewürdigter Streit fort, der sowohl die demokratisch in Parteien organisierte politische Klasse als auch große Teile des Volkes ergriffen hat. Vordergründig geht es dabei insbesondere um eine Reform bestimmter Aspekte des israelischen Justizwesens und vor allem des Verhältnisses der dritten zur ersten und zweiten Gewalt, insbesondere, was die wechselseitigen Einspruchsrechte von Parlament und Oberstem Gericht anbelangt. Tatsächlich ist allen an der nationalen Spaltung Beteiligten klar, dass die Reform des Justizwesens zwar eine wesentliche Veränderung innerhalb der staatlichen Gewaltenteilung, als solche aber bloß ein Teil und vor allem ein Symbol für einen Streit ist, der über die Frage weit hinausgeht, wie der Staat organisiert ist. Worum geht es?
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Die Heimstatt des jüdischen Volkes in Aufruhr
Anmerkungen zum Zusammenhang zwischen dem Erfolg der israelischen Kein-Staat-Lösung für Palästina und der Staatskrise in Israel
1.
a) Seit Monaten wälzt sich in Israel ein im In- und Ausland als nationale Spaltung und Staatskrise gewürdigter Streit fort, der sowohl die demokratisch in Parteien organisierte politische Klasse als auch große Teile des Volkes ergriffen hat. Vordergründig geht es dabei insbesondere um eine Reform bestimmter Aspekte des israelischen Justizwesens und vor allem des Verhältnisses der dritten zur ersten und zweiten Gewalt, insbesondere, was die wechselseitigen Einspruchsrechte von Parlament und Oberstem Gericht anbelangt.
Losgetreten hat das aktuelle nationale Zerwürfnis die derzeit amtierende Regierung unter B. Netanyahu, der in Sachen Amtsdauer nunmehr auch den legendären Staatsgründer Ben-Gurion eingeholt hat. Die x-te von ihm geführte Regierung gilt gemeinhin als die „rechteste Regierung, die Israel je hatte“. Zusammengesetzt ist sie aus dem traditionsreichen und stimmenstarken rechten Likud-Block, ebenfalls alteingesessenen, aber weniger starken Vertretern des ultraorthodoxen Judentums und etwas neueren Parteien des „religiösen Zionismus“. Letztere sind die politischen Organisatoren und parlamentarischen Repräsentanten der religiös inspirierten Siedlerbewegung, die im Westjordanland das Programm einer totalen und ausschließlichen Inbesitznahme des Landes durch seine von Gott eingesetzten eigentlichen und einzigen Besitzer verfolgt. Der Regierung gegenüber stehen insbesondere die Parteien der säkular orientierten bürgerlichen Opposition, die teils ebenfalls Fraktionen des rechten Spektrums sind und teils zu den diversen Überresten und Spaltprodukten der traditionsreichen israelischen Sozialdemokratie zählen, die das Land in den ersten Jahrzehnten nach der Gründung fast monopolistisch geführt hat. Zusammen repräsentieren sie die Hälfte des israelischen Volkes, die sich von der gegenwärtigen Regierung nicht nur nicht repräsentiert, sondern als Israelis verraten sieht.
Tatsächlich ist allen an der nationalen Spaltung Beteiligten klar, dass die Reform des Justizwesens zwar eine wesentliche Veränderung innerhalb der staatlichen Gewaltenteilung, als solche aber bloß ein Teil und vor allem ein Symbol für einen Streit ist, der über die Frage weit hinausgeht, wie der Staat organisiert ist. Das ist den gegenwärtigen Auseinandersetzungen durchaus anzusehen: Schon der Umstand, dass die massenhaften, teilweise in Handgreiflichkeiten ausartenden Proteste nicht damit abebben, dass die Regierung in ihren Beschlüssen programmgemäß vorankommt, ist demokratisch in gewisser Weise ungewöhnlich; schließlich ist normalerweise in gereiften Demokratien die souverän praktizierte Ignoranz der Regierung gegenüber Protesten zugleich das bewährte Mittel, die Kritik verstummen zu lassen, deren Vertreter einzusehen haben, dass sich ihr Anliegen dem von der Regierung amtsgemäß definierten und exekutierten Gemeinwohl unterzuordnen hat. Darauf hat auch die Netanyahu-Regierung explizit gesetzt – und muss jetzt registrieren, dass die Proteste sich mit den demokratischen faits accomplis einfach nicht arrangieren wollen. Ebenfalls nicht zum Alltag demokratischer Streitereien gehört die Tatsache, dass nieder-, hoch- und höchstrangige Vertreter des staatlichen Gewaltapparates öffentlich gegen die politische Linie ihrer obersten Dienstherren Einspruch einlegen und dies sogar mit praktischer oder angekündigter Dienstverweigerung untermauern – so geschehen in den Reihen des für die volle Kampfstärke der Armee wichtigen Reserveoffizierskorps, bei Geheimdienstvertretern und hinauf bis zum Verteidigungsminister selbst. Dass Letzterer sich schon zu zwei Ultimaten gegenüber seinem eigenen Regierungschef aufgestachelt gesehen hat, wirft ein Licht auf eine weitere Besonderheit des im Rahmen und am Rande demokratischer Gepflogenheiten ausgetragenen Streits: Dessen Fronten reichen offensichtlich bis in das Regierungslager selbst; die Koalitionäre schließen sich, wie man erfährt, gegen die Proteste nicht in einem Burgfrieden zusammen, sondern stehen sich in einigen entscheidenden Fragen ihrerseits ziemlich feindselig bis unversöhnlich gegenüber, was vor allem das Verhältnis zwischen den Vertretern des ultraorthodoxen Judentums und mehr säkularen Rechten prägt.
b) Worum geht es also? Auch das machen die verfeindeten Lager auf ihre Weise durchaus klar, wieder allen voran die Regierungsmitglieder und -parteien selbst: Den von ihnen per Justizreform ins Visier genommenen Obersten Gerichtshof bezeichnen und behandeln sie als entscheidendes institutionelles Hindernis für ihr Regierungsprogramm. Dabei ist es müßig zu fragen, ob er das tatsächlich ist oder werden könnte: Statistiken darüber, dass sich das Gericht z.B. in Fragen der Legalisierung von illegalen Siedlungen – die Netanyahus Likud und den Siedlerparteien ein dringendes Anliegen ist – in der Vergangenheit letztlich als überhaupt kein Hindernis erwiesen, sondern als Instanz der Legalisierung aller diesbezüglichen Fortschritte bewährt hat, können jedenfalls die Reformer ganz offensichtlich nicht beruhigen. Denn sie verstehen ihr Programm offenbar selber als so fundamental, dass sie die bloße Möglichkeit einer institutionellen Beschränkung ihrer parlamentarischen Handlungsfreiheit auf keinen Fall dulden wollen. Insbesondere für die religiösen Rechten und Siedler, die in der Regierung den Ton angeben und als die Motoren des Regierungshandelns agieren und wahrgenommen werden, steht der Oberste Gerichtshof für die Herrschaft einer Elite über den Staat, die dessen eigentliches Programm und dessen eigentliches Volk aus dem Auge verloren hat und permanent verrät. Das ist für sich genommen nichts Ungewöhnliches, ganz und gar Israel-Spezifisches mehr in einer Zeit, in der im Prinzip in allen Demokratien mehr oder weniger starke populistische Parteien Fuß gefasst haben, die versprechen, den Staat dem Volk zurückzugeben. Das ist auch andernorts in aller Regel mit Bestrebungen verbunden, die Repräsentanten des Volkswillens institutionell gegenüber den checks & balances zu stärken, die in allen demokratischen Nationen dafür sorgen sollen, dass das Wahlvolk mit seiner Stimmabgabe das und nur das tut, was der Zweck dieses Kerns und Höhepunkts aller Demokratie ist: Mit der Wahrnehmung seines Wahlrechts soll das Volk periodisch die Parteienkonkurrenz um die Besetzung der staatlichen Machtämter entscheiden, die darauf beruht, dass die Räson des Staates im Prinzip feststeht, und die darauf zielt, jede Unzufriedenheit im Volk und jede Alternative in der Politik auf diese Räson zu verpflichten und in sie einzubauen. Populisten, sobald sie an der Macht sind – auch israelische –, sehen darin eine undemokratische Beschränkung ihrer Souveränität, die sie doch gemäß demokratischem Regelwerk nach gewonnenen Wahlen und erfolgter Regierungsbildung mit dem Volkswillen gleichzusetzen berechtigt sind. [1]
In Israel hat das zugleich einen speziellen Inhalt, der als Gegenstand des politischen Zwists in diesem Land keinesfalls neu ist, was eben auch für die nun mit Regierungsautorität vertretenen Positionen gilt. Was in den Parteinamen deutlich anklingt – das „Vereinigte Torah-Judentum“ gibt sich da ebenso die Ehre wie „Jüdische Stärke“ und „Religiöser Zionismus“ –, das sind sehr entschiedene Standpunkte im immerwährenden israelischen Streit darum, was für ein Staat Israel eigentlich ist, sein oder werden soll, komplementär dazu: wer und wie beschaffen eigentlich diejenigen sind, die auf den israelischen Staat der Juden bzw. jüdischen Staat Israel ein Recht und damit in ihm die Rechte des Staatsvolks haben. Darüber wird in Israel seit seiner Gründung fortwährend gerechtet, und zwar nicht im Sinne eines bloß ideellen Zusatzes zum davon getrennt stattfindenden wirklichen Leben der Nation gemäß den Maßgaben, die die staatliche Gewalt diesem erteilt. Sondern im Sinne eines Streits um eben diese Maßgaben selbst, eines Streits also um nichts Geringeres als die Staatsräson. Was in anderen Nationen allenfalls politischen Krisen- und Umbruchszeiten vorbehalten bleibt, in denen der nationale Erfolgsweg zweifelhaft wird, das gehört in Israel dauerhaft zum politischen Leben. Der Grund dafür liegt darin, dass die Staatsräson ihrem Gehalt nach entschieden uneindeutig ist und sein soll: Israel ist einerseits ein fertiges bürgerliches Staatswesen, das seine Bürger als Dienstkräfte am nationalkapitalistischen Reichtum benutzt sowie rechts- und sozialstaatlich betreut, darüber hinaus als Personal des nach innen und außen aktiven staatlichen Gewaltmonopols beansprucht und die Reproduktion dieses Verhältnisses mit den Methoden einer bürgerlichen Demokratie dadurch bewerkstelligt, dass das so beanspruchte Volk als Wählerschaft geistig in die Drangsale seiner Herrschaft einbezogen wird und so seinen Willen zu ihr dauerhaft erneuert. Andererseits und im Gegensatz dazu gehört zur Räson dieses Staates zugleich, dass er sich bisher weder auf seinen territorialen Bestand und dessen Grenzen endgültig festlegen – schon gar nicht: lassen – will, noch die von ihm regierte Bevölkerung wesentlich und ausschließlich als sein Volk betrachtet und behandelt. Auch seinen volksmäßigen Bestand definiert dieser Staat – nicht vorübergehend, sondern seinem Prinzip nach – als viel kleiner und zugleich viel größer als die Anwesenden auf dem Gebiet des von der israelischen Staatsgewalt beherrschten bzw. dominierten Landes zwischen Mittelmeer, Sinaihalbinsel, Jordan und den Ostausläufern der Golanhöhen: Die dort lebenden Araber sind da, aber sie sind in den ‚besetzten Gebieten‘ definitiv nicht, im israelischen Kernland nur bedingt sein Volk; die auf der ganzen Welt, vor allem in den USA, aber auch in den Nationen Westeuropas und in den großen osteuropäischen Gemeinden lebenden Juden sind nicht da, aber sein Volk in Diaspora, dessen Angehörige nach israelischem Gesetz das „Recht auf Rückkehr“ haben.
Das sorgt seit 75 Jahren dafür, dass Angelegenheiten, die andernorts allenfalls in den höheren Sphären der nationalen Kultur oder in den begrenzten Zirkeln religiöser Gemeinden von Interesse sind, in Israel fundamentalen und praktisch entscheidenden Charakter haben: Wie viel Exklusivität gegenüber Nicht-Juden gebietet Israels Definition als Heimstatt der Juden? Wie viel bürgerlich egalitäre Eingemeindung von Nicht-Juden verträgt diese Definition, wie viel davon gebietet umgekehrt Israels Definition als bürgerlich-demokratisches Gemeinwesen? Und was die Juden selbst anbelangt: Wie viel staatliches Bekenntnis zum Herrn, den Heiligen Schriften und den darin enthaltenen oder aus ihnen abgeleiteten Vorschriften fürs individuelle und gemeinschaftliche Dasein ist geboten, wenn Israel der Staat der Juden oder gleich der jüdische Staat sein soll? Ist das religiöse Bekenntnis alleinige oder nur allein hinreichende oder überhaupt eine Qualifikation für die staatsbürgerliche Zugehörigkeit zu Israel? Und was bzw. wie viel gilt getrennt von der individuellen religiösen Bekenntnis- bzw. Gemütslage eigentlich in diesem Zusammenhang die biologische Abstammung, die nun einmal gemäß religiöser Fundamentalregel matrilinear die Zugehörigkeit zu Gottes auserwähltem Volk verbürgt, das seit dem 14. Mai 1948 den irdischen Sachwalter seiner göttlichen Rechte in dem UN-Mitgliedsstaat Israel hat? Oder – so die auch vorhandene und geduldete Stellung antizionistischer Religiöser – wie sehr ist gerade die Berufung dieses Staates auf das Recht Gottes und seinen Bund mit Abraham eine un-jüdische Vorwegnahme dessen, was eigentlich versprochen ist und abzuwarten bleibt? Usw.
Die „extremen“ Parteien, die nun die Regierung bilden, kaprizieren sich innerhalb dieser unentscheidbaren Streitfragen sehr entschieden auf ihre jeweiligen Positionen.
c) Da sind zum einen die orthodoxen Ultras. Die stehen dafür ein, dass Israel nicht einfach der Staat – auch – der Juden, sondern jüdischer Staat ist, und das meinen sie ganz und gar religiös. Ihren heiligen Schriften entnehmen sie, wie das praktische Leben der jüdischen Leute auszusehen hat, das der Staat beschützen und befördern soll. Das praktizieren sie je schon als – wachsende – Gemeinde frommer Juden in Israel, die sich von ihren religiösen Autoritäten sagen lassen, wie man zu frühstücken, wann zu feiern, bei wem zu welchen Bedingungen für Geld zu arbeiten, wen zu heiraten, wann und wann nicht mit der Straßenbahn zu fahren und wie man sich bei alledem zu kleiden hat. Dass sie damit richtig liegen, beweist ihnen ihre gemeinschaftliche Praxis selbst. Dass sie die so nur ausüben können, weil der Staat ihnen dafür erstens die rechtliche Lizenz er- und zweitens – ebenfalls wachsende – Haushaltsmittel zuteilt, die es erlauben, am bürgerlichen Gelderwerb nur begrenzt teilnehmen zu müssen, interessiert sie dabei nicht bzw. nur so herum: Das schuldet der Staat ihnen, wenn und weil der doch jüdischer Staat sein will; dafür, dass er diese Schuld auch bringt, stehen die parlamentarischen Vertreter dieser Gemeinde ein; und wo er das nicht tut, da sehen sie sich zur praktizierten Illoyalität berechtigt und verpflichtet. Wehrdienst verweigern sie tapfer, wenn eifrige Torah-Studenten gegen ihren Willen dazu gezwungen werden sollen; ihre Sabbatruhe verteidigen sie gegen Angriffe, wenn es sein muss, mit Steinen auf Straßenlaternen und Krankenwagen. Wer ultraorthodox und trotzdem Soldat ist, für den steht die Fatwa seines Rabbis gegebenenfalls allemal über den Innen- und Felddienstvorschriften, die seine Vorgesetzten geltend machen. Und wer nicht nur orthodox, sondern obendrein Busfahrer ist, der darf und soll mit dem Segen seines Rabbis kurzberockte Frauen aus dem Gefährt schmeißen. Denn einfach nur ein bisschen quietistisch vor sich hin frömmeln wollen diese Leute nicht, jedenfalls in ihrer Mehrheit: Sie haben in ihrer Frömmigkeit das Programm für den ganzen Staat Israel, eben eine Mission zur praktischen Durchsetzung ihrer religiösen Gebote für alle. „Toleranz“ ist daher ihre Sache nicht, sondern ihr Gegner, so dass das Wirken ihrer Parteien nicht nur der Bewahrung und Vergrößerung der Freiheitsrechte ihrer Community, sondern – soweit die Macht eben reicht – der religiösen Umgestaltung der Nation gilt. Auch darin sehen sie sich bestätigt, wiederum vor allem durch den Staat und seine Rechtslage selbst, die den oberen Instanzen ihrer religiösen Gemeinde sehr viel Entscheidungs-, Überprüfungs- und Einspruchsrechte in bestimmten Bereichen einräumt, die ausdrücklich auch bekennende nicht-orthodoxe Glaubensbrüder und -schwestern oder gänzlich säkulare Mitbürger betreffen.
Zum andern gibt’s nun gleich zwei Parteien in der Regierung, die die religiös inspirierten Siedler repräsentieren. Die identifizieren ihr Judentum mit dem Recht und der Pflicht, das vom Allerhöchsten ihrem Volk versprochene Land praktisch zu erobern. Und damit wiederum identifizieren sie den israelischen Staat: als Diener an der militanten Inbesitznahme des Heiligen Landes durch seine wahren und einzigen Eigentümer – gegen die arabischen Besatzer, die nach wie vor darauf sogar noch in wachsender Zahl hausen und den Juden damit nicht nur einen Teil des ihnen rechtmäßig zustehenden Bodens, sondern ihr Lebensrecht bestreiten. Für sie fällt Jude-Sein damit zusammen, mit Gewalt das Land von den Okkupanten zu befreien und es zur materiellen Lebensgrundlage des exklusiv berechtigten jüdischen Volkes zu machen; bzw. umgekehrt: den Boden zu besiedeln und zu bearbeiten und die so errungenen Erfolge mit Gewalt abzusichern. Ihr – in offiziellen Parteiprogrammen ausgebreitetes und sich in entsprechenden Gesetzesinitiativen niederschlagendes – staatsbildendes Menschenbild sieht entsprechend aus: Israel ist die Bewegung des jüdischen Soldaten und Bauern. Sie halten programmatisch am Leitbild des siedelnden Kolonisators fest und verkünden einerseits: „Landwirtschaft ist Zionismus im vollen Sinne des Wortes. Sie verkörpert die Verbundenheit mit dem Land und die Eigentümerschaft über das Land, in Verbindung mit Ernährungssicherheit und Nachhaltigkeit.“ Die individuelle Existenz des siedelnden jüdischen Bauern ist unmittelbar gelebte zionistische Mission, sein privates Eigentum daher Inbegriff der Herrschaft des jüdischen Volkes über sein Land, von Arabern verübte Sachbeschädigung an Acker und Pflug daher „Agrarterrorismus“. Wie überhaupt die Existenz dieses Menschenschlags auf jüdischem Boden prinzipiell unerträglich ist. Ihn zu bekämpfen, ihm seine Existenzbedingungen praktisch zu bestreiten, ist darum Sinn der zionistischen Mission. 1 Million Juden wollen die religiösen Zionisten für deren Erfolg in den von Arabern besetzten Gebieten v.a. des Westjordanlandes ansiedeln – das soll und muss die Entscheidung ihres göttlich berechtigten Kampfes herbeiführen. Und zwar abgesichert durch dasselbe Volk in seiner Eigenschaft als Soldat, dem zweiten Leitbild der religiösen Zionisten. Der soll durch Staat und Gesellschaft endlich wieder die Wertschätzung erfahren, die er verdient. Vor allem dadurch, dass er für alles, was er als Soldat seines Volkes tut, pauschal und vollständig Immunität genießt, und zweitens dadurch, dass es ihm vorzugsweise und zu Vorzugspreisen ermöglicht wird, nach dem Wehrdienst zu einem siedelnden jüdischen Landmann auf eigener, gesegneter Scholle zu werden.
Freilich lebt das jenseitig begründete Rechtsbewusstsein auch dieser Ultras davon, dass sie im diesseitigen Israel damit nicht auf verlorenem Posten stehen, sondern mit ihrem Extremismus in dem Staat verankert sind, den sie so eindeutig auf ihre Fassung von Judentum hindefinieren und verändern wollen: Mit der überlegenen Gewalt seiner modernen Armee hat der Staat Israel die arabischen Gebiete erobert, in denen die Siedlerbewegung agiert. Und auf der Basis hat er für alle dauerhaft unentschiedenen Volks- und Territorialfragen sich die Freiheit zu allen intern herzlich umstrittenen Alternativen erhalten und ausgebaut. Die können zwischen den politisch-religiösen Fraktionen Israels so fundamentalistisch in aller national-jüdischen Selbstbezüglichkeit gewälzt werden, weil die staatliche Militärmaschinerie diese Freiheit zugleich allen anderen im Umkreis existierenden Gemeinwesen mit Gewalt aufdrückt, zu denen Israel damit in einem notwendigerweise fundamental gegensätzlichen Verhältnis steht. Dies verschafft den Siedlern ihre Freiheit, sich auf immer größeren Teilen dieser Gebiete anzusiedeln und einzugraben, fest gewillt, sie nie wieder herzugeben. In diesem Punkt treffen sich zionistische Mission der Siedler und Bedarf der modernen Staatsmacht Israel, die mit dem Zuwachs von Territorium und per se nicht zahlenmäßig begrenztem, über die ganze Welt verstreut lebendem Volk als Vergrößerung ihrer staatlichen Machtgrundlagen und -quellen definitiv viel anzufangen weiß. Das bringt den israelischen Staat auf seine Weise in Stellung gegen die arabischen Bewohner der von ihm besetzten Gebiete: Für ihn sind sie weniger ein Verstoß gegen einen religiös begründeten Alleinbesitzanspruch des göttlich auserwählten Volkes der Juden, vielmehr verkörpern sie die unbedingt zu bekämpfende Perspektive eines zweiten Staates auf dem Gebiet zwischen „Meer und Fluss“. Dieser staatliche israelische Wille zur Verhinderung eines arabischen Konkurrenzprojekts von gleicher Natur verschafft wiederum dem sich ganz un- bzw. vorstaatlich verstehenden Siedlerfundamentalismus seine staatspolitische Bedeutung und praktische Nützlichkeit, aus der er immer wieder neu und immer mehr Legitimation und praktische Mittel schöpft: Er wird negativ durch den Kampf gegen die Existenz des nichtstaatlichen Palästinensergemeinwesens auf dem jüdisch reklamierten Boden bestätigt und bekräftigt. Die widersprüchliche Arbeitsteilung zwischen dem israelischen Besatzungsstaat und der zionistischen Siedlerbewegung lebt also nicht zuletzt von der doppelten Eigenart ihres nichtstaatlichen, aber einen Staatsanspruch repräsentierenden Gegenübers, das als ausgegrenzte fremde Bevölkerung der Gegenstand des Hasses und der Bekämpfung des nichtstaatlichen zionistischen Aktivismus ist, dem der israelische Staat praktisch recht und Recht gibt, weil er in den arabischen Leuten den Anspruch auf etwas von seiner Art – auf einen Staat eben – sieht und bekämpft.
*
Daher sind die Karriere der Siedlerbewegung und ihrer politischen Repräsentanten, denen nach der letzten Wahl die Eroberung von Regierungsämtern geglückt ist, und die Vehemenz, mit der sie sich nun zur Verwirklichung ihrer Fassung von Israel in einer Weise anschicken, die ihre Landsleute erschreckt und zu Dauerprotesten aufstachelt, auch – und vor allem – dies: Ausweis und Konsequenz der Fortschritte in der von Staat und Bewegung in widersprüchlicher Symbiose betriebenen Bekämpfung des palästinensischen Gemeinwesens mit seinen paar Eigenheiten.
2.
a) In den berühmten Oslo-Verträgen von Anfang der 1990er Jahre, die den obersten Vertretern der Palästinenser und Israels immerhin jeweils einen Friedensnobelpreis bescherten, hat sich Israel die Zerstückelung des Westjordanlandes in unterschiedliche Zonen seines mit einer Palästinenserbehörde geteilten oder ausschließlichen Zugriffs zusichern lassen; [2] zwar mit der beschworenen Perspektive, irgendwann und dermaleinst das Land vollständig palästinensischer Autonomie zu unterstellen, aber praktisch mit dem seither weidlich ausgenutzten Ertrag seiner auch von palästinensischer Seite anerkannten kompletten Besatzungshoheit über den größten Teil des okkupierten Gebietes und der durch die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) ebenfalls legitimierten ‚Mit‘-Sprache über dessen Rest, die aber letztlich auch in der Oberhoheit besteht, die nur nach eigenem Gutdünken mit der PA geteilt wird.
Das hat nach drei Jahrzehnten „Oslo-Prozess“ in jeder Hinsicht seine Spuren am ökonomischen und sozialen Leben der Araber im Westjordanland hinterlassen, auf das sich Israel bisher gar nicht einfach nur als Basis eines feindlichen Staatsprojektes bezogen hat, die es möglichst umfassend und gründlich zu zerstören gilt; als kapitalistische Nation hat es ökonomisch so einiges damit anzufangen gewusst. Obendrein waren die Momente ‚autochthoner‘ palästinensischer Ökonomie jahrzehntelang dabei behilflich, sich die jeweils für nötig und passend erachteten Freiheiten bei der Handhabung der Besatzung zu sichern, ohne das besetzte Volk als eigenes zu behandeln.
Was sich Israel da vor nunmehr 56 Jahren zugeschlagen hat, war eine ziemlich durchschnittliche Ökonomie postkolonialen arabischen Zuschnitts: viel ertragreiche agrarische Bodenbewirtschaftung in der natürlich fruchtbaren Jordan-Oase, bewässerte Landwirtschaft und Viehhaltung in den restlichen Gebieten, Handwerk, Industrie und Handel in den städtischen Siedlungszentren – insgesamt machte die westjordanische Ökonomie ca. die Hälfte des Wirtschaftsvolumens des damaligen Transjordanien aus. Noch vor aller weiteren Besiedlung hat Israel diese ortsansässige Ökonomie dann im Prinzip exklusiv auf sich bezogen: Ihre Kaufkraft hat es sich vor allem dadurch angeeignet, dass es Importe aus anderen Staaten der Gegend ebenso weitgehend abgeschnitten hat, wie es peu à peu und heutzutage so gut wie vollständig die beiden palästinensischen Teilgebiete voneinander auch im Warenhandel isoliert hat. Zugleich flutet es seither deren Märkte mit eigenen Waren; das war zu Zeiten, als das Hightech-Wunderland Israel noch nicht ganz so wundervoll war, vor allem dafür nützlich, international nicht konkurrenzfähige Ware trotzdem für eine Verbesserung der nationalen Handelsbilanz zu benutzen. Die eigene Ökonomie, insbesondere die Landwirtschaft, hat Israel zugleich wirksam von palästinensischer Konkurrenz abgeschirmt; da, wo es nützlich erscheint, dürfen aber palästinensische Produkte und Halbfertigprodukte zur Senkung des israelischen Produktionskostenniveaus und damit zur Verbesserung der internationalen Konkurrenzfähigkeit beitragen.
Die Unterwerfung der palästinensischen Gebiete unter die Restriktionen militärischer Besatzung und die jahrzehntelange Abwesenheit eines politischen Subjekts, das den Standpunkt der Erhaltung und Entwicklung einer westjordanischen Ökonomie praktiziert, haben dann quasi automatisch dafür gesorgt, dass die materielle Reproduktion dieser ortsansässigen Gesellschaft immer mehr zu einem bloßen Anhängsel der israelischen Ökonomie geworden ist, die es umgekehrt zu einem ziemlich erfolgreichen kapitalistischen Aufstieg gebracht hat. Sie kann palästinensische Arbeitskräfte in wachsendem Maße für sich benutzen – inzwischen arbeiten rund 200 000 Palästinenser in Israel bzw. israelischen Siedlungen und tragen mit ihren Einkommen einen Großteil zur heimischen Kaufkraft bei, die aber umgehend wieder in großem Ausmaß nach Israel recycelt wird – siehe oben. Die Hälfte dieser palästinensischen Arbeitskräfte arbeitet mehr oder weniger ‚informell‘ und verbilligt auf diese Weise zusätzlich ihre Benutzung; die üblichen staatlichen Betreuungsmaßnahmen für die Reproduktion des billigen Arbeitskräftereservoirs erspart sich Israel außerdem – es sind und bleiben nun einmal auswärtige Arbeitskräfte. Insgesamt ergibt sich so ein vorbildlich billiger Zugriff auf diese zuschüssigen Dienstkräfte, der überhaupt nur, dies allerdings schon, durch einen Faktor potenziell und periodisch akut gestört wird: durch Israel selbst, genauer seine antiterroristischen Sicherheitsbedürfnisse, die von Zeit zu Zeit mit dem Bedarf seiner kapitalistischen Unternehmer kollidieren. Diese wunderbar billige Arbeitskraft wächst von Israel aus gesehen quasi von alleine nach; ihre Betreuung ist Sache der Palästinenserbehörde, soweit sie dazu in der Lage ist, der überkommenen und mittlerweile wieder wichtiger werdenden Familien- und Clanzusammenhänge und nicht zuletzt der internationalen Organisationen, die sich um die knappe Hälfte der Palästinenser kümmern mögen, die auf ausländische humanitäre Hilfe angewiesen sind. Rund die Hälfte der Westbankbevölkerung ist in einer zunehmend unproduktiven Landwirtschaft verstaut, die immer mehr nur noch für den heimischen Markt produziert, kaum mehr Überschüsse abwirft und so ihrerseits für die Produktion und zugleich, zumindest teilweise, für die Absorbtion ökonomisch überflüssiger Bevölkerung in den bäuerlichen Familienverbünden sorgt.
Parallel zu dieser Mischung aus Aneignung und Austrocknung der inneren palästinensischen Ökonomie macht sich Israel die Zahlungsströme zunutze, die aus dem Ausland einfließen: Einst von großer Bedeutung waren die Überweisungen der oftmals höher und hoch qualifizierten Palästinenser, die nach der Okkupation vor allem in die reichen arabischen Golfstaaten ausgewandert sind; und auch die, permanent weniger werdenden, Zahlungen ausländischer Geldgeber und Hilfsorganisationen sowie der Tourismus zu den im Westjordanland zahlreich vorhandenen Stätten von religiösem Interesse erhöhen allesamt den Cashflow des israelischen Finanzwesens. Denn jeglicher Zahlungsstrom in die und aus den besetzten Gebieten hat nun einmal über israelische Banken zu laufen. Und letztlich landet ein Großteil dieser Gelder dann auch endgültig wieder in Israel, weil ja auch mit denen nur zu kaufen ist, was angeboten wird, und das kommt nun einmal meist aus Israel selbst.
Für die Bereicherung einer Schicht von palästinensischen Geldsäcken reicht die kolonisierte Ökonomie im Übrigen allemal. Alte Grundbesitzerfamilien gehören dazu ebenso wie diejenigen, die die wenigen Geschäftslizenzen für den legalen Import und Export von Waren aller Art, bestimmte Dienstleistungen im Bereich der Infrastruktur, des Bauwesens, der Telekommunikation besitzen – was es eben so an Formen der Geldanhäufung am Rande oder außerhalb veritabler kapitalistischer Akkumulation gibt, die man auch aus anderen Gegenden kennt. Schon eher landestypisch sind da die Makler von Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigungen für Palästinenser in Israel: Die verdienen in einem Gesamtvolumen von ca. 500 Millionen Dollar daran, an ihre Landsleute die begehrten Erlaubnisse zu vermitteln, die allein dafür ca. ein Viertel ihrer Einkünfte gleich wieder abgeben dürfen.
Zugleich ist diese palästinensische Ökonomie die entscheidende sachliche Basis für die Reproduktion des in der Autonomiebehörde verkörperten palästinensischen Staatsgründungswillens. Soweit es in ihren Kräften steht, behandelt die PA Territorium und Bevölkerung als diese Staatsbasis und versucht, ihr Funktionieren zu regeln und sie zu entwickeln. Was da überhaupt geht, das geht nur mit israelischer Duldung, wobei die besatzungsmäßige Oberhoheit über das Land und die fast totale Abhängigkeit seiner Ökonomie von der israelischen sich aus israelischer Sicht wunderbar ergänzen, aus Sicht der Palästinenserbehörde zu einem immer weniger überhaupt beherrschbaren Widerspruch entwickeln, der sie vor lauter untubare Alternativen stellt. Deren Prinzip besteht darin, dass die irgendwie materielle Aufrechterhaltung ihres politischen Willens und Bestandes komplett vom Arrangement mit der Macht abhängt, die genau diesen Staatsgründungswillen für absolut unverträglich mit ihrem eigenen Bestand erklärt.
Materiell lebt die PA immer mehr nur vom fiskalischen Zugriff auf die zunehmend elende Ökonomie des Westjordanlandes und – mehr noch – auf die Importsteuern für die wegen des Niedergangs der lokalen Ökonomie in wachsendem Ausmaß einzuführenden Produkte aller Art. Diesen Zugriff übt allerdings nicht sie selbst aus, sondern stellvertretend für sie der israelische Staat, der ihr vertragsgemäß die eingenommenen Steuern überweist. Oder auch nicht. Vor allem die Betreuung ihrer in israelischen Gefängnissen einsitzenden Kämpfer und deren Familien durch die PA war für Israel vor drei Jahren Anlass für ein Gesetz, dem zufolge ‚legal‘ Teile der treuhänderisch einkassierten und verwahrten Steuergelder einbehalten werden. Die ehedem zweite große Quelle, aus der sich das Budget der PA gespeist hat – die Gelder ausländischer Geldgeber in Höhe von einstmals ca. 2 Mrd. US-Dollar –, ist auf nunmehr nur noch 190 Millionen plus ca. 100 Millionen für bestimmte festgelegte Zwecke vermindert und damit so gut wie ausgetrocknet: Mit seiner konsequenten Politik der Zerstörung jeder Aussicht auf einen palästinensischen Staat hat Israel im Laufe der Zeit auch das Interesse auswärtiger Staaten erlahmen lassen, mit Geld Einfluss auf dessen Entstehung und ihre Protagonisten zu nehmen. Unter verschiedenen Rechtstiteln haben sich die einst größten Geldgeber ganz oder so gut wie komplett aus der Finanzierung der PA zurückgezogen.
Demgegenüber stehen wachsende Notwendigkeiten, die zu finanzieren sind. Die Hälfte ihres Budgets gibt die PA für die Gehälter ihrer zivilen und militärischen Angestellten aus. Das betrifft nicht nur das Westjordanland, sondern auch den Gazastreifen: Über den hat zwar nicht mehr sie, sondern die mit ihr verfeindete Hamas das Sagen, der bildet für sie auch keine Quelle oder Basis mehr für irgendetwas, aber ihren Staatsanspruch auf ganz ‚Palästina‘ hält sie unter anderem dadurch aufrecht, dass sie einem Teil der dortigen zivilen Angestellten Gehälter zahlt. Das Bevölkerungswachstum sorgt seinerseits für wachsenden Betreuungsbedarf, der pro Kopf zwar immer dürftiger bedient wird, aber in Summe trotzdem größer wird. Dazu kommen der notwendige Wohnungsbau und die notdürftig betriebene Aufrechterhaltung der verrottenden oder in israelischen Strafaktionen wie neulich in Jenin oder durch Siedler zerstörten Infrastruktur. Vor allem wächst der Ordnungs- und Gewaltbedarf der Behörde, entsprechend aufgebläht sind die Sicherheitsorgane, wobei die Übergänge zwischen der Sicherstellung der Ordnung und der irgendwie zu bewerkstelligenden Versorgung der zu 30 % arbeitslosen Bevölkerung mit Einkommen fließend sind.
Die Erschließung neuer Quellen für Steuern und Verschuldung ist also gefragt, und in Ermangelung anderer hat sich die PA neulich mit Israel darauf geeinigt, dass die in Israel arbeitenden Palästinenser ihre Löhne von nun an auf die Konten der im Westjordanland tätigen Banken überwiesen bekommen sollen. Angesichts von Protesten der betroffenen Palästinenser wurde zwar versichert, dass es keine Doppelbesteuerung geben soll, was allerdings nicht verhindert, dass ein paar offensichtlich ziemlich happige Bankgebühren fällig werden, welche die sowieso überstrapazierten Löhne weiter schmälern. Tatsächlich besteht der anvisierte Nutzen darin, die Finanzbasis der Banken zu erhöhen, bei denen sich die PA überhaupt nur verschulden kann. Für Israel bringt das Abkommen den schönen Effekt, dass es im Unterschied zu früher, als die Löhne größtenteils in bar und ganz oft schwarz gezahlt wurden, an einer ziemlich empfindlichen Stelle einen nochmals erweiterten Zugriff auf die palästinensische Ökonomie bekommt. Und umgekehrt gilt für die PA: Sie erkauft sich die nicht sehr belastbare Erweiterung ihrer Verschuldungsbasis durch die sehr verlässliche Vertiefung ihrer Abhängigkeit von israelischem Gutdünken.
Zwischendurch hat die PA versucht, Israel zur Herausgabe der einbehaltenen Steuern dadurch zu erpressen, dass sie die Annahme des Rests auch noch verweigert hat, um nicht durch Fortsetzung des minimierten Zahlungsverkehrs diese israelische Praxis praktisch anzuerkennen und in Kalkulation darauf, dass Israel einen Finanzkollaps der PA auch nicht praktisch findet. Und das ist noch nicht einmal ganz ohne Erfolg geblieben. Die Vorgänger der jetzigen israelischen Regierung haben sich tatsächlich als lebenserhaltende Maßnahme für die vor dem Bankrott stehende PA dazu entschlossen, ihr einen ‚Kredit‘ auf die einbehaltenen Steuersummen zu gewähren. Und sogar die jetzige Regierung unter Netanyahu hat sich, freilich unter dem Protest so mancher Koalitionäre, während eines Treffens in Jordanien im Frühjahr dieses Jahres dazu herbeigelassen, der PA ein paar zusätzliche Einnahmen aus dem grenzüberschreitenden Verkehr von Waren und Menschen zu überlassen.
Denn auch für Israel hat die Erosion der Basis der PA einen Preis: Mit der Behörde, ihrem geduldeten Ordnungsrecht in Teilen der besetzten Gebiete und ihren entscheidenden Beiträgen zum Überleben der Leute dort schwinden deren effektive Ordnungsmacht und die Loyalität einer Bevölkerung, die in der Behörde immer mehr nur eine unnütze, korrupte Bande sieht, deren Vertreter sich die paar lukrativen Geldquellen unter den Nagel reißen, Steuern eintreiben, die Gehälter für ihre Angestellten nicht vertragsgemäß zahlen und ansonsten jeden Dienst an der notleidenden Bevölkerung und vor allem jeden Schutz vor den Übergriffen von israelischer Seite missen lassen.
Seit Gründung Anfang der 1990er haben die PLO-Fraktionen, die in der PA die Politik bestimmen, Israel den organisierten terroristischen Widerstand erspart, dem sich das Land aus dem Gazastreifen durch die Hamas bzw. den Islamischen Heiligen Krieg und aus dem Libanon vor allem durch den Hisbollah ausgesetzt sieht und der – ausgestattet mit iranischer Ausrüstung bzw. vom Iran geerbtem Knowhow in Sachen Kurzstreckenraketen – immerhin periodisch zu merklichen Störungen des zivilen Lebens im israelischen Kernland führt. Die immer weiter perfektionierte, weltweit einmalige Absicherung des eigenen Territoriums mittels einer mehrschichtigen und -stufigen Raketenabwehr kann da inzwischen zwar den größten Teil abhalten, aber bei größeren Auseinandersetzungen ruht der zivile kapitalistische Alltag eben doch in größeren Bereichen, und immer noch warnen israelische Militärexperten vor dem Szenario eines simultanen Beschusses aus dem Gazastreifen, dem Libanon und dem Westjordanland mit seiner langen Grenze zu Israels Kernland.
Viel Bestimmungshoheit hat die PA inzwischen an die überkommenen Familienclans und ihre Strukturen verloren. Die waren zwar nie ganz weg, aber sie erleben eine neue Blüte angesichts dessen, dass die ökonomische Not der Bevölkerung wächst, die entweder auf dem Lande versucht zu existieren und dafür irgendeinen Schutz vor israelischen Siedlern und eine Schlichtungsinstanz bei den internen Streitereien um die knapper werdenden Ressourcen, vor allem das Wasser, braucht, was die PA beides nicht zu bieten hat. Oder sich in den Armutsvierteln der westjordanischen Städte durchschlägt und dafür ebenfalls mehr auf ihre Familienbande als auf die Versatzstücke von Sozialstaat setzen muss. Und auch ansonsten wird mit der Konkurrenz um die spärlicher werdenden Einkommensquellen die Rolle der Clans wieder wichtiger, die versuchen, sich den Zugriff darauf zu sichern. Die in bestimmten Zonen der Westbank offiziell geltende Rechtshoheit der PA interessiert sie dabei naturgemäß immer weniger, es sei denn, sie bestücken deren Organe gleich selbst.
Mit seiner erfolgreichen Verweigerungs- und Entmachtungspolitik gegenüber der PA hat sich Israel nun eine neue Qualität des Widerstands nicht nur gegen die Behörde, sondern auch und vermehrt gegen die Besatzungsmacht selbst eingehandelt, gegen ihre uniformierten Vertreter und die zivilen bzw. gar nicht so zivilen siedelnden Juden. Dieser Widerstand geht über Einzelaktionen inzwischen hinaus. Vor allem in den großen Flüchtlingslagern hat sich eine Widerstandsbewegung organisiert, die von der PA getrennt aufgestellt ist und sich Inspiration und auch Kommandos von den religiös fanatisierten Konkurrenten der Fatah holt: v.a. vom Islamischen Heiligen Krieg und der Hamas. Damit ist die für Israel so gut zu handhabende Trennung zwischen dem ‚abgekoppelten‘ Gazastreifen mit seinen radikal-religiösen Militanten und dem Westjordanland praktisch dahin.
Auch was den erklärten Standpunkt der Palästinenservertreter anbelangt, provoziert Israel mit seiner radikalisierten Aneignung des Westjordanlandes unter den Palästinensern Anläufe zu palästinensischer Einheit. Die ist zwar einstweilen nur negativ bestimmt, besteht nämlich nur in der Erkenntnis der PA, dass ihr auch noch so viel Kompromissbereitschaft nicht das Schicksal erspart, das Israel den islamistischen Rebellen der Abteilung Hamas und Islamischer Dschihad bereitet. Für ein Gipfeltreffen in Ägypten hat das aber allemal schon gereicht und für die lauter werdende Forderung der Leute im Westjordanland, die PA solle ihre Truppen direkt gegen die israelischen Besatzer einsetzen, auch. Gegen den Vorwurf, eine Hilfstruppe der Besatzungsmacht zu sein, müssen sich die Vertreter der PA immer häufiger auch öffentlich verteidigen, in manchen Gegenden – wie zum Beispiel in Jenin – bewegen sie sich inzwischen selbst wie in Feindesland. Jede Andeutung eines Kompromisses mit den radikalen Fraktionen ist aber für Israel Anlass, seine Feindschaft zur PA zu verschärfen, ihr Mittel zu entziehen bzw. damit zu drohen usw.
b) An all dem sind die Siedler auf ihre Weise beteiligt. Sie siedeln in wachsender Kopfstärke und in immer neuen Siedlungen; damit verbunden sind exklusive Benutzungsrechte von Land, Wasser, Straßen, sonstiger Infrastruktur. Um die Sicherheit an Leib und Leben sowie diese exklusiven Rechte zu sichern, wird in wachsendem Ausmaß Militär disloziert, dessen Präsenz und Aktionsfreiheit dann seinerseits gesichert werden will, was wiederum mit immer mehr Unterbrechungen des ökonomischen Verkehrs der Araber in den besetzten Gebieten sowie zwischen denen und Israel einhergeht. Und das, siehe oben, untergräbt die palästinensische Ökonomie und das Verhältnis zwischen palästinensischer Bevölkerung und Autonomiebehörde so wunderbar automatisch und viel effektiver und nachhaltiger als die – keinesfalls überflüssigen – Zerstörungsaktionen jüdischer Wehrbauern gegen arabische Felder und Haine. So sorgen die Siedler mit ihrem staatlich geschützten und sanktionierten Aktivismus mit dafür, an den Palästinensern wahrzumachen, was sowieso zionistischer Standpunkt ist: dass die zu dem Land nicht gehören, mit und auf dem sie materiell immer weniger anzufangen wissen, weil man sie immer weniger lässt. Die Ereignisse unmittelbarer, scheinbar archaischer Konfrontation zwischen jüdischen Neuankömmlingen und eingesessenen palästinensischen Bauern, jüdischen Bauern und palästinensischen Hirten produzieren dann praktisch die Durchsetzungs-, juristisch die Präzedenz- und moralisch die Anschauungsfälle dafür, dass Palästinenser Feinde der Juden sind und als solche bekämpft gehören bzw. umgekehrt, jüdisches Leben nur als Kampf gegen die Palästinenser geht, was sich insofern gut trifft, als dies der ganze Ausgangspunkt und Motor der jüdischen Wehrbauernbewegung ist. Inzwischen ist dieser auch von zweithöchster, nämlich von höchster staatlicher Stelle ausdrücklich zuerkannt worden, überall im Land zwischen Mittelmeer und Jordan das exklusive Recht zu Landnahme und -besiedlung innezuhaben – „The Jewish people have an exclusive and unquestionable right to all areas of the Land of Israel.“ (Netanyahu zum Regierungsantritt). Und das ist ja auch eine Art, die dort lebenden Araber zu einem im Prinzip nicht dahingehörenden Störfall zu erklären.
Diese Eskalation der Auseinandersetzungen zwischen den in wachsender Zahl auf immer mehr Boden anwesenden Siedlern und der ebenfalls wachsenden, aber mit immer weniger Lebensgrundlagen wirtschaftenden arabischen Bevölkerung erweist sich für den israelischen Besatzungsstaat als zunehmende Unhandlichkeit seines bis dato eingerichteten westjordanischen Gewalthaushalts, der nun immer mehr von beiden Seiten her angegriffen wird. Wobei vom Standpunkt des israelischen Staates aus klar ist, dass zunehmende Siedlergewalt vielleicht nicht in jedem Falle, aber im Prinzip als Reaktion auf arabische Gewalt zu behandeln ist, so dass die ‚Trennung‘ beider Seiten voneinander eine eindeutige Stoßrichtung hat: Zonen anerkannter palästinensischer Teilautonomie darf es einfach nicht mehr geben, weil die Autonomiebehörde offensichtlich den Terror ihrer Leute nicht in den Griff bekommt und wohl auch gar nicht bekommen will. Auch in den Teilen der Westbank, die gemäß Oslo-Abkommen der PA unterstellt sind, wird deren Zuständigkeit vom israelischen Militär immer häufiger demonstrativ übergangen, wenn es im Zuge seiner Terroristenjagd für Stunden, Tage oder auch länger, wenn es sein muss, ganze Städte belagert, sie mit schwerem Gerät und inzwischen auch mit der Luftwaffe in urbane Kriegsschauplätze und damit alle dort Lebenden in wirkliche oder potenzielle Kombattanten der Auseinandersetzung verwandelt, deren Formen damit auch im Westjordanland – so wie im Gazastreifen schon länger – ihrem Begriff gemäß werden: Krieg wird gegen ein Volk geführt, das – egal wie sein politischer Wille aussehen und durch welche politischen Subjekte er sich repräsentiert sehen mag – letztlich darum stört, weil es da ist. Wenn die PA ihre an Israel gerichteten machtlosen Erpressungsversuche – z.B. durch die schon erwähnte Verweigerung von Steuertransfers oder die wiederholte Ankündigung der Selbstauflösung – durch Anläufe einer Aussöhnung mit der Hamas und anderen radikalen Vereinen ergänzt, bestätigt sie umgekehrt, was sowieso israelische Politik ist: dass es keinen ‚gemäßigten‘ politischen Willen unter Palästinensern gibt. Wenn der Palästinenserpräsident vor der UNO höflich um die Solidarität der Weltgemeinschaft nachsucht und das geltende Völkerrecht beschwört, dann quittiert die israelische Regierung dies mit dem neuartigen Vorwurf des „diplomatischen Terrorismus“; und wenn er – weniger höflich, mehr verzweifelt – im Ausland um Unterstützung mittels dramatisierender Holocaust-Vergleiche bettelt, hat Israel ihn schon gleich da, wo es ihn haben will: in der antisemitischen Ecke, die ohne weitere Prüfung seiner Vorwürfe jeden ins Unrecht setzt, den man dahinein drängt. In denkbar negativem, zu seinem Programm perfekt passendem Sinn identifiziert Israel damit nun auch die westjordanischen Araber mit ihrer Führung, so wie es dies mit den Gaza-Arabern schon seit längerem tut: Die zivilen und militärischen Strafaktionen gegen die PA treffen – wen denn sonst? – selbstverständlich immer diejenigen Leute, die unter deren politischem Bestimmungsanspruch leben, egal, ob sie den affirmieren oder nicht. Und umgekehrt macht Israel nach Belieben die PA für jede Gewalttat verantwortlich, die gar nicht von ihr und ihrem bewaffneten Apparat ausgeht, sondern von Widerstandsgruppen oder Desperados außerhalb ihres Zugriffs.
c) Das alles gibt den Siedlern in ihrer seit jeher zu Israel gehörenden, aber eben exzentrischen Position totaler völkisch-religiöser Kompromisslosigkeit gegenüber dem Leben und Lebensrecht von Arabern auf jüdischem Boden noch ganz anders recht: Ihr Standpunkt ‚rückt‘ damit nämlich immer weiter ‚in die Mitte‘ des politischen Spektrums – ausweislich des Wahlergebnisses, das den Siedlerparteien schließlich nicht nur von ihrer eigentlichen Siedlerbasis beschert worden ist: Dass Palästinenser potenziell Terroristen, jedenfalls insgesamt ein Sicherheitsrisiko sind, leuchtet inzwischen auch der Mehrheit der Israelis ein, die nicht vorhaben, im Westjordanland einen palästinensischen Olivenhain niederzubrennen oder gar selbst einen Acker zu bestellen, sondern die genug damit zu tun haben, im kapitalistischen Kernland ihrem bürgerlichen Alltag nachzugehen. ‚Sicherheit‘ in diesem Sinne ist daher der höchste Imperativ nicht nur aller praktizierten israelischen Politik, sondern vor allem der Maßstab, an dem die konkurrierenden Parteien, die in Israel ‚Politik machen‘, sich messen lassen wollen und durch die von ihnen erzogenen Wähler gemessen werden. Das macht die zunehmende demokratische Popularität des Populismus aus, den der Likud-Führer Netanyahu verkörpert: Offen für jedes völkisch-religiös inspirierte Rechtsbewusstsein in Sachen antiarabischer Gewalt zwecks Vergrößerung des israelischen Zugriffs auf Eretz Israel, aber gar nicht festgelegt auf eine unbedingt religiöse Interpretation der Mission des Staates Israel stehen er und sein Likud bezüglich der Bekämpfung jedes arabischen Anspruchs auf Land, der Eindämmung der Bewegungs- und Handlungsfreiheit der arabischen Bevölkerung und letztlich deren auch zahlenmäßiger Zurückdrängung qua Aufwuchs jüdischer Präsenz für das sehr weitreichende Moment von Deckungsgleichheit religiös-zionistischen Eiferertums, staatspolitischer Vernunft und quasi sicherheitstaktischer Notwendigkeit, deren Erfüllung jeder friedlich vor sich hinlebende Israeli erwarten darf. Diese Figur lässt sich von Netanyahu darum auch im Wesentlichen alles einleuchten, was es dafür braucht und was auf keinen Fall – das gilt nicht zuletzt auch für die Freiheiten, die Netanyahu ohne jegliche extremistische Anwandlungen oder Ausfälle, ganz staatsmännisch gegen die derzeitige Verfassung der israelischen Gewaltenteilung ausweiten will: Dafür hat er die Unterstützung der ungefähren Hälfte der Israelis, die sich das demokratische Argument einleuchten lassen, dass im und vom Parlament und der von dem vereidigten Regierung und eigentlich nirgendwo und von niemandem sonst der Volkswille, also ihrer, repräsentiert ist. Für die Agitation gegen ein Establishment, das dies offenbar anders sieht und handhabt, sind auch sie zu haben – schließlich sorgt die Mischung aus ökonomischen Drangsalen und dem nie abschließend bedienten Bedarf nach staatlich zu verteidigender privater Sicherheit vor arabischem Terror für genug staatsbürgerliche Unzufriedenheit, die sich in dem von Netanyahu und Co angeheizten Hass auf ein linkes, verweichlichtes, letztlich die Sicherheit des Landes und seiner Bürger verratendes Establishment und dessen ‚Agenda‘ gut aufgehoben sieht. Das prädestiniert „Bibi“ zum Bündnispartner und eigentlichen Rückgrat der Koalition mit den kleineren Parteien der ultraorthodoxen bzw. siedleraktivistischen Abteilung, deren Anliegen unter seiner Führung zu ihrem Recht kommen und zugleich in das eingebunden werden, was er als Räson des Staates definiert. Zusammen genießen sie die Anhängerschaft zwar nur der einen Hälfte der israelischen Bevölkerung, aber das reicht schließlich nach den Regeln der Demokratie dafür, das Volk als ganzes zu repräsentieren und also zu regieren.
Die so gewonnene Freiheit der Regierungsmacht nutzen die religiös inspirierten Protagonisten der antiarabisch zionistischen Dauerstaatsgründung und -vergrößerung dafür, nun auch mit den Rechten und Mitteln staatlicher Amtsträger ihr Programm im Westjordanland voranzutreiben. Sie verfolgen unter konsequenter Umsetzung ihrer wahlkämpferischen Ankündigungen nun das Programm, die rechtlichen und administrativen Unterschiede zum israelischen Kernland möglichst weitgehend zu tilgen, die nach wie vor die Sonderstellung des Gebietes als zwar israelischer Hoheit unterworfenes, aber nicht zum offiziellen Staatsterritorium gehörendes Land festschreiben. Die Zonen, die seit den Oslo-Abkommen vertragsgemäß israelischer Hoheit unterliegen, sind offiziell in den Kompetenzbereich des Finanzministeriums eingegliedert worden. Das ist nicht nur ein entscheidender Schritt der rechtlich-administrativen Annexion, sondern verschafft dem Finanzminister, der Chef einer der radikalen Siedlerparteien ist, außerdem die Freiheit, zusätzliche, unter seiner ministeriellen Hoheit befindliche Gelder für die Förderung der jüdischen Landnahme gegen die Palästinenser im Westjordanland umzuwidmen – allein für den Ausbau der jüdischen Präsenz im annektierten Ostjerusalem sind umgerechnet schlappe 840 Millionen Dollar vorgesehen. Der rechtliche Unterschied zwischen jüdischen und den arabischen Bewohnern des Westjordanlandes wird damit vertieft und zementiert, und wenn auch der moralische Vorwurf der Apartheid die Sache nicht trifft, so ist doch damit noch ganz abgesehen von den Regelungen für die Araber, die aber parallel auch erlassen werden, ihr Status als Menschen, denen das Land eigentlich nicht gehört, die also nicht zum Land und in es gehören, gebührend fortgeschrieben.
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Die praktischen Erfolge, die ihr Anliegen der Rückeroberung des jüdischen Landes von seinen arabischen Okkupanten einfährt, die politische und moralische Berechtigung, die ihr Standpunkt erhält, dass ihr jüdisches Gemeinwesen eine fortwährende Gründungsaktion gegen die ansässigen Araber ist, und nicht zuletzt die offiziell eroberten Machtämter bestärken die religiöse Zionistenbewegung schließlich auch noch darin: Den zivil-bürgerlichen Alltag, sprich: das staatlich administrierte Leben unter der ökonomischen Regie des Kapitals, betrachten sie konsequent von dem im Westjordanland tatsächlich die Dinge bestimmenden Standpunkt militanter Landnahme aus. Und von da aus gesehen stellt sich ihnen das zivile Innenleben im israelischen Kernland als eine einzige untubare Konzession an die dort lebenden, sogar mit Staatsbürgerrechten ausgestatteten Araber dar, als eine verirrte Koexistenz mit dem Menschenschlag, der auch und gerade dort nichts zu suchen hat und mit seiner Anwesenheit das jüdische Gemeinwesen stört und – auch, aber nicht nur wegen seiner notorisch hohen Geburtsraten – tendenziell zerstört. Dem sagen sie nun folgerichtig den Kampf an.
3.
a) Dabei können sie an die facettenreiche Rechtspraxis der Unterscheidung offiziell anerkannter religiöser bzw. ethnischer Minderheiten anknüpfen, deren Prinzip darin besteht, jüdischen Menschen automatisch die Staatsbürgerschaft, verbunden mit einem „Recht auf Rückkehr“ zu verleihen, zugleich aber die im Lande anwesenden nicht-jüdischen Communities auch mit Staatsbürger- und gewissen zivilrechtlichen Sonderrechten zu versehen. Vom radikal-zionistischen Standpunkt aus betrachtet, handelt es sich dabei um eine verbrecherische, das jüdische Privileg auf Israel verletzende Inkonsequenz in Sachen Diskriminierung.
Das Objekt seiner Anschauung und Bekämpfung hat der antiarabische Rassismus in der Existenz der arabischen Minderheit in Israel. Die reproduziert sich als Volksgruppe quasi ‚naturwüchsig‘ unter den rechtlichen und ökonomischen Bedingungen, unter die sie gestellt ist: Die Förderung jüdischer Einwanderung und Besiedlung hat zu einer Aggregation der nach der Staatsgründung 1948 verbliebenen Araber vor allem in Städten und Ortschaften des Nordens geführt, in denen ca. 90 % der 48er-Araber leben; dort werden sie systematisch bei der Zuteilung von Mitteln für Stadtentwicklung, Infrastruktur, Wirtschaftsförderung etc. benachteiligt. Ein zweiter Teil der Araber lebt mehr oder weniger sesshaft in der Negev-Wüste, hat dort in aller Regel gar keinen oder nur beschränkten Zugang zu öffentlichen Mitteln, schlicht durch die Nicht-Anerkennung der Siedlungen als eigene Kommunen. Entsprechend überrepräsentiert sind die Araber in den unteren Schichten der Berufshierarchie, so dass sich ihre städtischen und dörflichen Communities als Armenhäuser des israelischen Kapitalismus reproduzieren. Zusammen mit den paar Besonderheiten religiös-zivilrechtlicher Selbstverwaltung und der unter den obwaltenden Umständen organisiert randständiger Armut ebenfalls naturwüchsig einreißenden Rolle der Familienclans, die sich um die mehr oder weniger legalen Einkommensquellen kümmern, ergibt sich die kollektive Existenz eines ökonomisch depravierten, rechtlich zu guten Teilen am Rande oder mitten in der organisierten Clan-Kriminalität existierenden, sittlich wenig integrierten und politisch entweder indifferenten oder feindseligen Menschenschlags.
Um den kümmert sich die Regierung nun entsprechend: Die ökonomische und soziale Benachteiligung wird verschärft durch neue Fördermaßnahmen und -richtlinien für Juden und umgekehrt durch die Streichung bzw. Verringerung analoger Fördertöpfe für arabische Kommunen. Die bisherige Bereitstellung dieser Mittel im staatlichen Haushalt verdankt sich der staatlichen Kalkulation, dass die zionistisch folgerichtige Schlechterstellung und Ausgrenzung der Araber unter dem Gesichtspunkt der Verwaltung eines kapitalistischen Standorts, der Israel eben auch ist, eine Verschwendung nationaler Ressourcen und eine soziale Last ist, die es durch kapitalistisch nützliche Erschließung zu verringern gilt. Als vorteilhaft für die regierenden Freunde und Förderer eines echt und einzig jüdischen Israel erweist sich dabei, dass sie ihre neue haushalterische Diskriminierungspraxis mit Verweis auf das schon ohne ihr Zutun erlassene Nationalstaatsgesetz legitimieren können. Rechtlich gibt es die Neuerung, dass im ökonomischen Umgang mit Grund und Boden auch für Private inzwischen ausdrücklich religiös-nationale Gesichtspunkte geltend gemacht werden dürfen. Im Negev werden mit neuer Härte arabische Siedlungen zugunsten jüdischer Projekte weggeräumt. Des Problems der in den arabischen Communities grassierenden organisierten Kriminalität einschließlich sprunghaft angestiegener Mordraten nimmt sich der neue Minister für Innere Sicherheit in der Weise an, dass er den Inlandsgeheimdienst Shin Bet darauf ansetzt – was der Sache und vor allem der erklärten Absicht nach den Unterschied zwischen bürgerlicher Kriminalität von Arabern und illegalen Umtrieben des arabischen Nationalismus zum Verschwinden bringen soll: Araber sind in allem, was sie tun, ein Angriff aufs jüdische Gemeinwesen Israel und seine Angehörigen. Das als solches nicht neue, bisher stets mit Sicherheitsbedenken begründete und befristet erneuerte Gesetz zur Verweigerung der Einbürgerung von Eheleuten bzw. Kindern arabischer Israelis verleiht in seiner neuesten Form per Präambel nunmehr ausdrücklich und auf Dauer angelegt der Definition der Araber als ethnisch-demografische Gefahr für die in Israel staatgewordene jüdische Suprematie Gesetzeskraft; und für illegale politische Äußerungen und Handlungen ist ein Gesetz in Arbeit, das es erlauben soll, ‚illoyale Araber‘ per Entzug der Staatsbürgerschaft zu bestrafen und außer Landes zu schaffen. Die angesichts dieser Politik um sich greifende, wirkliche und praktizierte ‚Illoyalität‘ von Teilen der israelischen Araber, vor allem ihre Solidarität mit den Arabern in den besetzten Gebieten, bestätigt wiederum deren regierenden und regierten jüdisch-israelischen Gegnern, was die ohnehin wussten.
Um dem Überlebenskampf, in dem die Regierung die Juden Israels gegen die arabischen Besatzer sieht, den politischen und praktischen Stellenwert zu verschaffen, der ihm gebührt, unternimmt sie Reformen bezüglich der Kompetenzen staatlicher Sicherheitsorgane, die darauf abzielen, die in den okkupierten Gebieten geltenden Sonderregelungen zur Normalität auch innerhalb des Kernlandes zu machen. Zugleich und konsequent in dieser Linie erleichtert sie die private Waffenverfügung jüdischer Israelis. Ferner schafft sie mit der Nationalgarde eine neue Sicherheitstruppe, die ganz auf den Kampf gegen die Araberumtriebe abgestellt ist, in dem die Regenten ihr geliebtes Land und Volk sehen und zu dem sie dieses anhalten und ermuntern.
b) Spätestens an dieser Stelle ist klar, dass dieses Regierungsprogramm mehr angreift und angreifen soll als die innerhalb der israelischen Zivilgesellschaft bisher gepflegte jüdisch-arabische Koexistenz. Letztere war und ist nun einmal Moment der bürgerlichen Verfasstheit der israelischen Nation und ihres staatlichen Herrschaftsapparates. Auch ohne sich groß – oder überhaupt – mit ihren arabischen Landsleuten, geschweige denn mit Palästinensern des Westjordanlandes oder gar des Gazastreifens zu verbrüdern, sieht daher die andere Hälfte der Israelis diesen bürgerlichen Charakter ihres Landes in Gefahr. Sie sind sich sicher, dass der das eigentliche Angriffsziel der regierenden Koalition und ihrer teils als Bewegung, teils als religiöse Fundamentalistengemeinde organisierten, teils nur als Wähler aktiven Basis ist. Wie auch immer der – hier nicht weiter analysierte – Standpunkt der protestierenden Gegner des gegenwärtigen Reform- und Umbauprogramms im Sinne eines kämpferisch neu aufzustellenden Israel beschaffen ist: An allen möglichen Punkten machen diese auf Straßen oder im Parlament gegen die Regierungslinie anrennenden Gegner fest, dass Netanyahu und Koalitionäre „ein anderes Israel wollen“; egal, ob sie erschrocken darüber sind, dass Methoden und Technologien der antipalästinensischen Aufstandsbekämpfung nun auch gegen ihre Demonstrationen und sonstigen Aktionen zur Anwendung kommen; ob sie besorgt be- und anmerken, dass der antipalästinensische Furor der derzeitigen Regierung Israels Schlagkraft gegen die anderen arabischen Gegner im staatlichen Umland schwächt; ob sie sich ausmalen, zu was für Schandtaten sich die Regierung befreit sehen könnte, wenn sie sich erst einmal von den Fesseln der bis dato gepflegten Gewaltenteilung befreit haben wird; ob sie um das Ansehen Israels und die Unterstützung durch die jüdischen Gemeinden im Ausland fürchten; oder ob sie bei aller Zustimmung zum praktischen Vorgehen der israelischen Militär- und Zivilbehörden gegen die Araber in den besetzten Gebieten und im Kernland jede offen rassistische Begründung dafür ablehnen … : disparat, aber in der Stoßrichtung gegen die Regierung einheitlich sind auch sie Fundamentalisten, die sich darum zum Teil auch schon zur praktizierten Illoyalität über das demokratisch erlaubte Kritisieren und Protestieren hinaus berechtigt sehen. Auch sie wollen schließlich unbedingt retten, was sie für jüdisch bzw. israelisch halten.
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Netanyahu bleibt es vorbehalten, seinen Kurs einstweilen so unbeirrt wie möglich fortzusetzen, also keinen Gegensatz zu seinen inneren Widersachern zu scheuen, und sich zugleich über den von ihm so nach Kräften mit vorangetriebenen, auf die Frage des Verhältnisses zu den Arabern definitiv nicht beschränkten, von so manchem Beobachter inzwischen am Rande eines Bürgerkrieges verorteten Zwist zu stellen. Er orientiert – wo es sein muss: relativiert – ihn an einem noch höheren Gesichtspunkt: Der entspringt der imperialistischen Statur, die die Heimstatt aller Juden inzwischen auch noch erworben hat, und die ermöglicht und erfordert den ultimativen Kampf gegen die Bedrohung, die Netanyahu oberhalb aller bevölkerungsmäßigen oder staatlichen arabischen Ansprüche auf das Heilige Land ansiedelt: Es ist die Regionalmacht Iran – laut Netanyahu „verantwortlich für 95 % aller Bedrohungen unserer Sicherheit“ –, die Israels nuklear unterfütterten regionalen Supermachtstatus herausfordert, gegen die Israel unter Netanyahu in verschiedenen Formen schon längst Krieg führt, im Libanon einen weiteren Waffengang fertig geplant hat und auch eine direkte militärische Intervention inzwischen nicht mehr scheut, sondern entschlossen und akribisch vorbereitet. Aber das ist ein anderes Thema...
[1] Insofern Israel ein Fall für den weltweit zu konstatierenden Aufwuchs dessen ist, was Populismus genannt zu werden pflegt, ist der Grundsatzartikel Der Populismus. Sechs Anmerkungen zu einer alternativen Form demokratischer Herrschaftsausübung einschlägig, der im Heft 4-2019 dieser Zeitschrift erschienen ist. Und über den israelischen Sonderfall gibt der im selben Heft erschienene, sehr ausführliche Artikel Israel 2019. Imperialistische Musterdemokratie in zionistischer Mission theoretisch Auskunft, der die im Folgenden zusammengefasst dargestellten Überlegungen zum konstitutiven Widerspruch der israelischen Staatsverfassung ausführlich erläutert.
[2] Zur Erinnerung: Das Oslo-Abkommen hat für die Westbank bis zu der Schaffung eines palästinensischen Staates und dessen vollem Friedensschluss mit Israel drei Zonen definiert: In den Blöcken der Zone A, in der die Mehrheit der Westbank-Palästinenser wohnt, durfte die Palästinenserbehörde schon in der Übergangsphase die volle zivile und polizeiliche Kontrolle ausüben, die Zone B sah eine gemeinsame Verwaltung und Kontrolle vor, in der Zone C blieb alles weiter unter israelischer Besatzungshoheit, ausgeübt durch die IDF. Diese Zone C macht ca. 60 % des Territoriums aus. Relativ rasch haben die nachfolgenden Regierungen dann diese Einteilungen so definiert, dass besagte Zone C für immer unter israelischer Hoheit zu bleiben hat und für einen allenfalls zu gründenden Palästinenserstaat sowieso nur noch die Zone A und Teile von Zone B infrage kommen.