„Al-Aqsa-Flut“ und „Eiserne Schwerter“ – eine Zwischenbilanz

Ein Vorposten westlicher Freiheit und Sicherheit schlägt gegen eine Welt von Feinden in einer Weise um sich, wie es sich für die Freiheit und Sicherheit einer respektablen Macht gehört: Israel lässt nun seit fast einem Jahr für seinen Vernichtungskrieg gegen die Hamas jeden Tag Palästinenser sterben und im Gaza keinen Stein auf dem anderen. Zugleich ist es längst in höherer Mission aktiv: Seinen Anti-Hamas-Ausrottungsfeldzug behandelt es inzwischen als bloß einen Abschnitt in einem regionalen Mehrfrontenkrieg, den es – natürlich wie immer bei ehrenwerten Mächten rein defensiv – total eskaliert. Es setzt seine Freiheit und Sicherheit nicht mehr nur mit der erfolgreichen Abschreckung, sondern mit der Vernichtung aller seiner Gegner in der Region gleich. Konsequent treibt es daher die Konfrontation mit seinem Hauptfeind, der gegnerischen Regionalmacht Iran immer direkter voran.

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„Al-Aqsa-Flut“ und „Eiserne Schwerter“ – eine Zwischenbilanz 

I. Zweimal Staatsgründung in Aktion: Terror und Guerillakampf für Palästinas Zukunft vs. Luftterror und Bodenoffensive für Israels Existenz

Die Hamas

nennt ihren Gewaltakt vom 7.10. selber „Flut“. Schon darin wird kenntlich, was sie gern will, weil sie dazu nicht in der Lage ist: Den zionistischen Feind mit einer Welle der Gewalt zu überfluten und dessen „Gebilde“ wegzuspülen ist die militante Phantasie, die die realen Gewaltverhältnisse ideell umkehrt. Schließlich liegt der unvereinbare Interessengegensatz zwischen der Hamas und dem Staat Israel darin, dass erstere die Errichtung und Anerkennung eines souveränen palästinensischen Nationalstaates erzwingen will, den der etablierte jüdische Staat als Anschlag auf seine noch nicht vollendete Gründung definiert und als Bedrohung seiner Existenz kompromisslos bekämpft.

Der rhetorisch überhöhte praktische Zweck der Hamas besteht denn auch nicht darin, den Willen des Feindstaates mit eigener Militärgewalt durch Zerstörung seiner Machtmittel zu brechen. Mit ihrem von vornherein begrenzten und nur auf wenige Stunden ausgelegten Vordringen auf israelisches Kernland hat sie es nicht auf eine wirkliche Untergrabung der israelischen Überlegenheit abgesehen – dazu ist sie auch nach eigener Einschätzung nicht in der Lage. In der begrenzten Reichweite ihres terroristischen Überfalls liegt aber eine umso entschlossener angegangene Blamage des israelischen Unverwundbarkeitsanspruchs, zu dem der zionistische Staat seine totale Überlegenheit erhebt, die er tatsächlich über seinen palästinensischen Gegner hat und die in der Gleichung von jüdischem Leben und militärischer Durchsetzungsmacht längst zum israelischen Staatsethos geworden ist.

Dessen blutige Blamage soll beweisen, dass das von der Hamas verkörperte und organisierte Ethos eines autonomen Palästinenserstaates nicht dadurch zu zerstören oder auch nur angekränkelt ist, dass ihm die Gewaltmittel abgehen, die zu dessen Erzwingung gegen den staatlichen Gegner Israel nötig wären. Mit der Flut-Aktion demonstriert die Hamas ihre Fähigkeit, sich gegen die israelische Lösung der Autonomie-, also Gewalt-‚Frage‘ zu stellen; jedenfalls in einer Weise, die den Normalvollzug des israelischen Innenlebens in ein paar Grenzorten für ein paar Stunden außer Kraft setzt, so viele Israelis das Leben kostet wie kein palästinensischer Terror jemals zuvor und der Hamas außerdem die Verfügungsgewalt über mehr als zweihundert Israelis verschafft, die sie in den Gazastreifen verschleppt.

Die damit provozierte Antwort Israels ist – wie die Hamas durch ihre PR-Abteilung aufs Heftigste versichert – selber Teil dieses eigenartigen Zwecks, der im Beweis ihrer gewalttätigen Respektabilität besteht, und entsprechend agiert die Hamas im Zuge des Kriegsverlaufs mit seinen eindeutig verteilten Rollen: Der gnadenlose Einsatz der israelischen Überlegenheit wird so zum Beweis der palästinensischen Kriegsfähigkeit, was gemäß der Logik von Staaten, nämlich der von ihnen praktizierten Gleichung von Gewalt und Recht, gleichbedeutend damit ist, dass die Hamas legitimerweise der von niemandem zu ignorierende Vertreter des palästinensischen Volks in seinem Anspruch auf einen – irgendwo und überall zwischen Fluss und Meer gelegenen – Staat ist. Vor allem der Wiedereinmarsch des israelischen Militärs in den Gazastreifen – die „Bodenoffensive“ – wird von der Hamas-Führung entsprechend gefeiert, und seither stehen eigene und israelische Opfer gleichermaßen dafür, dass Israel diese nötig hat, also am eigenen Überlegenheitsanspruch versagt, also auch zu besiegen ist. Die überlegenen Mittel beweisen wahlweise die eliminatorische Grausamkeit des Feindes – „Genocide!“ – oder aber seine Feigheit – „Merkava [der israelische Kampfpanzer] is for pussies!“ Am Anfang dieser opferträchtigen Auseinandersetzung geht es der Hamas darum, dem israelischen Gegenangriff so lange wie möglich glaubwürdig zu widerstehen. Jeder weitere Tag israelischer Luftangriffe und Bodenoperationen gelten ihr als Verbesserung ihrer Erfolgsbilanz, die den Gegner, dessen Verbündete, die eigenen Verbündeten und alle anderen einfach beeindrucken muss. [1]

Die Bevölkerung bleibt für die Hamas zum einen die Basis und Verkörperung ihres staatsgründerischen Ethos – der will sie das eingeborene und auch noch göttlich beglaubigte Recht auf einen Staat verschaffen, der sie von der zionistischen Unterdrückung befreit; die zivilen Opfer, die die Hamas in dem Maße hinzunehmen bereit ist, wie Israel sie anrichtet, bezeugen das seither jeden Tag dutzend- oder hundertfach. Praktisch kann die Hamas die Zivilbevölkerung jedoch weniger als je zuvor für sich zur nützlichen Ressource machen. Sie ist Objekt der von der Hamas im Rahmen ihrer schwindenden Mittel organisierten Nothilfe vor allem in Bezug auf die medizinische Versorgung und die Verteilung von Lebensmitteln. Aber noch in der akribisch betriebenen Erfassung der ständig wachsenden Opferzahlen hält die Hamas daran fest, dass diese Leute ihr Volk sind, sie also deren legitime politische Organisationskörperschaft, sodass beide als im Krieg stehende Nation anzusehen sind – mit allen Rechten, die gemäß der weltweiten Nationengemeinschaft daraus erwachsen.

Die Zwischenbilanz nach zehn Monaten sieht für die Hamas so aus: Sie hat standgehalten. Sie hat bewiesen, dass sie mehr ist als eine Bande isolierter Terroristen. Der Krieg, den sie Israel aufnötigt, ist auch mehr als der sich hinziehende Kampf einer Stadtguerilla. So perfekt hat sie sich offensichtlich im Gazastreifen eingebaut, so massiv hat sie Waffen und Ausrüstung angehäuft und sich im Vorfeld auf den Krieg vorbereitet, dass sie sogar in jüngster Zeit noch Raketenangriffe auf Israel jenseits der Grenzen des Gazastreifens unternehmen kann. Die Tatsache, dass Israel den Gazastreifen als Lebensgrundlage und -bedingung der Bevölkerung, in deren Namen die Hamas ihren Krieg führt, inzwischen fast zur Gänze kaputtgemacht hat, heißt für sie, dass jetzt eben im Prinzip der ganze Gazastreifen mit seinen Ruinen, Trümmerbergen, eingestürzten oder intakten Tunneln das Kampffeld ist. Mit ihren von der ungerührt professionell urteilenden Expertengemeinde anerkennend zur Kenntnis genommenen, offensichtlich seit Jahren trainierten Fähigkeiten ist sie zu Scharfschützen-Attacken, dem Legen von Hinterhalten und – immer wieder erwähnt – auch dazu in der Lage, die zahlreichen Blindgänger der in gigantischem Ausmaß eingesetzten Artilleriemunition Israels zu eigenen Sprengmitteln umzubauen. Das alles heißt aber eben auch, dass ihr quasistaatlicher Besitzstand nur noch eine Ruine ist; ihre Bevölkerung ist und wird immer weiter dezimiert, und die Überlebenden haben auf Jahrzehnte hinaus mit den Folgen der Gewalt zu kämpfen. Ob die Erfolgsmeldungen stimmen, die die Hamas darüber verbreitet, in welchem Ausmaß es ihr gelingt, getötete Kämpfer durch Neurekrutierung zu ersetzen, mag dahingestellt bleiben – fest steht, dass sie selbst inzwischen offiziell so schnell wie möglich ein Ende des Krieges erreichen will. Ihr Anspruch auf Anerkennung als legitime Verkörperung palästinensischer Staatlichkeit hat sich darauf zusammengekürzt, der Partner in Verhandlungen zu sein, dem man dieses Ende förmlich zusichert, also zugesteht. Gerade weil sie weiß, dass Israel ihre Auslöschung im Programm hat, verknüpft sie die Forderung nach einem Kriegsende mit Forderungen nach gewissen Überlebensgarantien – und beides mit dem Schicksal der immer noch knapp einhundert Geiseln, die wegen des Stands der Dinge zum immer wichtigeren und im Prinzip zum letzten Mittel werden, von Israel das zu bekommen, was es keinesfalls zu konzedieren bereit ist.

Israel 

praktiziert seit Anfang Oktober eine Gewaltstrategie der „Eisernen Schwerter“, deren Ethos, Zweck und Methoden spiegelbildlich zum Wahnsinn der ultimativen Hamas-Militanz beschaffen sind und sich zugleich auf einem ganz anderen Niveau abspielen.

Auch Israels Waffengang hat mit einem herkömmlichen Krieg und einem entsprechenden Kriegszweck nichts zu tun: Diesem Staat geht es nicht darum, einen anderen Staat zu besiegen, zu unterwerfen und ihm seinen Willen aufzuzwingen. Israel will die quasistaatliche, von ihm als Terrororganisation identifizierte Hamas vernichten. Mit dem doppelten Ethos des unmittelbaren Überlebenskampfes eines in seiner Existenz bedrohten Volkes und des absolut überlegenen Rächers, der das Verbrechen vom 7.10. sühnt, schlägt Israel seither auf den Gazastreifen ein. Kritische Hinweise auf die Unverhältnismäßigkeit seiner Kriegführung weist Israel zurück – nicht, indem es die Unverhältnismäßigkeit bestreitet, sondern weil es ausdrücklich auf ihr besteht. Mit seiner Überlegenheit definiert Israel den Kriegsverlauf komplett selbst: Israel macht ganz Gaza zum Schlachtfeld, Fronten kennt seine Kriegführung nicht, darum bleibt dem Feind auch kein ziviles Hinterland, aus dem heraus er seine Kräfte reproduzieren könnte; die gesamte Infrastruktur wird praktisch als Terrorinfrastruktur behandelt, also zerstört bzw. ausgetrocknet.

Die von Israel sowieso gepflegte politische Definition der Gaza-Bevölkerung als störendes Nicht-Volk wird damit kriegsgemäß aktualisiert und radikalisiert: Zu Zehntausenden fallen die Gazawi dem festen Willen Israels zum Opfer, sich bei seinem Programm der Ausrottung des von der Hamas repräsentierten Staatswillens per Tötung aller seiner Träger nicht von irgendeiner Rücksicht auf die zivilen Opfer bremsen zu lassen; die werden darum auch nicht geleugnet, sie interessieren bloß nicht. Jede Beschwerde über die zahlreichen Kollateralschäden kommentiert Israel stur mit dem Verweis auf die Hamas-Funktionäre bzw. -Kämpfer, die bei den kritisierten Schlägen jeweils getötet worden sind oder werden sollten. Wo die Massierung von Zivilisten womöglich das militärische Eingreifen stört, werden sie per Social Media und Flugblättern in penibel abgezirkelte Zonen beordert, die laut Israels Armeeführung „safe“ sind – so lange, bis sie entscheidet, dort zuzuschlagen, weil ihre Aufklärungsabteilung in dieser Zone ein „Terrorziel“ ausgemacht hat oder mit großer Wahrscheinlichkeit vermutet. So geht für Israel die Gaza-Bevölkerung ganz in der negativen Rolle der bloß störenden Menschenmasse auf, die in immer neuen Wellen von einem Fluchtpunkt zum nächsten geschickt wird und mit der Israel auch nach dem totalen Sieg über die Hamas nichts anzufangen gedenkt. Ein bisschen Vertreibung wird so wie von selbst zur kriegsadministrativen Option, was für einen Teil der israelischen Nation aufs Glücklichste mit der „Lösung“ zusammenfällt, die seine Vertreter in ihrer radikalen Auslegung der exklusiv jüdischen Eretz-Israel-Option – die komplette Entarabisierung vom Fluss bis zum Meer – schon längst proklamieren. Mit den „gemäßigten“ Vertretern des israelischen Staatsgründungsfanatismus treffen sich diese hierzulande „rechtsextrem“ genannten Koalitionspartner Netanjahus in der Prämisse, dass sie keinem Volk mit Staat, also keiner Nation gegenüberstehen und die Regeln für bewaffnete Konflikte zwischen solchen daher keinesfalls gelten.

Israels Zwischenbilanz seiner auf Endgültigkeit angelegten Vernichtungskampagne gegen die Hamas fällt so aus: Sich, dem Feind und allen anderen hat Israel vorgeführt, dass sich niemand einen gewaltsamen Widerstand gegen Israel leisten wollen kann, weil Israel dazu in der Lage und bereit ist, alle daran geknüpften positiven Kalkulationen zunichtezumachen. Von der zivilen Substanz, Ökonomie und Infrastruktur hat Israel so gut wie nichts übrig gelassen; die als künftige Staatsbasis reklamierte und benutzte Bevölkerung hat es durch Bombardements und Fluchtbefehle auf einen Haufen depravierter Elendsgestalten reduziert; Truppen und Ausrüstung der Hamas hat es wirksam dezimiert. Aber weg ist die eben noch lange nicht, im Gegenteil: Der „total victory“ lässt auf sich warten. Aus der Ankündigung, „so lange wie nötig“ im Gazastreifen anzugreifen, wird nun tatsächlich eine Auseinandersetzung, bei der kein Ende absehbar ist und die nach dem Willen von Israels oberstem Führer kein Ende finden soll, solange von der Hamas noch irgendetwas übrig ist oder auch nur die Möglichkeit ihres Überlebens besteht. Die totale Überlegenheit übersetzt Netanjahu in die Freiheit eines perspektivisch unendlichen Krieges; die Praxis der Vision der unwiderruflichen Beseitigung des Hamas-Staatswillens wird verbunden mit der Ankündigung einer „overriding control“ für unbestimmte Zeit über das Gebiet für den Fall, dass der Krieg doch zu einem wie auch immer offiziellen Ende kommt, das Netanjahu seinem terroristischen Nicht-Kriegsgegner auf keinen Fall offiziell zugestehen will.

Gegenüber der Hamas, die einen veritablen Krieg nicht führen kann, und gegenüber Israel, das dem Gegner einen solchen Krieg nicht zubilligen will, wird die andauernde Gewaltorgie vom

Rest der Staaten

und der zuständigen Instanz UNO unverdrossen als gerade dies: ein Waffengang im Sinne der einschlägigen völkerrechtlichen Regeln behandelt und den verfeindeten Parteien als Verpflichtung angetragen.

Auswärtige Unterstützer des palästinensischen Staatsgründungsprojekts sehen zumindest zum Teil die Hamas als legitime Verkörperung und Aktivistin dieses Projekts. Sie definieren deren hinhaltenden Widerstand als Befreiungskrieg gegen die israelische Besatzungsmacht. Und auch wenn sie die Hamas nicht unterstützen bzw. teilweise ihr eine unrechtmäßige Usurpation der Alleinvertretungsrolle für das palästinensische Volk und dessen Recht auf einen Staat vorwerfen, so definieren sie Israels Gewalt doch als Militäreinsatz, auf den die einschlägigen Regeln zutreffen und anzuwenden sind. Die laufende Auseinandersetzung hat deren propalästinensische bzw. antiisraelische Position darauf reduziert, zum einen Israel den Bruch aller guten Sitten eines redlichen und ordentlichen Krieges vorzuwerfen und zum anderen zu verlangen, dass Israel die Hamas als Partner in der Kriegsbeendigungs-Diplomatie anerkennt. Und da, wo sie die Hamas ausdrücklich dafür verurteilen, mit welchen Methoden sie ihren bewaffneten Kampf führt, bzw. wo sie entsprechende Klagen der dafür zuständigen internationalen Instanzen positiv aufgreifen, machen sie sich die Logik des Völkerrechts zu eigen, dass nur ein völkerrechtlich ernstzunehmendes Subjekt völkerrechtliche Regeln verletzen und dafür zur Rechenschaft gezogen werden darf. Demgegenüber ist es Israel seinem Anspruch und dessen Vollstreckung schuldig, diese Position mit Nichtachtung zu strafen bzw. als Terrorunterstützung zu brandmarken; den Widerspruch seiner ja durchaus stattfindenden Waffenstillstands- und Gefangenendiplomatie lässt es periodisch auch an den vermittelnden Mächten aus, die es bewusst und öffentlich düpiert, weil es in deren Vermittlungsposition und -aktivitäten eine Verletzung seines Anspruchs entdeckt, wonach die Hamas keine Weiterexistenz verdient und ihre Vernichtung deshalb alle Mittel heiligt.

Deutlich schwerer wiegt für Israel, dass auch seine Verbündeten nicht auf Linie sind. Sie konzedieren ihm zwar – „ironclad“ bzw. „unverbrüchlich“ –, dass es seit dem 7.10. sein in den internationalen Statuten verbrieftes Recht auf Selbstverteidigung wahrnimmt. Aber das ist bloß die eine Seite davon, dass sie andererseits an ebendiesen Statuten die Freiheit zu relativieren beanspruchen, die Israel sich bei der Erledigung des Gegners nimmt. Insofern sie sich – die USA als Weltordnungsmacht insbesondere – als die wirklich mächtigen Instanzen verstehen, die den Gewaltgebrauch auf der Welt unter ihren Vorbehalt stellen, den sie unter Verweis auf die einschlägigen Rechtsparagraphen geltend machen, erinnern sie Israel in aller Freundschaft daran, dass auch sein Krieg unter diesem Vorbehalt steht. In diesem Sinne fordern sie zwar keineswegs eine Anerkennung der im Gazastreifen regierenden Hamas als ernstzunehmendes Völkerrechtssubjekt, wohl aber die Einhaltung von ein paar Schranken und Regeln bei ihrem Fertigmachen. Und erst recht ist ihnen die längst stattfindende Eskalation des regionalen Kriegsgeschehens gar nicht recht. Darum und weil sie den Nahen Osten – ernsthaft die USA, eher scheinhaft die europäischen Alliierten – als Objekt ihrer Ordnungsstiftung definieren, in die sich Israels Krieg als Fall und Episode einzuordnen, also auch ein kontrollierbares Ende zu finden hat, mahnen sie Zurückhaltung beim Eskalieren und eine Diplomatie zur Beendigung des Blutvergießens an, wohl wissend, was sie ihrem kompromisslosen Partner damit abverlangen.

Ein prominenter Gegenstand der von Katar, Ägypten und den USA vermittelten „indirekten“ Diplomatie zwischen Israel und der Hamas sind die Gefangenen, die ebenso wenig normale Kriegsgefangene sind wie die laufenden Auseinandersetzungen ein normaler Krieg; entsprechend besonders ist die Rolle, die diese Opfer des Krieges in Sachen Zweck, Methoden und Bilanz auf beiden Seiten spielen.

II. Die Gefangenen beider Seiten: Keine Kriegsgefangenen – aber was dann?

Die Gefangenen der Hamas

sind Geiseln; und sich in die Verfügung über solche zu bringen, ist Teil des Zwecks der Terroraktion vom 7.10.23. Zum Shock and Awe dieses Überfalls gehört die Verschleppung von israelischen Bürgern; auch die bekannten Bilder von Israelis, die in Autos und auf Motorrädern in den Gazastreifen gebracht werden, gehören zur Demütigung des übermächtigen Feindes, auf die es der Hamas angekommen ist. Ihr nächster Zweck besteht darin, als Verhandlungsmasse zu fungieren, um Israel die Freilassung möglichst vieler der zu Tausenden in israelischen Gefängnissen festgehaltenen Palästinenser abzuringen.

Dem doppelten Anfangszweck entsprechend hat die Hamas zunächst sehr viel Wert darauf gelegt, den pfleglichen Umgang mit den Geiseln zu demonstrieren. Sinwar hat einige von ihnen in seiner Eigenschaft als militärischer Oberbefehlshaber sogar persönlich und ganz staatsmännisch begrüßt und ihnen versichert, dass ihnen nichts passieren werde. Einige der Geiseln waren sich nach ihrer Rückkehr nicht zu schade für die öffentliche Bestätigung des propagandistisch aufgeblasenen Hamas-Ethos, was in Israel nicht gut angekommen ist; so verbindet die Hamas die Notwendigkeit, den Geiseln irgendein Maß an Pflege zukommen zu lassen, um sie als Faustpfand zu erhalten, mit dem Zweck, sich als zivilisierte Kriegsmacht in Szene zu setzen. [2] Wie ein richtiger Staat im Krieg ist sie bereit, den gefangenen Angehörigen des Gegners nicht vorzuwerfen, dass sie die Bürger der falschen Seite sind, was das Recht der eigenen Seite auf ihren gerechten Sieg unterstreicht. Und tatsächlich erreicht sie im November auch einen ersten, in Phasen vollzogenen Austausch. Bei dem bleibt es dann aber auch.

Und so befinden sich zwar immer noch fast 100 Geiseln höchstwahrscheinlich lebend in den Händen der Hamas. Den Fortschritten des Krieges geschuldet haben sich der Umgang mit ihnen und die mit ihrer Freilassung verknüpften Forderungen freilich ein wenig geändert – ebenso wie die Bezugnahme der israelischen Führung auf die schutzbefohlenen Bürger. Propagandistisch dürfen die als Geiseln genommenen Israelis nach wie vor dafür herhalten, vor Hamas-Kameras ihre Regierung darum anzuflehen, ihr Leben mit einem Deal und der Erfüllung der dafür gestellten Forderungen des Gegners zu retten. Lebende und tote Geiseln dienen der Hamas zum Beweis der Rücksichtslosigkeit der israelischen Armee gegen ihre eigenen Bürger; das ist nach der Seite der Reflex darauf, dass die Hamas genau die brutale Antwort bekommen hat, die sie mit ihrem Überfall provozieren wollte und die nun von ihrem Gazastreifen nicht mehr viel übrig lässt. Nach der anderen Seite knüpft sie nunmehr Forderungen an deren Freilassung, die dem Zweck des fortgeführten Krieges geschuldet sind, den sie sich erzwungenermaßen setzt: Sie will sein Ende erleben, als Partei eines Friedens, über den sie selber keine Illusionen haben kann.

Aber den bekommt sie – Geiseln hin oder her – nicht. Israel lässt sowohl die Hamas als auch ihre Geiseln und deren Angehörige spüren, was die unschöne Wahrheit seines Staatsethos der überlegenen Schutzmacht jüdischen Lebens ist: Der Schutz hängt an der Macht, und er geht im Ernstfall in letzterer auf. Gerade weil sie – der Holocaust lehrt es eindrücklich – keinen anderen Schutz haben, steht die letztlich nur durch Rücksichtslosigkeit in jede Richtung herzustellende Glaubwürdigkeit der staatlichen Durchsetzungsmacht im Falle ihrer Verletzung über den menschlichen Schutzobjekten. Von daher preist die israelische Führung die schon toten bzw. noch gefangenen Geiseln ganz in der Logik der als lebensverachtend und todesverherrlichend beschimpften Hamas als Märtyrer an – und in ihr Programm ein: als Zeugen für die Gerechtigkeit aller israelischen Gewalt, die ein höherer Wert ist als das physische Leben von ein paar Hundert oder Tausend Kreaturen, wenn das nur dadurch zu retten wäre, dass sich ihre staatliche Schutzgewalt dazu erniedrigt, Erpressungen stattzugeben, die sie als absolut unstatthaft definiert. [3]

Die erklärte Priorität innerhalb der Abwägung zwischen dem Leben der Geiseln, „die nur in Frieden leben wollen“, und der Rücksichtslosigkeit der Durchsetzung gegen einen Gegner, den der israelische Staat nicht leben lassen will, wollen die Betroffenen in Israel und diejenigen, die sich mit ihnen solidarisieren, so nicht gelten lassen. Politisches Gewicht bekommt ihr Protest – der von der anderen Fraktion des Volkes als eigensüchtig beschimpft wird – aber auch ihrem eigenen staatsbürgerlich gereiften Gespür nach erst durch den Verdacht, dass die israelische Führung nicht tatsächlich, nicht ernsthaft, nicht ehrlich dem auch von ihnen nicht angezweifelten Gut staatlicher Unerpressbarkeit den Vorrang gegenüber dem Überleben der Geiseln einräumt, nachdem sie beides gegeneinander abgewogen hätte. Der Regierungschef wird den Ruf nicht los, statt aus Gründen der Staatsräson aus eigensüchtigen Motiven zu handeln, eine Fortsetzung des Krieges, also eine immer neue Obstruktion von Friedens- und Geiselverhandlungen nur zu betreiben, weil er sich an der Macht halten will, ohne die er womöglich einer juristischen Verfolgung ausgesetzt wäre.

Der Sache nach begegnet ihnen hier die Willkür, zu der die Demokratie mit all ihren Verfahren und Institutionen die führenden Träger der rechtlich organisierten Macht befähigt: Die Macht des israelischen Ministerpräsidenten ist nun einmal nicht zu trennen von dessen persönlicher Abwägung, wie sie im Sinne der Staatsräson zu gebrauchen ist – und in die fälligen Kalkulationen geht für jeden demokratischen Politiker selbstverständlich immer mit ein, wie er sicherstellt, dass die Macht auch bei ihm bleibt. Genau das wollen die Betroffenen nicht gelten lassen – und treffen dabei auf diejenigen, die sowieso meinen, dass Netanjahu das von ihm nach den Regeln der dortigen Demokratie regierte Israel zur Geisel seiner privaten Kämpfe macht und dafür sein Amt missbraucht. Dabei ignorieren diese Kritiker nur das Entscheidende: dass die Unanfechtbarkeit seiner Macht sich auch für Netanjahu damit verbindet, die Unanfechtbarkeit der Macht des Staates Israel nach der bitteren Anfechtung vom 7.10.23 wiederherzustellen.

Zwar an Anzahl um einen zweistelligen Faktor größer, aber nicht ganz so prominent sind

Israels gefangene Palästinenser

Die sind gleichfalls keine Kriegsgefangenen in dem Sinne – einen veritablen Krieg gegen einen respektablen Gegner führt Israel ja dem eigenen Standpunkt nach nicht. Für die Gefangenen heißt das: Diese Leute sind weder richterlich bestrafte oder auf ihren Prozess wartende Missetäter, die eine Strafe zu erwarten bzw. abzusitzen haben, die irgendein professionelles Juristenhirn als äquivalent zum vorausgegangenen Fehlverhalten erkannt hat und nach deren Verbüßung sie wieder als ehrenwerte Mitglieder der nationalen Zivilgesellschaft mitmischen dürfen. Noch sind sie gegnerische Kriegsgefangene, die von der eigenen Armee eingefangen worden sind und so lange aufbewahrt werden, bis der Krieg vorbei ist, wenn nicht schon vorher eine Übergabe mit der gegnerischen Macht vereinbart wird, die auf diese Weise als rechtmäßige Hoheit über ihr lebendes Material anerkannt wird. Nichts von alledem sind die gefangen gehaltenen Palästinenser, und genau das wird ihnen als eigener Rechtsstatus angehängt: es sind „unlawful combatants“. Das einschlägige Gesetz hat sich Israel schon im Jahr 2002 geschenkt, sodass es sich nun in der unter ordentlichen Rechtsstaaten üblichen zirkulären Manier nur an seiner eigener Rechtslage zu orientieren braucht und alle, die sich beschweren sollten, auf diese verweisen kann. Tatsächlich hat dieser Rechtsstatus, diese rein negative Definition von Gegnern, eine ehrenvolle Geschichte, die ungefähr so alt ist wie die internationalen Konventionen, deren Geltung Staaten für sich ausnahmsweise außer Kraft setzen, sobald sie es für nötig halten. Genau darin liegt aber auch der Unterschied zur Praxis und Bedeutung der Kategorie des „unlawful combatant“ im Falle von Israels Vorgehen gegen die Palästinenser.

Denn das kennt diesen Status nicht als Ausnahme im Rahmen eines ansonsten als ‚regulär‘ definierten Krieges gegen einen im Großen und Ganzen ‚regulären‘ Gegner, sondern so definiert Israel die zum Feind erklärte Truppe, die es als ganze zur „Vernichtung“ ausgeschrieben hat. Diese Zielsetzung gilt darum den Inhaftierten im Prinzip genauso wie ihren noch im Gazastreifen oder in der Westbank lebenden ‚Terrorgefährten‘, die nach eigenem Ermessen zu definieren sich Israel die bekannten Freiheiten nimmt. Auf alle zusammen, also jeden Einzelnen richtet sich die von Israel praktizierte Mischung aus Bestrafungs- und Vernichtungswillen.

Vom Standpunkt der Rache für 10/7 und der notwendigen Auslöschung aus ist es für Israel daher geboten, auch die schon längst eingefangenen Hamas-Palästinenser so zu behandeln, als ob sie sich des Verbrechens mitschuldig gemacht hätten; für alle seit dem 8.10. Eingefangenen gilt das sowieso. Entsprechend gehen die israelischen Sicherheitskräfte vor: Sie dringen überfallartig in ihre eigenen Palästinenser-Gefängnisse ein, als ob sie feindliche Heerlager angreifen und deren Insassen überhaupt erst überwältigen müssten. In scheinbar absurder, aber eben nur gnadenlos konsequenter Weise werden dann die längst oder neu inhaftierten Palästinenser so traktiert, als ob jede Behandlung vorher ein Privileg gewesen wäre, das sie zwar noch nie verdient, mit der Aktion vom 7. Oktober aber endgültig verwirkt hätten. Zugleich wird an ihnen der grundsätzliche Standpunkt geltend gemacht, mit dem Israel seinen Krieg betreibt: Die programmatische, alle Maßnahmen rechtfertigende Gleichung, gegen die Hamas-Truppe um sein staatliches Überleben und damit um das unmittelbare physische Überleben des gesamten jüdischen Volkes zu kämpfen, wird an den Gefangenen so durchexerziert, als ob sie noch in ihren Lagerblocks und Gefängniszellen eine tödliche Gefahr für Israel darstellten.

Beides zusammen ergibt die Mischung aus Abu Ghraib und Guantanamo, deren Details teilweise ans Licht kommen, wozu der zuständige Minister in Israel – der stets fröhlich-fromm auftretende Itamar Ben-Gvir – immer wieder neu zu verstehen gibt, dass sie exakt so sein soll und dass er schon immer dafür plädiert hat, die terroristischen Palästinenser bzw. palästinensischen Terroristen genau so und nicht anders zu behandeln. Er macht damit auf eine weitere Besonderheit aufmerksam, die Israels Umgang mit den Gefangenen ebenso wie seinen gesamten Krieg prägt.

Das betrifft auf den ersten Blick die schiere Masse der Gefangenen und das Ausmaß ihrer systematischen Schlechtbehandlung. Auf den zweiten Blick ergibt sich, dass der große Pool an gefangenen Palästinensern, auf die nun die Definition des „unlawful combatant“ angewandt wird, sich vor allem daraus speist, dass Israel schon ganz ohne den 7.10., der nun alles rechtfertigt, mit den Palästinensern einen entsprechenden praktischen und rechtlichen Umgang gepflegt hat. In Bezug auf die Gefangenen hat dieser vor allem in der massenhaften Anwendung des rechtlichen Instituts der „Administrativhaft“ bestanden, die so etwas wie eine „unlawful combatant“-Praxis für den israelischen Alltagsgebrauch in Zwischenkriegszeiten darstellt. Damit komplettiert Israel seinen Umgang mit den Palästinensern in den besetzten Gebieten, die zwar israelischer Verfügungsmacht – bzw. jederzeit per Krieg zu vollziehender Oberhoheit – unterworfen, aber eben ausdrücklich keine israelischen Bürger sind. Die Praxis, Palästinenser per Administrativhaft gefangen zu halten, die ohne Information über den Grund ihrer Inhaftierung, Prozess usw. auskommt und nach Ablauf der gesetzlichen Höchstdauer im Prinzip ad infinitum verlängert werden kann, ist eine Weise, die palästinensische Bevölkerung praktisch und in aller juristischen Form zum Nicht-Volk zu machen, das störenderweise auf dem Boden lebt, den Israel für sich beansprucht oder für den es zumindest jeden anderen Hoheitsanspruch ausschließt.

Diese per Sonderrecht für diese Menschen vollzogene politische Definition als störendes Nicht-Volk bildet angesichts des national-palästinensischen Widerstands, der Israel aus dieser arabischen Bevölkerung heraus erwächst, dann quasi naturwüchsig die rechtliche Leitlinie dafür, sie in Gänze als Sumpf des Widerstands zu behandeln, der vom israelischen Standpunkt aus mit Terrorismus identisch ist. Zur restlosen Gleichung zwischen palästinensischem Menschenschlag und antiisraelischem Terrorismus ist es dann nicht mehr weit; die radikalen Zionisten um Ben-Gvir und Smotrich haben die jedenfalls schon vollzogen, moralisch sowieso und praktisch so weit, wie es ihre ministeriellen Kompetenzen zulassen. Damit war die Vor- und Grundlage für die Verschärfungen seit dem 7.10. längst fertig. Was sich seitdem zuspitzt, ist die Frage, wie und wie sehr man die Palästinenser insgesamt und jeden einzelnen dafür bestrafen soll, dass Israel in ihnen die Basis für einen Staatswillen erblickt, den es nun endgültig auszurotten trachtet. [4]

Damit stößt Israel wieder einmal und mit neuer Schärfe auf den seinem Staatswesen eigenen Widerspruch zwischen seiner bürgerlich-egalitären, menschenrechtlich geadelten Räson und seinem exklusiv-jüdischen, militant-unvollendeten Gründungszweck; und es ist so frei, dies in aller demokratischen – und zwischendurch auch nicht so demokratischen – Offenheit nur mit sich selbst auszumachen.

Einen Anlass dafür bietet das Bekanntwerden von individuellen Exzessen innerhalb des systematischen Exzesses an Gewalt gegen palästinensische Gefangene in einem der berüchtigten ‚detention centers‘. Dort haben Soldaten sich das ihnen vermittelte Feindbild einleuchten lassen, dass alle Terroristen „human animals“ und alle Palästinenser zumindest im Prinzip Terroristen sind. Dem daraus folgenden grimmig moralischen Pflichtbewusstsein haben sie in einer Weise freien Lauf gelassen, die sogar den wenig zimperlichen Verfahrensvorschriften widersprochen hat. Das ist definitiv keine israelische Besonderheit, weil kein Krieg – ‚regulär‘ oder nicht – ohne die Konsequenz auskommt, dass das kämpfende Personal sich für die von ihm verlangte systematische Grausamkeit dadurch tauglich macht, dass es sich eine Moral zulegt, die notwendigerweise einen Überschuss über das Befohlene darstellt, der sich regelmäßig in unsystematischen Grausamkeiten austobt.

Eine israelische Besonderheit ist eher schon bei der öffentlichen Behandlung und Verarbeitung dieser Vorfälle zu konstatieren. Gerade weil solche Übergänge von der moralischen Verinnerlichung der staatlichen Feindschaft zu einer als nicht mehr funktional angesehenen bzw. tatsächlich dysfunktionalen praktischen Verselbständigung der Moral notwendig zu jedem Krieg gehören, sind sie verboten und gibt es eigene Organe in jeder ordentlichen Armee, die die allfälligen Übertritte untersuchen und ahnden. Das gibt es auch in den IDF, und prompt schaltet sich die Militärpolizei ein, weil die Militärstaatsanwaltschaft wissen will, was es mit den Vorwürfen auf sich hat. So etwas begegnet zwar in jeder Armee einem inoffiziellen Korpsgeist, der gegen die offiziellen Schnüffler und Nestbeschmutzer zusammenhält. Die israelische Militärpolizei und -justiz aber sieht sich mit gewaltsamen Randalen konfrontiert, an denen sich sogar Parlamentsabgeordnete und Mitglieder der aktuellen Regierung – unter anderem der Kulturerbe-Minister, der für seine Nuklearphantasien bekannt geworden ist – beteiligen; und Gerüchte machen die Runde, dass die dem Sicherheitsminister Ben-Gvir unterstehende Polizei die innermilitärische Ordnungsstiftung nicht nur nicht unterstützt, sondern sabotiert habe.

Auch das hat seine Logik. Die liegt darin, dass sich hier mitten im Krieg, an einem so absurden wie grausigen Detail der Widerspruch geltend macht, der diese Nation grundsätzlich prägt: Wo die Armeeführung darauf besteht, dass der von ihr befohlene und organisierte Vernichtungskrieg gegen die Hamas ihre und nur ihre, also staatliche Sache ist und zu bleiben hat, die zwar ohne die Moral ihrer Untergebenen nicht auskommt, aber von der nicht bestimmt wird, da pochen die Vertreter insbesondere der religiösen Zionisten auf das gerade Gegenteil: Im Krieg gegen die Hamas mag die Armee die Speerspitze sein, aber sie ist damit eben nur die Spitze eines Kampfes, der erstens Sache und Recht jedes einzelnen israelischen Juden ist und zweitens in dem „beschränkten“ Kriegsziel der Vernichtung der Hamas nicht aufgeht. Sie insistieren darauf, dass es keine Ideologie, sondern das wirkliche Verhältnis ist, wonach jeder einzelne israelische Jude letztlich im Kampf gegen jeden Araber steht, der sich auf dem Boden des Heiligen Landes aufhält. Derselben Logik folgend, nach der Ben-Gvir zehntausende Waffen an israelische Bürger im Kernland und in der besetzten Westbank hat austeilen lassen, damit sich das jüdisch israelische Volk als solches gegen sein arabisches Gegnervolk innerhalb und außerhalb des schon jetzt offiziell jüdischen „Eretz Israel“ zur Wehr setzen kann, finden sie jede Gewalt eines bewaffneten Israeli gegen einen palästinensischen Araber im Grundsatz richtig. Und wenn damit jemand gegen irgendwelche Vorschriften verstoßen sollte, dann spricht das gegen die Vorschriften und stempelt diejenigen zu Verrätern, die diese sogar noch durchzusetzen versuchen.

*

Jenseits dieses Streits wird der eigenartige Krieg weiter eskaliert – und zwar weit über die Grenzen des kleinen Küstenstreifens hinaus. Die Warnung vor einem „Flächenbrand“ ist die moralische und diplomatische Begleitung des Umstands, dass Israel längst einen Regionalkrieg führt. Der ist die Praxis der überlegenen Abschreckungsmacht, mit der sich Israel die Freiheit für sein auf unendlich gestelltes kriegerisches Vorgehen gegen die Palästinenser im Gazastreifen und immer mehr auch im Westjordanland verschafft. Die darin liegende Logik macht die Führung der jüdischen Nuklearregionalmacht – noch jenseits ihrer am Alten Testament geschulten Rhetorik – jeden Tag praktisch klar.

III. Drei Wochen nahöstlicher Eskalation: Israels regionale Abschreckungsmacht in Aktion

18.7.2024

Das israelische Parlament beschließt eine Resolution, der zufolge die Errichtung eines palästinensischen Staates westlich des Jordan ein für Israel keinesfalls zu akzeptierendes Sicherheitsrisiko darstellt

Das ist einerseits bloß die formelle – darin auch gar nicht die erste – Verkündung dieses sowieso längst praktizierten Bestandteils israelischer Staatsräson: Sein mit Blick auf den Holocaust gefasster oberster Staatszweck, garantiert sichere staatliche Heimstatt der Juden dieser Welt zu sein, verlangt, dass es kein gleichartig souveränes, also konkurrierendes, also feindseliges Gebilde auf dem Heiligen Jüdischen Land gibt. Zwar rühmen sich israelische Politiker – namentlich des Likud unter Führung Netanjahus – gegenüber ihrer nationalen Volks- und Wählerbasis seit Jahrzehnten, den ihnen aufs Auge gedrückten „Friedensprozess“ zur Verwirklichung des UN-Teilungsplans für Palästina nach Kräften erfolgreich zu hintertreiben. Aber nebenbei waren sie sich immer auch noch – vor allem gegenüber dem befreundeten Ausland – ein paar diplomatische Rechtfertigungen dafür schuldig, dass Prozess und Plan so gar nicht vom Fleck kommen. Die waren allerdings nie ernst gemeint, und das hat auch jeder gewusst, sodass der Neuigkeitswert der jüngsten Resolution begrenzt bleibt.

Ihre eigentliche Bedeutung besteht denn auch nicht in irgendeiner Enthüllung, sondern im Zeitpunkt sowie in dem einen wichtigen und den vielen unwichtigen Adressaten: Inzwischen drängt die amerikanische Schutzmacht Israels, auf deren Abschreckungs- und Ausrüstungsleistungen Israel für seinen Krieg gegen die Palästinenser angewiesen ist, immer entschiedener darauf, dass Israel seinen Krieg per Waffenstillstandsabkommen in eine Nachkriegslösung für Gaza überführen soll, deren langfristige Perspektive Amerika stur mit dem Beharren auf einer Zweistaatenlösung verbindet – was immer „Staat für die Palästinenser“ bedeuten mag. Dieser Ansage Amerikas erteilt Israel eine offene Absage – und zwar nicht trotz, sondern gerade wegen der Bedrängnis, in der es sich befindet, nämlich ausdrücklich mit Hinweis darauf, dass „derzeit“ das Reden von einem Palästinenserstaat einer Belohnung für den Terrorakt – in Israel gehandelt als Holocaust im Kleinformat – gleichkommt. Israel wehrt sich demnach auf Leben und Tod in einer mit den Mitteln eines richtigen Krieges geführten Rache- und Vernichtungsaktion gegen die versuchte Vernichtung seines Staats und Volks, braucht dafür mehr denn je die USA – und ist es sich darum schuldig, der Schutzmacht vorzubuchstabieren, wer das Schutzobjekt ist und was es verlangt: die permanente Fortführung und Eskalation der Gewalt in genau dem Punkt, der von den USA als bleibender Grund dafür definiert wird, dass das von ihnen solidarisch geschützte Israel immer noch nicht in Frieden leben kann.

Dass es sich um eine Parlamentsresolution handelt, verleiht dem Totalaffront zusätzlich Glaubwürdigkeit unter befreundeten Demokratien. Der in den USA und auch sonst im Westen gepflegten Art, die Unhandlichkeit des unverbrüchlich unterstützten und gegen die wachsende internationale Kritik abgeschirmten alliierten Staates auf gewisse Eigenheiten seiner aktuellen Führungsperson zurückzuführen, ist damit ebenfalls eine Absage erteilt. Der vor allem in der bilateralen Diplomatie zwischen den USA und Israel immer häufiger benutzten Formel, dass Netanjahu mit seiner Politik seinem Land und seinem Volk keinen Gefallen tue, kann der Ministerpräsident auf Basis des Abstimmungsergebnisses von 68 Ja-Stimmen zu 9 Nein-Stimmen bei 120 Abgeordneten nun demokratisch gültig entgegnen: Ich repräsentiere das israelische Volk, und im Rahmen der Kompetenzen meines Amts bin ich der israelische Staat, lieber Verbündeter. Demokratischer geht demokratischer Imperialismus nicht. Und das passt angesichts dessen, was Israel derzeit im Programm hat, erst recht, denn demokratische Herrschaften verlangen sich für die eskalierende Gewalt, die sie vorhaben, selbst eskalierende demokratische Beglaubigung ab. Und das ist es, was ansteht: Eskalation.

20.7.

Israel bombardiert als Vergeltung für einen jemenitischen Drohnenangriff die Hafenstadt Hudaida

Kurz zuvor ist es den mit der Hamas verbündeten und ebenfalls vom Iran unterstützten jemenitischen Ansar Allah – den Huthi – gelungen, mit einer Drohne in Tel Aviv einen Israeli zu töten und Sachschaden anzurichten. Israel beschließt, dass es nun nicht mehr ausreicht, die Geschosse und Flugkörper der Huthi mit der eigenen nahezu perfekten kombinierten Luft- und Raketenverteidigung abzuwehren. Es kommt nach dem verglichen mit dem sonstigen Gewaltgeschehen vor Ort begrenzten Erfolg ihres Angriffs darauf an, auch diesen Gegner wirksam von weiteren Attacken abzuschrecken. Die nächste Premiere in Israels Gewaltgebrauch steht also an: Erstmals in der Geschichte greift Israel den an der anderen Seite Arabiens gelegenen Jemen an. Und zwar in einer Weise, die zum Zweck passt: Ohne langes von öffentlichen Erörterungen über den richtigen Zeitpunkt und die möglichen Konsequenzen begleitetes Zögern schlägt Israel im Jemen zu. Es beweist damit ganz ohne zusätzliche Verlautbarungen, wozu es in der Lage ist. Und zwar – so viel wird dann doch verlautbart – ohne die Hilfe der USA. Dies ist die eine entscheidende Botschaft: Die seit Jahren ausgebauten Militärallianzen, die immer größer angelegten gemeinsamen Manöver vor allem über dem Mittelmeer mit wechselnden Beteiligten – zuletzt mit der griechischen Luftwaffe, mit der Israel exakt ein Szenario eingeübt hat, das es nun praktiziert – haben Israel in die Lage versetzt, autonom und von einem Augenblick auf den anderen in einem Gebiet zuzuschlagen, das im Süden immerhin bis an den Indischen Ozean reicht. Die zweite Botschaft lanciert es mit dem speziellen Ziel und dem Umfang seines Luftschlages: Israel gibt sich mit einer irgendwie gleichartigen Antwort – was immer das überhaupt bedeuten könnte – gar nicht erst ab, sondern schlägt mit ‚überproportionaler‘, besser gesagt: seinem Abschreckungszweck proportional gesteigerter Gewalt zurück. Es bombardiert die Hafenanlagen im jemenitischen Hudaida und folgt damit seiner auch ansonsten beherzigten Logik, seinen Gegnern die Unterscheidung zwischen militärischen und zivilen Zielen nicht zu konzedieren. Die sollen mit einer begrenzten Kriegführung von vornherein nicht rechnen können, bei der ihnen ein bis auf Weiteres verschontes Zivilleben als Basis ihrer ungehörigen Gegnerschaft gegen Israel weiter zu Verfügung stünde. Dass mit Israels Schlag auf Hudaidas Hafen absehbarerweise die sowieso grassierende Not der jemenitischen Bevölkerung weiter verschärft wird, geht Israel nichts an.

Die dritte Botschaft ergeht an die werten westlichen Verbündeten. Die zeigen sich ob der israelischen Eskalation darüber besorgt, dass die Seeschifffahrt im Gebiet um den Jemen, die sowieso schon in Mitleidenschaft gezogen ist, weiter leiden könnte. Eigens zum Zwecke von deren Sicherung gegen Übergriffe durch die Ansar Allah unternehmen sie eine inzwischen auf mehrere Tausend Mann aufgestockte maritime Schutzmission. Überfälle der Jemeniten wehrt die mittlerweile ziemlich wirksam ab und reagiert auch mit Luftschlägen gegen jemenitische Militärbasen auf deren Versuche, den Frieden des kapitalistischen Seehandels zu stören, solange Israel ihre palästinensischen Volks- und Glaubensbrüder mit seiner Version von Armageddon traktiert. Dass nun verstärkte Vergeltungsschläge im Arabischen und Roten Meer drohen, geht Israel ebenfalls nichts an; die im Verhältnis zu Israels Zuschlagen begrenzte See- und Luftkriegsführung der Alliierten hat sich in seiner Sicht ganz offensichtlich als unwirksam erwiesen – zumindest was den Schutz Israels anbelangt. Der ist zwar gar nicht der Zweck dieses speziellen militärischen Dauereinsatzes, aber gerade darum zeigt Israel, was passiert, wenn man sich die totale Abschirmung seines Gaza-Krieges nicht zur Aufgabe setzt und diese dann auch erfolgreich erfüllt.

Eine schöne Vorlage für die Reise Netanjahus in die USA.

24.7.

Netanjahu hält eine Rede vor beiden Häusern des amerikanischen Kongresses

Schon das Stattfinden von Reise und Rede verbucht Netanjahus Regierung als Erfolg der Diplomatie, mit der sie ihre militärische Eskalation im Nahen Osten begleitet. Immerhin hat der amerikanische Partner mehrfach so einen Besuch abgesagt und auch ansonsten klargemacht, wie unzufrieden er damit ist, dass Israel bei aller Hilfe aus Amerika seinen Krieg nicht zu Ende bringt und alle diesbezüglichen Ratschläge und Ermahnungen aus Washington abblitzen lässt. Ein paar klärende Worte unter Freunden stehen an, und die fallen so speziell aus, wie die Freundschaft seit jeher ist. Netanjahu, der schließlich lange genug in den USA gelebt hat, weiß, wie er die ‚dear friends‘ anzusprechen hat, damit sie ihn auch gefälligst richtig verstehen. Einerseits hat er dafür die üblichen Formeln ewiger Partnerschaft und Solidarität parat, Gut gegen Böse, Demokratie – als deren „greatest citadel“ er den Kongress gleich zu Beginn adelt – gegen Barbarei etc.

Andererseits stehen angesichts der aktuellen Lage ein paar aktualisierte Fassungen der israelisch-amerikanischen Verbundenheitsmoral an. Um dem in Bezug auf Israels Krieg ein wenig gespaltenen amerikanischen Establishment klarzumachen, was für Israel – und insofern auch objektiv – dessen Bedeutung ist, braucht es nur zwei nackte Daten ohne weitere Angabe, mit deren Nennung er im patriotischen Stammhirn jedes Amerikaners genau die Assoziationskette auslöst, die ihm für sein Anliegen zupasskommt: 7.12.1941 und 11.9.2001.

An besagtem Dezemberdatum – so viel für den deutschen Leser – bereitete Japan den USA die Schmach des Überraschungsangriffs auf Pearl Harbor. Bekanntlich hat dessen wichtigste Konsequenz darin bestanden, dass die USA innerhalb weniger Tage in den Weltkrieg eingetreten sind. Eine solche Lage beschwört Netanjahu nun auch für Israel; und seine stolze Nation ist ja bereits vollauf damit beschäftigt, ihre größte militärische Konfrontation seit ihrem Gründungskrieg zu betreiben. Für die fordert er damit die uneingeschränkte Unterstützung Amerikas ein, das doch wissen muss, dass für eine Nation, die auf sich hält, eine zwischenzeitliche militärische Blamage nur eines heißen kann: Rache auf allerhöchstem Niveau, nach deren Vollzug nichts mehr so ist wie vorher. Diesen Ruf genießt ja auch 9/11, und darum darf dieses Datum ebenfalls nicht fehlen, wenn es darum geht, die merklichen Zweifel an der uneingeschränkten Unterstützungswürdigkeit des israelischen Vorgehens aus dem Weg zu räumen und den amerikanischen Verbündeten wieder auf Linie zu bringen. Wobei 9/11 passenderweise dafür steht, dass einem Feind ein Schlag gelungen ist, der noch nicht einmal die Ehre eines ordentlichen Kriegsgegners verdient. So wie die Weltmacht Amerika nach 9/11 ihren global war on terror begann, der sich unterschiedslos gegen nichtstaatliche und der Unterstützung des Terrors beschuldigte staatliche Schurken richtete, führt die Regionalmacht Israel nun ihren regionalen Anti-Terror-Krieg, der sich ebenfalls über jede Unterscheidung zwischen regulären und irregulären Gegnern hinwegsetzt und pur durch überlegene Gewalt das Recht auf deren Anwendung setzt. Die ist dementsprechend über jede noch so fadenscheinige Orientierung an irgendwelchen Regeln erhaben – muss sich deren Verletzung darum schon gar nicht von den eigenen Verbündeten vorhalten lassen, soweit verstanden?

Natürlich weiß Netanjahu auch, dass Amerikaner es immerzu mit visions haben, also hat er eine solche zu unterbreiten. Er nennt sie in Anlehnung an die neulich unter Trump vermittelten Normalisierungsabkommen mit ein paar arabischen Staaten – die Abraham-Accords – „Abraham-Alliance“. Die pinselt er als das Paradies einer regionalen Ordnung aus, in der alle friedliebenden Araberstaaten in Einklang mit – im hebräisch-amerikanischen Klartext: abgeschreckt und also unter Führung von – Israel einen Frieden hinbringen, der der Oberordnungsmacht USA schon allein aus dem Grunde gefallen muss, weil diese regionale Friedensordnung zugleich eine einzige regionale Front gegen den Iran und dessen Verbündete ist. Auf diese Weise greift Netanjahu positiv genau den amerikanischen Standpunkt auf, dem zufolge – zumindest einem Teil des amerikanischen Establishments – der Krieg im Gazastreifen und über den hinaus immer mehr als unproduktiv und problematisch erscheint. Er sagt beherzt ‚Es werde Frieden!‘ – und macht zugleich klar, dass ein solcher, d.h. eine von Amerika und Israel beherrschte Ordnung, genau das verlangt, wogegen sich die zunehmenden Zweifel aus Amerika richten, nämlich die konsequente Fortsetzung des Schlachtens im Gazastreifen und die permanente Eskalation des regionalen Kriegsgeschehens. Die Schönheit der Vision, die auch Amerika gefallen muss, verlangt zu ihrer Verwirklichung einen Sieg, der so total sein muss wie der Krieg, den Israel für ihn führt, kapiert?

Den letzten bzw. ersten, nämlich alles überragenden Grund dafür, dass die bekanntlich manchmal etwas schlicht gestrickten, aber redlichen Amis seiner Dialektik folgen können und wollen, liefert Netanjahu selbstverständlich auch, und zwar zur Sicherheit ziemlich zu Beginn seiner Ausführungen: Im Stile einer eigentlich überflüssigen Erinnerung versichert er den versammelten Abgeordneten des nach dem israelischen einzigartigsten Volks der Weltgeschichte, dass beide Nationen nur unverbrüchlich zusammenhalten müssen, damit „something very simple happens. We win. They lose.“ Das ist „simple“ im besten Sinne des Wortes, nämlich selber eine sehr dialektische Klarstellung: Die ganze Schönheit und Glaubwürdigkeit aller moralischen Beschwörungsformeln liegen in der simpel gewaltmäßigen Überlegenheit, vor allem aber im Erfolg der Anwendung der überlegenen Mittel derer, die die Moral schließlich nur zur Rechtfertigung ihrer Gewalt zitieren. Die amerikanischen Volksvertreter, die es ein bisschen bebildert haben wollen, erinnert er daran, dass „we’ve jointly developed some of the most sophisticated weapons on Earth“ – was die Bündnisnation ja vollends überzeugen muss, die die Identität von waffenstarrender Zerstörungskraft und moralischer Erhabenheit seit Menschengedenken als imperialistischen Volkscharakter pflegt.

Indem Netanjahu sich als Rächer nicht nur aller israelischen Juden, sondern überhaupt aller guten am 7.10. getöteten „people from 41 countries“ präsentiert, streicht er gegenüber dem demokratischen Alliierten heraus, dass er seinen fortdauernden Krieg als Kampf des allgemein menschlich Guten nicht vorzeitig beenden darf. Das wird durch die Internationalität der Toten ebenso beglaubigt wie durch die beschworene Multikulti-Identität des israelischen Staats- und Kampfbürgers – Juden, Drusen, waschechte arabische israelische Beduinen –, die amerikanische Patrioten an ihr eigenes Melting-Pot-Ethos erinnern soll.

Auch die Geiselfrage benutzt Netanjahu entsprechend seiner Entschlossenheit, sich den Krieg im Gazastreifen von seinem amerikanischen Verbündeten nicht vor der Zeit nehmen und sich von der nötigen Eskalation in der ganzen Region nicht abbringen zu lassen. Die von manchen amerikanischen Politikern praktizierte Manier, im Namen der Geiseln, die ihnen egal sind, die Halsstarrigkeit der israelischen Regierung zu problematisieren, die sie wirklich stört, kontert er kongenial: Er führt ehemalige Geiseln, Geisel-Angehörige usw. vor, beschwört die angesichts der tatsächlichen Kriegslage absurd unwirkliche Gleichung von Geiselwohl und israelischer Kriegsüberlegenheit, um den Amerikanern ihren Einspruchstitel gegen seine kriegerische Kompromisslosigkeit genauso aus der Hand zu nehmen wie seinen internen Gegnern den Verweis auf amerikanische Zweifel.

Weil Netanjahu wirklich ein erzdemokratischer Politiker ist, richtet er seine Rede auch an das eigene Volk. Er nutzt seinen Auftritt vor Amerikas Legislative dazu, dem in Israel wachsenden Verdacht entgegenzutreten, er verspiele die Solidarität des wichtigen Schutzpatrons. Beweis: Er beschwört – angesichts der wachsenden Unzufriedenheit mit ihm im Washingtoner Polit-Establishment – die von Zwist ungetrübte bilaterale Schicksalsgemeinschaft und präsentiert sich von Washington aus seinem Volk als Führer, auf den amerikanische Politiker hören und dessen freundschaftliche, aber strenge Ermahnungen wegen ihres zu nachsichtigen Umgangs mit antiisraelischen Protesten – auch an „my own alma mater“ – sie sich sogar anhören; jedenfalls soweit sie der Sitzung nicht ferngeblieben sind, was er großzügig ignoriert.

Unüberhörbar enthält diese auf die Beschwörung und Erneuerung der amerikanischen Allianz gerichtete Rede eine Absage, die in der öffentlichen Besprechung ein wenig untergegangen, aber bei ihren politischen Adressaten in der Staatenwelt ganz sicher angekommen ist: Was seinen Krieg anbelangt, verständigt sich Israel mit den USA – und nur mit denen. Der Rest der Welt hat dem zuzuhören, was der Oberisraeli Netanjahu zur Begründung der israelischen Eskalationsstrategie erzählt, und zur Kenntnis zu nehmen, was dessen Militär in Sachen Eskalation tut.

30.7.

Israel tötet in der Hauptstadt Libanons Fuad Schukr, Militärchef der Hisbollah

Anlass für diesen „chirurgischen Angriff“ ist der Tod von zwölf drusischen Kindern auf dem – je nach politischer Vorliebe – als israelisches Nordgebiet oder als syrisches, von Israel besetztes Territorium zu bezeichnenden Golan. Dass die Drusen aus dieser Gegend mehrheitlich immer noch die israelische Staatsbürgerschaft ablehnen, dass sie ansonsten in Israel, freilich nur ein bisschen, diskriminiert und beargwöhnt werden, spielt da keine Rolle: Als Opfer der anderen Seite gehen sie ganz in der Identität mit Israel auf. Und darauf kommt es schließlich an, denn was diese von Netanjahu und seinem Kriegskabinett demokratisch zweifelsfrei definierte Identität verlangt, ist die praktisch betriebene Eskalation auch am israelischen „Nordfrontabschnitt“, die jede Frage danach obsolet macht, wie genau der Anlass eigentlich beschaffen war. Der Grund dafür, was Israel nun für fällig hält, war der sowieso nicht.

Als ‚Nordfront‘ definiert Israel je schon mindestens den ganzen Südlibanon, und dass ein Gutteil seines eigenen nördlichen Kernlands inzwischen ziemlich komplett dieser strategischen Rolle unterworfen ist – knapp 100 000 um ihre ökonomische Existenz gebrachte israelische Binnenflüchtlinge inklusive –, ist im Preis des Krieges enthalten, den das israelische Militär unter der offiziellen Zielsetzung führt, dass seine Bürger da oben in Galiläa ruhig leben können sollen. Der Angriff auf – oder, die Meinungen gehen nach wie vor auseinander, der Raketenunfall von – Madschdal Schams bietet Israel die Gelegenheit zu der Klarstellung, dass sich die Hisbollah vor ihrer eigenen militärischen Wirkmacht, ihren Fähigkeiten, israelisches Territorium anzugreifen, selber mehr fürchten muss als Israel. Ihre Potenz zur Störung des zivilen Lebens im Norden Israels oder in anderen Gebieten, die der israelische Staat für sich beansprucht, kann Israel nicht nur nicht zu einer Begrenzung seiner Gewalt bewegen, sondern ganz im Gegenteil führt Israel dem libanesischen Feind die Bereitschaft vor, immer weiter und immer weitere Teile seines Heiligen Kernlandes dem Risiko des eskalierenden Krieges auszusetzen. Den der Hisbollah zugeschriebenen Toten verweigert Israel ausdrücklich und vor allem praktisch die Wirkung einer durch sie erzwungenen Mäßigung seines Kriegswillens. Es besteht darauf, dass Abschreckung eine einseitige Angelegenheit ist.

Also lässt es die israelische Air Force wieder einmal richtig krachen – berstende Fensterscheiben durch den Luftterror periodischer Überschalltiefflüge sind sowieso im Programm – und bringt einen wichtigen Militärfunktionär der Hisbollah in Beirut, im Schiitenviertel und Hisbollah-Hauptquartier Dahiya, um. So stellt Israel wieder einmal klar, dass „Schutz jüdischen Lebens“ in der von Israels politischer Führung jederzeit abzurufenden Fähigkeit des israelischen Militärs besteht, jede feindliche Führungsfigur in der näheren und ferneren Umgebung umzubringen.

Mit dieser Aktion von „targeted killing“ agiert und präsentiert sich Israel erstens als Militärmacht, die die Freiheit hat zu entscheiden, welchen Schlag gegen sich sie mit welchem gezielten Schlag gegen die Befehlshaber ihrer Gegner beantwortet oder mit einem eher flächig angelegten Bombardement. Die Verknüpfung von beidem führt es allen Adressaten anhand des Gazastreifens ja seit geraumer Zeit vor. Mit beidem bestreitet Israel seinen Gegnern die Gleichrangigkeit, negiert in dem Zusammenhang sogar den kriegsregulären Unterschied zwischen kämpfendem Personal – das von beiden Seiten der Vernichtung preisgegeben ist – und Befehlshabern, mit denen sich irgendwie ins Benehmen zu setzen ist. Mit seinem Schlag in Beirut klaut Israel der Hisbollah nicht nur erstens – wieder einmal – einen wichtigen Kommandeur, sondern praktiziert zweitens die Botschaft, dass allein Israel definiert, wie weit es den Krieg räumlich und die Wahl der Waffen und Opfer betreffend eskaliert; was drittens und vor allem im Falle der Hisbollah und des Libanon heißt: Zu einem für den Libanon totalen Krieg bis hinauf nach Beirut mit der Perspektive, ihn „in die Steinzeit zurückzuschicken“ (Israels Verteidigungsminister Galant), ist Israel fähig und – ganz nach eigenem Ermessen – entschlossen; „Dahiya“ lässt grüßen. [5]

So provoziert Israel die Hisbollah und führt ihr vor Augen, dass sie sich die immerzu wortreich in Aussicht gestellte Vergeltung lieber nicht leisten sollte. Das ist Geiselnahme auf etwas höherem Niveau als dem von den antiisraelischen Terroristen praktizierten: Israel nimmt den gesamten Libanon bis hinauf nach Beirut – und nicht nur Dahiya – als Geisel bzw. ‚human shield‘, deren bzw. dessen Vernichtung ansteht, falls die Hisbollah ihre militante Feindschaft über eine allein von Israel zu definierende Grenze hinaus betreibt.

Folgerichtig greift im Libanon genau die Mischung aus Fatalismus und Aufgeregtheit um sich, auf die es Israel abgesehen hat. Partys der Gutbetuchten finden statt, daneben rüsten sich die Behörden für den Ernstfall, was bezeichnenderweise vor allem darin besteht, „points de triage“ einzurichten und auswärtige Notfallmedizinspenden entgegenzunehmen. Die Hisbollah bekommt also von allen Seiten praktisch die Frage vorgelegt, wie viel Gaza ihr der eigene pro-Gaza-Widerstand wert ist – angesichts dessen, dass Israel ihr ziemlich glaubwürdig immer wieder das eine androht: Die Tatsache, dass sie über eine durchaus andere staatliche Basis verfügt als die Hamas, wird ihr nur zu einem umso gigantischeren Verhängnis werden! Wie es aus vergangenen Kriegen Israels gegen den Libanon ja hinlänglich bekannt ist.

Und jedem ist klar, dass Israel an der Hisbollah und im Libanon die Konfrontation mit Iran vorantreibt, der der regionale Verbündete und wichtigste Ausstatter der schiitischen Partei und Miliz ist. Auf die Tötung des libanesischen Kommandeurs reagiert Teheran entsprechend empört und droht seinerseits mit Vergeltung. Was daraus für Israel folgt, wird einen Tag später klargestellt.

31.7.

In der Hauptstadt Irans wird der Chef des Politbüros der Hamas, Ismail Haniyeh, dort anwesend zur Amtseinführung des neuen iranischen Präsidenten, per Bombe oder Rakete umgebracht

Dass ihm seine Generäle in seinem nahen Ausland weggebombt werden, ist dem Teheraner Regime inzwischen vertraut; dass Israel dafür auch die ansonsten unter Staaten heilige Unantastbarkeit diplomatischer Vertretungen ignoriert, hat es aller Welt Anfang April mit der Bombardierung eines Gebäudes auf dem Gelände der iranischen Botschaft in Damaskus vorgeführt, mit der es die gesamte militärische Führungsspitze der iranischen Truppen auf syrischem Gebiet ausgelöscht hat. Die erfolgreiche alliierte Abwehr der Raketen- und Drohnenschwärme, die Iran daraufhin erstmals auch direkt vom eigenen Territorium nach Israel schickt, ist für die israelische Führung offensichtlich Grund genug, noch einen Schritt weiter zu gehen.

Sie überträgt die Logik ihres Anti-Terrors gegen die Hamas auf deren staatliche Schutzmacht Iran und demonstriert dieser, dass auch auf ihrem Boden keine Sphären der Immunität vor den Waffen Israels akzeptiert sind und man militärisch-geheimdienstlich in der Lage ist, Iran in dessen staatlichem Zentrum als Terrorstaat zu behandeln, dessen gesamtes Inventar in Reichweite der israelischen Vernichtungspotenzen liegt; sodass es allein bei Israel liegt zu entscheiden, wann es welche davon wie zum Einsatz bringt. Die Liquidierung des politischen Hamas-Führers Haniyeh in einer Hochsicherheitsresidenz mitten in Teheran, der zur Amtseinführung des neu gewählten iranischen Präsidenten gekommen war, stellt die iranische Militärmacht vor die Herausforderung, die israelische Eskalation mit einem Schlag zu beantworten, der von anderer Qualität und Wirksamkeit ist als die Raketensalve vom 13. April, um die Glaubwürdigkeit seiner Vernichtungspotenz und -bereitschaft zu beweisen und so seinerseits ein Stück seiner Abschreckungsmacht zu restaurieren, die Israel schlicht nicht gelten lässt. Prompt erfolgt die Warnung aus Tel Aviv vor der angekündigten iranischen Vergeltung, womit das ‚Risiko‘ der nächsten Eskalationsrunde auf der Tagesordnung steht, die Israel schon in Planung hat. Einzukalkulieren hat die iranische Führung dabei nach wie vor, dass Israel sich weiterhin auf die Allianz mit westlichen Staaten und Nachbarn wie Jordanien verlässt und laut deren Zusicherungen auch verlassen kann. So wird Iran durch das Attentat auf den Führer der verbündeten Hamas zu einem Gegenschlag provoziert und zugleich darüber belehrt, dass es sich den nicht leisten kann.

Seine westlichen Verbündeten, insbesondere wieder einmal die USA, zwingt Israel damit zu der Abwägung, wie viel der israelischen Eskalation sie wie mittragen wollen. Einen wirksamen Schlag Irans gegen Israel zuzulassen, kommt für die Amerikaner keinesfalls in Frage, in diesem Sinne geben sie der israelischen Kalkulation auch dieses Mal wieder recht, indem sie auf ihre in der Region sowieso schon vorhandenen militärischen Abschreckungspotenzen verweisen und diese ab sofort noch durch weitere Verbände verstärken. Gleichzeitig sehen sie sich dazu gedrängt klarzustellen, dass die große iranische Gefahr, die Israel heraufbeschwört, am besten dadurch zu bannen ist, dass die Waffenstillstands- und Geiselverhandlungen endlich zu einem produktiven Abschluss kommen. Dass Israel mit Haniyeh gerade den palästinensischen Verhandlungsführer liquidiert hat, übergehen sie in diplomatisch-konstruktiver Absicht, malen einen absehbaren Erfolg der Friedensdiplomatie an die Wand und zwingen Israel damit geflissentlich die Frage auf, ob es sich zu seiner Obstruktionsstrategie gegen seinen wichtigsten Verbündeten tatsächlich bekennen will. Die Reisen des amerikanischen Verteidigungsministers und des CENTCOM-Chefs nach Israel stellen damit die doppelte Botschaft dar, dass Iran nicht auf ein Zerwürfnis seiner beiden Hauptfeinde setzen soll, sondern Israel die Abschreckungssolidarität der Weltmacht weiterhin hat, und dass Israel sich bei seinen eigenmächtigen Eskalationsschritten klarmachen muss, dass es deren Solidarität braucht.

Die nächste Gelegenheit zur Fortführung des Streits zwischen den beiden Verbündeten um die Bedingungen der bedingungslosen Solidarität Amerikas für Israels Gaza-Krieg und um die Frage, wie dieser Krieg mit der gemeinsamen Todfeindschaft gegenüber Iran zu verknüpfen oder von ihr zu trennen ist, liefert kurze Zeit später die Personalpolitik der Hamas.

8.8.

Der ins Amt berufene Haniyeh-Nachfolger Yahya Sinwar wird von Israel auf Rang eins seiner Todesliste bestätigt

Was die Hamas als Betroffenen und Adressaten angeht, ist die Tötung von Haniyeh die konsequente Fortsetzung des israelischen Programms, den als tödliche Gefahr für Israel und alle Juden definierten Staatsgründungsnationalismus der Palästinenser durch Beseitigung aller seiner Träger definitiv zu beerdigen; zugleich ein konstruktiver Beitrag dazu, die Friedensdiplomatie, die Amerika verlangt, ins Leere laufen zu lassen – dadurch, dass Israel auf neue Weise wahrmacht, was es seit jeher vertritt: ‚Wir würden ja gern, aber wir finden auf palästinensischer Seite einfach keinen Partner für einen Frieden.‘

Die USA ignorieren den per Bombe oder Rakete in Teheran praktizierten israelischen Standpunkt eisern und nehmen den Tod des Hamas-Führers fast schon wie eine Chance für einen Neuanfang, nämlich für nun endlich erfolgreich zu Ende zu bringende Verhandlungen. Jedenfalls halten sie schlicht daran fest, dass sich Israel nun eben mit Haniyehs Nachfolger Sinwar, dem militärischen Führer vor Ort, abzufinden und ins Benehmen zu setzen hat. Der hat jedenfalls den Auftrag der USA zu einer förmlichen Kapitulationsdiplomatie seitens der Hamas – „US Secretary of State Antony Blinken has said it is up to Sinwar to help achieve a ceasefire, saying, ‚he has been and remains the primary decider‘“ (AFP, 7.8.24) –, die sich nach Amerikas Willen auch Israel gefallen zu lassen hat.

Dessen Führung antwortet ihrerseits in der zwischen diesen beiden verbündeten Mächten üblichen Tour, ihren wachsenden Dissens durch offizielle Ignoranz des politischen Willens des Gegenübers diplomatisch auszuformulieren:

„Army chief Herzi Halevi vowed to ‚find him [Sinwar], attack him‘ and force Hamas to find someone to replace him.“ (Ebd.)

Israel bleibt einstweilen entschlossen, sich auch durch Amerika, mit dem es in asymmetrischer wechselseitiger Abhängigkeit verbunden ist, nicht von seiner antiterroristischen Personalpolitik abbringen zu lassen, für die und mit der es seinen Regionalkrieg eskaliert.

[1] Mit den politischen Berechnungen der Hamas befasst sich ausführlich der Artikel ‚Al-Aqsa-Flut‘ und Gaza-Krieg: Hamas gegen Israel in GegenStandpunkt 4-23.

[2] Das hält sie sogar noch Anfang August aufrecht, als ihr Kriegszweck längst dahin übergegangen ist, irgendein Ende des Krieges herbeizuführen, das sie selber überlebt: Am 14.8. verbreitet die Hamas von sich aus die Nachricht, dass eine Geisel durch den für sie zuständigen Bewacher getötet worden ist, kündigt ganz im Stile einer ordentlichen Armee eine „interne Untersuchung“ an und veröffentlicht dann auch das Ergebnis: dass in diesem Fall gegen jede Vorschrift und Moral ein bewaffneter Funktionär Rache geübt hat, weil Angehörige von ihm kurz zuvor einem israelischen Angriff zum Opfer gefallen sind. Auch so hält die Hamas am Anspruch fest, eine auf Augenhöhe, nämlich nach den einschlägigen Regeln agierende Kriegspartei zu sein.

[3] Ein Widerspruch bleibt es freilich, sich von Terroristen vor die Abwägung zwischen beiden Gütern stellen lassen zu müssen, zumal sie der politischen Substanz nach ja identisch sind. Israel hat – nicht erst in diesem Krieg – seine Weisen gefunden, mit diesem Widerspruch umzugehen, ihn zu minimieren, wo möglich zu tilgen: Bezüglich des Preises in Form von freigelassenen Palästinensern hält sich Israel praktisch dadurch schadlos, dass es sie permanent durch neue Gefangene ersetzt – seit Oktober 2023 hat sich die Zahl der in israelischen Knästen einsitzenden Palästinenser ungefähr verdoppelt – und teilweise die Freigelassenen, wenn sie wichtig genug sind, kurze Zeit später wieder einfängt oder gezielt tötet.

 Sofern die Hamas weitergehende Zugeständnisse verlangt – Waffenruhe oder endgültigen Waffenstillstand plus Truppenabzug –, beantwortet Israel dies mit hinhaltender Verweigerung, dem Gezerre um die Modi einer Zug-um-Zug-Durchführung und so weiter. Damit, dass es die Verhandlungen nicht einfach komplett und endgültig abbricht, hält Israel die Hamas bei der Stange und bewirkt so, dass sie an dem alternativlos zweckoptimistischen Standpunkt festhält, mit den Geiseln ein Verhandlungspfund in der Hand zu haben, dessen man sich besser nicht entledigt, weil es ausweislich der israelischen Kriegführung zwar keine wirkliche Rückversicherung gegen die allerletzte eliminatorische Rücksichtslosigkeit darstellt, aber eben die einzige potenzielle.

 Das verschafft Israel die operative Freiheit zu der anderen Art des Umgangs mit der Erpressung, die es sich nicht gefallen lassen kann. Mit seiner überlegenen technischen und personellen Ausstattung versucht es und schafft es ein ums andere Mal, Geiseln per Gewalt zu befreien. Im Juni taugt eine solche Aktion dann zusätzlich dazu, der Hamas und ihren Palästinensern vorzuführen, wer letztlich wen als Geisel hält: Im Zuge der Befreiung von vier Israelis werden über 200 Palästinenser getötet, was ohne weiteren diplomatischen Kommentar am Zahlenverhältnis zwischen Geretteten der einen und Getöteten der andere Seite hinreichend klarstellt, wie teuer es ist, Israels Unverwundbarkeitsanspruch herauszufordern. Passend dazu die Äußerung eines israelischen Ministers Smotrich, der offen dafür plädiert und es als moralisch statthaft einordnet, durch Sperrung aller Lebensmittellieferungen nötigenfalls 2 Millionen Palästinenser so lange hungern zu lassen, bis die Hamas die verbliebenen 120 Geiseln zurückgibt. Das mag so manchen auswärtigen Beobachter erschrecken, erfüllt aber letztlich bloß den Tatbestand, die militärische Logik der totalen Rücksichtslosigkeit gegenüber der Gaza-Bevölkerung auch noch an der Mindereinstufung des Werts ihres Lebens als Menschenschlag zu bebildern und zu rechtfertigen.

[4] Im Zuge dessen bereichert Israel die – notorisch zur Anklage der Hamas dienende – Kategorie des „menschlichen Schutzschildes“ um ein paar praktische, dem Wortsinn ziemlich getreu entsprechende Varianten: Aus dem Westjordanland, wo sich die IDF mit einem neu aufflammenden urbanen Aufstandsgeschehen konfrontiert sehen, werden Videos verbreitet, auf denen zu sehen ist, wie verletzte Palästinenser auf der Motorhaube von gepanzerten Fahrzeugen platziert werden, die durch aufständische Viertel fahren – um auf diese Weise Angriffe zu verhindern. Aus dem Gazastreifen wird berichtet, dass die israelische Armee Palästinenser in Ruinen und Tunnel voranschickt, um eventuelle Sprengfallen auszulösen oder Hinterhalte zu verhindern. Das Verdikt „Terrorsumpf“ gegenüber einer ganzen Bevölkerung kann man auch so wahr- und für die eigene Kriegführung sogar noch nützlich machen.

[5] Im Sommer 2006 hatte Israel diese Hochburg der Hamas in Beirut schon einmal dem Erdboden gleichgemacht, woraufhin der damalige Armeechef Eizenkot im Oktober jenes Jahres verkündete, dass so etwas überall und jederzeit jedem Gegner blühe, der sich in ähnlicher Weise wie die Hisbollah mit Israel anlege. Wobei es bezüglich dieser so genannten „Dahiya-Doktrin“ nach dem Geschmack beteiligter wie beobachtender Strategen inzwischen naheliegt, ebendiese Logik programmatischer „disproportionality“ und Nicht-Unterscheidung zwischen militärischen und zivilen Zielen eher nach dem Gazastreifen zu benennen, der soeben dieser ‚Doktrin‘ komplett zum Opfer gefallen ist.