Europa

Nach dem Ende des 2. Weltkrieges waren die USA so frei, der Staatenwelt den „Ost-West-Gegensatz“ als ersten und hauptsächlichen Gegenstand jeglicher souveräner Außenpolitik aufzunötigen. Ohne Not, will sagen: ohne in ihrem eigenen nationalen Bestand gefährdet oder bedroht zu sein, beschlossen sie, der Ausbreitung kommunistischer Tendenzen und sowjetischen Einflusses – von ihrem Standpunkt aus ein- und dasselbe – überall auf dem Erdball entgegenzutreten. Gemäß diesem von Präsident Truman offiziell zum Leitfaden der amerikanischen Weltpolitik erklärten Beschluß, der „Truman-Doktrin“, kümmerten die USA sich zuallererst um den westlichen und südwestlichen Rand der sowjetischen „Kontinentalmacht“, an dem sich die strategische „Gefahr“ einer Ausdehnung der gegnerischen Einflußsphäre bis in die Gegenden abzeichnete, die die USA im Sinne ihrer Weltstrategie als ihre „Gegenküste“ definiert hatten.

Aus dem Buch
1981, 1983 | 256 Seiten | vergriffen
Systematischer Katalog
Länder und Abkommen
Gliederung

Europa

Westeuropa und die NATO

1. Nach dem Ende des 2. Weltkrieges waren die USA so frei, der Staatenwelt den „Ost-West-Gegensatz“ als ersten und hauptsächlichen Gegenstand jeglicher souveräner Außenpolitik aufzunötigen. Ohne Not, will sagen: ohne in ihrem eigenen nationalen Bestand gefährdet oder bedroht zu sein, beschlossen sie, der Ausbreitung kommunistischer Tendenzen und sowjetischen Einflusses – von ihrem Standpunkt aus ein- und dasselbe – überall auf dem Erdball entgegenzutreten. Gemäß diesem von Präsident Truman offiziell zum Leitfaden der amerikanischen Weltpolitik erklärten Beschluß, der „Truman-Doktrin“, kümmerten die USA sich zuallererst um den westlichen und südwestlichen Rand der sowjetischen „Kontinentalmacht“, an dem sich die strategische „Gefahr“ einer Ausdehnung der gegnerischen Einflußsphäre bis in die Gegenden abzeichnete, die die USA im Sinne ihrer Weltstrategie als ihre „Gegenküste“ definiert hatten. So intervenierten sie im griechischen Bürgerkrieg gegen die zeitweise erfolgreiche Volksfront, kamen jedem sowjetischen Zugriff auf die Dardanellen zuvor und stellten mit politischem Druck und finanziellem Aufwand Türkei und Iran als antikommunistische und antisowjetische Nationalstaaten her, wobei im Falle der iranischen Nordgebiete, in denen sich eine von der Sowjetunion unterstützte Sowjetrepublik behauptet hatte, die Erpressung durch die Atombombe ihre Wirkung tat. Die verbündeten oder in der Endphase des Weltkriegs militärisch besetzten Staaten Westeuropas banden die USA zunächst durch Wiederaufbaukredite im Rahmen ihres „European Recovery Program“ ökonomisch und politisch an sich. Gleiches versuchten sie mit den osteuropäischen Staaten, die nach der Besetzung durch die Rote Armee neu konstituiert worden waren und von der Sowjetunion als Einflußsphäre behandelt wurden; unter deren Druck lehnten diese Länder die „Marshallplanhilfe“ denn auch ab. Vom Sieg der Anti-Hitler-Koalition an ließen die USA also keinen Zweifel an ihrer Entschlossenheit, alle Anstrengungen des bisherigen sowjetischen Alliierten, sich als unabhängige Macht aufzuführen und nach weltpolitischem Einfluß zu streben, als gegen sie gerichtete feindselige Akte zu begreifen und zu behandeln; eine Entschlossenheit, die als selbstverständlichen Ausgangspunkt eine quasi naturwüchsige politische Zuständigkeit der USA für die ganze übrige Welt unterstellte. Daß die Sowjetunion die Universalität und die Ausschließlichkeit dieses Anspruchs nicht respektierte, trug ihr die unbedingte Feindschaftserklärung seitens der USA ein, die in den Nachkriegsjahren mit aller Konsequenz und Härte politisch in die Tat umgesetzt wurde. Mit dem Aufbau eines weltweiten Netzes von Bündnissystemen mobilisierten die USA sämtliche Staaten, die ihnen dafür wichtig erschienen, für ihren Zweck, die ganze übrige Welt zu einer einzigen unverrückbar feindlichen Bedingung für die Erhaltung des sowjetischen „Blocks“ auszugestalten. Als das mit Abstand wichtigste dieser Bündnisse erwies sich die „North Atlantic Treaty Organization“, 1949 zwischen den beiden nordamerikanischen Staaten auf der einen, Frankreich, Großbritannien, den Benelux-Staaten sowie „auf Aufforderung“ Italien, Portugal, Island, Norwegen und Dänemark auf der anderen Seite des Atlantik abgeschlossen und später um Türkei, Griechenland und die BRD erweitert; und zwar aus einem Grund, den ein NATO-Hofschriftsteller von heute so zusammenfaßt:

„Im Unterschied zur NATO, einem Bündnis von 15 mehr oder weniger großen und hochentwickelten Industriestaaten, die außerdem zu Bündnissen oder Interessengemeinschaften mit Staaten im Westpazifik und sogar mit der VR China gefunden haben, besitzt die zum Teil noch unterentwickelte Sowjetunion mit ihren 6 kleinen WP (Warschauer Pakt)-Bundesgenossen bzw. 9 COMECON-Partnem keinen einzigen größeren und leistungsfähigen Verbündeten auf der Weit.“ (G. Poser, Die NATO, München 1979, S. 9)

Die lupenrein weltherrschaftliche Zielsetzung der USA ist am NATO-Vertrag deutlich abzulesen. Zwar ist der militärische Hauptzweck des Bündnisses noch ganz nach dem Muster von Defensivallianzen zwischen gleichermaßen souveränen Staaten formuliert:

„Die Vertragspartner vereinbaren, daß ein bewaffneter Angriff gegen einen oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen wird; sie vereinbaren daher, daß im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs jeder von ihnen ... dem Vertragsstaat oder den Vertragsstaaten, die angegriffen werden, Beistand leistet...“ (Artikel 5)

Über diese Zweckbestimmung geht aber schon die Präambel des Bündnisvertrages in aufschlußreicher Weise hinaus. Die Partnerstaaten „bekräftigen“ darin

„ihren Wunsch, mit allen Völkern und allen Regierungen in Frieden zu leben“,

zusammen mit ihrer ‚Entschlossenheit‘,

„die Freiheit, das gemeinsame Erbe und die Zivilisation ihrer Völker, die auf den Grundsätzen der Demokratie, der Freiheit der Person und der Herrschaft des Rechts beruhen, zu gewährleisten“,

machen also ihre Friedensliebe von der Respektierung und Durchsetzung des eigentümlich supranationalen Anliegens abhängig, die für sie alle gleichermaßen gültigen Herrschaftsprinzipien der kapitalistischen Demokratie gegen jeglichen „bewaffneten Angriff“ aufrechtzuerhalten. Festgelegt ist damit erstens der gemeinsame Gegner: die mit ihrem Volk nach anderen Grundsätzen verfahrende Sowjetunion. Festgelegt ist zugleich die Priorität dieser Gegnerschaft vor allen „systemunabhängigen“ nationalen Zwecksetzungen, wie Artikel 8 ausdrücklich vermerkt:

„Jeder vertragschließende Staat erklärt, daß keine der internationalen Verpflichtungen, die gegenwärtig zwischen ihm und einem anderen Vertragsstaat oder einem dritten Staat bestehen, den Bestimmungen dieses Vertrages widersprechen, und verpflichtet sich, keine diesem Vertrag widersprechende internationale Verpflichtungen einzugehen.“

Festgelegt ist darüber hinaus drittens, daß die Partner sich im Interesse des Bündniszwecks durchaus in die „inneren Angelegenheiten“ der anderen „einmischen“ und solche Einmischung dulden sollen:

„Um die Ziele dieses Vertrags besser zu verwirklichen, werden die Parteien einzeln und gemeinsam durch ständige und wirksame Selbsthilfe und gegenseitige Unterstützung die eigene und die gemeinsame Widerstandskraft gegen bewaffnete Angriffe erhalten und fortentwickeln.“ (Artikel 3)

Und festgelegt ist schließlich sogar, daß die Beteiligten ihre Konkurrenz gegeneinander und ihren nationalen Ehrgeiz in Wirtschaftsdingen, von denen der Vertrag explizit Notiz nimmt, hinter das gemeinsame Anliegen zurückzustellen haben:

„Sie werden bestrebt sein, Gegensätze in ihrer internationalen Wirtschaftspolitik zu beseitigen und die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen einzelnen oder allen Vertragspartnern zu fördern.“ (Artikel 2)

Der NATO-Vertrag behauptet also notwendige internationale Auswirkungen der bürgerlich-demokratischen Herrschaftsweise: ein den kapitalistischen Demokratien von Haus aus eigenes gemeinsames Herrschaftsinteresse in Gegensatz zu einem klar umrissenen Feind, und zwar jenseits, ja als Grundlage aller nationalen und der nationalen Souveränität anheimgestellten besonderen Interessen. Für die Durchsetzung dieses „kollektiven“ Anliegens werden die militärischen Kräfte der Partnerstaaten vereinigt.

Über das nationale Subjekt dieses „kollektiven“, „supranationalen“ Durchsetzungswillens der Demokratie läßt der NATO-Vertrag keinen Zweifel: es ist die Regierung der USA, bei der neue Mitglieder sich an-, etwa ausscheidende Partner sich abzumelden haben und Änderungswünsche anzumelden sind; sie informiert dann die übrigen Regierungen. Es ist also keine bloße Ideologie, daß das weltweite Herrschaftsinteresse der USA als „Systemfrage“ zu einem supranationalen Anliegen geworden wäre; der NATO-Vertrag gibt Zeugnis davon, daß die wichtigsten kapitalistischen Staaten Europas tatsächlich gewillt sind, die aus diesem Herrschaftsinteresse hervorgehende Frontstellung gegen den „Ostblock“ als ihre außenpolitische Geschäftsgrundlage anzuerkennen und damit den „freien Westen“ als umfassenden imperialistischen Zusammenschluß unter amerikanischer Führung aufzumachen.

Ganz zweifellos haben die NATO-Partner ihren Bündnisvertrag nach Geist und Buchstaben mit regem politischen und militärischen Leben erfüllt; und dabei können die USA sich bis heute auf die prinzipielle Anerkennung ihrer – höflich so genannten – „Führungsrolle“ durch die europäischen Partner fest verlassen. Wenn kapitalistische Demokratien mit beträchtlicher Macht in dieser Weise ihre nationale Souveränität am Willen der USA zur Weltherrschaft relativieren, so liegt der fortdauernde Grund dafür natürlich nicht in dem bloßen Führungswillen der USA. Der letzte Grund für die Festigkeit des Bündnisses besteht in der ganz fraglosen, auf eine ganz unverhältnismäßig überlegene Militärmacht gegründeten Fähigkeit der USA, jedem Staat, der gegen die von ihnen inszenierte „freie Welt“ und deren politische und ökonomische „Weltordnung“ außenpolitisch sein Glück machen, also in der Benutzung anderer Staaten ökonomische und politische Erfolge erzielen wollte, den Erfolg unmöglich und das Überleben außerordentlich schwer zu machen. Einzig die Sowjetunion ist – oder: war bislang – in der Lage, gegen die von den USA kontrollierte Welt zu überleben, mit Vietnam und Kuba sogar kleine und teuer bezahlte Einbrüche in die herrschende Ordnung der Staatenwelt zu vollbringen und diplomatisch über die formelle Duldung hinaus manche wenig lohnende, hauptsächlich ideologische Punktsiege zu erringen. Und auch das konnte sie nur, weil sie der politischen Erpressung mit der nuklearstrategischen Militärmacht der USA dank eigener Atomwaffen eine Gegendrohung entgegenzusetzen vermochte und vermag, die im Prinzip gleichwertig, jedenfalls nicht nach den Maßstäben der bisher von den USA gewonnenen Kriege kalkulierbar ist. In ihrer uneingeschränkten, prinzipiellen Form: als politische Erpressung mit dem militärischen Gewaltapparat der Nation, der eben nicht erst im Krieg seine angemessene Verwendung findet, sondern als unabdingbares Mittel glaubwürdiger Drohung auch in Friedenszeiten permanent im politischen Einsatz ist, – in dieser nackten Grundsätzlichkeit findet imperialistische Politik seit dem 2. Weltkrieg eben nurmehr statt zwischen „West“ und „Ost“ – oder am entgegengesetzten Extrem der Staatenwelt: im Verhältnis der kapitalistischen Demokratien zu Ländern, die zu arm bzw. deren Regierungen zu „unvernünftig“ sind, um ökonomischem Druck zugänglich zu sein, sowie zwischen unwichtigen Ländern, deren autonome Streitigkeiten die Weltmächte dulden oder aber für die Bereinigung untergeordneter Nebenprobleme der Weltordnung ausnutzen.

Damit ist auch schon der ganze Grund dafür genannt, daß diese letzte Erpressung zwischen den kapitalistischen Demokratien des Westens nicht stattfindet und ihre Unterwerfung unter die amerikanische „Führung“ keine Unterwerfung, sondern ein freiwilliges Militärbündnis ist: Keine westliche Nation ist zu militärischer Konkurrenz mit den USA fähig; deswegen ist umgekehrt das Mitmachen bei der imperialistischen Ostpolitik der USA ihre Chance, weltpolitisch dennoch eine Rolle zu spielen. Vom Standpunkt der USA aus handelt es sich beim NATO-Bündnis also gewissermaßen um ein „Angebot“ an die hoffnungslos schwächeren imperialistischen Konkurrenten, sich an der Ordnung und Benutzung der Welt eigennützig beteiligen zu dürfen, sofern sie das unter dem obersten Gesichtspunkt der strategischen Niederhaltung des feindlichen Systems tun und hierfür ihre geringerwertige, aber doch beträchtliche Macht der amerikanischen beigesellen; an diesem „Konsens“ sind dann auch die USA gewillt, ihre Benutzung und Beschränkung der kapitalistischen Partner zu relativieren. Diese finden ihrerseits den Willen der USA, dem sowjetischen Gegner seine Überlebensbedingungen international so hart wie nur möglich zu machen, nicht als bloße diplomatische Geste, sondern als eine durch ein ungeheuerliches Atomwaffenpotential substanziierte prinzipielle Feindschaftserklärung vor, die sogar solchen diplomatischen Gesten wie einem Olympiaboykott politisches Gewicht verleiht. Sie finden diese amerikanische Drohung vor als eine in dem Sinne absolute und ausschließende, daß dahinter jede denkbare Kriegsdrohung an kapitalistische Konkurrenten zurücksteht, von diesen dafür aber auch die eindeutige Entscheidung verlangt ist, sich hinter die grundsätzliche Weltkriegsdrohung der USA gegen die Sowjetunion zu stellen. Durch die atomar hochgerüstete Feindschaft der USA gegen die Sowjetunion und deren Anstrengungen, militärisch in gleicher Weise Paroli bieten zu können, ist die Welt ganz praktisch so wirksam sortiert, daß für eine aktiv in die Weltpolitik eingreifende Macht zwischen Ost und West kein Platz ist. Der in der NATO-Präambel angestellte „Systemvergleich“ hat überhaupt nichts Theoretisches an sich, sondern besitzt die unverrückbare Realität von einigen zehntausend Atomraketen und ‑sprengköpfen und ist deswegen tatsächlich vor allem nationalen Sonderinteresse der Inhalt heutiger Weltpolitik und der Gegenstand von Weltkrieg und Weltfrieden. Deswegen ist die den kapitalistischen Staaten zugemutete Entscheidung, beim „freien Westen“ mitzumachen, keine Erpressung, der sie sich beugen, sondern die sachgerechte Verlaufsform ihrer imperialistischen Ambitionen. Und in dem Maße, wie sie sich mit diesem Entschluß einer auf die Macht der USA berechneten, ihre eigenen militärischen Kapazitäten also weit übersteigenden Gegendrohung der Sowjetunion mit aussetzen, wird ihnen weder die „Realitätsgerechtigkeit“ ihrer Bündnistreue verdächtig noch erst recht ihr imperialistischer Egoismus, sondern der Urheber des Ost-West-Gegensatzes als Schutzmacht unentbehrlich:

„Nur die auf ein gewaltiges Industriepotential und den Besitz der Atomwaffe gegründete Macht Amerikas konnte das überwältigende Mißverhältnis der Kräfte ausgleichen.“ (NATO-Handbuch 1961)

2. Die Umorientierung der von den USA als NATO-Partner ausersehenen europäischen Mächte auf den Ost-West-Gegensatz als die neue Geschäftsgrundlage ihrer nationalen Souveränität war nach dem Ende des 2. Weltkriegs erst einmal von den USA gegen Alliierte und Besiegte durchzusetzen; und nichts zeigt deutlicher, wie durchgreifend die USA die imperialistische Ordnung der Welt mit der Gründung der NATO revolutioniert haben, als die Geschichte dieser Umstellung.

– Für die alten konkurrierenden kapitalistischen „Weltmächte“ Frankreich und Großbritannien bedeutete der Ost-West-Gegensatz das Ende ihrer Kolonialreiche, ihr Bündnis mit den USA den Versuch, daraus politisch noch das Beste zu machen. Mit ihrer Bündnistreue zum amerikanischen Alliierten, der ihnen nicht nur mit Kriegskrediten und militärischer Macht zum Sieg verholfen hatte, sondern anschließend mit seinem Wiederaufbauprogramm den fälligen Staatsbankrott abwendete und ein kapitalistisches Wirtschafsleben in Gang hielt bzw. wieder in Gang brachte, mit ihrer ebenso erzwungenen wie eigennützigen Bündnistreue also zu den USA auch im neuen „Kalten Krieg“ gegen die Sowjetunion handelten die beiden überlebenden Kolonialmächte sich auf der einen Seite die Gegnerschaft der Sowjetunion auch in der Form einer weltweiten sowjetischen Unterstützung für aufständische „nationale Befreiungsbewegungen“ in ihren Kolonien ein. Auf der anderen Seite waren die USA zwar zur Hilfe für ihre europäischen Verbündeten auch in deren Kolonialhändeln bereit, aber durchaus nicht in der Form einer umstandslosen Rettung der kolonialen Besitzungen. Unter den Bedingungen einer prinzipiellen, jedem nationalen Egoismus vorausgesetzten Kooperation aller kapitalistischen Demokratien mit den USA, wie insbesondere im NATO-Vertrag explizit niedergelegt, und gemessen an dem darauf begründeten neuen Typ imperialistischer Weltordnung, wie die USA sie in Form des GATT und des IMF in die Wege geleitet hatten (vgl. Resultate 5, Imperialismus 2: Die USA – Weltmacht Nr. 1, S. 34 ff.), war die Abwicklung von Weltherrschaft in Form des Kolonialismus „historisch überholt“; denn Kolonialismus bedeutet ja die Ausdehnung der nationalen Souveränität des Mutterlandes auf ihren auswärtigen Landbesitz und damit den Ausschluß konkurrierender kapitalistischer Souveräne von der politischen und ökonomischen Benutzung dieser Weltgegenden. Die zur Behauptung ihrer weltweiten Machtansprüche unbedingt erforderliche finanzielle und militärische Unterstützung durch die USA war für die beiden wesentlichen europäischen Kolonialmächte – und für Belgien mit seinem Kongogebiet war dies später ebensowenig anders wie für Portugal mit seinem überseeischen Reich – also nur zu haben um den Preis der Entlassung ihrer Kolonien in eine sorgfältig überwachte nationale Unabhängigkeit. Der exemplarische Entscheidungsfall, in dem der sowjetische Antikolonialismus und der zitierte Artikel 8 des NATO-Vertrages regelrecht zusammenwirkten gegen den letzten Versuch von Frankreich und Großbritannien, in einer gemeinsamen Militäroperation an den USA vorbei in ihrer alten kolonialen Machtsphäre ihre Interessen durchzusetzen, war die sog. „Suezkrise“ 1956: Unter dem Druck der USA und der Sowjetunion mußten die beiden Großmächte ihre gemeinsam mit Israel unternommene Aktion gegen Ägypten anläßlich der Nationalisierung des Suezkanals abbrechen. Die vierte französische Republik, die ihre weltpolitischen Ambitionen nicht so problemlos wie Großbritannien mit seinen angelsächsischen „Sonderbeziehungen“ zur westlichen Führungsmacht bei dieser gut aufgehoben fand, ging in der Folge über ihrem durch keinen Bündnispartner unterstützten Versuch zugrunde, sich Algerien als letztes bedeutendes „Übersee-Departement“ zu erhalten.

Dafür, daß die neu konstituierten nationalen Souveräne auf dem Boden des früheren europäischen Kolonialbesitzes sich ihrerseits über den Ost-West-Gegensatz als ihre bleibende Existenzgrundlage und über die ihnen darin abverlangte Parteinahme im klaren waren, Selbständigkeit für sie also nur um den Preis prinzipieller Botmäßigkeit für politische und ökonomische Interessen des Westens und Unzugänglichkeit für sowjetische Weltmachtambitionen zu haben war, anderenfalls auch ihnen das Überleben schwergemacht wurde, dafür sorgten die USA allerdings sehr konsequent. Der Entscheidungskampf in dieser Frage wurde in Indochina ausgefochten. Nach der von den USA zugelassenen Niederlage der französischen Kolonialmacht hat die Weltmacht Nr. 1 am aufständischen vietnamesischen Volk und seinen Nachbarn das Exempel dafür statuiert, wie die Einrichtung souveräner Nachfolger der europäischen Kolonialverwaltungen gemeint war und wie auf alle Fälle nicht. Das Exempel hat seine Wirkung getan: die Liquidierung der Kolonialreiche in Asien und vor allem in Afrika hielt sich trotz aller damit verbundenen „Wirren“ in dem von den USA gesteckten Rahmen, und von „Einbrüchen“ zugunsten der Sowjetunion kann per Saldo nur in Indochina die Rede sein – ein „Erfolg“, den die USA mit ihrem frei entschiedenen Rückzug aus Südvietnam zugelassen haben, als die Neuordnung der Welt so gut wie gelaufen war und mit dem endgültigen Frontwechsel der VR China der Preis für die Sowjetunion feststand (vgl. Resultate: Imperialismus 2. Die USA – Weltmacht Nr. 1, S. 71 ff.).

In Europa unternahm in den 60er Jahren De Gaulles neue fünfte Republik nach dem Abschied vom Kolonialismus den Versuch, mit einer nationalen Atomwaffe und einer politischen Führungsrolle innerhalb einer kontinentalen EWG sich die militärischen und ökonomischen Voraussetzungen für eine erneuerte souveräne Rolle in der Weltpolitik zu verschaffen. Diese neue Politik Frankreichs zeugte immerhin von einer klareren Kenntnis der imperialistischen Nachkriegswahrheit, daß eine Nation schon in der Lage sein müßte, sich mit den USA und der Sowjetunion militärisch zu messen, um eine von deren Gegensatz unabhängige Weltpolitik zu betreiben. Eben dieser Wahrheit Rechnung tragend, hat Frankreich allerdings auch mit seinem bedingten Ausscheiden aus der NATO seine prinzipielle Zugehörigkeit zum westlichen Bündnis nicht aufgekündigt, sondern ist ihm im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft und spezieller Vereinbarungen mit dem wichtigsten kontinentaleuropäischen NATO-Staat, der BRD, engstens verbunden geblieben. Die diplomatische Betonung einer nationalen Sonderrolle Frankreichs hat dem Westen zwar zahlreiche „Reibereien“ und „Verstimmungen“ eingetragen, dabei aber zwei nicht zu unterschätzende Vorteile eingebracht. Zum einen gestaltet sich seither dank der bedingten französischen Eigenständigkeit in der Außenpolitik, die sich sogar manchen Anti-Amerikanismus gestattet, der politische Zugriff des demokratisch-kapitalistischen Westens auf die von ihm eingerichteten bzw. zugelassenen Souveräne arbeitsteilig und flexibel; und entsprechend perfekt gelingt die Fernhaltung der Sowjetunion aus allen Regionen außerhalb ihres „Blocks“ und damit die Verwirklichung eben des wichtigsten Ziels der weltweiten „Verteidigungsstrategie“ der NATO – so perfekt, daß über diesen Erfolg und den sowjetischen Mißerfolg in NATO-Kreisen heute so geredet wird:

„Die Sowjetunion ist ein größeres weltweites Engagement eingegangen, das, und zwar besonders in Afrika, auch eine Eigendynamik entwickeln dürfte. Da die Unternehmungen weit vom Heimatland und dem eigenen Hegemonialraum ohne eine gesicherte und leistungsfähige strategische Basis durchgeführt werden, haben sie den Charakter riskanten Abenteurertums. Sie werden sich zunehmend als kräftebindend und ‑zehrend erweisen, da fast ausnahmslos alle sowjetfreundlichen Länder Notstandsgebiete ohne besondere Leistungsfähigkeit für die Unterhaltung von modernen Streitkräften sind.“ (G. Poser, Die NATO, München 1979, S. 47 – Hervorhebungen im Original!)

Zum anderen gewinnt auf der Grundlage einer relativen diplomatischen Eigenständigkeit Frankreichs die Einigkeit des Westens gegen die Sowjetunion, wo immer sie nunmehr aus gegebenem Anlaß hergestellt und demonstriert wird – nach dem Einmarsch in die CSSR 1968, zu den KSZE-Tagungen, nach der Besetzung Afghanistans und, alles Vorherige weit überbietend, vor einer möglichen Aktion des Ostblocks gegen Polen –, eben weil sie jeweils hergestellt wird, an politischer Wucht. Und das um so mehr, je mehr Hoffnungen die Sowjetunion auf eine strategische Uneinigkeit zwischen den westlichen Partnern des Imperialismus gesetzt hat.

– Für das besiegte deutsche Reich bedeutete der freie Entschluß der USA, die Welt gemäß ihrer prinzipiellen Gegnerschaft gegen die Sowjetunion durchzuorganisieren, den Wiederaufbau als kapitalistisch-demokratischer Teilstaat im Gebiet der westlichen Besatzungszonen mit einer in die NATO integrierten nationalen Armee. Anstelle des von Roosevelt vor Kriegsende immerhin ernsthaft erwogenen „Morgenthau-Plans“ zur vollständigen Auflösung der deutschen Nation, der Internationalisierung aller ökonomisch interessanten Regionen und der Rückstufung aller übrigen zu einem bloßen Bauernland verfolgten die USA nach Kriegsende das Projekt, Deutschland bzw. den von den Westalliierten besetzten Teil davon zu einem selbständigen Partner aufzubauen, der willens und in der Lage sein sollte, dem westlichen Bündnis eine bedeutende zusätzliche Macht zuzuführen; und zwar ökonomisch durch die Aufnahme dieses Gebiets in das „European Recovery Program“ und die damit logischerweise verknüpfte Währungsreform als Neubeginn einer nationalen Kapitalakkumulation, politisch durch die Restaurierung einer zunächst beschränkten Souveränität im Rahmen des westlichen Bündnisses, militärisch durch die Rekrutierung der größten nichtamerikanischen Bündnisarmee im zentraleuropäischen Mittelabschnitt der Grenzlinie gegen den „Ostblock“. Dieses amerikanische Projekt mußte allerdings erst gegen gewisse Widerstände in Deutschland wie seitens der europäischen Alliierten, insbesondere Frankreichs, durchgesetzt werden.

Entgegen der Logik des Ost-West-Gegensatzes hielten die Regierungen der vierten französischen Republik an einer Politik fest, die das besiegte Reich nach wie vor als bedrohlichsten Gegner definierte und beispielsweise noch im März 1947 den Abschluß des „Bündnisses von Dünkirchen“ mit Großbritannien gegen eine mögliche Aggression Deutschlands für nötig befand. Angestrebt wurde eine ökonomische Schwächung Deutschlands durch Reparationen, die Angliederung des Saarlands an Frankreich und die dauerhafte Beibehaltung alliierter Hoheits- und Benutzungsrechte über das Ruhrgebiet, eine enge und dauerhafte wirtschaftspolitische Kontrolle über das westliche Reichsgebiet bzw. die BRD in Form von supranationalen Behörden für zentrale Wirtschaftsbereiche sowie eine lückenlose militärpolitische Aufsicht durch den Aufbau eines deutschen Heeres, das bis hinunter auf die Ebene der kleinsten selbständigen Einheiten vollständig in eine kontinentaleuropäische Armee unter französischer Führung integriert sein sollte. Durchsetzen konnte Frankreich diese Politik allerdings nur insoweit, wie sie mit den amerikanischen Plänen vereinbar war – also ohne die wesentlichen Maßnahmen zur Schwächung des neuen westdeutschen Teilstaats; die „Europäische Verteidigungsgemeinschaft“ scheiterte im französischen Parlament selbst an den eben deswegen gewachsenen Bedenken, in einer integrierten kontinentaleuropäischen Streitmacht nicht mehr eindeutig eine französische Führungsposition behaupten und nationale Interessen Frankreichs durchsetzen zu können. Wiederum war es De Gaulle, der das für die vierte Republik maßgebliche Ideal der französischen Deutschlandpolitik, die Benutzung Westdeutschlands von der Position des Siegers gegen den unterlegenen Feind aus zu organisieren, aufgab. Sein Projekt eines kontinentaleuropäischen Gegengewichts gegen die angelsächsische Vorherrschaft im Bündnis bezog sich auf die BRD als das, was sie inzwischen geworden war: einen mit den europäischen Siegermächten inzwischen prinzipiell gleichberechtigten, ihnen ökonomisch wieder ebenbürtigen NATO-Partner.

Den Weg hin zu diesem Ergebnis haben die westdeutschen Nachkriegsregierungen sehr zielstrebig und ohne Umschweife verfolgt: Mit seiner westdeutschnationalen Berechnung, der NATO die BRD als ökonomische und politische Verstärkung und militärischen Eckpfeiler anzudienen, um den Preis eines Staatsvertrags, der der BRD die Souveränität zurückgab und ihr damit die eigenständige Teilnahme am amerikanischen Imperialismus eröffnete, lag Adenauer exakt auf der Linie der amerikanischen Politik des Ost-West-Gegensatzes. Der gesamtdeutschnationale Widerstand gegen die „Westintegration“ und die damit von Anfang an verknüpfte Wiederbewaffnung ließ sich stets innenpolitisch bereinigen, weil die gefügigere Seite die nötigen Wahlsiege erzielte. BRD-innenpolitisch von Bedeutung war dabei die eindeutige Entscheidung der Schuldfrage in Sachen Spaltung der Nation zugunsten des Westens bereits vor der offiziellen Gründung der BRD: Zwar war die Entscheidung für die Errichtung eines westdeutschen Teilstaates mit der Währungsreform 1948 bereits von westlicher Seite definitiv gefallen; der Versuch der Sowjetunion, mit dem Epressungsmanöver der Blockade Westberlins das ihr vertraglich zustehende Mitspracherecht über ganz Deutschland zu wahren, und die sehr souveräne Entscheidung der USA, diesen Erpressungsakt durch eine Luftbrücke abzuschmettem, machte aber die Vorstellung von der Sowjetunion als Gegner und von den USA als Schutzmacht sowie von der Möglichkeit, „die Russen“ durch eine „Politik der Stärke“ zur Preisgabe ihrer „Besatzungszone“ zwingen zu können, so populär, daß jegliche nationalistische Kritik an der Teilung der Nation sich nicht gegen die Adenauersche und amerikanische Politik richtete, sondern sogar zu deren Gunsten gegen den neuen weltpolitischen Hauptfeind ausschlug. Seither führt sich die BRD, die – in immerhin bemerkenswertem Unterschied zur DDR – ihren Anspruch, ganz Deutschland zu vertreten und „wiedervereinigen“ zu wollen, gleich als unaufgebbare nationale Pflicht in ihr Grundgesetz hineingeschrieben hat, als die wichtigste europäische Garantiemacht dafür auf, daß der NATO-„Verteidigungsauftrag“ sich nicht etwa auf die Sicherung des „Eisernen Vorhangs“ von Westen her beschränkt. Mit ihren nationalen Ansprüchen gegen den Osten war die BRD von Anfang an das Symbol und der politische Vorkämpfer für die imperialistische Wahrheit der NATO: als Verteidigungsallianz auf die militärischen Risiken berechnet zu sein, die dem Westen aus seinem Vorhaben erwachsen, der Sowjetunion jegliche Betätigung als Weltmacht zu verwehren und folglich auch die relative Weltmachtstellung zu untergraben, die sie sich nach dem 2. Weltkrieg in Osteuropa erobert hat. (Schließlich kalkuliert die NATO nicht nur für den „Verteidigungsfall“ seit jeher und heute wie immer ganz offiziell mit dem „Abfall der Bündnisarmeen“, sondern setzt auch politisch nach wie vor auf wachsende, von den NATO-Partnern zu steigernde Schwierigkeiten der sowjetischen Herrschaft, sich im eigenen Land, vor allem aber über ihre „Satellitenstaaten“ zu behaupten!)

Die in der NATO seit jeher gepflegte Ideologie von der furchterregenden Überlegenheit und der unbedingten Angriffslust der Roten Armee – die sich schon daran blamiert, daß, wenn sie stimmen würde, die Russen schon längst zum Rhein oder Kanal hätten vormarschieren müssen – gibt eben nur einen Sinn, wenn man die Sowjetunion an dem hohen Ziel der „Wiedervereinigung“ Deutschlands, Europas und damit letztendlich der ganzen Welt im Zeichen der NATO-Ideale mißt, die von ihr ausgehende „Bedrohung“ also von dem offensiven Zweck des Westens her beurteilt, der sich im offiziellen NATO-Jargon folgendermaßen anhört:

„Wir sind zutiefst davon überzeugt, daß das Bündnis bestehen bleiben wird, solange die Notwendigkeit gegeben ist, sich vor der militärischen Macht des Ostens zu schützen und Lösungen für die noch offenen (!) poütischen Probleme in Europa zu finden und zu garantieren.“ (NATO-Generalsekretär Brosio zu Zeiten allseitiger „Entspannungsbemühungen“ 1969)

3. Seit drei Jahrzehnten bewähren die europäischen NATO-Partner sich militärisch und politisch wie geplant als die auf der Grundlage eigener beträchtlicher Machtmittel agierende atlantische „Gegenküste“ am strategisch entscheidenden westlichen Rand der sowjetischen „Kontinentalmacht“.

– Im Jahrzehnt des „Kalten Krieges“ haben sie sich die amerikanische „Containment“-Politik der erklärten universalen Gegnerschaft gegen alle sowjetischen „Umtriebe“ zueigen gemacht. Die westeuropäischen Siegermächte haben sich dafür die schrittweise Gleichstellung mit dem „Rechtsnachfolger des deutschen Reiches“ gefallen lassen. Die BRD ihrerseits hat (nach der Melodie „Wes’ Brot ich eß, des’ Lied ich sing“) aus der Hinnahme der deutschen Spaltung mit der „Hallstein-Doktrin“ sogar noch ihre weltweite Sonderoffensive gegen die politische Stabilisierung der DDR und damit des „Ostblocks“ gemacht.

Sehr zurückhaltend haben die NATO-Staaten sich sodann zunächst auf die von Chruschtschow als neue sowjetische Weltpolitik verkündete Bereitschaft ihres Hauptfeindes eingelassen, den „Wettstreit der Systeme“ in „friedlicher Koexistenz“ abzuwickeln, sich dafür den Modalitäten und Verkehrsformen imperialistisch-diplomatischer Benutzung und Erpressung anderer Staaten anzubequemen und damit auch das eigene Land entsprechenden Offensiven des Westens zu öffnen. In der „Ära der Entspannung“ haben sie diese Umorientierung der Sowjetunion, die im Vergleich zur vorher praktizierten Politik des Gegensatzes und der Abschirmung gegen den Imperialismus schon einer halben Kapitulation gleichkam, alsdann um so zielstrebiger ausgenutzt, bis hin zum erfolgreichen Abschluß der ersten „Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (KSZE) 1973 in Helsinki, mit der die Sowjetunion sich endgültig gegen die fortdauernde diplomatische Infragestellung der Integrität ihrer Machtsphäre sichern wollte. Der Erfolg des Westens ist schlüssig zusammengefaßt und niedergelegt in der berühmten „Schlußakte“, in der die Sowjetunion und ihre Partnerstaaten sich zur ökonomischen Benutzung durch den Westen (und des Westens – vgl. den Artikel über „Osthandel“) bereiterklärten und mit den „Menschenrechten“ die ideologische Fassung genau jener Prinzipien bürgerlicher Herrschaft als auch für sich verbindlich anerkannten, für deren weltweite Behauptung und Durchsetzung gegen den sowjetischen Machtbereich kaum zweieinhalb Jahrzehnte zuvor die NATO gegründet worden war. Im Westen war dieser Erfolg umstritten, weil die friedlichen NATO-Länder dafür mit einer expliziten Anerkennung der bestehenden Staatsgrenzen innerhalb Europas „bezahlen“, also von der diplomatischen Form abrücken mußten, in der sie bis dahin ihren Anspruch auf die „Wiedervereinigung Deutschlands und Europas“ geltend gemacht hatten. Die Unzufriedenheit des Westens zeigt nur allzu deutlich, aus welcher Position der Stärke heraus die kapitalistischen Demokratien da bereits verhandeln konnten. Folgerichtig brachte gerade der diplomatische Erfolg im politischen Kräftemessen bei der KSZE die NATO-Partner zu der Überzeugung, sie wären bislang und auch noch auf dieser Konferenz viel zu zurückhaltend aufgetreten.

Entsprechend konsequent und penetrant haben sie in der Folgezeit jede Gelegenheit genutzt, der Sowjetunion kritisch den von ihr selbst anerkannten Maßstab der „Menschenrechte“ vorzuhalten – und zwar weder aus Menschenfreundlichkeit noch aus abstrakter Prinzipientreue noch auch bloß um des propagandistischen Effekts willen. Mit der Mahnung zum Respekt vor liberalen Herrschaftsprinzipien haben die kapitalistischen Demokratien vor allem fortwährend ihre prinzipielle Zuständigkeit für das politische Leben auch innerhalb des Machtbereichs des Hauptfeindes angemeldet und so aus der diplomatischen Unterwerfung der Sowjetunion unter den prinzipiellen Gegenstand der NATO-Verteidigung die auf der Hand liegende imperialistische Schlußfolgerung gezogen. Das westliche Bekenntnis zum Respekt vor bestehenden Grenzen bleibt daneben ebenso unbeträchtlich wie der Protest der Sowjetunion gegen „propagandistische Einmischungsversuche“ des Westens. Diplomatisch wie auf dem Feld der Ökonomie hatte die Sowjetunion ja mit ihrer Unterschrift unter die „Schlußakte“ jedermann zur „Einmischung“ in ihre „inneren Angelegenheiten“ gemäß den Prinzipien kapitalistisch-demokratischer Herrschaft geradezu eingeladen; und der Westen ließ sich nicht lange bitten. Osthandel und Menschenrechtskampagne kamen nicht zufällig zur gleichen Zeit in Schwung.

Vorläufiger Höhepunkt dieser zielstrebigen imperialistischen Ausnutzung der sowjetischen „Entspannungspolitik“ ist die kaltschnäuzige Kompromißlosigkeit, mit der die „Führer der westlichen Welt“, und zwar nicht nur die amerikanischen Präsidenten Carter und Reagan, sondern in deren Gefolge auch die Hauptfiguren der in jeder Hinsicht weit stärker exponierten westeuropäischen Nationen die innere Krise Polens benutzen für den bis zur Kriegsdrohung reichenden Erpressungsakt gegen die Sowjetunion, ihnen quasi ein politisches Mitentscheidungsrecht über deren Beziehungen zu ihrem eigenen Warschauer-Pakt-Partner sowie über dessen innere Politik zuzugestehen. An der Härte der westlichen Drohung läßt sich ablesen, in was für eine gemütliche neue Phase das für die NATO konstitutive weltpolitische Nachkriegsprogramm der USA, die Sowjetunion politisch niederzuringen, ausgerechnet seit und infolge der großen west-östlichen „Versöhnungsfeier“ in Helsinki eingetreten ist!

– An den nötigen Maßnahmen zu einer dieser politischen Offensive sachgerecht entsprechenden militärischen Absicherung ihres solidarischen Imperialismus haben die NATO-Partner es weder in den Zeiten der „Entspannung“ noch erst recht seit deren Höhepunkt und Beendigung je fehlen lassen. „Sachgerecht“ ist dabei eine hochgesteckte militärische Zielsetzung, die im offiziellen Bündnisjargon so lautet:

„Die NATO hat für Sicherheit, Verteidigung und Strategie nur ein Konzept. Es heißt: Durch Geschlossenheit, Solidarität und Anstrengungen im Frieden eine so große militärische Verteidigungsbereitschaft und so überzeugende Strategie zu haben, daß die Sowjetunion mit den anderen WP-Staaten davor abgeschreckt wird, gegen das NATO-Gebiet Gewalt anzudrohen (!) oder anzuwenden. Das Risiko eines Angriffs muß für den WP größer gehalten werden als die wahrscheinlichen Vorteile einer Kriegshandlung. Er muß zur Überzeugung kommen, daß ein Krieg nicht lohnt. (Poser, a.a.O., S. 84; Hervorhebungen im Original!)

Was sich hier so quasi-geschäftsmäßig vorträgt, ist als militärisches Konzept wahrlich alles andere als bescheiden. Gerade das Militär kann sich bei seinen Planungen in einem Punkt doch keine Illusionen leisten: daß Krieg Zerstörung zum Zwecke der Behauptung der eigenen und der Brechung des fremden souveränen nationalen Willens ist und sich daher an allem anderen als an materiellen Vorteilen mißt. Für genau diesen Fall, wo der politischen Berechnung des Gegners der Übergang von einem positiven Nutzenkalkül zu dem Entschluß zu kriegerischer Selbstbehauptung unterstellt wird, diesem Gegner ein mit Sicherheit negatives Nutzenkalkül aufzumachen, heißt daher nichts geringeres als eine Kriegsplanung und ‑vorbereitung, die darauf ausgerichtet ist, der Sowjetunion glaubwürdig die militärische Vernichtung ihrer Souveränität anzudrohen. In bester amerikanischer Tradition – und lieblicher Umschreibung – hat die NATO sich militärisch auf das höchste denkbare Kriegsziel festgelegt: die bedingungslose Kapitulation des gegnerischen Blocks.

Dabei ist einerseits völlig klar, daß das maßstabsetzende und daher maßgebliche Erpressungsmittel des Westens für diesen Zweck die strategischen Atomwaffen der USA sind. Dieses „letzte“ Mittel allein hat jedoch den entscheidenden Nachteil, für die Vielfalt der politischen Manöver des Westens zur „Einmischung“ in Politik und Ökonomie des „Ostblocks“ zu undifferenziert zu sein. Politische Erpressungen, wie sie den alltäglichen Inhalt der Diplomatie ausmachen, also unterhalb der Schwelle zum direkten politisch-ökonomischen Großangriff auf die Weitmachtposition der Sowjetunion insgesamt, sind eben nur unter zwei Bedingungen so glaubwürdig, daß sie zuverlässig verfangen können: Das NATO-Bündnis muß in der Lage sein, seinem Gegner praktisch für jeden begrenzten politischen Zweck den dazu passenden begrenzten Krieg ernsthaft anzutragen – einschließlich der Freiheit, diesen stufenlos bis zur Kapitulation des Gegners zu eskalieren; und umgekehrt muß der Gegner sich darauf einlassen, darf sich also ebenfalls nicht damit begnügen, allen Ernstes der Abschreckungswirkung seiner „letzten Waffen“ zu vertrauen, sondern muß gewillt sein, jede erdenkliche begrenzte „Herausforderung“ entsprechend zu beantworten, also anzunehmen. Was die NATO betrifft, so hat sie mit dem „Wettrüsten“ auf allen Ebenen dieses militärische Programm zielstrebig in die Tat umgesetzt. Die permanente technologische Weiterentwicklung des amerikanischen Atomwaffenpotentials, insbesondere die Entwicklung atomarer „Gefechtsfeldwaffen“, ebenso wie die gesamte „konventionelle“ Rüstung der europäischen Partner sind ein einziger gigantischer Beweis dafür, wie extrem heute der Anspruch an das Militär ist, eine perfekte politische Handhabe zu sein. Um als solche tauglich zu sein, muß ein imperialistisches Militär heute der zuständigen Regierung die Möglichkeit eröffnen, den politischen Druck von der Drohung mit einem demonstrativen „Grenzzwischenfall“ bis zur Drohung mit einem über mehrere Stadien zu führenden totalen Atomkrieg stufenlos zu eskalieren; und diese politische Macht verschafft das Militär seiner Regierung nur, wenn es jederzeit bereit ist, die militärische Eskalation auch wirklich siegreich voranzutreiben. An ihrem Gegner stellen die Sprecher und Apologeten der NATO diese extreme Zweckbestimmung ihrer eigenen Aufrüstung im übrigen sehr klar und deutlich fest, wenn sie nämlich dem Warschauer Pakt dessen Bemühungen, sich für die unterschiedlichsten „Kriegsszenarios“ zu wappnen, regelmäßig als „Rüstung weit über das hinaus, was für Verteidigung und Abschreckung erforderlich ist“, zum Vorwurf machen und als Beleg für seine „offensive Absichten“ vorrechnen. Der darin enthaltene Widerspruch stört nicht weiter, da er ganz in den Bereich der ideologischen Sprachregelung fällt. Tatsächlich wäre für die NATO und ihre politischen Anliegen Richtung Osten nichts fataler als ein Gegner, der jeder Erpressung des Westens und jeder dahinterstehenden Kriegsdrohung stur und undifferenziert die Gegendrohung mit seinen atomaren Vernichtungswaffen entgegensetzen würde: das wäre ja wirklich bloß defensiv und würde die imperialistische Diplomatie in all ihrer Vielfalt zur Wirkungslosigkeit verurteilen.

In der traurigen weltpolitischen Wirklichkeit allerdings kann die NATO sich darauf verlassen – in solcher Eindeutigkeit auch dies eine Frucht der militärisch als „Wettrüsten“ ausgetragenen „Entspannungspolitik“, mit der die Sowjetunion sich eben konsequent und umfassend den internationalen Verkehrsformen des Imperialismus anbequemt hat! –, daß ihr Gegner „mitspielt“. Die Mannigfaltigkeit und Unberechenbarkeit ihrer militärischen „Optionen“ und ihre Freiheit, in jedem denkbaren Konfliktfall allemal noch mehr Alternativen als der Feind zur Auswahl zu haben, als strategisches Konzept verkündet unter dem schönfärberischen und doch recht eindeutigen Obertitel der „flexible response“, wird von der Sowjetunion ganz im Sinne des Urhebers höchst differenziert gefürchtet, also als politisches Erpressungsmittel anerkannt. Dementsprechend hat die NATO ihre „Triade“: die Verfügung über strategische, taktische Atomwaffen und konventionelle Rüstung je für sich und in beliebiger, beliebig dosierbarer Kombination, zielstrebig in jeder Hinsicht ausgebaut. Vor allem die deutsche Bundeswehr ist in den letzten anderthalb Jahrzehnten zur stärksten und schlagkräftigsten „konventionellen“ Armee der Welt hinter der Roten Armee und der US-Army hochgerüstet worden. Mit ihren abgelegten Waffengenerationen und dicken Finanzspritzen hält die BRD überdies die Südostflanke des NATO-Bündnisses intakt. Und über ihre Sonderabkommen mit Frankreich besitzt sie als vorderster Frontstaat des Bündnisses für den Ernstfall eine gewisse militärische Rückendeckung durch die französische Wehrmacht einschließlich deren atomarer Waffen trotz des bedingten Rückzugs Frankreichs aus der NATO; daß die „Force de Frappe“ in die rüstungskontrollpolitische Aufrechnung östlicher gegen westliche Atomwaffenpotentiale nicht ohne weiteres mit eingeht, ohne deswegen für die militärische Substanziierung politischer Drohungen des Westens einfach wegzufallen, ist einer der Vorteile, die sich Frankreichs Distanzierung zur NATO im Nachhinein für die Sache des Westens wieder abgewinnen lassen.

Alle westeuropäische Rüstung hebt natürlich den Widerspruch nicht auf, daß die Verwirklichung des Kampfauftrags der Bundeswehr wie überhaupt jeder Variante der in der Strategie der „flexible response“ vorgesehenen begrenzten Kriegsführung auf alle Fälle Europa weitgehend zerstören und mit großer Sicherheit die BRD atomarer Vernichtung aussetzen würde. Die Einrichtung des militärischen Potentials einer Nation konsequent gemäß dem politischen Zweck, einem atomar gerüsteten Gegner die Eröffnung eines Krieges auf minderem „Niveau“ glaubwürdig antragen zu können, bedeutet eben notwendigerweise eine Kalkulation mit der Existenz des betroffenen Volkes und sogar dem Bestand der Nation selbst, die grundsätzlich und qualitativ noch weit über den „totalen Krieg“ der älteren, „konventionellen“ Machart hinausgeht, in dem Volk und Nation von der militärischen Macht erst einmal unterschieden waren. Die Konsequenz daraus ist jedoch immer wieder dieselbe: die Radikalisierung des Konzepts, die strategische Atommacht der USA zum „Schutzschirm“ für Europa und die auch atomar gerüsteten Streitkräfte des Bündnisses in Europa zum „Schutzschirm“ für die USA zu machen. Speziell die BRD hat aus dem militärischen Zweck und den entsprechenden Strategien der NATO für sich seit jeher den nationalen Auftrag abgeleitet, alles zu tun, um innerhalb des Bündnisses gleichwohl nicht auf die Rolle des vorgeschobenen Pufferstaats und „strategischen Raumes“ für Feldzüge aller Art festgelegt zu bleiben, für die sie vorgesehen ist. Die gegebene „Lösung“ heißt: gemeinsam mit den Streitkräften der Partner den Kriegsschauplatz im Ernstfall gleich entschieden nach vorne verlegen – daher der Name „Vorwärts“- bzw. in diplomatischerer Fassung „Vorneverteidigung“. Um die Partner von diesem Konzept zu überzeugen, muß selbstverständlich erst einmal die BRD von sich aus dessen Erfolg hinreichend wahrscheinlich machen, und glänzt daher im Bündnis mit der Bereitstellung „wertvoller Optionen“ für die konventionelle und taktisch-atomare Kriegsführung – und nicht nur für die. In dem Bemühen, sich für das Bündnis in jeder Situation unverzichtbar zu machen, also auch das militärische Schicksal ihrer Verbündeten an die Rettung des eigenen nationalen Bestandes zu knüpfen, ist die BRD zum Vorkämpfer sämtlicher amerikanischen Unternehmungen geworden, Europa zu einer Bastion auszubauen, die im Idealfall des Ernstfalls die militärische Erledigung des Ostblocks abwickeln könnte. Das bislang extremste Beispiel für diese Interessensharmonie ist der einvernehmliche NATO-Beschluß vom Herbst 1979 über die Ausstattung Westeuropas mit amerikanischen Mittelstrecken-Atomraketen. Von den USA wird diese „Nachrüstung“ vorangetrieben im Interesse der strategisch höchst interessanten Möglichkeit, von Europa aus, unter Schonung der in den USA selbst stationierten strategischen Atomwaffen und überhaupt noch unterhalb der Schwelle des endgültigen atomaren Schlagabtauschs, einen nuklearen Angriff auf die Sowjetunion führen zu können, der in seinen Wirkungen denen des „eigentlichen“ strategischen Arsenals nicht entscheidend nachsteht: eine von ihrem Standpunkt aus nicht zu unterschätzende zusätzliche Option. Die BRD – ähnlich ihre mit demselben Zeug beglückten Nachbarn –, die damit zum Adressaten einer um so massiveren sowjetischen Bedrohung wird („Abschreckung“ vom östlichen Standpunkt aus!), macht ihrerseits dem NATO-Gegner eine ganz eigene neue militärische Rechnung auf. Sie wägt das Vernichtungspotential der auf Westeuropa gerichteten sowjetischen Atomraketen gegen die von der NATO beschlossene sachgerecht verkleinerte Zweitausgabe des amerikanischen Atomwaffenarsenals ab und besteht sehr offensiv auf einem „Gleichgewicht“ in dieser Hinsicht – ganz so, als wäre die Sowjetunion im Atomkriegsfall quasi zweimal vorhanden, einmal als Gegner der US-strategischen, ein zweites Mal als Gegner der eurostrategischen Raketenstreitmacht; oder anders herum: als müßte der Atomkrieg gegen die Sowjetunion auch schon allein von europäischem Boden aus komplett durchgezogen werden können. Und nicht nur die USA, auch die Westeuropäer wollen sich dieses strategische Extra-„Gleichgewicht“ gegen ihren Hauptfeind nicht nehmen lassen; die Bundesregierung an der Spitze erklärt jedenfalls bereits den sowjetischen Vorschlag einer einstweiligen Stornierung der Mittelstreckenraketenrüstung auf beiden Seiten und gleichzeitiger Verzichtsverhandlungen nachdrücklich für einen ziemlich unverschämten Anschlag auf die einvernehmliche Entschlossenheit des Westens in dieser Sache.

Für die demokratische Öffentlichkeit firmiert das Ganze unter der alten NATO-Ideologie gemeinschaftlicher Kriegsverhinderung; und daß sie das Ideal verfolgen, die Sowjetunion friedlich, also mithilfe der „bloßen“ Drohung mit einer überlegenen Militärmacht, aus ihrer Weltmachtsposition „auszuhebeln“, das darf man den Führern des freien Westens schon glauben. Dafür – und nur für diesen Zweck! – muß der Krieg in jeder Form vorbereitet werden, und zwar unbedingt „glaubwürdig“. Das heißt aber alles andere, als daß damit das Ideal eines friedlichen Sieges über die Sowjetunion wirklich realisierbar würde; im Gegenteil. In dem Maße, wie die friedliche Erpressung der Weltmacht Nr. 2 durch immer perfektere und immer perfekter differenzierte Kriegsvorbereitungen der NATO weltpolitisch Wirkung zeigt, in dem Maße wird der Übergang zur praktischen Konkurrenz der Waffen für die Sowjetunion zur letzten „Option“ – und für die NATO zu einer naheliegenden.

Die „Europäische Gemeinschaft“ – Imperialistisches Wirtschaftsbündnis unter NATO-Patronat

Vom Standpunkt einer Wiederherstellung vergangener nationaler Größe – aber auch nur von diesem – muß den Führern der europäischen Nationen der mit dem Krieg besiegelte Aufstieg der USA wie eine Demütigung, als Vergehen an ihrer nationalen Souveränität erscheinen. Während der Versuche, nationale Sonderinteressen gegen die USA und ihre strategische wie wirtschaftliche Unterordnung der Staatenwelt zu behaupten, hat es auch an feindseligen antiamerikanischen Stimmen nicht gefehlt. Dennoch waren bereits diese Versuche vom Realismus geprägt, der die Staatenlenker unter Maßgabe klarer Machtverhältnisse allemal auszeichnet. Es galt, das Beste daraus zu machen.

Das Verbot, souverän mit dem nationalen Militär als außenpolitischem Mittel zu kalkulieren, war immerhin auch mit einem Angebot verbunden, das die USA ihren europäischen Partnern in Gestalt von wirtschaftlichen Mitteln überreichten. Mit den Krediten der amerikanischen Regierung und den Investitionen des amerikanischen Kapitals ließ sich nämlich ein flottes Geschäft aufziehen, für das die nationalen Grenzen von vornherein zu eng waren. Die USA selbst haben mit ihrem Kapitalexport die Produktion Europas internationalisiert, die dafür nötigen Zirkulationsbedingungen bereitgestellt und die Repräsentanten des nationalen Geschäfts praktisch darauf verwiesen, ihre Fortschritte gemeinschaftlich zu vollziehen. Mit ihrem friedlichen Internationalismus haben sie die Maßstäbe gesetzt, nach denen eine nationale Akkumulation im Nachkriegseuropa nur lohnend ist, wenn sie sich des Reichtums auch der anderen Staaten bedient, womit sie sich diesen auch wieder zur Verfügung stellt. Deshalb ist der Frieden der Konkurrenz bei den europäischen Nationen gleichbedeutend mit dem Anspruch auf Europa.

1. a) Die historische Leistung der EG, an die sich mit Vorliebe all die Ideologien über einen Weltmarkt knüpfen, auf dem zum Nutzen aller Nationen, Geschäftsleute und Verbraucher Güter nach dem Prinzip der Billigkeit ausgetauscht werden, besteht zunächst darin, den Standpunkt eines florierenden Handels kapitalistischer Warenproduzenten zur wechselseitigen Verpflichtung und wirtschaftspolitischen Kalkulationsgrundlage der beteiligten Nationen zu machen. Die im Innern der Mutterländer des Kapitalismus durch staatliche Gewalt gesicherte Freiheit des Kapitals, seine Produkte gewinnbringend zu verkaufen, um sich die Mittel seines Geschäfts möglichst kostengünstig zu verkaufen, und umgekehrt, wird durch den gemeinsamen Markt auch nach außen zum Ausgangspunkt und Imperativ der ökonomischen Beziehungen gemacht. Die Schaffung einer Zollunion, in der die verschiedenen nationalen Märkte für die nationalen Kapitale zu einem Handelsraum mit gemeinsamen Bedingungen zusammengefaßt werden, bedeutet nämlich mehr als den Abbau bzw. die Erleichterung der einen oder anderen Handelsbestimmung, mit der Staaten ausländischen Geschäftsleuten Kosten auferlegen oder Grenzen des Warenverkehrs festsetzen. Allerdings verhelfen hier nicht – wie Ökonomen das gerne sehen – Staaten bewußt der Vernunft des Freihandels zum Durchbruch, so daß sie die eigene Souveränität in Sachen Handel einsichtsvoll als hinderlich zurückstellen. Zwar haben die im Wiederaufbau befindlichen Nationen bemerkt, daß die nationalstaatlichen Handelskonditionen ein Hindernis darstellen, aber doch eines für den nationalen Wirtschaftsaufschwung, und eines, das nur deshalb die politische Verständigung erfordert, weil die ökonomische Stärke fehlt, um eine entwickelte heimische und auswärtige Akkumulation zum Erpressungsmittel zu machen, und weil die politische Freiheit beschnitten ist, Zölle, Kontingente, Devisenkontrollen usw. zum Schutz der Nationalökonomie einzusetzen. Denn vor jeder nationalen Entscheidung in Sachen Handel stand mit den amerikanischen Dollarkrediten und den dazugehörigen internationalen Handelsvereinbarungen eines fest: unabhängig von der Konkurrenzfähigkeit des eigenen Kapitals ist jedes Land amerikanische Anlagesphäre, und alle Anstrengungen, der nationalen Akkumulation die Schranken des eigenen Marktes und des auf ihm auftretenden zahlungsfähigen Bedürfnisses zu nehmen, also den Export zu fördern, treffen auf die Souveränität der Nachbarstaaten einerseits, die Präsenz und Stärke amerikanischen Kapitals auch auswärts andererseits. So macht sich für die Nationen, die über alle Voraussetzungen profitlicher Produktion, aber über zu wenig Kapital und beschränkte wirtschaftspolitische Möglichkeiten verfügen, die amerikanische Hilfe als Zwang geltend, ihre Geschäftswelt am Maßstab der ökonomischen Freiheit und Leistungsfähigkeit des amerikanischen Kapitals zu messen. Der auswärtige Handel und seine Konditionen hatten für die Konkurrenzfähigkeit der nationalen Reichtumsproduktion erst noch zu sorgen. Hier ging es nicht einfach um prinzipielle Erleichterungen des Kaufs und Verkaufs über die Grenzen hinweg, sondern um wirtschaftspolitischen Machtzuwachs und die Freiheit des Kapitals, die durch einen ‚gemeinsamen Markt‘ nach innen und außen zustandekommt. So erklärt sich die Einigkeit, den bindenden Verzicht auf eine protektionistische Handelspolitik gegeneinander nicht für einen Verlust, sondern für einen Gewinn an nationaler Souveränität anzusehen.

b) Der ökonomische Inhalt dieser Einigung auf einen nicht von vorneherein und umfassend national reglementierten Waren- und Zahlungsverkehr besteht in der Verpflichtung der Nationen auf den Vergleich der Kapitalproduktivitäten, welcher im Verkauf der Waren exekutiert wird – und zwar als Vergleich nationaler Kapitalproduktivität. Dieser findet ja überall statt, wo Geschäftsleute über die Grenzen miteinander verkehren, aber doch nur in der Form und in dem Maße, wie die politischen Gewalten ihn Zustandekommen lassen und wie sich deshalb überhaupt Handel zwischen ihnen entwickelt. Die EG-Staaten stellen sich mit der Errichtung einer Zollunion dagegen gleichsam methodisch zu ihrem Interesse an einem unbeschränkten Aufschwung des Außenhandels und erklären die nationalstaatlichen Bedingungen seines Zustandekommens für hinderlich. Der noch vor dem Ablauf der offiziell ausgehandelten Übergangszeit von 12 Jahren vollendete Zollabbau – der einzige Beschluß überhaupt, der in dieser Gemeinschaft ohne Verzögerung, unerledigte Streitereien und Quertreibereien durchgeführt worden ist – verweist auf den Vorteil, den alle Beteiligten aus diesem Prinzip ziehen. Die EG-Mitglieder reflektieren in den Gemeinschaftsregelungen bis in alle Feinheiten der Gestaltung dieses Handels den Grundsatz der Gleichheit der politökonomischen Voraussetzungen dieses ökonomischen Treibens, vor allen, aber beileibe nicht rücksichtslos gegen alle Wirkungen auf die Nationalökonomien und staalichen Umgangsweisen mit diesen Wirkungen.

Weil die staatliche Organisation der Wirtschaft und die Benutzung der heimischen Wirtschaftspotenzen für die Bedürfnisse ihrer Herrschaft Recht der Staaten ist und bleiben soll, wird die Wirkung auf die Konkurrenz zwischen den Lieblingsbürgern der verschiedenen Nationen in den Gemeinschaftsbestimmungen berücksichtigt. So tritt wegen der unterschiedlichen Mehrwertsteuersätze und nationalen Sonderpraktiken, die man nicht vereinheitlichen will – schließlich zählt die unterschiedliche Aufbringung der Staatsfinanzen zu den bevorzugt behüteten Hoheitsrechten und wirtschaftspolitischen Instrumenten einer kapitalistischen Nation –, an die Stelle der abgeschafften Zölle eine Steuerausgleichsabgabe. Dadurch sollen die unterschiedlichen Weisen der Partizipation der Herrschaft am Erfolg ihrer Wirtschaft, die in die Kosten- und Preiskalkulation der Unternehmen eingehen, also die unterschiedlichen politischen Kosten so kompensiert werden, daß jedes Warenkapital im jeweiligen Land denselben Konkurrenzbedingungen unterliegt. Daher erklären sich dann die Phänomene eines regen Grenzkontroll- und ‑kassierwesens, die von kritischen Beobachtern mit Vorliebe als Verstöße gegen den ,gemeinsamen Markt‘ entlarvt werden. Am Ideal eines übernationalen quasi-nationalen Marktes gemessen erscheinen solche gemeinsamen Grundsätze der nationalen Märkte folgerichtig als ‚gespaltener Markt“.

c) Erst recht blamieren sich vor diesem Ideal die jahrelangen und immer nur bedingt erfolgreichen Streitereien um handelspolitische Einigkeit in Fragen ‚Vereinheitlichung‘ von Steuern, Normen, Qualitätskontrollen, Warenbezeichnungen, usw. usw., welche die EG-Beamtenschaft und die nationalen Kommissionen auf Trab halten. Hier geht es schließlich darum, gerade auf Grundlage der Abschaffung von Zöllen und Kontingentierungen bei den nichttarifären Handelshemmnissen umso hartnäckiger die Möglichkeiten für die politische Unterstützung des nationalen Kapitals zu verteidigen und einzusetzen. Denn der Produktivitätsvergleich macht sich für jeden Staat unterscheidlich geltend, und zwar nicht nur nach den schon akkumulierten Mitteln des Kapitals und der Bereitschaft des Ausbeutungsmaterials, sich produktiv vernutzen zu lassen, sondern auch nach der ‚Struktur des Warenangebots‘, unterschiedlicher Gewichtung der Branchen, regionaler Verteilung der Industrie usw. Wenn schon für das einzelne Kapital bei der Realisierung des Profits alle möglichen Umstände die Gleichung Profit = gelungene Mehrwertproduktion vermitteln und die Durchsetzung der Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Reichtumsproduktion durch die Kalkulation mit diesen Geschäftsbedingungen passiert, so fällt der Geschäftserfolg einzelner Kapitale erst recht nicht mit dem der jeweiligen Nation zusammen, noch unterwirft diese sich bei der Beförderung ihrer ökonomischen Grundlage für die Zwecke der politischen Macht umstandslos den Kriterien partikularen geschäftlichen Ge- oder Mißlingens. Die handelspolitischen Überlegungen und Maßnahmen reichen vielmehr von der grundsätzlichen Entscheidung, wie und wieweit der Staat nationale Kapital zu schützen versucht, bis zur Beförderung oder Erhaltung ‚notleidender‘, aber für wichtig erachteter Branchen und Rücksichtslosigkeit gegen minder wichtige. In dem Maße, wie sich mit dem Aufschwung des Handels der Produktivitätsvergleich der nationalen Kapitale verallgemeinert, wachsen die Anstrengungen der politisch Verantwortlichen, sich dem Ergebnis nicht umstandslos zu beugen, bzw. es gar nicht erst Zustandekommen zu lassen. Das EG-Vertragswerk hat diese notwendige nationale Korrektur des gemeinsamen Prinzips in weiser Voraussicht über die Ergebnisse einer solchen zwischenstaatlichen Handelsfreiheit vorweggenommen und rechtlich definiert, was im Falle ökonomischer Schädigung eines Partners alles erlaubt ist. In Fällen der Gefährdung wichtiger Branchen oder Regionen, oder wenn der Importanteil über einen bestimmten Prozentsatz des Warenumsatzes hinausgeht, sind als ‚Ausnahme‘ alle möglichen Gegenmaßnahmen von Kontingentierungen, Subventionierungen bis zu Importabgaben gestattet. Zwischen gleichermaßen beschränkten Souveränen kommt eben ein freier Handel nur zustande, wenn sie sich zugleich darauf einigen, daß jeder ihn auch auszuhalten vermag – und das nicht durch erpresserische Hilfsaktionen für notleidende Handelspartner, sondern durch die Erlaubnis, Bedenken gegen die wachsende Abhängigkeit und ihre Folgen in Anschlag bringen zu dürfen, ohne damit gleich das ganze Einigungswerk in Frage zu stellen. Daß Freihandel und Protektionismus nur zwei Seiten derselben Medaille sind, diese politökonomische Wahrheit hat in der EG ihren Niederschlag darin gefunden, daß sie das eine für das andere institutionalisiert hat.

d) Die staatliche Besichtigung der durch den Handel entstehenden Vor- und Nachteile sorgt in der ‚Verfassungswirklichkeit‘ dafür, daß diese ‚Ausnahmen‘ die Regel sind. Mit jedem Fortschritt der Gemeinschaft und des innereuropäischen Geschäftslebens verschärft sich nicht nur der Streit über einen weiteren ‚Ausbau‘, sondern es nehmen auch die legalen, halb- oder illegalen Korrekturanstrengungen zu, deren Auflistung und Bemängelung Kommission und Gerichtshof beschäftigen. So sind dann in den Kommissionsberichten vor den Siegesmeldungen über die „hundertste Richtlinie zur Beseitigung der technischen Handelshemmnisse“ z.B. Klagen zu lesen,

„daß der freie Warenverkehr in ständig steigendem Maße durch restriktive Maßnahmen staatlicher Stellen beeinträchtigt wird, um Einfuhren zu verhindern. Ende 197S wurden in erster Linie nach den Artikeln 30 bis 36 des EWG-Vertrages (Kontingentierungsverbote) mehr ab 400 Behinderungsfälle bearbeitet.“ Das ist „nur als ein kleiner Ausschnitt der tatsächlichen Situation zu sehen.“

Mit und – im Zweifelsfall – ohne Spekulation auf das offizielle oder stillschweigende Verständnis der Partner bringen die beteiligten Länder in zunehmendem Maße all die handels- und finanzpolitischen Instrumente zum Einsatz, die offiziell für generell abgeschafft oder fortschreitend abzuschaffen erklärt werden. Zeitweilige oder dauernde Kontingentierungen, großzügigste Auslegung und Anwendung der Einfuhr- und Ausfuhrverbotserlaubnis aus Gesundheits- und anderen Gründen stehen da neben den kleinlichsten jahrelangen Streitereien um jeden neuen oder wiederaufgewärmten Vorschlag für gemeinsame Richtlinien, die nationale Vorschriften und ihre Benutzung in der Konkurrenz begrenzen sollen. Über Bocksbeutelflaschen, ,dt. Sekt‘-Bezeichnungen und Marmeladen- und Konfitüre-Fruchtkonzentration wird da länger verhandelt als ehemals über das ganze grundlegende Vertragswerk; in einem Land schreiben Gesundheitsbehörden 0,20 l Milchflaschen (und 0,25 l für Schulen), sowie 1 l-Flaschen für Selterswasser vor, weil im Nachbarland justament 0,25 l (und 0,20 l für Schulen) sowie mehr als 1 l-Familienflaschen für das gesündeste erklärt worden sind; mit veterinärmedizinischen Vorwänden werden ganze Kriege um den Import und Export gleichermaßen verseuchten Fleischs angezettelt und durchgestanden; peinlichste Grenzkontrollen wechseln mit Abfertigungsverboten nach 12 Uhr mittags; die Deutschen möchten die aus Umweltschutzgründen erlassene niedrigere Oktanzahlvorschrift für Benzin zur einzig europaweiten machen, weil sie den Absatz von Wagen mit geringerem Hubraum vermindert, Franzosen und Italiener treten für das Gegenteil ein usw. usw. Auf der anderen Seite bringen alle Nationen ihre Finanzhoheit und staatliche Wirtschaftstätigkeit nach Kräften ins Spiel, um die gewissen Unterschiede herzustellen oder zu erhalten, auf die es jedem ankommt. Mit Drehereien bei der Berechnung und beim Einzug der Steuerausgleichsabgaben, mit Steuererleichterungen und Subventionen – seien sie nun nach Art. 92 „mit dem gemeinsamen Markt vereinbar“ oder nicht – und mit gezielter Parteilichkeit in puncto staatlicher Auftragsvergabe beteiligen sich die politischen Subjekte an der Finanzierung der Konkurrenzfähigkeit und Geschäftstätigkeit ihrer Kapitalisten. Und deren internationale Vertreter – schließlich die Paradepferde jeder Nation – danken das (inter-)nationale Verständnis für ihr Fortkommen mit zusätzlichen eigenen Absprachen bezüglich der Benutzung der zahlungsfähigen Nachfrage über die Grenzen hinweg.

So nutzen alle den Spielraum des zurückhaltenden Programms für ‚volle, wahlweise und private‘ Harmonisierung und seine noch magerere Ausführung – für beide zeichnen sie schließlich selbst verantwortlich – weidlich aus, sehr zum Leidwesen sachverständiger Begutachter, die ein ums andere Mal verständnis- und begriffslos feststellen, daß ‚ausgerechnet‘ mit dem Fortschritt des Handels der Protektionismus zunehme und der Einigungswille erlahme.

e) Die üppige Anwendung all der Maßnahmen, mit denen Staaten sich für den Erfolg der eigenen Markenzeichen und ihrer Hersteller einzusetzen pflegen, zeichnet sich allerdings dadurch aus, daß sie nicht der Ausgangspunkt und die vorab gesetzte staatliche Bedingung ist, zu der man mit anderen Staaten ins Geschäft zu kommen gewillt ist. Es ist die gemeinsam zugestandene – und reglementierte – Reaktion auf den Vergleich der Kapitalproduktivität, der mit dem Beschluß zum freien Handel institutionalisiert worden ist. Der beständige Streit gewinnt seine Schärfe gerade aus der Tatsache, daß aufgrund des Wegfalls von Zöllen, Kontingenten und anderen Modifikationen des Handels der nationale Egoismus zur laufenden Korrektur aufgerufen ist, um die Erfolge des wachsenden Handels für sich zu nationalisieren, dort, wo das heimische Kapital aber den Markt nicht wie erwartet für sich zu nutzen vermag, immer erst noch zu entscheiden, ob und wieweit er seine politische Macht ausgleichend in die Waagschale wirft. Einerseits bleibt dieser Streit in die Grenzen der Gemeinschaftsregelungen eingebannt und unterliegt beständig der gemeinsamen streitbaren Begutachtung und Kontrolle, was ihn nicht dämpft, sondern entfesselt, weil eben jeder das positive Handelsgebot, wenn es sich für ihn negativ auswirkt, so weit zu korrigieren versucht, wie es die anderen zulassen. Andererseits beweist der Schacher gerade dort, wo er zu Umgehungen und Übertretungen der gemeinsamen Handelsrichtlinien führt, seine gemeinschaftserhaltende Qualität. Wieweit die eigenen Waren auf dem Markt bestehen und welchen Anteil sie an ihm haben, ist gerade hier das Kriterium, gegen den Protektionismus anderer zu Felde zu ziehen, sich auf ‚Kriege‘ einzulassen, für sich ‚Ausnahmen‘ in Anspruch zu nehmen und die Gelder, die einem aus dem Erfolg der Produzenten auf dem gemeinsamen Markt zufließen, für diesen Erfolg wieder zu verwenden. Die Möglichkeiten der potenteren Staaten, den erreichten Stand der Abhängigkeit zum Gegenschlag zu benutzen und umgekehrt, die regelmäßigen Koalitionen, die andere gegen das allzu üppige Ausspielen solcher Potenzen schließen, zwingen zur Mäßigung und rufen so sicher wie das Amen in der Kirche eine neue Gemeinschaftsinitiative zur Reglementierung der ‚Auswüchse‘ hervor. So wird der Streit in die Bahnen der Gemeinschaftsverhandlungen zurückgeführt, wo sich dann erneut, nun aber im offiziellen Ringen um eine weitere Ausgestaltung der europäischen Handelspolitik, die Unterschiede zwischen der Wirtschaftsmacht und dem Produktivitätsniveau der Nationen geltend machen, sei es bei der Durchsetzung eines tragfähigen Kompromisses, sei es bei seiner Torpedierung bis zur nächsten Mammutrunde.

2. Das wirtschaftspolitische Unternehmen der geographisch, historisch, ökonomisch und politisch füreinander prädestinierten Handelspartner zielt von vorneherein auf mehr ab als einen möglichst schwunghaften Warenverkehr. Wenn diese kapitalistischen Staaten zweiter Klasse sich zu Vorzugsmärkten für ihre Wirtschaftsbürger machen und dabei die Sorge um die jeweilige nationale Bewährung auf diesem Markt ausdrücklich in die Gemeinschaftsregelungen einbeziehen, dann meinen sie es mit der ‚Wirtschaftsgemeinschaft‘ insoweit ernst, daß sie nicht erst die diversen Konsequenzen des Handels für sich abwarten, bzw. der nationalen Kalkulation anheimstellen. Daß florierender Handel Kapitalexport und ‑import nach sich zieht, also auch auf die Benutzung der Ausbeutungsbedingungen in anderen Ländern, bzw. die Benutzung ausländischen Kapitals für die Profitproduktion im eigenen Land abzielt, war ihnen von vorneherein eine Selbstverständlichkeit. Schließlich lautete die Ausgangsdevise ‚gemeinsamer Wirtschaftsaufschwung im Rahmen der europäischen Gemeinschaften‘, und das als Teil und Mittel eines weitergehenden politischen Staatenbündnisses. Deswegen ist der ‚liberalisierte Handel‘ von vorneherein darauf berechnet, seine Ergebnisse – die wachsende nationale Produktion für den Export, das Vorhandensein von und das Bedürfnis nach anlagewilligem Kapital, Mangel und Überschuß an Arbeitskräften und den Bedarf nach fremden Währungen – gemeinschaftlich zu regeln. Andererseits scheitert in diesen Grundsatzfragen politischer Organisation des Wirtschaftslebens jede Einigung, die der nationalen Aufsicht über den Arbeitsmarkt, den Kapitalexport und ‑import, das Kreditwesen, also der Souveränität in Fragen Sozial- und Wirtschaftspolitik zuwiderläuft. Die diesbezüglichen „Freiheiten“ – Freizügigkeit, freier Kapitalverkehr, freier Dienstleistungsverkehr, Niederlassungsfreiheit –, deren „Verwirklichung“ die EG zum vorrangigen Programm erklärt hat, sind deswegen nur so zustandegekommen und weiterentwickelt worden, wie es sich für „Freiheiten“, zumal zwischen Souveränen, gehört. Die diesbezüglichen „gemeinsamen“, „vereinheitlichenden“ oder „harmonisierten“ Politiken bestehen in der mehr oder weniger grundsätzlichen und nach der Bedeutung für die Wirtschaftspolitik penibel abgestuften Rücksichtnahme auf die Notwendigkeiten nationaler Wirtschaftspolitik und in der streitbaren Gemeinschaftsauseinandersetzung mit den Folgen dieser praktizierten Vorbehalte. Und wo der Fortgang der Gemeinschaft die Kommission zu weitergehenden Vorschlägen und die. versammelten Minister zu programmatischen Absichtserklärungen animiert hat, da bleibt es zumeist auch dabei – und Fanatiker der Integration durch ,over spill‘ stellen einmal wieder enttäuscht fest, daß eine vernünftige und so gut wie beschlossene Intensivierung der gemeinsamen Politik dem gerade wieder einmal überhandnehmenden nationalen Egoismus zum Opfer gefallen ist.

a) Die Freiheit des Kapitals, sich anstelle von Gastarbeitern im eigenen Land als finanzstarker Gast der Akkumulationsmöglichkeiten in den Nachbarländern zu bedienen, unterliegt kleinlichster Reglementierung, was den Kauf und Verkauf von Aktien, die Kreditnahme und den Kauf und Verkauf von Devisen angeht. Schließlich ist die Geld- und Kreditpolitik das Instrument, mit dem Staaten sich als politische Subjekte der nationalen Ökonomie betätigen. Alle bisherigen Ansätze, ein einheitliches Bank- und Kreditwesen oder eine europäische Einheitsaktie zu schaffen, sind an dem Willen gescheitert, das Finanzkapital in eigener Regie auf seine Dienste für die Nation festzulegen; denn es spielt eine – je mehr der Handel wächst, Devisen die Hände wechseln und Anleger die nationalen Konditionen vergleichen – immer bedeutsamere Rolle für die Wirtschafts- und Finanzpolitik, welchen Auflagen nationale und internationale Anleger unterliegen. Gerade wegen des unausweichlichen regen Zahlungs- und Kapitalverkehrs sind die Staaten darauf aus, die Hoheit über ihr Kredit- und Börsenwesen nicht nur zu behalten, sondern je nach Stand des Nationalkredits auch einzusetzen. Deswegen ist abgesehen von zwei Richtlinien von Anfang der 60er Jahre, die den für Handel und ,Gastarbeiter‘ unumgänglichen Zahlungsverkehr gemeinschaftlich liberalisieren, das Vertragswerk bei den Absichtserklärungen stehengeblieben,

„weder neue devisenrechtliche Beschränkungen des Kapitalverkehrs und der damit zusammenhängenden laufenden Zahlungen innerhalb der Gemeinschaft einzuführen, noch bestehende Vorschriften zu verschärfen“, sowie „über das Ausmaß der ... vorgesehenen Liberalisierung des Kapitalverkehrs hinauszugehen, soweit ihre Wirtschaftslage, insbesondere der Stand ihrer Zahlungsbilanz, dies zuläßt.“ (Art. 71 EG-Vertrag)

Außerdem haben sich die Staaten mit der Vertragsklausel, bei Zahlungsbilanzkrisen oder Störungen des Kapitalmarkts „nach Anhörung des Währungsausschusses“ oder auch „aus Gründen der Geheimhaltung oder Dringlichkeit von sich aus“ „Schutzmaßnahmen“ zu ergreifen, die Generalvollmacht für all die kleinen und großen, zeitweiligen oder dauernden Auflagen des Kapitalverkehrs erteilt, die nach dem Abschluß der „Übergangszeit“ ständig zunehmend reklamiert wird. De facto erfreuen sich die nationalen Kapitalmärkte einer genauesten Beaufsichtigung, mit der darüber entschieden wird, wieweit eine Regierung Kapitalzufluß und ‑abfluß für normal, wann für ‚Flucht‘ und ‚Spekulation‘ halten will usw... Was das eine Land durch generelle Schranken für den Zugang ausländischen Kapitals zu den Kredit- und Aktienmärkten regelt, das erledigt der andere durch alle möglichen ‚Diskriminierungen‘ auf Basis eines generell ‚weitestgehend liberalisierten Kapitalverkehrs‘. Die unterschiedlichen nationalen Erfolge im Fortgang der EG und ihre Wirkungen auf den Nationalkredit geben den Vorbehalten gegen diese Freiheit des Kapitals immer neuen und größeren Auftrieb, und das umso mehr, als die internationalen Konzerne und sonstigen Geldanleger mit jeder dieser Besonderheiten spekulieren. Denn damit werden die Konjunkturen international und entsprechend wichtiger die nationalen Anstrengungen, die Kosten für die Bewältigung der Krisen auf andere Nationen abzuwälzen: Vernichtung fiktiven Kapitals bei anderen soll den eigenen Nationalkredit sichern.

Das amerikanische Privileg, ganz unabhängig von allen Konjunkturen sich dieser kapitalistischen Gesetzmäßigkeit zu bedienen und mit seinem nationalen Kredit, weil er das Weltgeld ist, auf Kosten aller anderen Länder unbedenklich die fiktive Akkumulation des eigenen Kapitals ausdehnen zu können, hat auf der anderen Seite des Ozeans dazu geführt, daß ungeachtet aller nationalen Kreditbedenklichkeiten der freie Kapitalverkehr für diejenigen, die von ihm am meisten profitieren, für die Multis, doch zustandegekommen ist, auch ohne förmlichen Ratsbeschluß – nämlich auf dem Eurodollarmarkt. In Luxemburg, London, Singapur und auf den Bahamas werden – wie der Name schon sagt – „außerhalb der nationalen Kreditmärkte“ die Dollars einer nützlichen Verwendung zugeführt, mit denen die USA die ganze Welt ,überschwemmt‘ haben. Ölscheichs, amerikanische und andere Multis, Großbanken und ihre jeweiligen Nationalbankhintermänner, die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich und der Ostblock beteiligen sich an diesem internationalen Kreditgeschäft ohne nationalstaatliche Auflagen; denen unterliegen diese Kredite erst dann, wenn sie im jeweiligen Land für Kapitaloperationen benutzt werden. Die Eurokreditbedingungen richten sich dabei nach Angebot und Nachfrage im Verhältnis zu den jeweiligen nationalen Devisenkursen, Zins- und Inflationsniveaus und Kreditrestriktionen und erlauben damit eine muntere Spekulation für „Großanleger über 1 Million“. Auf dem sicheren Fundament der Konvertibilität der Währungen hat sich das internationale Kreditwesen in dieser Weise von den nationalen kredit- und konjunkturpolitischen Beschränkungen emanzipiert; eine Tatsache, die trotz aller Klagen auch die beteiligten Staaten so sehr zu schätzen wissen, daß sie den „Liquiditätsausgleich“ bei größeren Zahlungsbilanzdefiziten, Polenkredite und dergleichen mit Vorliebe auf diesem Wege finanzieren. So widerlegt dieses Korrektiv nationalökonomischer Bedenken die verbreitete Ideologie von der ,Ohnmacht‘ der Gemeinschaftsstaaten gegenüber dem ‚immer noch nicht zinsnivellierten Finanzkapital‘; aus sehr eigennützigen Gründen erlauben die Staaten den Bankiers schließlich dieses Geschäft, das mit einem „überschüssigen Sparaufkommen der reicheren Länder und Regionen“, geschweige denn dessen weltallgemeinwohliger Verwendung „zugunsten der ärmeren“ schon gleich gar nichts zu tun hat.

b) Am weitesten ist noch die „Freizügigkeit der Arbeitnehmer“ gediehen. Doch gewähren die zivilisierten Staaten Europas die Gleichstellung mit inländischen Staatsbürgern erklärtermaßen nur im funktionellen Rahmen „zur Erfüllung der ökonomischen Ziele der Gemeinschaft.“ Die Internationalisierung des Arbeitsmarktes für die Bedürfnisse des Kapitals nach billigen Arbeitskräften und einer für alle Fortschritte der Akkumulation ausreichenden Reservearmee ist eben etwas ganz anderes als staatsbürgerliche Gleichberechtigung. Aus dem nationalen Arbeitsrecht samt seinen sozialstaatlichen Abteilungen erwachsen den europäischen „Marktbürgern“ Ansprüche nur, solange sie sich um „vorhandene Stellen“ bewerben, was im Ernstfall bezüglich ihres Arbeitswillens wie bezüglich der Stellen genügend Spielraum für staatliche Arbeitsmarkteingriffe bietet – unabhängig von dem kleinen Vorbehalt der „Sicherheit und öffentlichen Ordnung“. Die massivste Zufuhr preiswerter „Wanderarbeiter“ stammt überdies ohnehin aus Ländern außerhalb der EG, deren Bevölkerung sich für die Kalkulation mit ihrer daheim unbrauchbaren Armut besonders eignet und den Staaten die Freiheit läßt, ihren Zustrom anzuregen oder zu stoppen. Zielstrebig haben die großen Industriestaaten ihre Arbeiterklasse aus den „Armenhäusern Europas“ oder aus den ehemaligen Kolonien aufgefüllt; rücksichtslos hat das Kapital diese stets abrufbereite Reservearmee zur Niedrighaltung des Lohns und zur Bewältigung seiner Konjunkturen benutzt; und schon dadurch ist der hemmungslose Zustrom von EG-„Bürgern zweiter Klasse“ aus den verelendenden in die entwickelteren Regionen der „Gemeinschaft“ allemal in überschaubaren Grenzen geblieben.

Was die höheren Sphären der Berufe angeht, erledigt das kleinliche Pochen auf nationale Qualifikationsnachweise die Bedenken, daß in den Berufen, in denen nie Nachwuchsmangel besteht, eine ‚Überfremdung‘ zustandekäme. So ist ohne übermäßige Strapazierung der sozialen EG-Errungenschaften und ohne so „unmenschliche“ Erscheinungen wie amerikanische Negerghettos mitten in Deutschland oder Frankreich – die befinden sich ,an den Rändern Europas‘ – eine schrankenlose Mobilität gerade der Arbeitskräfte gewährleistet, die die Konjunkturen des Kapitals unermüdlich attrahieren und repeliieren. Kaum stellt sich mit der ‚Süderweiterung‘ aber das Problem, daß auch noch Griechen, Spanier und Portugiesen in den Genuß der EG-Vorzugsregelungen kommen könnten, werden ‚übergangsweise‘ Ausnahmen vom Grundsatz der Freizügigkeit gemacht, um den betroffenen Gastgeberländern die Probe aufs sozialstaatliche Exempel zu ersparen.

 Der praktische Verstand der Politiker hat sie bei Gründung der EG auf die Notwendigkeit gestoßen, daß der nationale Wirtschaftsaufschwung unter den Gegebenheiten amerikanischer Weltmarktdominanz auch und gerade auf dem Schlachtfeld der Großindustrie einige gesonderte Gemeinschaftsanstrengungen erfordert. Den Dollars auf dem Fuße folgten in den 50er Jahren schließlich nicht nur Wrigley’s und Coca Cola, sondern Ford, GM, IBM, Texaco und andere Geschäftsriesen. An deren Erfolg konnten die im Wiederaufbau befindlichen Nationen nicht nur den Produktivitätsmaßstab und die Größe des amerikanischen Kapitals, sondern auch die Macht des amerikanischen Staates studieren, der seinem Kapital ausgerechnet die europäischen ‚Wachstumsbranchen‘ und ‚Schlüsselindustrien‘, von denen die Umwälzung der Produktionsweise ausgeht, als Anlagesphäre öffnete und ihm in all den Branchen die Führung sicherte, in denen staatliche Forschung, Subventionierung und Aufträge unabdingbare Voraussetzung des Geschäftserfolges sind. Was bei den Amerikanern ein schlichtes, durch den Sieg im Zweiten Weltkrieg allen Staaten ins Bewußtsein gebrachtes Faktum war, ihre ziemlich ‚unbegrenzten Möglichkeiten‘ gerade auf diesem Feld, wurde bei ,den Europäern‘ Inhalt des Einigungswerks und ‑streits. Die gemeinschaftliche ‚Verwirklichung der Niederlassungsfreiheit‘ und der Beschluß einer „Politik des fairen Wettbewerbs“, der Zusammenschlüsse, Kartelle und Absprachen unter dem Kriterium des Nutzens für den gemeinsamen Markt von vorneherein viel großzügiger behandelt, als die nationalen Vorschriften dies in der Regel vorsehen, ist die eine Seite. Das beharrliche und allgemeine Sträuben gegen ein europäisches Gesellschaftsrecht, gegen die Vereinheitlichung der diesbezüglichen Steuern und Subventionspraktiken ist die andere. Jeder Staat weiß einerseits um die Größe des Kapitals als Waffe der Konkurrenz und befördert seine Zentralisation und Konzentration; andererseits sieht er umso genauer darauf, wie seine Unternehmen daran beteiligt sind, welche Folgen das für andere nationale Unternehmen hat und welchen Vorteil er daraus zieht. So häufen sich mit der wachsenden Verflechtung der Kapitale und der beschleunigten Akkumulation der ,Multis‘, die mit den diversen nationalen Unterschieden und Gegensätzen als Geschäftsbedingungen kalkulieren, die Streitigkeiten um Standorte, Beteiligungen und Marktbeschränkungen, auf der anderen Seite die Klagen aus Brüssel und den übrigen Hauptstädten über die ‚nationale Aushöhlung der Wettbewerbspolitik‘, die schon nicht mehr schleichende ‚Subventionitis‘ zugunsten nationaler Großunternehmen, den überhandnehmenden Einfluß multinationaler Unternehmen und die ‚ungleichgewichtige Entwicklung‘. Auf der anderen Seite kann die EG auf dem Felde, wo ohne staatliche Unterstützung und Finanzkraft nichts geht, auf so stolze Gemeinschaftsprojekte wie den in mehreren Ländern zusammenproduzierten Airbus und die stolze „Ariane“ verweisen. Und vor allem auf dem todsicheren, lukrativen Markt für Rüstungsgüter ist die lustigste Konkurrenz darüber im Gange, welcher Nation ihre Sonderentwicklungen als NATO- oder wenigstens europäisches Gemeinschaftsprojekt durchsetzt.

Der Standpunkt der ‚Konzentration der vereinten Kräfte‘ hat sogar auf dem Gebiet der Forschung und der Förderung nationaler Grundlagenindustrie zu einer eigenen Gemeinschaft geführt: bei der Entwicklung der Kerntechnologie und ‑industrie. Die Euratom, die laut Satzung u.a. für die schnelle „Entwicklung einer mächtigen Kernenergie“ Voraussetzungen schaffen, die Forschung entwickeln und verbreitern, Investitionen erleichtern, gemeinsame Unternehmensgründungen befördern und die Versorgung mit Uran sicherstellen sollte, ist allerdings wegen der besonderen nationalen Brisanz dieses Wirtschaftszweiges – und zwar ökonomisch, militärisch und politisch – nach Brüsseler Verständnis die schlechtestgehende Gemeinschaft. Außer einem gemeinsamen Beschleunigerprojekt hat sie es nur zu allen möglichen Sicherheits-, Überwachungs- und ähnlichen Runden gebracht. Denn die Gründersorge, „daß nur gemeinsames Vorgehen, ohne Verzug unternommen, Aussicht bietet, die Leistungen zu verwirklichen, die der schöpferischen Kraft ihrer Länder entsprechen“ (Euratom-Vertrag, Präambel), daß also diese zukunftsweisende Industrie die nationalen Mittel überfordert, hat sich angesichts der britischen und französischen Energien in puncto Reaktor- und Atombombenbau und angesichts der finanzkräftigen deutschen Bemühungen, den Rückstand aufzuholen, als hinfällig erwiesen. Mit dem Ergebnis, daß gerade auf diesem Feld ein fröhlicher Wettbewerb zwischen deutschen, französischen, britischen und amerikanischen Großfirmen um die Aufträge in Drittländern stattfindet, der keineswegs nur mit ökonomischen Argumenten geführt wird. Gemeinsame Forschungs- und Industrieplanung bleibt eben in dem Maße ein Ideal, wie sich einer der drei Großen imstande fühlt und willens ist, seine Staatsempfindlichkeit mit nationalen Kraftanstrengungen zu beruhigen; die Klage über „Verschwendung“ durch doppelte Forschungsund sonstige Kapazitäten ergänzt bloß den nationalistischen Vergleich, wer die besten Panzer, die haltbarsten Atomkraftwerke und die leistungsfähigsten Computer baut.

Der BRD hat die Europäische Atomgemeinschaft nichts geringeres als den gar nicht selbstverständlichen Wiedereintritt in den aktiven Kreis der friedlichen Atommächte beschert. Frankreich wurde das mit der Drohung abgerungen, andernfalls den Agrarmarkt platzen zu lassen. Mit dem wechselseitigen Versprechen der engagierten Staaten, sich im Ernstfall gemeinsam um Versorgung, Überwachung und Entsorgung zu kümmern, ist so der nationale Aufbau und Ausbau der Kernenergie auf eine sichere politische Grundlage gestellt worden.

 Dem aufschwungorientierten Blick der Nachkriegspolitiker ist es schon vor der Gründung der Wirtschaftsgemeinschaft nicht entgangen, daß es in einem Wirtschaftsbündnis, welches die Grundlagen der Konkurrenz von Nationalökonomien einvernehmlich und verbindlich festlegt, damit jede vom Fortschritt der anderen profitieren kann, besonderer Abmachungen über gewisse materielle Grundvoraussetzungen der kapitalistischen Akkumulation bedarf, die keine Nation mit Weltgeltung und ‑ambitionen – koste es sie auch einiges an Reichtum – dem ökonomischen Urteilsspruch der Konkurrenz ausliefert. Die Gründung der ersten, dem „Frieden und der Völkerverständigung“ gewidmeten Gemeinschaft für Kohle und Stahl, der Montanunion, verdankt sich zwar nicht der vorausschauenden Planung des weiteren Gangs der europäischen Integration. Die politische Absicht Frankreichs, trotz Aufhebung der Ruhrkontrolle bleibenden Einfluß auf die Schwerindustrie eines souveränen Deutschlands zu erlangen, und die deutsche Berechnung, ein weiteres Stück Souveränität und die wirtschaftliche Freiheit zum Gebrauch dieser historisch belasteten Region für den eigenen, jetzt friedlichen Wirtschaftsaufbau zurückzuerhalten, haben dennoch zu Übereinkünften geführt, die der Bedeutung dieser Industrien für die EG gerecht werden. Bei der Kohle löste sich nach einigen Jahren des allgemeinen Förderaufschwungs das Problem einer ausreichenden Energieversorgung auf Kosten eines altehrwürdigen Berufszweiges einigermaßen glatt: Öl, Erdgas, Kernenergie sowie billigere Auslandskohle ließen den reduzierten Gebrauch dieser nationalen Energiequelle geboten erscheinen, bis die Rationalisierung der Förderung und der Anstieg der Ölpreise eine neuerliche Ausweitung dieses Produktionszweiges über die auf jeden Fall erhaltenen Zechenreserven wieder lohnend machte. Das nationale Geschäft mit Stahl und Eisen und seine Gemeinschaftsregelungen zeichnen sich dagegen durch Eigenheiten aus, die es schon seit Jahren zu einem bevorzugten Zankapfel in der EG machen.

Der Gang des Geschäfts bei diesem industriell hergestellten Produktionsrohstoff für jede Industrie hängt unmittelbar vom allgemeinen Stand der Konjunktur ab. Mehr oder weniger nationales Wachstum schlägt sich unmittelbar im Steigen oder Fallen des Preises, in Produktionsengpässen oder mangelnder Auslastung nieder, da eine schlagartige Erhöhung oder Reduzierung der Anlagen wegen des großen Anteils an fixem Kapital nicht ohne weiteres möglich ist. Freie Konkurrenz wäre also ruinös und würde die Versorgung der Industrie gefährden; eine Gefahr, die den ideellen Gesamtkapitalisten auf den Plan ruft. Dessen Standpunkt ist hier ein doppelter: erstens die Versorgung aller Unternehmen mit genügend und ausreichend billigem Stahl, zweitens die Gewährleistung eines angemessenen Profits für die Stahlunternehmen, damit sie dem nationalen Auftrag nachkommen. In ihrer gemeinsamen Sorge um die Gewährleistung des Wirtschaftsaufschwungs und seiner schwerindustriellen Voraussetzungen haben sich die europäischen Partner darauf geeinigt, in diesem Bereich ihre Konkurrenz gegeneinander gemeinsam politisch zu planen. Dabei haben sie zugleich auch den Fall mitbedacht, daß der Wachstumsfortschritt Krisen und in ihrem Gefolge eine rücksichtslose Konkurrenz der Stahlunternehmen mit sich bringen wird, und dafür entsprechende Eingriffsmöglichkeiten vorgesehen, die den Kampf um den Absatz der Überschüsse des nationalen Marktes auf dem gemeinsamen Markt effektivieren und zugleich in Grenzen halten sollen: die Empfehlung oder Festsetzung von Mindest- und Höchstpreisen, von Produktionsquoten und Mengenzuteilungen, sowie Rationalisierungs- und Umstrukturierungsbeihilfen. Anstelle von Gemeinschaftsregelungen mit politischer Verbindlichkeit sind auch Mengen- und Preisabsprachen zwischen den Unternehmen selbst ausdrücklich zugelassen; das ,Kartellverbot‘ wird als besondere Erlaubnis für Zusammenschlüsse gehandhabt und damit den Unternehmen das politische Zugeständnis eines Extraprofits gemacht, der die Industriegiganten dafür entschädigt, daß das Extrageschäft notwendigerweise mit Phasen rapiden Preisverfalls und solchen erbittertsten Streits um Marktanteile und Kapazitätsauslastung wechselt. Das Gemeinschaftsinteresse an einer allseits profitablen, immer ausreichenden Versorgung für den europäischen Stahlbedarf, die auf die äußersten Bedürfnisse der Akkumulation berechnet ist, sichert durch die Reglementierung der Konkurrenz und die Verhinderung ihrer unmittelbaren Wirkungen in Krisenzeiten den Erhalt von Kapazitäten über den Bedarf bei normalem Gang der Akkumulation hinaus, begrenzt dort, wo die Einigung der feindlichen Brüder aufgekündigt wird, die Ausnutzung überlegener Produktivität für den Ruin des Konkurrenten; und im Krisenfall wird der Schaden auf alle verteilt. Der Streit um den Schutz der nationalen Industrien vor den besonderen Fährnissen ihres wechselvollen Geschäftsganges, bei dem sogar größere nationale Lohndifferenzen offiziell als Wettbewerbsverzerrung firmieren, ist also unvermeidlich, da die nationalen Unterschiede ja nicht ausgesetzt sind, sondern nach Wegfall prinzipieller protektionistischer Schranken sich in politischen Grenzen geltend machen dürfen. Es macht schließlich einen Unterschied, ob ein ,modernes‘ deutsches Stahlunternehmen oder ein ohnehin ‚veraltetes‘ englisches Staatsunternehmen in Krisenzeiten sinkende Produktionsquoten zugeteilt und einen Mindestpreis empfohlen bekommen. Zum allgemeinen Subventionsabbaugebot im EGKS-Vertrag gehört deswegen die Regelung, wie subventioniert werden darf, weil es bei einer Basisindustrie, die deswegen in einigen Ländern unmittelbar in Staatshand ist, der nationalen Entscheidung unterliegt, wieweit sie zur Rationalisierung oder ‚Gesundschrumpfung‘ angehalten und dabei unterstützt wird und wieweit der Staat ihre ‚Verluste‘ finanzieren will. Nach den goldenen Jahren des Stahlbooms – in denen die Freiheit, sich auf dem europäischen Stahlmarkt zu tummeln, niemanden ernsthaft gestört hat, weil soviel Bedarf existierte, daß die deutschen Rationalisierungs- und Absatzerfolge sich mit französischen Marktanteilen und dem staatlichen Ausbau der italienischen Stahlunternehmen zum zweitgrößten Produzenten Westeuropas und zur wichtigsten nationalen Industrie vertrugen – hat das inzwischen zur „Dauerkrise der europäischen Stahlindustrie“ geführt, zumal Amerika auf Kosten der nicht geringen europäischen und japanischen Importe seinen nationalen Schutz, die „Trigger-price“-Abgaben drastisch erhöht hat. Seitdem wechseln freiwillige Quotenabsprachen der Unternehmer (und ihr Bruch) auf Basis von Mindestpreis- und Einfuhrrichtlinien der Gemeinschaft, an die sich irgendwer immer nicht hält, mit Beschlüssen angesichts einer „offensichtlichen Krise“ über Quotenregelungen und Preisempfehlungen. Die Rücksichtslosigkeit, mit der die BRD-Unternehmen ihre Hütten rationalisiert haben, so daß sie längst die japanischen Stahlpreise unterbieten, sowie ihre lukrative Spezialisierung und Diversifizierung sind da ein willkommenes Argument für die politischen Unterhändler, mehr Quoten herauszuschinden und von den Partnern, die immer mehr Milliarden in ihre Stahlbetriebe stecken, die Abkehr vom Subventionswettlauf und die Rückkehr zu „mehr Marktwirtschaft“ zu verlangen. Die Partner streiten umgekehrt darum, den bundesrepublikanischen Rationalisierungsvorsprung in seinen Wirkungen zu bremsen, die Kapazitäten ihrer Anlagen in Anschlag bringen zu dürfen. Die deutschen Klagen, daß unsere „Privatindustrie“ gegen den „vereinigten europäischen Steuerzahler“ antreten müsse und aus dem deutschen Anteil an der Gemeinschaftskasse auch noch unrentable Betriebe in anderen Ländern unterstützt würden, kennzeichnen dabei das Kräfteverhältnis im Gerangel darum, wer die Produktionsrückgänge bei der gemeinsamen Marktaufteilung zu tragen hat. Und wo sich Großbritannien und andere sträuben, dem deutschen Druck nachzugeben, droht die BRD mit verstärkten eigenen Subventionen und Abschöpfungen, die Stahlimporte aus den Gemeinschaftsländern auf das der deutschen Konkurrenz genehme Preisniveau „hochschleusen“. So sieht der berühmte deutsche Einsatz für freie Marktwirtschaft aus! So müssen die anderen Länder zunehmend die Staatskasse strapazieren, während in der BRD dank einem gelungenen Zusammenspiel von Kapital, Arbeit und Staat die „Subventionitis“ die bequeme und vertragskonforme Form der ,normalen‘ Wirtschafts- und Rationalisierungshilfen hat. Auf diese Weise ist dafür gesorgt, daß das einzelstaatliche Autarkiebestreben im Rahmen der Gemeinschaft sich dem Kriterium der Rentabilität nicht einfach entziehen kann. Bei aller Einigkeit, diesen Wirtschaftszweig nicht umstandslos der Konkurrenz auszusetzen, setzt sich so die Einsicht durch, daß die politischen Angebote ökonomisch verdient werden müssen. So lebt im Dauerstreit um die Verteilung der Verluste für die gesicherte Versorgung der Geist dieser ersten Gemeinschaftsgründung fort.

e) Die politische Freisetzung der europäischen Konkurrenz hat ihre weitestgehende Ausnahme im gemeinsamen Agrarmarkt. Die politische Absicht, auch in dieser Sphäre kapitalistischer Arbeitsteilung eine geregelte und von allen Konjunkturen unabhängige Versorgung von Kapital und Arbeitskraft mit den notwendigen Rohstoffen und eine profitable Landwirtschaft in Übereinstimmung zu bringen, hat nämlich dabei noch zusätzlich zu berücksichtigen, daß hier ein ganzer nationaler Stand und die Nutzung der natürlichen Gegebenheiten des Territoriums auf dem Spiel stehen. Nicht als ob die Staaten dem faschistischen Grundsatz treu geblieben oder sich zu ihm bekehrt hätten, daß eine ,gesunde Bauernschaft‘ die Basis einer starken und autarken Nation sei. Ganz im Gegenteil: Weil die ökonomische Brauchbarkeit dieses Standes am Maßstab profitabler Produktion gemessen wurde, und weil die EG-Staaten sich unter Frankreichs Führung auf den Standpunkt stellten, daß die Befähigung zum Export auch die billigste Weise der Erhaltung der Landwirtschaft sei, drängten sich den zur Wirtschaftsgemeinschaft entschlossenen Staaten die „Probleme der europäischen Landwirtschaft“ auf.

Denn im Vergleich zu den von jeder historischen Eigentumsbindung freien ehemaligen Kolonien, in denen durch produktive oder/und extensive Ausbeutung von Arbeitskraft und Boden billig produziert wird, ist für die Staaten des alten Kontinents die mangelnde Trennung des Grundeigentümers vom landwirtschaftlichen Produzenten, die massenhafte Existenz von bäuerlichen ‚Familienbetrieben‘, also der Bauernstand im Gegensatz zur Klasse der Lohnarbeiter und Kapitalisten Hindernis einer Landwirtschaft, die sich am Stand der produktiven Arbeit in der Industrie messen kann. Die mehr oder weniger großen Fortschritte, die der Prozeß der ursprünglichen Akkumulation und die Fortsetzung seines Zerstörungswerks am selbstwirtschaftenden freien Bauern im Entwicklungsgang der kapitalistischen Industrie bewirkten, haben dieses Problem nicht beseitigt. Mit der Aufrechnung des Anteils der Beschäftigten in der Landwirtschaft gegen den Beitrag, den sie zum Bruttosozialprodukt liefern, führen die Staaten allemal vor, daß diese Abteilung nationaler Ökonomie ihren Ansprüchen nicht genügt; und die Steigerung der Produktivität in dieser Sphäre bei rapide abnehmender Beschäftigtenzahl beweist die Rücksichtslosigkeit, mit der gegen das Ärgernis vorgegangen wird, daß die Versorgung des Kapitals mit Rohstoffen und der Ware Arbeitskraft mit Lebensmitteln nicht auf dem fälligen Niveau staatsnützlicher Geschäfte betrieben werden.

Der Umstand, daß hier überflüssige gesellschaftliche Arbeit aufgewandt wird, die aber nicht einfach „entwertet“, sondern allmählich reduziert werden soll, stellt sich bei den verschiedenen Partnerstaaten allerdings höchst unterschiedlich dar. Länder, deren Landwirtschaftsproduktion schon immer für mehr als die eigene Versorgung taugte, wie Holland und Dänemark; Nationen, die für den Fortschritt ihrer industriellen Exportproduktion und deren Kostenverbilligung die kleinen Bauern zu opfern bereit waren und auf sie als jederzeit brauchbare Arbeitskräfte für die Industrie rechneten, wie die BRD; Länder, die den Ruin des Parzellenbauern am weitesten getrieben haben und sich zusätzlich zur eigenen kapitalisierten Landwirtschaft aus ehemaligen Kolonien billig versorgen, wie Großbritannien; sowie Frankreich, das auf die Förderung der Exportfähigkeit bestimmter Land Wirtschaftszweige spekuliert, haben da sehr verschiedene Interessen. Frankreichs Drängen auf Sonderregelungen, welche seiner Landwirtschaft einen europäischen Großmarkt sichern und die „sozialen Schäden“ beim Bauernlegen mildem sollten, hat sich aber mit dem unbedingten Willen der BRD, ihrer Industrie Europa zu öffnen, getroffen – auf Kosten des Beitritts Englands, das unter anderem wegen des Agrarmarkts so lange den Weg in die Gemeinschaft nicht fand. Die verschiedenen Ziele, die der Vertrag von Rom für den gemeinsamen Markt so einvernehmlich formuliert –

„a) die Produktivität der Landwirtschaft durch Förderung des technischen Fortschritts, Rationalisierung der landwirtschaftlichen Erzeugung und den bestmöglichen Einsatz der Produktionsfaktoren, insbesondere der Arbeitskräfte, zu steigern; b) auf diese Weise der landwirtschaftlichen Bevölkerung, insbesondere durch Erhöhung des pro-Kopf-Einkommens der in der Landwirtschaft tätigen Personen, eine angemessene Lebenshaltung zu gewährleisten; c) die Märkte zu stabilisieren; d) die Versorgung sicherzustellen; e) für die Belieferung der Verbraucher zu angemessenen Preisen Sorge zu tragen.“ (Art. 39/1) –,

bezeichnen die gegensätzlichen Ideale, denen sich die Staaten verpflichten und die allesamt so nicht mit der Realität übereinstimmen. Der Beschluß: „Der gemeinsame Markt umfaßt auch die Landwirtschaft und den Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen“ (Art. 38/1), bedeutet zuallererst eine ganz neue Rücksichtslosigkeit gegen diesen rückständigen Teil der Reichtumsproduktion. Denn seine Einordnung ins „Konzept Europa“ bezieht jeden Bauern nicht mehr nur auf einen nationalen, oder oft noch beschränkteren lokalen Markt, sondern auf die Produzenten anderer Länder mit verschiedenem Stand der Produktivität, verschiedenen Besitz-, Klima-, Boden- und Wasserverhältnissen und anderen zu Buche schlagenden Voraussetzungen. Daß die kleinbäuerliche Milchwirtschaft in Italien zu einem Verlustgeschäft wird, wenn bayerische Molkereien über den Brenner liefern, und daß die deutsche Weizenproduktion nichts mehr abwirft, wenn das Korn der Großproduzenten aus der Ile de France zu deutschem Brot verbacken wird, haben die jeweiligen Bauern zu spüren bekommen. Sie machen zwar dasselbe wie vorher, doch von einem Tag auf den anderen garantiert ihr Hof ihnen nicht einmal mehr die Existenz. Der politische Beschluß, die Versorgung mit Lebensmitteln nicht mehr als rein nationale Angelegenheit zu betrachten, sondern die EG-Landwirtschaft für die Bedürfnisse eines europäischen Marktes zu fördern, zwingt also den traditionell konservativsten Stand der Gesellschaft, alle gewohnten Weisen des Produzierens aufzugeben; und der Mangel an Boden und/oder Kapital für diese neue Kalkulation führt über kurz oder lang zur Einsicht in die Vergeblichkeit seiner Anstrengungen.

Andererseits ist durch die Agrarmarktregelungen diesem Umstand in der Weise Rechnung getragen, daß der Zwang zur Kapitalisierung nicht die schlagartige Vernichtung des Standes und damit auch der Nutzung ganzer Regionen herbeiführen, sondern sich in geregelten Bahnen stetig vollziehen soll. Das ausgeklügelte System der verschiedenen ‚Marktordnungen‘, das inzwischen so gut wie alle Produkte umfaßt, beruht dabei auf drei Grundsätzen, die die Konkurrenz in der politisch erwünschten Weise effektivieren sollen. Der erste Grundsatz ist – für die überwiegende Mehrzahl der Produkte – die staatliche Festlegung eines Mindestpreisniveaus, das gegenüber dem Weltmarkt durch die Belastung ausländischer Exporteure mit – sehr produktspezifisch gestalteten – ,Abschöpfungen‘ gesichert wird. Die EG-Bauern konkurrieren so auf Basis eines politischen Preises, der nicht den Marktpreis bestimmt oder den Käufern vorgeschrieben wird, sondern die negativen Wirkungen der Produktivitätssteigerung, mit denen die Staaten rechnen, in Schranken hält. Denn auf Basis dieses Preises wird zum zweiten auch die ökonomische Kehrseite einer wachsenden landwirtschaftlichen Produktion, ein die zahlungsfähige Nachfrage überschießendes Angebot und Absatzstockungen, politisch außer Kraft gesetzt. Beim Fall des Marktpreises unter den Richtpreis garantiert die EG die staatliche Abnahme der Überschüsse zu einem festgesetzten ‚Interventionspreis‘, der generell um 10% unter dem Richtpreis liegt und sorgfältig nach Jahreszeiten gestaffelt wird, damit die Bauern sich erst auf dem Markt bewähren, und an bestimmte Qualität gebunden ist, damit nicht jeder kleine Bauer dem Staat seine unverkäuflichen ,Reste‘ andreht. Die Dekretierung eines ökonomischen Niveaus, zu dem sich die landwirtschaftliche Produktion zu lohnen hat, zu dem dann aber auch der Absatz gesichert ist, führt zu den berüchtigten ‚Agrargebirgen‘ in den staatlichen Lagerstätten, die den größten Teil des gemeinsamen Haushalts aufzehren und zwar durch solch ‚irrationale‘ Aktionen wie den Aufkauf von Überschüssen mit Staats- und Gemeinschaftsgeldern und den anschließenden nochmals subventionierten Verkauf zu Weltmarktpreisen – wobei mancher Agrargroßhändler mit guten Beziehungen nach drüben oder Afrika zusätzlich Millionen verdienen kann („Die Milch macht’s!“) – oder, noch schlimmer, die staatlich finanzierte Denaturierung der Qualitätsware, so daß die Kühe „ihre eigene Milch“ in Pulverform im Freßtrog wiederfinden.

Und weil das doch eine Menge kostet, nehmen die EG-Staaten dieses „Problem“ mit dem dritten Prinzip ihrer gemeinsamen Agrarpolitik noch radikaler in Angriff. Durch Fonds und wechselnde Extraprämien für den Anbau oder Abbau bestimmter Produkte, die Umstellung auf andere, die Aufgabe von Produktionsflächen oder Betrieben usw. greifen die Staaten produktionsregelnd in den Markt ein, um Produktivitätszuwachs, Selbstversorgung, Verminderung der Überschüsse und Regelung der sozialen Folgen unter einen Hut zu bringen. Die scheinbaren Paradoxien, daß der Abbruch von Gewächshäusern prämiert wird, deren Aufbau ein paar Jahre vorher honoriert wurde; daß die Verspritung französischen Weins auf Gemeinschaftskosten inzwischen fast die Nachfrage nach Industriealkohol übersteigt, während deutsche Weinbauern zur Erweiterung ihrer Anbaufläche animiert wurden; usw. – all diese „Skandale“, über die die Öffentlichkeit sich so gerne erregt, sind das logische Ergebnis des staatlichen Bemühens, trotz der Schranken an den Eigentumsverhältnissen die Landwirtschaft zu einem kapitalistischen Geschäftszweig zu entwickeln, der alle staatlichen Ansprüche an die Versorgung Europas aus heimischen Betrieben erfüllt. Dieses Anliegen lassen die EG-Staaten sich eben einiges kosten – und ihre geschätzten „Verbraucher“ auch. Denn die Ausgleichung der Konjunktur- und Naturschwankungen zu einem über dem Weltmarktpreis liegenden Niveau von Agrar- und insbesondere Lebensmittelpreisen betrifft vor allem solche Produkte, die in den Konsum der Massen eingehen und daher nicht unmittelbar und automatisch die Kosten des Kapitals verteuern. Sie haben die Kosten für die Verschwendung an gesellschaftlicher Arbeit zu tragen, deren Höhe an den sprunghaft gestiegenen Lebensmittelpreisen in Großbritannien nach dem EG-Beitritt Zu studieren ist. Der Luxus, eine Landwirtschaft mit inzwischen 60 Mrd. DM Gemeinschafts- und Staatsmitteln zum Geschäftszweig zu entwickeln und sich dadurch – gesamteuropäisch – autark zu machen, ist eben etwas ganz anderes als eine rationelle Ausrichtung der Landwirtschaft und der auf sie aufzuwendenden gesellschaftlichen Arbeit auf Lebensnotwendigkeiten der Bevölkerung.

Der glückliche Umstand, daß die Warenpalette des nationalen Nährstandes der EG-Staaten ziemlich genau mit den Konsumtionsbedürfnissen des Ausbeutungsmaterials zusammenfällt, eröffnet den europäischen Staaten auf der anderen Seite alle Freiheiten bei der Versorgung ihres Kapitals mit agrarischen Rohstoffen zu billigen Weltmarktpreisen – und davon profitieren gerade auch die geschäftstüchtigen unter den Landwirten, die Soja- und andere Ölfrüchte durch das „offene Fenster“ des Agrarmarktes beziehen. Andererseits ist die Sicherung eines „angemessenen Einkommens“ der Bauern damit noch längst nicht garantiert. Denn von den Regelungen und Milliarden profitieren nicht die Millionen Bauern, die sich auf begrenztem Land mit begrenzten Mitteln durch extensive Formen der Selbstausbeutung erhalten, sondern diejenigen Betriebe, die durch Größe und Mobilität aus den staatlichen Hilfen dauerhafte Geschäftsgewinne zu machen verstehen. Die diversen Marktordnungen, Prämien und Beihilfen bauen schließlich auf einem politischen Preis auf, der Steigerung der Produktivität erzwingt, und sie befördern insbesondere die Weiterverarbeitung der Produkte, die von Haus aus in den Händen kapitalistischer Betriebe liegt. Sie ziehen deshalb Kapital in diese Sphäre, das sich der Bauern als Zulieferer bedient und sie mit seinen Geschäftszwängen und Möglichkeiten vom Markt verdrängt. So sortiert sich durch das segensreiche Wirken der Regierungen das bodenständige „Bauerntum“ in einige Rubriken: Neben Landflüchtigen aus immer mehr verödenden Regionen gibt es eine Menge von Nebenerwerbs- und Zuerwerbsbetrieben, aus denen Lohnarbeiter mit Zusatzarbeit ihren Lohn aufzubessern suchen; dann eine immer mehr abnehmende Zahl von Bauern, die sich mit viel Arbeit und nutzloser Bauernschläue bezüglich der Markt- und Preisbestimmungen ihr „angemessenes“ Auskommen sichern; schließlich die kapitalistischen Agrar- und Nahrungsmittelunternehmen, die mit jedem staatlichen Fonds und jeder Marktordnung kalkulieren. Für sie bietet der staatlich geplante gemeinsame Markt wirklich eine Geschäftsgrundlage, während für die übrigen der Übergang ins normale Arbeiterdasein bestenfalls verzögert und mit ein paar Tausendem versüßt wird. Das millionenfache Bauernlegen im Zuge der EG-Fortschritte und die Entvölkerung, Verarmung und Verödung ganzer Regionen im Süden Frankreichs und Italiens sowie die wachsende Differenz zwischen den Gewinnen von Gemischt- und Einfachbetrieben, zwischen der Produktivität und den Erträgen von Betrieben unterschiedlicher Größe und zwischen Agrar- und Nahrungsmittelpreisen für die ‚veredelten Produkte‘ beweisen, daß hier die entsprechenden Mitglieder der Gesellschaft – der ‚Bauernstand‘ eingeschlossen – dafür zu zahlen haben, daß die Trennung der Produzenten von ihren natürlichen Produktionsmitteln und die Entwicklung der Landwirtschaft zum Geschäftszweig für die Agenten des Reichtums der Gesellschaft auf gesamteuropäisch betrieben wird. Die Agrarpolitik hat sich immer zielstrebiger dem Programm einer landwirtschaftlichen ‚Strukturpolitik‘ zugewandt, welche erklärtermaßen die Beschleunigung der schon erreichten Trennung von Eigentum und Arbeit auch im rückständigsten Bereich der Wirtschaft verfolgt. Ganz wie zu Zeiten der ursprünglichen Akkumulation der Staat die Expropriation der ländlichen Bevölkerung zu seinem Anliegen gemacht hat, so machen sich die ‚Industrie‘-Nationen gemeinsam zum Anwalt der Vollendung dieses Vorgangs. So hat sich die EG durch das kontrollierte Bauernlegen und auf Kosten der lohnarbeitenden Konsumenten vom Agrarimporteur zum Exporteur von Nahrungsmitteln gemausert, der die klima- und bodenbegünstigten Länder der Dritten Welt als Rohstofflieferanten und Ergänzung zum Agrarmarkt benutzt.

Daß die Logik des gemeinsamen Agrarmarktes nicht noch rigoroser an den Kleinbauern vollzogen worden ist, hat seinen Grund in den unterschiedlichen nationalen Gewichtungen beim Streit um die Ausgestaltung dieser „einzigen gemeinsamen Politik“. Denn die unterschiedliche Bedeutung dieses Sektors in den verschiedenen Ländern, der unterschiedliche Stand der Produktivität, die unterschiedlichen Produkte und deren Bedeutung für den Konsum, der unterschiedliche Wille, auf die Bauern als Wähler oder soziales Unruhepotential Rücksicht zu nehmen sowie die mehr oder weniger große Schwierigkeit, die ruinierten Bauern in die industrielle Produktion ,einzugliedern‘, sorgen für „Mäßigung“. Da hier die Bedingungen für jede nationale Agrarproduktion unmittelbar politisches Gemeinschaftswerk sind und die Entscheidungen den negativen Ausgangspunkt haben, wieviel man sich den Agrarmarkt kosten lassen will und wer davon am meisten profitiert, werden mit kleinlicher Hartnäckigkeit die differierenden nationalen Anliegen eingebracht und festgehalten. Das führt mit schöner Regelmäßigkeit zu „maximalistischen“ Kompromissen, und die versammelten Landwirtschaftsminister setzen die verschiedenen Preise regelmäßig um einige Prozent über dem Kommissionsvorschlag an. Nächtelang gerungen wird um das Monopol an Fischgründen und ob Oliven, Orangen und andere weniger gemeinschaftswichtige Produkte aus Italien (und nun auch Griechenland) in den Genuß derselben Marktregelungen kommen sollten wie die Produkte der vorherrschenden Ökonomien in den ‚gemäßigten Zonen‘. Da stehen „Nettozahler“ gegen „Nettoempfängerländer“: Großbritannien wehrt sich mit derselben Hartnäckigkeit, mit der es seine Fischereiindustrie verteidigt, gegen den ‚Automatismus‘ des steigenden Agrarhaushalts, der den Vorzug der nationalen Arbeitsteilung zwischen einer begrenzten, aber ausreichend kapitalisierten Landwirtschaft (nebst ausgedehnten Nahrungsmittelimporten) und großer Industrie immer mehr zu einem relativen Nachteil für die englische Nation macht, so sehr auch die steigenden Kosten auf die Arbeiter abgewälzt werden; bei diesem Angriff auf die ,Auswucherung‘ der Agrarpolitik findet es eine gewisse Unterstützung von Seiten der BRD, die sich den Markt für ihre Industrieprodukte mit laufenden Nettozahlungen an den gemeinsamen Haushalt erkauft. Und die reichen Länder des Nordens, die ihre Grundnahrungsproduzenten bevorzugt mit Garantien bedacht haben, runzeln gemeinsam die Stirn über die ‚Hilfen‘ für die Südproduzenten, die spätestens mit dem Beitritt Griechenlands für überhöht angesehen werden.

Daneben bemühen sich alle Nationen je für sich, das gesamteuropäische Bauernlegen im jeweiligen nationalen Sinne zu veranstalten, und lassen sich die Subvention französischer Hammel nach Großbritannien, deutschen Käses mit künstlichem Schafsgeschmack nach Griechenland und italienischer und holländischer Tomaten nach Deutschland noch einmal Milliarden kosten. Umgekehrt steht ein jeweils nationaler Ausgleich für die Modifikationen des Agrarpreisgefüges an, die sich im Gefolge der Wirkungen der national unterschiedlichen Kapitalakkumulation auf die Wechselkurse eingestellt haben. So wurde ein weiteres System der Abschöpfungen erfunden, die Rechnungseinheit, einst auf der Basis fester Paritäten 1 Dollar gleichgesetzt, ist ,grün‘ geworden, und der gemeinsame Markt funktioniert nur noch über ein munteres Heraufsteuern und Heruntersubventionieren der Agrarprodukte beim Überschreiten der Grenze, weil kein Staat bereit ist, bei Auf- oder Abwertung die Agrarpreise, also die auf Landeswährung lautenden gemeinsamen Preise im selben Maße auf Kosten seiner Produzenten oder Konsumenten ab- oder aufzuwerten. Daß damit die „einzige wirkliche Klammer der EG“ sich in lauter „nationale Märkte“ aufgelöst habe, und die nationalen Preisunterschiede bei Landwirtschaftserzeugnissen inzwischen größer sind als vor Gründung der EG, beklagen allerdings nur diejenigen, die den gemeinsamen Markt gern für ein friedliches Hin und Her von Gebrauchswerten halten wollen. Die europäischen Politiker dagegen handhaben das System des Währungsausgleichs, der für jedes Produkt gesondert festgelegt wird, als probates Mittel, um die gemeinsamen Preise und damit auch Import und Export national zu korrigieren. Deswegen ist auch ein erster Anlauf zur Einigung auf eine ‚Europäische Rechnungseinheit‘ für alle Gemeinschaften 1978 gescheitert, und auch das neue Europäische Währungssystem hat die „grünen Währungen“ und ihre Folgen nicht aus der Welt schaffen können.

4. Die diversen Gemeinschaften der EG und ihre Konsequenzen führen also zu allem anderen als dem erklärten Ziel, die „harmonische Entwicklung (der Volkswirtschaften) zu fördern, indem sie den Abstand zwischen einzelnen Gebieten und den Rückstand weniger begünstigter Gebiete verringern“ (EWG-Vertrag, Präambel). Vielmehr verschärft der Fortschritt des Wirtschaftsbündnisses die Unterschiede zwischen den verschiedenen Branchen, Regionen und Ländern. Je nach den Ausgangsbedingungen, die sie für den angestrengten Produktivitätsvergleich der nationalen Kapitale und Nationalökonomien mitgebracht haben. Die Vorzüge und Nachteile ‚kapital-‘ oder ‚arbeitsintensiver‘ Produktionsmethoden machen sich da je nach Preis der Ware Arbeitskraft im Verhältnis zu ihrer Leistung und zu den Mitteln des Kapitals, diese zu benutzen, ebenso geltend, wie die Besonderheiten der Stahlproduktion und des Agrarmarkts sowie die verschiedenen Arten und ‚Grade der Industrialisierung‘ in den Ländern der Gemeinschaft und ihren Regionen. Die freigesetzte Konkurrenz im gemeinsamen Markt zieht da – noch befördert von den staatlichen Anstrengungen, die Hauptträger des nationalen Reichtums zu unterstützen – immer mehr Kapital und Arbeit in den ‚industriellen Ballungsräumen‘ zusammen, und die Agrarpolitik führt zu einem steten Zustrom von Expropriierten und einer stets überproportionalen offenen und versteckten Arbeitslosenzahl in den ländlichen Regionen. Die Gemeinschaft hat sich für den Umgang mit diesen ‚Struktur- und Regionalproblemen‘ für mitzuständig erklärt, soweit es die Souveräne für die Brauchbarerhaltung der nützlichen Partnerschaften nötig erachtet haben. Die Rücksichtslosigkeit, mit der sie sich die „Probleme“ geschaffen haben, die nur die andere und wenig ins Gewicht fallende Seite der Konzentration auf die aussichtsreichen Mittel nationalen Wachstums sind, hat diese Gemeinschaftsverantwortung allerdings von vornherein in engen Grenzen gehalten. Die Europäische Investitionsbank, die Struktur- und Regionalverbesserungen, welche für den gemeinsamen Markt von Nutzen sind, fördern soll, hat jahrelang ein wenig bemitteltes und aktives Schattendasein geführt. Außer bei Kohle und Stahl, deren Konjunkturen und damit auch regionale und soziale Folgen sich von Anfang an besonderer europäischer Aufmerksamkeit erfreut haben und deren Krisen daher mit Kohlepfennig und anderen Mitteln zur Ansiedlung neuer Industrien und Umschulung von Arbeitskräften mitbewältigt wurden, und außer dem kleineren Teil des Agrarfonds, der unter dem Titel ‚Ausrichtung‘ für die Finanzierung allgemeiner Voraussetzungen der landwirtschaftlichen Produktivitätssteigerung vorgesehen ist, haben sich die Mitgliedsländer erst nach dem Ende der ‚Wirtschaftswunderperiode‘ dazu aufgerafft, die wachsenden ‚Ungleichgewichte‘ als störend zur Kenntnis zu nehmen. Seit Anfang der siebziger Jahre gibt es daher einen Regionalfonds, der sich – nach Kategorien von ‚Notstandszonen‘ abgestuft – mit bis zu 35 Prozent an nationalen Kompensationsmaßnahmen beteiligt.

Allerdings sorgt der gemeinsame Wille, diese Haushaltsposten nicht übermäßig groß werden zu lassen, und die Regelung des Anspruchs auf diese paar Milliarden dafür, daß dieser Preis, den die potenteren Staaten für die Anstrengungen der strukturschwächeren zahlen, nationale Rückstände zu beseitigen, nicht zu dem vielbeschworenen, angeblich beabsichtigten „Finanzausgleich zwischen reichen und armen Staaten“ wird. Feste Einzahlungs- und Auszahlungsquoten spiegeln die relativen Unterschiede so wenig wieder, daß Italien, Irland und Griechenland unverhältnismäßig schlecht abschneiden. Bei den Notstandsgebieten findet sich in der obersten Kategorie neben Grönland und Süditalien auch Westberlin und in der dritten Kategorie das Grenzgebiet zur DDR vereint mit Bornholm und Samö. Unzuverlässige Schuldner wie Italien erhalten nur einen ganz geringen Prozentsatz nichtrückzahlbarer Zuschüsse und bringen so wenig Fähigkeit oder Interesse an der notwendigen Eigenbeteiligung an „lohnenden Projekten“ auf, daß sie die ihnen zustehenden Kontingente nicht einmal voll ausschöpfen können. Dafür genießen sie aber die Freiheit, die im Schacher um Quoten, Projekte und Kreditbedingungen ergatterten Mittel bevorzugt in die nördlicheren Regionen zu stecken, weil sie sich davon einen größeren Beitrag zur nationalen Wirtschaftskraft erwarten. Damit die Gemeinschaftsmittel nicht zu einer ungebührlichen Einmischung in die Wirtschaftspolitik der Staaten führen, die schließlich selbst entscheiden wollen, welche Region, welche Branche sie wie ,entwickeln‘, bleibt die Verwendung der Mittel nämlich ganz in nationaler Hand. Der gegenseitige Respekt gewährleistet also, daß die Gemeinschaftsmittel ein frei verfügbarer Zusatz zu den einzelstaatlichen Maßnahmen bleiben. Die Ansiedlung von neuen Industrien im Ruhrgebiet wird ebenso bezuschußt wie die ‚Arbeitsplatzbeschaffung‘ im Mezzogiorno durch staatliche Sonderangebote an internationale Konzerne, nachdem die Förderung von Kleinunternehmen durch den italienischen Staat eingestellt wurde. So bietet die geduldete und beförderte nationale Kalkulation bezüglich der „Mobilisierung des Primärsektors“ und „Umstrukturierung des Sekundärsektors“ die Gewähr, daß sich die „Entwicklungsunterschiede“ zwischen den Regionen nicht verringern, sondern vergrößern; weil die „Entwicklung“ „lohnende Projekte“ fördern soll, und das heißt kapitalistische Unternehmungen, die sich auch für den Staat auszahlen.

5. Die unterschiedlichen Konsequenzen des gemeinsamen Marktes für den laufenden Vergleich der Nationalökonomien, die mehr oder weniger gelungene Durchsetzung der einen oder anderen Nation bei der Benutzung der anderen, und die dementsprechend unterschiedlichen Weisen des jeweiligen nationalen Umgangs mit diesen Ergebnissen machen sich im jeweiligen Stand des Nationalkredits geltend. Kurz-, mittel- und langfristige Zahlungsbilanzschwierigkeiten wirken sich da ebenso aus wie ein dauernd gelingender Export; die beständige Erweiterung der fiktiven im Verhältnis zur realen Kapitalakkumulation schafft da Unterschiede im Vertrauen in die Währungen und jede nationale Kreditentscheidung zeitigt Änderungen in der Nachfrage und im Angebot an Devisen, und wird auch daraufhin kalkuliert. Denn es hängt von der Entscheidung des Staates – und der Pressionen, die andere auf ihn auszuüben vermögen und ausüben – ab, wie er seine Währungshoheit für die Erhaltung seines Nationalkredits einzusetzen gewillt ist, wie er die Auswirkungen von Auf- und Abwertungen auf seinen Reichtum einschätzt. Das Ideal fester Währungsparitäten hatte deshalb nur einige wenige Jahre Bestand, denn der rücksichtslose Umgang der Amerikaner mit dem Dollar bescherte der ganzen restlichen Welt einige Jahre des ‚Zusammenbruchs des Weltwährungssystems‘ – und den europäischen Staaten ausgerechnet in den Zeiten härtester Auseinandersetzung um die Verteilung der Kosten für den unerwünschten Dollarsegen die Aufgabe, sich über die gemeinsame Regelung der Währungsprobleme Gedanken zu machen, die den gemeinsamen Markt zu ,sprengen‘ drohten. Denn der nationale Einsatz der Kredit- und Währungshoheit, durch den der Fall oder das Steigen des Vertrauens in die Währung und damit die Grundlage und das Maß aller ökonomischen Beziehungen zwischen den Staaten kompensiert oder umgekehrt anerkannt werden soll, schädigt ja im Verein mit den unausbleiblichen Reaktionen der Partner nicht nur die eine oder andere Nation. Er stellt das Einverständnis über Erfolg und Mißerfolg der Nationen und über die positive Bewältigung der daraus erwachsenden Differenzen grundsätzlich in Frage. So schlägt sich die EG seit Ende der 60-er Jahre damit herum, unter Wahrung der nationalen Souveränität über das A und O der wirtschaftspolitischen Aktivitäten, die Verfügung über den Nationalkredit, die Erhaltung seiner Wirkungen nach außen zu organisieren und dabei auf die unterschiedlichen Schwierigkeiten Rücksicht zu nehmen, welche die Erfolge jeder Nation der anderen in den Weg legen. Da mußte dafür gesorgt werden, daß zeitweilige oder dauernde ‚Zahlungsbilanzungleichgewichte‘ nicht unmittelbar die Währung tangieren, daß Auf- und Abwertungen in Grenzen gehalten und nicht ,im Alleingang‘ vollzogen werden; da mußte die Mitverantwortlichkeit aller Partner für die Stützung notleidender Währungen ebenso festgelegt werden wie Schranken für die Erpressung mit solchen Hilfsmaßnahmen. Und da mußten nicht zuletzt Anstrengungen unternommen werden, die Dollarwirkungen abzuschwächen und sich soweit wie möglich von der Notwendigkeit freizumachen, das immer lästiger werdende Weltgeld auch wirklich besitzen zu müssen.

Nach den unruhigen Zeiten der „Schlange im Tunnel“, die das Floaten gegenüber dem Dollar gemeinschaftlich organisieren sollte, und aus der doch immer mehr entscheidende Partner ausscherten, wenn gerade wieder ein Gemeinschaftsbeschluß gefaßt worden war, hat man es inzwischen immerhin zur ersten Stufe (und Aufschiebung der zweiten Stufe) eines „Europäischen Währungssystems“ gebracht, an dem sich nur Großbritannien und Griechenland nicht, und nur Italien und Irland zu gesonderten Bedingungen beteiligen. Dieses Instrumentarium zur wechselseitigen Stützung der Währungen und geregelten Veränderung ihrer Paritäten hat freilich nichts mit dem Ideal fester Paritäten zu tun, sondern geht gerade von ihrer laufenden Änderung aus. Einerseits ökonomisiert es über die mehrseitige Saldierung der Zahlungsbilanzen deren Ausgleich und macht ihn zur gesamteuropäischen Angelegenheit. Andererseits stellt es mit kurz-, mittel- und langfristigen Gemeinschaftskrediten sicher, daß es auf den aktuellen Zahlungsausgleich nur noch bedingt ankommt und langfristige Ungleichgewichte in gewissen Grenzen kompensiert werden. Dabei bewährt sich die wechselseitige Verpflichtung, bei Währungsschwankungen von zwei Währungen um mehr als 2,5 % gegeneinander bzw. 6 % für Italien und Irland, deren Stützung beiden zum Anliegen zu machen. So haften die Staaten gemeinsam für den Erhalt ihres Nationalkredits – und schaffen damit neue Bedingungen für Devisenspekulanten und Anlässe zu Klagen. Denn die europäische Hauptwährung, die DM, lastet jetzt nicht nur ihre Bewegungen allen anderen mit auf, sondern muß umgekehrt auch den Kurs von Ländern mit hoher Inflation mitfinanzieren, so daß sich die ‚Härte der DM‘ nicht mehr umstandslos auszahlt. Deswegen wundert es nicht, daß die regelmäßig notwendig werdenden Kursanpassungen jedesmal das „EWS-Gefüge knirschen“ lassen und die EWG-vertragsmäßigen Erlaubnisse für nationale Kredit- und Währungsmaßnahmen in akuten Notfällen weiterhin in Kraft sind. Auch hat die Erfindung einer Verrechnungseinheit, deren Wert durch einen Währungskorb mit unterschiedlicher Gewichtung der verschiedenen Währungen festgelegt wird, die „Los vom Dollar“-Fanatiker nicht befriedigt. Zwar taugt sie als Grundlage für die Festlegung der Wechselkurse, als Indikator für ihre Schwankungen sowie als Instrument für den Saldenausgleich zwischen den Währungsbehörden und verringert damit die Notwendigkeit des Einsatzes von nationalen Devisenreserven. Doch scheitert ihre ausgiebige Verwendung als Kredit- und Anleiheninstrument oder gar als internationales Zahlungsmittel daran, daß sie kein Nationalkredit ist, also keine Nation mit ihrer Wirtschaftskraft und politischen Macht für das Vertrauen in sie einsteht.

Dieses Vertrauen stellt sich um so weniger ein, als die „währungspolitische Zusammenarbeit“ die Gegensätze der nationalen Wirtschaftspolitik, die Souveränität im Schuldenmachen und ‑verwenden ausdrücklich anerkennt. Hier werden Grenzen gesetzt für wechselseitige Erpressung – und das fordert den Einsatz aller Mittel nationaler Wirtschaftspolitik nach außen und nach innen immer wieder heraus.

Der kapitalistische Fortschritt der europäischen „Vaterländer“

Mit den Freiheiten zu wechselseitiger Benutzung ihrer nationalen Ökonomie und wirtschaftspolitischen Hoheit, die sie einander einräumen, haben die kapitalistischen Demokratien Westeuropas eine durchgreifende Gleichschaltung ihrer Nationen ins Werk gesetzt. Kein Merkmal des Landes, seien es Größe, Bevölkerungsdichte, Klima oder Verkehrshindernisse; keine spezielle Tradition, noch nicht einmal in Sachen kapitalistischer Ausbeutung, seien es Betriebsformen, Freizeitregelungen oder die nationale Geschichte von Klassenkämpfen; keine regionale Borniertheit, seien es Gewohnheiten der Lebenshaltung oder Arbeitstugenden, kein eingebürgerter Kunstgriff der politischen Herrschaft, sei es bei der politischen Integration der Arbeiterklasse oder bei der Organisation des staatlichen Bestechungswesens; nichts existiert einfach in seiner Eigentümlichkeit fort; alles gerät in einen praktischen Vergleich, wird an seinem, und sei es noch so peripheren Einfluß auf die nationale Konkurrenz bemessen, wird zu einem Gesichtspunkt für die Bewältigung eines allgemeingültigen Maßstabs der ökonomischen und politischen Effektivität. Dasselbe umgekehrt: Die praktisch durchgesetzte Gleichheit der wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Maßstäbe treibt nationale Unterschiede und Besonderheiten hervor, in denen natürliche oder historische Eigentümlichkeiten eines Landstrichs, eines Menschenschlags oder einer nationalen Gesellschaft sich nurmehr als Ausgangspunkt wiederfinden; nur noch als durch die „gemeinschaftliche“ Konkurrenz geschaffene oder zumindest verwandelte sind solche Verschiedenheiten wirklich von Belang. Was die EG-Staaten Unterschiedliches sind, das sind sie durch ihre Identität, nämlich die Identität ihres Zwecks, in der Konkurrenz gegeneinander zu bestehen.

Es gehört zu den größeren Ironien der kapitalistischen Weltgeschichte, daß ausgerechnet die Nachfolgemacht des Weltkriegsverlierers, die BRD, hierbei in vieler Hinsicht mit ihren nationalen Besonderheiten die Maßstäbe gesetzt hat – die Effektivität der Ausbeutung betreffend ebenso wie bezüglich der Arten und Weisen, sie durchzusetzen bzw. mit ihr und ihren Wirkungen umzugehen. Ein Wunder, womöglich gar ein „Wirtschaftswunder“, ist das allerdings auch nicht.

1. Was die Rentabilität kapitalistischer Ausbeutung betrifft, so hat der amerikanische Nachkriegsbeschluß, die deutschen Westzonen zu einem Musterland gewinnbringender Dollaranlagen zu machen, im Laufe der Jahre die nachdrücklichsten Beispiele für die politökonomische Wahrheit geliefert, daß die vollständige Entwertung des Kapitals, einschließlich der Vernichtung von Produktionsanlagen, die beste Bedingung für seine Akkumulation darstellt. Wo die europäischen Siegermächte eine stützungsbedürftige, mit veralteten Anlagen produzierende nationale Ökonomie über den Krieg „gerettet“ hatten, deren Bankrott sie mit amerikanischer Kapitalhilfe abwendeten, da hatte die westdeutsche Industrie mit den Kriegszerstörungen und der Währungsreform jeglichen Bankrott hinter sich und ein aufbaufähiges Trümmerfeld vor sich. Nachdem mit der auf den Dollar gegründeten Währung ein Geld geschaffen war, mit dem Gewinne zu erzielen sich zuverlässig lohnte, war hier mit jeder ökonomischen Aktivität ein Geschäft zu machen; und die amerikanische Kapitalhilfe hatte nirgends Verluste eines unrentabel gewordenen oder werdenden Betriebs zu kompensieren, sondern nach ein für allemal erlittenen Verlusten diese Geschäftemacherei anzuheizen. Wo bei den siegreichen Nachbarn amerikanische Kapitalanleger als Konkurrenten von einheimischen, um ihren ökonomischen Bestand ringenden Firmen auftraten, ihr Erfolg ziemlich unmittelbar den Ruin einheimischen Kapitals bedeutete und deswegen US-Investitionen nur unter Vorbehalten und mit „üliberalen“ Einschränkungen geduldet wurden, da war die BRD eine unbeschränkt zugängliche Anlagesphäre, die jedem amerikanischen und daneben jedem einheimischen Kapital eine taufrische Chance bot und die Konkurrenz zwischen ihnen erst ganz neu eröffnete. Schranken an der Zahlungsfähigkeit des einheimischen Publikums, geschweige denn des Proletariats fand die Kapitalakkumulation auf westdeutschem Boden zwar, setzte sich aber von Beginn an zielstrebig über sie hinweg; denn die amerikanischen Investoren erschlossen sich von hier aus neue Märkte vor allem auch außerhalb der BRD, und in gleicher Weise nutzten die bundesdeutschen Unternehmer die neuen Freiheiten des Welthandels von Beginn an – ein „Wiederaufbauwerk“ vor allem an den Kapitalkonten der maßgeblichen „Wirtschaftssubjekte“ – für eine noch nie dagewesene Exportoffensive. Derweil suchten die großen westeuropäischen Konkurrenten sich in ihrer Außenwirtschaft am kolonialistischen Zugriff auf die Leistungen und „Reichtümer“ ihrer speziellen Hinterländer schadlos zu halten: an Ländern ohne florierende eigene kapitalistische Produktion; deswegen auch ohne eine kapitalistische Effektivierung der eigenen nationalen Produktionsweise zu erzielen. Alle diese „Tugenden“ der „Wiederaufbauphase“ wurden auch nach deren Ende als Linie der bundesdeutschen Kapitalakkumulation und Wirtschaftspolitik beibehalten: Unterstützungsbedürftige Wirtschaftszweige kamen gar nicht erst hoch oder wurden radikal abgebaut; wo Subventionen vergeben wurden, da glichen sie keine Verluste aus, sondern förderten die gewinnträchtigsten Geschäfte erst recht; der Export blieb das bewußt eingesetzte wichtigste Mittel, um die Kapitalakkumulation im Inland voranschreiten zu lassen und doch zugleich von ihrer Schranke an inländischer Zahlungsfähigkeit zu emanzipieren. Auf dieser Grundlage wurde alles das, was ausgerechnet die französischen Regierungen an Vorformen einer Wirtschaftsunion mit Westdeutschland in die Wege leiteten, um sich den Zugriff auf die westdeutsche Montanindustrie und später einen Nutzen aus dem westdeutschen Dauerboom zu sichern, gerade umgekehrt zu einer Extrachance für das hier tätige Kapital, sich erfolgreich mit der auswärtigen europäischen Konkurrenz zu messen. Speziell im Montanbereich hatte und hat dessen Überlegenheit die Wirkung, daß die anderen Staaten, um ihre nationale Schwerindustrie zu retten, das zunächst durch die Nachkriegssituation bedingte unrationelle Verfahren einer staatlichen Protektion des Verlustemachens verewigen mußten. In dem Maße, wie die deutschen Exporterfolge auf dem „Gemeinsamen Markt“ die Konkurrenzbedingung für das industrielle Kapital verschärften, wurde dann auch – schon vor und erst recht nach ihrer Integration in die EG – die britische Konkurrenz mit den Nachteilen ihres „klassischen“ Verfahrens konfrontiert, die nationale Kapitalakkumulation weniger über die Entwertung und rentablere Neuanlage im eigenen Land als vielmehr über den Kapitalexport in alle Welt voranzutreiben, ihre Emanzipation von inländischen Schranken also nicht über den Export, sondern von vornherein durch „Auswanderung“ zu bewerkstelligen: Im Vergleich mit den Fortschritten auf dem europäischen Kontinent war dem britischen Kapital auf diese Weise seine Konkurrenzfähigkeit im eigenen Land verlorengegangen. In dem festgehaltenen Entschluß zu einem gemeinsamen Markt mit der BRD erlegten deren große Konkurrenten ihrem industriellen Kapital also gewissermaßen den Zwang auf, nachträglich und unter entsprechend schwer zu verkraftenden Verlusten und Konkurrenznachteilen quasi ein ökonomisches Äquivalent für den Vorteil herzustellen, den das westdeutsche Kapital aus Niederlage, Zerstörung und Währungsreform gezogen hatte: eine radikale Entwertung des produktiven Kapitals. Die Wirtschaftsprogramme der Ministerpräsidenten Barre und Thatcher zeigen die Entschlossenheit jedenfalls der zuständigen Regierungen, dieses roßkurmäßige nationale Sanierungsprojekt durchzuziehen, auch wenn seine erste Wirkung – sehr sachgerecht und planmäßig – in nichts anderem als einer weitgehenden Ruinierung einheimischer Kapitale besteht. – Derselbe Entschluß, in der europäischen Konkurrenz der industriellen Kapitale nach westdeutschen Maßstäben mitzuhalten, zog beim vierten großen Konkurrenten Italien genau umgekehrte Konsequenzen nach sich. Ähnlich wie in der BRD gab es dort nämlich nach Kriegsende weniger eine komplette, aber wenig produktive kapitalistische Industrie aufrechtzuerhalten, sondern weitgehend erst neu aufzubauen; anders als in der BRD war die dafür notwendige Konzentration der nationalen „Wirtschaftskraft“ in dem erforderlichen Ausmaß, um die Kapitalakkumulation in eine konkurrenzfähige Größenordnung hinaufzutreiben, allerdings erst herzustellen. Erst infolge seines EG-Beitritts hat Italien sich demgemäß zu einer industriellen „Großmacht“ gemacht und zu diesem Zweck so radikal, wie es jetzt mittlerweile der Fall ist, in einen kapitalistischen Norden und einen als unbrauchbar abgeschriebenen Süden auseinandersortiert: Dort sind die Ergebnisse innereuropäischer Gleichmacherei durch die harten Gesetze der Kapitalakkumulation als „mediterraner Volkscharakter“ zu besichtigen.

2. Nicht bloß das Kapital fand im westlichen Nachkriegsdeutschland eine ganz außerordentlich günstige Anlagesphäre vor; auch die neue Staatsgewalt zog aus der Situation der totalen Niederlage erhebliche ökonomische Vorteile. Wo die Siegermächte sich bis an den Rand des Ruins ihres nationalen Kredits bei den eigenen Untertanen verschuldet hatten und mit dem Empfang amerikanischer Finanzhilfe ihren Kriegsschulden neue Verbindlichkeiten hinzufügten, ohne doch dadurch ihre staatlichen Kreditzeichen, die nationale Währung, durchgreifend zu sanieren, stand die bundesdeutsche Regierung nach erfolgter Währungsreform praktisch schuldenfrei und mit ganz frischem, noch unverbrauchtem Kredit, also stabilem Kreditgeld da. Unproduktive Ausgaben für die äußere Sicherung der Staatsgewalt blieben der BRD zunächst völlig erspart. Während die siegreichen Nachbarn ansehnliche Militärapparate aufrechterhielten, Frankreich vor allem ausgedehnte Kolonialkriege führte, sie außerdem noch verlor und nach deren Abwicklung die kostspielige Entwicklung einer eigenen Atombewaffnung in Angriff nahm, ohne aus diesem Erpressungsmittel einen irgendwie gearteten Vorteil ziehen zu können, sammelte der bundesdeutsche Finanzminister in seinem legendären „Juliusturm“ einen Staatsschatz an, der den Übergang zur Wiederbewaffnung der Nation finanziell unproblematisch gestaltete. Die BRD reservierte sich als ‚geteilte Nation‘ den innerdeutschen Handel zu kostenlosen Vorzugsbedingungen und partizipierte ohne alle eigene Kraftanstrengungen vorteilhaft an der Auflösung der Kolonialreiche. Fast drei Jahrzehnte lang machte der westdeutsche Fiskus seinen Kapitalisten auf dem nationalen Geldmarkt kaum zinsentreibende Konkurrenz, die Beanspruchung des eigenen Kredits durch den Staat selbst hielt sich in so engen Schranken, daß die BRD bis heute mit den niedrigsten Inflationsraten unter allen vergleichbaren Nationen aufwarten kann – ein nicht unbeträchtlicher Vorteil für die Methoden der Kapitalakkumulation, die in der BRD geradezu schulmäßig die andauernde Exportoffensive später ergänzten, nämlich den Einkauf in die Produktion der kapitalistischen Konkurrenten, derzeit auch in den USA und Japan. Und wo das „Modell Deutschland“ zu massiverer Staatsverschuldung überging, tat es das sehr konjunkturbewußt und ‑förderlich: Ausgerechnet mit einem Dutzend-Milliarden-Programm für die „Ankurbelung der Wirtschaft“, von dieser zielstrebig für den erfolgreichsten Rationalisierungsschub der deutschen Nachkriegsgeschichte ausgenutzt, hat der Schuldenstand der BRD erst eine ähnliche Höhe erreicht wie der ihrer kapitalistischen Nachbarn. So steht der bundesdeutsche Staat auch für die neue Wirtschaftspolitik der kapitalistischen Demokratien in den 80er Jahren bestens gerüstet da. Denn gerade wo jede der verbündeten Regierungen ihre nationale Ökonomie für ein Aufrüstungsprogramm von ganz neuer Größenordnung in Anspruch nimmt, kommt es um so mehr auf ein „gesundes“ Verhältnis zwischen der dazu nötigen beschleunigten Akkumulation von Staatsschulden und einer soliden realen Akkumulation des produktiven Kapitals der Nation an: Dessen Konkurrenzfähigkeit ist da mehr denn je eine Staatsaffäre. – Wieder weist Italien die Ähnlichkeit mit bundesdeutschen Verhältnissen auf, daß der Staat dort, ebenfalls nicht allzusehr beansprucht durch die unproduktiven Lasten eines ausgedehnten Militärapparats, seinen nationalen Kredit auf die Förderung der nationalen Kapitalakkumulation verwendet hat; allerdings wiederum unter teilweise umgekehrten Vorzeichen. Eine nationale Akkumulation weitgehend auf Staatskredit zu gründen, ist eben etwas anderes, als sie mit Staatskrediten zu neuen Großtaten und Erfolgen anzustacheln. Im italienischen Fall bleibt die Finanzhilfe durch den Staat Geschäftsbedingung: Daß damit tatsächlich beträchtliche Geschäfte gemacht werden, ist durch den kontinuierlichen starken Verfall des staatlichen Kredits, ausgedrückt als Inflationsrate, erkauft. Im Geschäftsleben wird Beschaffung bzw. Vergabe staatlicher Subventionen zu einer Dauereinrichtung; und deren Abwicklung gibt westdeutscher Selbstgerechtigkeit einmal mehr Anlaß, Korruption, und zwar ausgerechnet da, wo sie als Normalfall auftritt, für eine Frage von Charakter und Breitengrad zu halten.

3. Maßstabsetzend, und insofern revolutionierend auf die innere staatliche Verfassung ihrer EG-Partner, hat die BRD schließlich vor allem hinsichtlich der Freiheit gewirkt, die das für den erfolgreichen „Wiederaufbau“ benützte Volk seinen politischen Meistern eben dafür eingeräumt hat. Sicher, an Nationalismus stehen die Untertanen der verschiedenen Staaten einander bestimmt nicht nach. Eine besondere Funktionalität läßt sich dem bundesdeutschen Nationalismus aber dennoch nicht absprechen; und daß ausgerechnet für die Ausbildung dieses speziellen Gehorsams wieder der verlorene Krieg die entscheidende Bedingung war, das stellt der Borniertheit bundesdeutscher Staatsfrömmigkeit ein niederschmetterndes Qualitätszeugnis aus. Mit dem allgemeinen Bankrott der deutschen Nation hatten Niederlage und Nachkriegselend jedes historische Bestimmungsmoment im Wert der Arbeitskraft aufgehoben und den physischen Ruin oder, dasselbe positiv, das bloße Überleben zur Grundlage ihrer Wertschätzung und Bezahlung gemacht. Totale Anspruchslosigkeit war die Perspektive, die die westdeutsche Obrigkeit, ergänzend zu der praktischen Erpressung, sich unter den wiederhergestellten kapitalistischen Bedingungen nützlich zu machen, ihren Untertanen anzubieten hatte. Und das wurde von kaum jemandem als bittere Ironie verstanden; denn eine Perspektive für den Wiederaufbau der Nation unter amerikanischem Protektorat war das immerhin schon und somit das einzige, aber auch sehr offensive und sogar friedliche „Angebot“ an den Nationalstolz der Kriegsverlierer. Besatzungsmacht und politische Führung offerierten ihrer Arbeiterklasse mit dem DGB zugleich eine ganz eigenständige, als Interessenvertretung auftretende Organisationsform für die ihr abverlangte Bereitschaft, konstruktiv und unbedingt loyal mitzutun. Und tatsächlich beweisen die bundesdeutschen Gewerkschaften, ganz im Sinne ihrer Erfinder, bis heute ihre bedingungslose Botmäßigkeit für „ihren“ Staat und den Nutzen „ihres“ Kapitals mit Lohnforderungen und ‑abschlüssen, die den Arbeitgebern seit jeher jede Freiheit zur Kalkulation mit Sonderzahlungen gegen Sonderleistungen verschafft haben. Daneben führen sie einen Kampf um den sozialen Frieden und gewerkschaftliche Mitverantwortung, der den Klassenkampf ganz der anderen Seite überläßt.

Dank der EG ist das alles weit mehr als eine spezifische nationale Verächtlichkeit des westdeutschen Proletariats. In dem Maße, wie die Erfolge des westdeutschen Kapitals den Nachbarn die gültigen Standards effektiver Ausbeutung vorgeben, ist auch klargestellt, was deren Proletariat sich gefallen lassen muß damit die Nation im „Wirtschaftsbündnis“ besteht. Bei den Siegermächten war und ist dafür ein Angriff auf den gewohnten Lebensstandard ihrer Volksmassen fällig, der ganz analog zur Entwertung des produktiven Kapitals die Reduktion des Werts der Arbeitskraft auf das westdeutsche Nachkriegsniveau gewissermaßen nachholt. Historische Elemente in der Bestimmung von Lohn und Leistung, Verbrauchsgewohnheiten ebenso wie die Einrichtung des Arbeitstages betreffend, gelten innerhalb der EG als „irrationale“ Überbleibsel aus einer quasi vorkapitalistischen Welt. Und soweit sie sich auf die Verteidigung solcher historisch-moralischen Momente in Einsatz und Bezahlung der Arbeitskraft kaprizieren, werden die Gewerkschaften mancher EG-Staaten in Programm, Strategie und Taktik auf andere Weise ebenso absonderlich wie der DGB: Wo der DGB „Mitbestimmung“ fordert, entdecken französische Gewerkschaftskämpfer ihre Liebe zur mittelgroßen Industrie und versuchen durch „Besetzung“ Konkursbetriebe zu retten, und mancher englischen Gewerkschaft ist die Rettung einer berufsspezifischen Besonderheit längst wichtiger, als daß mit dieser ein materieller Nutzen verbunden ist. – Allein Italien bewältigt den Umgang mit der nationalen Arbeitskraft nach Maßgabe westdeutscher Effektivitätskriterien wieder gewissermaßen andersherum. Der historische Ausgangspunkt und moralische Maßstab für die Bestimmung des Werts der Arbeitskraft ist auch hier nicht ein erreichtes Niveau, das durch die innereuropäische Konkurrenz praktisch für zu hoch befunden wird, sondern die Alternative eines Pauperismus, wie er, regional geschieden, aber als Alternative sehr real, auf dem Lande, speziell im Landleben des Mezzogiorno, realisiert ist. Die inzwischen sehr kräftig in Frage gestellten Errungenschaften der Arbeiterbewegung wie die „scala mobile“, die automatische Lohnangleichung an die offiziell festgestellte Inflation, sind das Resultat eines Kampfes um das Existenzminimum, und das System der „cassa integrazione“, das Entlassungen von Stammarbeitern erschwert, ist nur der niedrige Preis für das sozialstaatlich ungebremste Elend der Millionen italienischer Arbeitsloser. Die Billigkeit der Arbeitskräfte, mit der die italienische Industrie ihre subventionierte Konkurrenzfähigkeit bewerkstelligt, ist allerdings nicht der Grund oder zumindest nicht der einzige für die Militanz, mit der Teile der italienischen Arbeiterklasse bisweilen ihre Forderungen an ihren Staat anmelden: Der Anspruch auf staatliche Gerechtigkeit ist notwendigerweise oppositionell und brisant in einem Land, wo Kapitalisten und Bürokraten einander so direkt in die Hände arbeiten, wie es in Italien zur bleibenden Verlaufsform einer den EG-Standards unterworfenen Kapitalakkumulation geworden ist. – Den regierenden Herrschaften aller EG-Länder erscheint natürlich im Vergleich zu den wie auch immer motivierten und gearteten Abwehrkämpfen ihres Proletariats das bundesdeutsche Arbeitsleben und Gewerkschaftswesen als ziemlich ideal. Daß der DGB sich seinen ausländischen „Schwester“-Organisationen als Vorbild empfiehlt, begegnet da gewiß keinen nationalistischen Bedenken – am liebsten würden sie ihn per Gesetz bei sich einführen.

4. Indem die in der EG vereinigten Nationen sich so an den durch die anderen – und in maßgeblichen Bereichen alle anderen Nationen an den durch die BRD – gesetzten Bedingungen der Ausbeutung und des Umgangs mit ihr abarbeiten, dabei ihre herkömmlichen Besonderheiten ablegen und stattdessen – auf deren Grundlage – nach dem Maßstab kapitalistischer Effektivität neue Eigentümlichkeiten und Borniertheiten entwickeln, bekommen die Patrioten aller Länder neue Anlässe und Gegenstände für ihren Nationalstolz. Die Unmittelbarkeit des Vergleichs, dem sie unterschiedslos unterworfen sind, läßt die übliche kulturimperialistische Abschätzung auswärtiger Besonderheiten sogleich in die bekannten, national unterschiedlichen Mischungen aus Neid und Verachtung übergehen. Im Verachten fremder Völkerscharen sind die Bundesdeutschen Meister, nicht so sehr weil die Maßstäbe, denen sie unterworfen sind, weithin die maßgeblichen sind, sondern weil sie aus dem durch Krieg und Niederlage erzwungenen und jahrzehntelang aufrechterhaltenen Verzicht auf das alte „Deutschland über alles!“ gelernt haben, ihren Nationalismus in ihre supranationalen Tugenden zu legen und so mit dem unanfechtbar guten Gewissen des Nicht-Nationalisten zu verknüpfen. Westdeutsche Kosmopoliten jeden Standes sind ziemlich fest davon überzeugt, daß die großen EG-Partner ökonomisch und staatlich im Grunde ziemliche Nieten sind und sich mit ihrem bedenkenlosen Nationalismus an der EG und vor allem der bundesdeutschen Wirtschaftskraft schadlos halten wollen – und sehen sich darin noch bestätigt, wenn befreundete Patrioten sich empört über die „germanizzazione“ ihres geliebten Vaterlandes beschweren statt über die einheimische Klasse, die im praktischen Konkurrenzvergleich mit der BRD ihre Chancen wahrnimmt und ihr Geschäft ebenso wie den Reichtum ihrer Nation allemal wahrt und mehrt.

Die EG-Organisation: Institutionen des innereuropäischen Imperialismus.

Das Interesse kapitalistischer Staaten am Reichtum anderer Nationen, an dessen Nutzbarmachung für die eigene Ökonomie, an entsprechendem politischen Einfluß, d. h. an Mitteln zur Erpressung anderer Regierungen sowie an gesicherten Methoden, diese wirksam werden zu lassen, der Imperialismus bürgerlicher Staaten also richtet sich vor allem auf und gegen ihresgleichen. Dieses Interesse ist der Grund für Kriege – auch durch Kolonialkriege sollten allemal Streitfragen der Konkurrenz zwischen den Kolonialmächten um Ressourcen und strategische Positionen in aller Welt entschieden werden – ganz ebenso wie für das „europäische Einigungswerk“. Ihrem wirtschaftspolitischen Inhalt nach ist die EG in erster Linie die Praxis des innereuropäischen Imperialismus der beteiligten Staaten, und zwar auf Grundlage der von den USA mit und nach ihrem Sieg im Weltkrieg geschaffenen militärischen, weltpolitischen und weltwirtschaftlichen Bedingungen: Ohne freie Verfügung, schon gar nicht für die Austragung ihres Konkurrenzkampfes, über das Mittel der Erpressung fremder Souveräne: das nationale Militär; ökonomisch unter der Prämisse eines weltumspannenden, von den USA mit den Mitteln ihres nationalen Kredits als die auswärtige Sphäre ihrer nationalen Kapitalakkumulation organisierten Handels und Kapitalmarkts; also auf der Grundlage einer auf den Bereich der Ökonomie eingeschränkten, in diesem Bereich aber von gewissen prinzipiellen Schranken freigesetzten Konkurrenz.

1. Zu seiner Abwicklung bedarf dieser eigentümliche innereuropäische Imperialismus eigener politischer und diplomatischer Methoden. Einerseits ist ja die Souveränität der beteiligten Staaten über ihre Erpressungsmittel gegeneinander, damit aber das übliche Verfahren zwischenstaatlicher Einigung relativiert: Interessen des Kontrahenten militärisch in Frage zu stellen, steht ihnen als NATO-Partnern und Mitmachern des Ost-West-Gegensatzes nicht frei; die Anwendung außenwirtschaftlicher Waffen gegeneinander steht unter dem Vorbehalt, daß die Verfügung darüber und zum Teil sogar deren Existenz selbst auf den von den USA gesetzten Einrichtungen des Waren- und Kapitalverkehrs beruht, die USA also allemal die Berücksichtigung ihrer Interessen erzwingen können. Umso durchschlagender ist eben deswegen andererseits das Interesse eines jeden Staates an dauerhafter Benutzung der Ökonomie seiner Nachbarn zum eigenen Vorteil, folglich der Wille zu permanenter Einigung untereinander. Aus ein und demselben Grund: weil der überlegene Konkurrent USA seine weltweiten Interessen zu den Bedingungen imperialistischer Konkurrenz gemacht hat, ist für die europäischen Großmächte das Streben nach europäischer Hegemonie unabweisbar, seines einzigen wirklich harten Mittels aber beraubt und deswegen zu seiner Durchsetzung ständig auf Übereinstimmung mit den gleichartigen Bestrebungen der Konkurrenten oder mit positiven, nicht einfach erpresserisch diktierten negativen, Vorteilsrechnung der kleineren ,,Partner“ angewiesen. Dieser Widerspruch ist unauflöslich; genau an ihm wollen alle beteiligten Souveräne aber festhalten. So wird er institutionalisiert: Alle Gremien und Einrichtungen der EG sind die zur festen Organisation gewordene Methode des speziellen internen Imperialismus der beteiligten Souveräne:

Das beständige Interesse eines jeden Partnerstaates, zu seinem Sondervorteil eine Einheit mit den anderen herzustellen, möglichst ohne mit einem Sonder-Nachteil dafür bezahlen zu müssen, bringt den „Ministerrat“ bzw. den „Rat“ der Regierungschefs als ein beschlußfassendes Gremium hervor. Der sorgfältig gepflegte diplomatische Schein, hier handelte es sich um ein Kollegialorgan zur Entscheidung gewisser ihrer Natur nach gemeinschaftlicher Angelegenheiten, hat seine reale Grundlage in der grundsätzlichen Übereinkunft der Beteiligten, das von ihnen allen als Instrument ihres Vorteils kalkulierte imperialistische Mittel, die Einigung mit den „Partnern“, sei dadurch zu effektivieren, daß es formell von den damit verfolgten besonderen nationalen Zwecken so weit wie möglich emanzipiert und als quasi objektive Größe behandelt wird. In Form von Fristenregelungen erlegen die diversen Ministerräte der EG sich einen „Einigungszwang“ auf, den sie auch recht sorgfältig genau so respektieren, wie er gemeint ist: mit Nachtsitzungen, in denen die gegensätzlichen Ansprüche in den unterschiedlichsten Gemeinschaftsfragen gegeneinander aufgerechnet und ‚packed deals‘ vorbereitet werden, und den zu einiger Berühmtheit gelangten angehaltenen Uhren, wenn bis zum festgesetzten Termin gewisse Übereinkünfte noch nicht erzielt sind. Die werden dann entweder gefunden – oder irgendeine Seite beharrt auf der Unvereinbarkeit ihres Interesses mit dem der anderen, betreibt womöglich eine Zeitlang eine „Politik des leeren Stuhls“ und entlarvt den selbstgeschaffenen „Zwang“ als ein sehr mattes Instrument, um Gemeinschaftsdisziplin herzustellen. Denn die ist ja an und für sich auch keines der beteiligten Souveräne Zweck, und deshalb bleibt die Abtrennung der angestrebten Einigung von dem damit voranzubringenden „nationalen Egoismus“ immer bloß formell und findet seine Schranke rein institutionell in dem von Frankreich gegen die Vertragsbestimmungen durchgesetzten Prinzip der Einstimmigkeit der Beschlüsse. Das Anliegen aller Beteiligten, „Partnern“ mit abweichenden Interessen die erzielte oder die Erzielung einer Übereinkunft als Zwang aufzuerlegen, erlahmt deswegen aber noch lange nicht, im Gegenteil: im EG-Normalfall übersetzt der nationale Egoismus jeder Partei sich in den formellen Anspruch, Einigung müsse erreicht werden. Der diplomatische Schein, im EG-Ministerrat würde über „gemeinsame Angelegenheiten“ befunden, ist genau aus diesem Grunde kein bloßer Schein, sondern eben die Verlaufsform einer von allen als dauerhafte gewollten Konfrontation der engagierten imperialistischen Standpunkte, deren diplomatische Durchschlagskraft sich daran bemißt, wie weit die bloße Drohung mit dem erpresserischen Einsatz der bestehenden Abhängigkeiten glaubwürdig ist und deshalb zieht. Konsequenterweise bleibt weder die Vorbereitung der „kollegialen Beschlußfassung“ des Ministerrats noch die Verwaltung seiner Beschlüsse einfach die Sache der beteiligten Staaten, sonderen wird daneben zur Aufgabe einer eigenen, einem Regierungsapparat nachempfundenen Bürokratie mit der „Kommission“ als Quasi-Kabinett an der Spitze. Die Vorstellung, damit wäre der Anfang für eine wirklich supranationale EG-Regierung gemacht oder wenigstens ein Gegengewicht zu dem angeblich immer zu sehr an nationalen Sonderinteressen statt allein am Wohl der Gemeinschaft interessierten Ministerrat geschaffen, gehört in den Bereich des ideologischen Einigungsidealismus, der über den imperialistisch-hegemonialen Zweck der am europäischen Einigungswerk beschäftigten Staaten vornehm hinwegsieht, und vielleicht auch zum berufsbedingt falschen Bewußtsein der EG-Beamten. Tatsächlich jedenfalls hat noch kein nationales Ministerium auch nur die kleinste Abteilung aufgelöst, weil dessen Angelegenheiten durch den Brüsseler Apparat entscheidungsreif gemacht würden, im Gegenteil; eine supranationale Exekutive in Konkurrenz zu den nationalen gibt es schon gleich gar nicht; und das ganze „Geheimnis“ der „Supranationalität“ der Kommission löst sich dahin auf, daß sie nach einem festen Schlüssel mit Delegierten der verschiedenen Regierungen besetzt ist.

Dem bedingten Willen zum Kompromiß, so wie er im Streben nach einvernehmlicher Nutzbarmachung der konkurrierenden Souveräne eingeschlossen ist, ist mit der Einrichtung dieses Apparats, mit seiner – wie auch immer eingeschränkten – Befugnis zur Setzung und Ausführung unmittelbar geltenden Rechts, auf das Interessenten und Betroffene sich direkt berufen können, sowie mit dem der Kommission zugestandenen Monopol auf Beschlußvorlagen an den Ministerrat aber immerhin eine gewisse verselbständigte Dauerexistenz verliehen. So ist diese Bürokratie die notwendige permanente Clearingstelle für die vielfältigen Interessensgegensätze, die der praktische Wille zur totalen Benutzung der „Partner“, also zur „Einigung“ immerzu erzeugt. Auf der anderen Seite ruft sie und ihr Verwaltungsapparat deswegen die beständigen Klagen über ihre Reglementierungswut und Verbürokratisierung des lebendigen Gemeinschaftsgeistes hervor.

Daß auf Beschluß der Regierungschefs der EG die von ihnen eingesetzte und mit ihren Vorschlägen ihnen zuarbeitende Kommission außerdem als dem EG-Parlament verantwortlich und rechenschaftspflichtig gilt – sogar den EG-Haushalt dürfen die Parlamentarier ablehnen, ohne daß das entscheidende Folgen hätte –, gehört zu den ideologischen Witzen dieses Bündnisses, deren politisches Gewicht ganz in die demokratische Abteilung des neuen europäischen Imperialismus fällt. Wichtiger und für das gewollte Maß an diplomatisch-organisatorischer Verselbständigung des für sich genommenen Gemeinschaftsinteresses notwendiger ist dagegen der juristische Überbau: der europäische Gerichtshof, der als Entscheidungsinstanz für Streitfälle zwischen nationalen Regierungen und Gemeinschaftsorganen sowie bei der Auslegung des EG-Rechts nicht bloß das Ideal einer konkurrierenden europäischen Souveränität neben und über den nationalen pflegt, sondern vor allem eine zusätzliche praktische Garantie dafür bietet, daß die EG-Bürokratie mit der dafür nötigen formellen Autonomie als „Vermittlungsagentur“ für die gegensätzlichen nationalen Vorteilsrechnungen der Beteiligten, insbesondere „im Gemeinschaftsalltag“, fungieren kann.

Denn das ist ja der Grund und das Prinzip des Scheins von Supranationalität, den die Mitgliedstaaten der Kommission und ihrem Apparat verliehen haben: daß er als die Verlaufsform der verschiedenen nationalen Interessen festgelegt worden ist, die jeweiligen Nachbarstaaten mit ihrem Reichtum wie in ihren Schwächen für die Stärkung der ökonomischen Basis der eigenen staatlichen Macht nutzbar zu machen, nach europäischer Hegemonie zu streben bzw. als weniger gewichtige Nation am Hegemoniestreben der Großen so oder so zu partizipieren; und genau deswegen und insoweit ist dieser Schein nicht illusionär. Die Übereinkunft der westeuropäischen Staaten mit ihrem unter US-Bedingungen gesetzten Imperialismus gegeneinander lautet eben: einander zum Mittel des nationalen Erfolgs machen, indem jeder „Europa“ für sich zum Mittel zu machen sucht. Mit der organisatorischen Verselbständigung des Akzents auf „Europa“ verschaffen die Mitgliedsstaaten sich den diplomatisch realen Anschein eines Widerparts zu ihrem nationalen Sonderinteresse und damit die „Freiheit“, auf der anderen Seite ihrer Übereinkunft „Europa“ solle Mittel für sie sein, zu beharren. Mit dieser Organisation ihres permanenten Schachers um Sondervorteile aus „der Gemeinschaft“ machen die EG-Staaten ihren Erfolg in, mit und durch „Europa“ zum Kriterium ihres imperialistischen Erfolgsstrebens und tragen ihre Konkurrenz gegeneinander als „Europapolitik“ aus.

Die EG ist also alles andere als ein gemeinschaftlicher Beschluß westeuropäischer Souveräne, ihre antagonistischen Interessen aneinander zu begraben. Im Gegenteil: sie multipliziert die zwischenstaatlichen Gegensätze und ihre Austragung in höchst interessanter Weise. Sie sorgt dafür, daß kein Winkel einer nationalen Ökonomie sich mehr der Begutachtung durch ausländische Konkurrenten und ggf. einem von diesen angestrengten praktischen Vergleich entziehen kann, wirkt also noch in das letzte Abruzzendorf hinein, wo wirklich noch nie jemand nach „europäischer Gemeinschaft“ verlangt hat; und sie ruft Nationen zum Schiedsrichter zu Streitfragen auf, mit denen sie ohne EG nie und nimmer zu tun bekommen hätten. Und genau so ist die ganze Veranstaltung gemeint: „Europa“ als wechselseitige Erlaubnis zu permanenter Einmischung in sämtliche inneren ökonomischen Angelegenheiten sämtlicher Partnerländer und damit eben als Verlaufsform des Streits um eine – subalterne, aber immerhin: – westeuropäische Hegemonie.

Eine „Europa-Krise“ wird dementsprechend immer dann ausgerufen, wenn ein oder mehrere Mitgliedstaaten den Saldo dieser wechselseitigen Einmischung als für sie negativ befinden, ist also keine bloße Ideologie, sondern die diplomatische Formulierung eines imperialistischen Ultimatums: per „EG-Krise“ spielen sich die imperialistischen Vorstöße der einen, die Abwehrmaßnahmen der anderen Souveräne ab. Wenn im Frühjahr 1981 gleichzeitig die BRD gegen ihre industriellen Konkurrenten eine „Stahlkrise“ proklamiert, umgekehrt Großbritannien eine „Fischereikrise“ auslöst, so zeigen sich darin die Fortschritte des EG-internen Imperialismus. Die bundesdeutsche Seite setzt so ihre Kontrahenten darüber in Kenntnis, daß sie ihre nationale Schwerindustrie, die Grundstoffindustrie für staatliche Aufrüstungsprogramme, erstens auszubauen gedenkt, dies zweitens so, daß sie rentabel bleibt, und daß deswegen drittens der Stahlmarkt der anderen als das Mittel vorgesehen ist, um die „volkswirtschaftliche“ Unproduktivität einer Stahlindustrie für Rüstungszwecke zu kompensieren. Mit der „Krise der Montanunion“ stellt die Bundesregierung somit an ihre Partner das höchst unbescheidene Ansinnen, den westdeutschen Aufbruch zu neuer militärischer Potenz ökonomisch mitzutragen – die englische Antwort ist die diplomatische Klarstellung, zu einem solchen Zugeständnis in gar keiner Weise bereit zu sein, vielmehr der eigenen Nation gewisse Abteilungen einer ungestörten Kapitalakkumulation reservieren zu wollen; mit dem Schicksal des nordatlantischen Herings hat das nur zufällig etwas zu tun. Deswegen – und nicht wegen dem Lebensunterhalt von ein paar Fischern – geht dann auch schon mal ein EG-Gipfel im Streit auseinander. Mit Verlautbarungen darüber, ob der „Geist der europäischen Einigung“ sich noch einmal durchgesetzt habe oder das Einigungswerk im Montanbereich „vom Scheitern“ und überhaupt die „Gemeinschaftssolidarität vom Zerfall bedroht“ sei, wird die Bundesregierung dann über Erfolg und Erfolgsaussichten ihrer Offensive Auskunft geben – ein Erfolg wäre mit dem gleichzeitigen „Ende der Fischereikrise“, dem Bankrott der westdeutschen Hochseefischerei, dann gewiß nicht zu teuer bezahlt. Umgekehrt umgekehrt. So geht eben „Europapolitik“.

2. „Europapolitik“ ist eine Sache der westeuropäischen Demokratien. Wie stets in der Demokratie, so heißt auch das nicht, daß da die Völker im Namen der nach ihnen benannten „Freundschaft“ ihren Regierungen den freien Kapitalverkehr und die Errichtung der Brüsseler Bürokratie abverlangt hätten. Umgekehrt allerdings schon: In dem Maße, in dem sie ihre imperialistischen Erfolge für die Nation zuerst an den Fortschritten der „europäischen Integration“ abmessen, ziehen die Regierungen ihre „Europapolitik“ als Gesichtspunkt ihrer Selbstdarstellung vor ihrem Wählervolk – umgekehrt die nationalen Oppositionen die „europapolitischen Fehlschläge“ der Regierung als kritisches Argument – in Betracht und verlangen von ihren Bürgern Freude und Dankbarkeit für die gelungene Beilegung irgendeiner „europäischen Krise“.

Nationale Unterschiede können dabei natürlich nicht ausbleiben. In den beiden Nachfolgestaaten der faschistischen „Achsenmächte“, denen nach dem „Scheitern“ ihrer kriegerischen „Neuordnung Europas“ jeglicher nationale Imperialismus verboten und unmöglich gemacht war, ist verständlicherweise am entschiedensten und eindeutigsten „Europafreundlichkeit“ als Gütesiegel, ja als erstes Kriterium der nationalen Außenpolitik durchgesetzt. Den zuständigen Regierungen war ohnehin von Anfang an klar, daß der Wiederaufstieg ihrer Nation zu weltpolitischer Macht und Geltung allein auf der Basis und im Namen der eigenen Nation nicht zu machen war, sondern allenfalls unter dem diplomatischen Anschein des Verzichts auf einen nationalen Imperialismus und in der politischen Form der Einordnung in ein Bündnis ohne formelle Hegemonialmacht. Opposition gegen ihren demgemäß eingerichteten Kurs eines Imperialismus der Bescheidenheit hatte insbesondere die Bundesregierung weder von ihren antifaschistischen Fraktionen noch von ihrer nationalistischen Front zu erwarten: für die einen wie gegen die anderen blieb sie im Recht, indem sie ihre Linie als die einzig realistische Alternative zum Faschismus deklarierte. Für den innenpolitischen Gebrauch haben bundesdeutsche Politiker sich daher von Anfang an in ganz besonderem Maße der Pflege des Europa-Idealismus im Volk, speziell des Ideals der „Vereinigten Staaten von Europa“, angenommen und einige Virtuosität darin ausgebildet, mit dem reinen Gewissen nationaler Bescheidenheit und angestrengter Einordnung in die „Gemeinschaft“ allen anderen Regierungen, sobald diese nationale Sonderinteressen anmeldeten, voll demonstrativer Empörung Nationalismus und Europafeindlichkeit vorzuwerfen – eine ganz besonders gelungene und recht populär gewordene, in der politischen Öffentlichkeit der BRD jedenfalls sehr geschätzte Masche, die Offensive des eigenen, bundesdeutschen Nationalismus als die bedingungslose Ächtung jeglichen Nationalismus zu inszenieren und dem eigenen Volk die ‚Notwendigkeit‘ der nationalen Politik als Erfüllung von Gemeinschaftspflichten vorzustellen, von der ,wir‘ letztlich profitieren. Umgekehrt traf und trifft der Beschluß der Regierungen Frankreichs und Großbritanniens, ihre imperialistische Konkurrenz untereinander und sogar gegen den besiegten ehemaligen Hauptfeind in der Form eines Bündnisses ganz neuer Qualität abzuwickeln, in der eigenen politischen Öffentlichkeit auf einen sehr kritischen Vergleichsmaßstab, den Vergleich nämlich mit der eigenen, keineswegs allgemein als „gescheitert“ hingenommenen nationalen Vergangenheit als koloniale Großmacht. Umgekehrt wie in der BRD müssen die dortigen Macher der Nation mit der Wahrheit agitieren, daß „Europa“ das Instrument zur Rettung und Erneuerung ihrer nationalen Großmacht ist – in Form der Lüge allerdings, „Europa“ wäre nicht mehr und nicht weniger als das, also insbesondere nicht in mindestens gleicher Weise ein außenpolitisches Instrument der Konkurrenten. Den Präsidenten der 5. Republik ist das noch sehr gut gelungen; schließlich haben sie bei der Formung der „Gemeinschaft“ die nötige nationalbewußte Rücksichtslosigkeit demonstriert und hatten ihrer kritischen Öffentlichkeit die Domestizierung des alten Erzfeindes als Argument für „Europa“ anzubieten. Die britische Regierung steckt da in größerer Beweisnot. Zwar funktioniert auch die englische Demokratie nicht so, daß die Bürger wegen ihren sprunghaft gestiegenen Ausgaben für ihren Lebensunterhalt seit dem Beitritt zur EG einen Austritt ihres Landes aus der „Gemeinschaft“ erzwingen würden oder gar in dieser Wirkung die sehr zweckmäßige Kalkulation ihrer Regierung mit der Fähigkeit ihres Volkes, sich einzuschränken, erkennen würden. Schließlich haben sie ja auch vorher nicht, schon gar nicht in der Gewißheit enormer Vorteile für ihren Geldbeutel, ihrer Regierung den Beitrittsplan vorgelegt, sondern zur Kenntnis nehmen müssen, daß ihre Regierung die Schwierigkeiten der Nation in der Konkurrenz der kapitalistischen Demokratien Europas durch Teilnahme an deren als EG organisierter Abwicklung besser zu bewältigen gedenkt. Und weil dieser Grund nach wie vor gilt, steht für die britische Regierung der EG-Austritt auch nicht an – wohl aber die Notwendigkeit, einen Gesichtspunkt zu finden, unter dem die Bürger ihr das weitere Mitmachen als Erfolg anrechnen sollen. So besteht in Großbritannien die innenpolitische Verarbeitung der „Europapolitik“ in der Demonstration der Sturheit und Standfestigkeit, mit der die Regierung sich gegen Regelungen von fragwürdigem Nutzen für die Nation gesträubt und den Partnern die Berücksichtigung britischer Belange abgetrotzt hätte. Und auch auf diese Weise stellt sich in etwa das gleiche Ergebnis her wie bei den „europafreundlicheren“ Kontinentalmächten: die Verknüpfung des Nationalismus mit der Vorstellung, daß es gerade im Interesse der Nation auf „Europa“ doch ganz besonders ankommt: seine Ergänzung also um die Ideologie der „europäischen Völkerfamilie“ und das Ideal einer dritten, absolut konkurrenzfähigen „Supermacht Europa“.

Diese ideologische Relativierung und Überhöhung des Nationalismus der demokratisch anteilnehmenden Völkerschaften betätigt sich primär dort wo, oder so, wie es sich für einen puren Idealismus, einen Idealismus nämlich ohne praktische Gewalt, die so idealistisch verstanden und akzeptiert sein will, gehört: in der Sphäre der politisierten Phantasie, als pädagogische Ausnutzung der spleenigsten Dummheiten der üblichen trivialen wie gehobenen Heimatliebe. Wo der Nationalismus als unpolitischer Idealismus des Gewohnten auftritt, im Lokalpatriotismus, hat die Fiktion einer europäischen Bürgergemeinschaft mit der Institution von Städtepartnerschaften festen Fuß gefaßt; und bei festlichen Gelegenheiten führen Volkstanzgruppen, Trachtenvereine und Sängerknaben einem auswärtigen Publikum die faden bis albernen „Genüsse“ vor, die vom aufgeklärten Standpunkt des vorurteilsfreien Weltbürgers aus der künstlich am Leben erhaltenen oder gar erst restaurierten speziellen Borniertheit der Insassen eines Landstrichs abzugewinnen sein sollen – am Ende noch mit dem Anspruch zu zeigen, wie dort „das Leben wirklich“ wäre! Getreu dem vulgären bürgerlichen Idealismus, der sich die Welt, d.h. ihre Verschiedenartigkeit und ihren Ablauf, aus dem unterschiedlichen Geschmack erklärt, den die Menschen und Völker an ihr angeblich finden, wird mit den Mitteln der Kultur und Unterhaltung, durch staatlich patronierte Konzertreisen wie durch völkerverbindende Femsehwettbewerbsspäße, sehr ernsthaft die „europäische Gesinnung“ der allemal zu wenig begeisterten Massen gefördert, die für die Hinweise auf die gemeinsame abendländische Geistes- und sonstige Geschichte nicht zugänglich sind und die politischen und ökonomischen Ideologien einer immer nicht weit genug vorangeschrittenen ‚Integration‘ erst recht nicht verstehen. Und weil für den bürgerlichen Verstand die Ahnungslosigkeit und Dummheit der Jugend als die Tugend der Bildsamkeit und Vorurteilsfreiheit gilt, außerdem ein verantwortungsbewußter Nationalismus den Nachwuchs als die „Zukunft der Nation“ hoch schätzt und entsprechend intensiv drangsaliert, werden „Austausch“- und Besuchsprogramme arrangiert und deren jugendliche Teilnehmer an die Idiotie gewöhnt, ihr nicht gleich verächtliches borniertes Geschmacksurteil über fremdländische Sitten für einen sehr wertvollen Beitrag zur „Völkerverständigung“ zu erachten – tatsächlich ist „Völkerfreundschaft“, als individuelle Einstellung genommen, nicht mehr als das; aber diese Wahrheit sollen die Kleinen der Nationen gerade nicht lernen.

3. Mit der Direktwahl des europäischen Parlaments sind die EG-Regierungen inzwischen allerdings schon zu einer härteren demokratischen Inanspruchnahme der selbsterzeugten Fiktion eines supranationalen Euro-Patriotismus vorangeschritten. Den Völkern wurde zugemutet, ihr Einverständnis mit „Europa“ so zu betätigen, wie in der Demokratie die Einverständniserklärung der Bürger mit ihrer politischen Herrschaft bewerkstelligt wird – ohne daß es dabei um den wirklichen demokratischen Unterwerfungsakt, die tatsächliche Freiheit des bestellten Souveräns, oder auch nur um einen Volksentscheid über die tatsächlich praktizierte „Europapolitik“ gegangen wäre. Und, ein wahres Wunder der Demokratie, sie haben sich diese Zumutung gefallen lassen, durch ihre Beteiligung die Fiktion einer Parlamentswahl wahrgemacht und damit ihren Regenten die gewünschte, reichlich positive Auskunft darüber erteilt, inwieweit „Europa“ als Gesichtspunkt der demokratischen Selbstdarstellung der politischen Konkurrenten taugt. Auf dieser Ebene hegen denn auch die einzigen handfesten politischen Konsequenzen dieses Wahltheaters und parlamentarischen Spektakels ohne Entscheidungskompetenzen, zu dem Politiker laufend zwischen ihren Hauptstädten und Straßburg, Brüssel, Luxemburg hin und her jetten: in den Überlegungen der Parteien, auf „Europafreundlichkeit“ in der einen oder anderen Weise als Werbe-,,Argument“ für sich zu setzen, sowie in ihren Versuchen, über diesen Gesichtspunkt, organisatorisch über die supranationalen Fraktionen des Europaparlaments, Einfluß auf die Programmgestaltung ihrer „Schwesterparteien“ innerhalb der EG zu gewinnen. Der permanenten wechselseitigen Einmischung der Europapolitiker in alle inneren Angelegenheiten ihrer Nachbarn, dem speziellen innereuropäischen Imperialismus des guten Einvernehmens sind damit durchaus neue Betätigungsfelder eröffnet – wenngleich auch diese Sorte Einflußnahme nur so weit reicht, wie eine nationale Partei ihrer ausländischen „Schwester“ einen Einfluß auf ihr Programm einräumt.

Daß die nationalen Gewerkschaften nicht nur ihre Vertreter im EG-Sozialausschuß sitzen haben, sondern sich auch – allen voran der DGB – zur Animierung ihres Wählerpotentials auf Spitzenplätze haben setzen lassen, wundert da nicht mehr: verstehen sich doch nicht nur Vetter und Loderer als überparteiliche Vertreter der nationalen Arbeit und ihrer politischen Geltung in Europa.

Es ist eine sehr logische und konsequente Ironie der europäischen Einigung, daß diese programmatische Vereinheitlichung diejenigen Parteien am stärksten betrifft und reformiert, die eigentlich als einzige den europäischen Zusammenschluß im Namen ihrer darin nicht genügend berücksichtigten revisionistischen Ideale immerzu bekämpft haben und sich ausgerechnet darüber als einzige das Präfix „Euro“ als Charakteristikum ihrer politischen Linie eingehandelt haben: die „eurokommunistischen“. Aufgrund des Erfolgs ihrer demokratischen Staatswesen im „vereinten Europa“ der NATO-Partner haben sie sich in Frankreich und Italien, wo der gelungene Wiederaufbau gegen den Osten nicht wie in der BRD die Massen benutzt und in ihrem Nationalismus zufriedengestellt hat und wo der EG-Beschluß mit der Ausräumung revisionistischer Alternativen einherging, den neuen ‚Notwendigkeiten‘ nationaler Politik in Europa und den dazugehörigen Formen der Unzufriedenheit anbequemt. Jeden Fortschritt im Ost-West-Gegensatz und den spezifisch europäischen Weisen seiner Austragung haben sie mit immer peinlicheren Demonstrationen ihrer Unabhängigkeit von der Zentrale des ‚Weltkommunismus‘ Rechnung getragen und sich vom ‚Europa der Kapitale‘ zum Ziel einer 3. europäischen Macht zwischen den Blöcken bekehrt, in der Frankreich bzw. Italien eine führende Rolle spielen sollen. Indem sie sich zum Fürsprecher ihrer potentiellen Wähler gemacht haben, die sich die verschärften Formen der Ausbeutung nicht aus der Benutzung des Proletariats für imperialistische Absichten ihres Staates in Europa und der Welt erklären, sondern damit, daß sich die Regierung auf Kosten der Nation von deutschen – und dahinterstehenden amerikanischen – Interessen an und in Europa benutzen ließe, sind sie zu Volksparteien geworden, die einen alternativen, d.h. noch konsequenteren Nationalismus und europäischen Inter-Nationalismus predigen und gleichzeitig die EG- und NATO-Realitäten „realistisch“ anerkennen. Nach innen tragen sie deshalb ihr nicht unbescheidenes Scherflein zur Unterordnung der Gesellschaft unter die ökonomischen und politischen Maßstäbe der EG bei – als Wahlalternative, kritische parlamentarische Unterstützung der Regierungspolitik und als politische und gewerkschaftliche Ordnungsmacht der bzw. gegen die Arbeiter, sei es zur „Rettung des italienischen Staates“, sei es zur „Wiedererweckung der Größe der französischen Nation“.

Der Anteil Europas an der Weltherrschaft

In das Unternehmen einer dauerhaft geordneten, allseits vorteilhaften Konkurrenz der kapitalistischen Demokratien Europas gegeneinander ist von Anfang an das Ziel eingeschlossen, mit dem Mittel des gemeinschaftlichen Vorgehens die Konkurrenzsituation des jeweils eigenen Landes gegen dritte Staaten zu verbessern. Denn dafür macht es ja schon einen – gerade für die weniger potenten Partner bedeutenden – Unterschied, ob die einzig verbliebenen Druck- und Erpressungsmittel einer Nation oder eines halben Kontinents diplomatisch und nötigenfalls auch praktisch zum Einsatz gelangen.

So haben die EG-Staaten – unter Ausnutzung entsprechender GATT-Regeln, die im Falle eines Wirtschaftsbündnisses Ausnahmen vom Verbot der Privilegierung bestimmter Außenhandelspartner zulassen – den internen Abbau von Zöllen und sonstigen Handelshemmnissen mit der Errichtung gemeinsamer – tarifärer wie nicht-tarifärer – Restriktionen gegen Dritte verknüpft, deren Gestaltung in die weitgehend autonome Verhandlungskompetenz der EG-Kommission fällt. Hinter dieser kann eine – einzeln leichter erpreßbare – Regierung sich bis zu einem gewissen Grad „verschanzen“; mit ihr können Forderungen durchgedrückt werden, wo einzelne Regierungen dazu gar nicht in der Lage wären. Dabei haben die ökonomisch potentesten

Staaten seit jeher darauf geachtet, daß sie sich für ihre imperialistische Wirtschaftspolitik von ihren schwächeren Partnern keinerlei Rücksichten aufnötigen lassen, sondern umgekehrt für jede handelspolitische Offensive noch eine zusätzliche Unterstützung besorgen. Was Fragen der politischen Einflußnahme auf fremde Souveräne betrifft, die über die handelspolitischen Kompetenzen der Kommission hinausgehen, so hat sich die Abstimmung der Regierungschefs der wichtigsten EG-Staaten auf eine gemeinsame Linie als ein so wirkungsvolles Instrument der nationalen Imperialismen erwiesen, daß sie, obwohl nicht vertraglich abgesichert, unter dem Kürzel „EPZ“ – „Europäische Politische Zusammenarbeit“ – zu einem der wichtigsten politischen Vorteile geworden ist, den die Regierungen aus ihrer Kooperation gewinnen und einander gewähren.

1. Die außenwirtschaftspolitische Wucht der „Gemeinschaft“ hat sich zuerst und sehr erfolgreich gegen die – oder genauer: den – verbliebenen europäischen Konkurrenten gerichtet. Die EFTA, von Großbritannien als Gegengewicht zur seinerzeitigen EWG geschaffen, konnte sich weder in den Potenzen noch hinsichtlich der Zielstrebigkeit der darin organisierten nationalen Großmachtambitionen mit dem „Europa der Sechs“ messen. Es war eine regelrechte Kapitulation Großbritanniens vor der von den EG-Staaten geschaffenen Konkurrenzsituation, daß die britische Regierung bereits nach wenigen Jahren die neue Kalkulation aufmachte, sich durch die Teilnahme an dem stärkeren Wirtschaftsbündnis besser zu stellen. Mit ihrem EG-Beitritt – nebst dem der EFTA-Partner Irland und Dänemark – ist zum einen die wirtschaftspolitische Neuordnung Westeuropas zwischen allen wichtigen Konkurrenten grundsätzlich geregelt; eben damit sind zugleich auf der anderen Seite alle übrigen kapitalistischen Staaten Europas wirtschaftspolitisch zu Unterabteilungen der EG herabgesetzt. Das ist speziell im Süden Europas von mehr als bloß ökonomischem Belang. Die faschistische Herrschaft in Spanien, Portugal sowie nach dem „Obristenputsch“ in Griechenland, die die „autoritäre“ Behandlung des Volkes als politisches – „Erneuerungs-“ – Programm vertrat, hatte in allen Fällen einen wirtschaftspolitischen Inhalt. Ohne „Kapitalzufluß“ aus dem Ausland auszuschließen, wollte sie durch die – in ihrem faschistischen Programm als nationales Ideal proklamierte – Konservierung antiquierter, wenig rentierlicher Formen von

Armut und Ausbeutung vor allem in der Landwirtschaft die nationalen ökonomischen Potenzen des Landes schützen; und zwar in zunehmendem Maße gegen die schädlichen Auswirkungen der sich potenzierenden Konkurrenzmacht der EG – gerade auch in den Bereichen des europäischen und weltweiten Agrarmarkts, in denen diese drei Länder auf Grund natürlicher Bedingungen noch Vorteile besaßen – auf die Produktion eines nationalen Überflusses, der der politischen Herrschaft die gewünschte Aktionsfreiheit, nicht zuletzt für Projekte zur „Modernisierung“ des Landes, verschaffen sollte. Mit der demokratischen Alternative zum Faschismus, die der schon vollzogene oder beantragte Beitritt zur EG ihnen eröffnet, muten diese Staaten sich und mutet die EG ihnen die entgegengesetzte wirtschaftspolitische Schlußfolgerung aus der unveränderten politökonomischen Lage zu: Mit der Unterwerfung ihrer nationalen Produktionsweise in allen Bereichen unter die modernsten, nämlich die EG-Maßstäbe kapitalistischer Rentabilität soll der nationale Reichtum auf eine solide Basis gestellt werden. In der politischen Form einer Befreiung von Militär- und sonstiger Diktatur wird dort mit der Demokratie und einer beschränkten Zulassung eines legalen Klassenkampfes eine ganz neue Rücksichtslosigkeit gegen das Volk durchgesetzt, die notwendigerweise der Absicherung durch die gesamte „Gemeinschaft“ bedarf. Deren ökonomische Garantien, insbesondere wieder die Finanzierung der agrarischen Produktion und deren Zugehörigkeit zum gemeinsamen Markt betreffend, bieten die einzige Aussicht, daß die Zerstörung der alten, die ärmliche Subsistenz des ländlichen Proletariats immerhin mit einschließenden Produktionsweise zugunsten einer neuen, EG-konformen Effektivität des Wirtschaftend sich für den Staat lohnt. Anstelle einer – für untauglich befundenen – faschistischen „Formierung“ des Volkes übernimmt also der EG-Block die Garantie der politischen Handlungsfreiheit der jeweiligen Regierungen, so daß diese sich sogar, in der Gewißheit vorweisbarer nationaler Erfolge, eine demokratische Austragung der Gegensätze ihrer Gesellschaft und ihres Gegensatzes zum Volk Zutrauen. Die gleichberechtigte Mitentscheidungsbefugnis der griechischen und in wenigen Jahren womöglich der spanischen und portugiesischen Regierung in EG-Angelegenheiten ist insofern bloß formell, nämlich die Verlaufsform dafür, daß die „Gemeinschaft“ sich als das maßgebliche politische Subjekt dieser Länder betätigt und deren interne Politik bestimmt. Erstmals kehrt sich hier das Verhältnis zwischen nationalem Imperialismus als Ausgangspunkt und Inhalt europäischer Politik und „Europa“ als dessen Instrument um in eine tatsächlich „supranationale“ Entscheidungskompetenz der imperialistischen „Gemeinschafts“-Mitglieder über ihren (bzw. ihre) neuen „Junior-Partner“. Und damit ist auch schon gesagt, daß ein entscheidender wirtschaftlicher Fortschritt der „Gemeinschaft“, eine eindeutige Stärkung der Basis ihrer imperialistischen Potenz über die schon erreichte ökonomische Benutzung dieser Länder hinaus, nicht der ausschlaggebende Grund für die EG-Politik der Eingemeindung des europäischen Südens sein kann – finanziell lohnen dürfte sie sich für die Hauptmächte der „Gemeinschaft“ schwerlich. Vielmehr verpflichtet sich die EG – was die wirtschaftlichen Beziehungen angeht – auf finanzielle Leistungen für den Fortschritt dieser Armenhäuser Europas: Einen „Sprung nach vorn“ bedeutet die Mitgliedschaft Griechenlands – ebenso die im Ausbau begriffene Angliederung Spaniens und Portugals – denn auch vor allem in anderer Hinsicht. Erstmals bewährt die EG sich hier, über die Aufgabe einer friedlichen Verlaufsform der Konkurrenz zwischen kapitalistischen Demokratien hinaus, als strategische Ordnungsmacht in Europa. Zwar unter sorgfältiger Beachtung auch des ökonomischen Vorteils der beteiligten Nationen, aber immerhin mit einem gewissen Aufwand nimmt sie sich der wirtschaftlichen „Sanierung“ von Staaten an, die strategisch und auch mit ihrer militärischen Macht für die Mittelmeerflanke der NATO von Bedeutung sind; sie erlegt ihnen eine europäisch abgestimmte demokratische Politik nach innen auf und garantiert so ihre politische Berechenbarkeit und Zuverlässigkeit nach außen: Und das alles auch noch in der Reihenfolge der Bedeutung des jeweiligen Staates für die NATO-Front: Rein ökonomisch gesehen wäre es vollends lächerlich, eher den EG-Beitritt der Türkei ins Auge zu fassen, deren ökonomische Stabilisierung durch die NATO-Partner noch im Stadium einer hoffnungslos verlorenen Finanzhilfe an ein Generalsregime von griechischem Obristenzuschnitt steckt, als den Spaniens oder Portugals; strategisch ergibt es einen um so besseren Sinn, zuerst an Griechenland das demokratische Ideal imperialistischer Sicherung eines Bündnispartners zu vollstrecken und gleichzeitig mit der Türkei eine Politik zu verfolgen, die das Land für diesen Idealfall tauglich machen soll.

Auf das NATO-Bündnis gestützt, in seinem Rahmen – und es, ganz friedlich, bloß ökonomisch stärkend – und zugunsten der militärischen Zwecke der freien Welt betätigen die Führungsmächte der EG sich so als eine relativ autonome Hegemonialmacht, die keiner dieser Staaten einzeln realisieren könnte und an der sie wiederum exakt im Maße ihres ökonomischen „Beitrags“, also nach Maßgabe ihrer politökonomischen Potenz Anteil haben.

In jeweils entsprechend modifizierter Form reicht dieser eigentümliche externe Imperialismus der EG über den Bereich der NATO – inklusive der de facto mehr oder weniger einverleibten übrigen kapitalistischen Demokratien Europas – in jeder Richtung weit hinaus.

2. In praktisch ganz Afrika, außerdem in einigen Winkeln des Pazifik und der Karibik hat die „Gemeinschaft“ das Erbe der aufgelösten Kolonialreiche angetreten und sich ein angemessenes Hinterland für die Großmachtambitionen ihrer Partnerstaaten, insbesondere eine zuverlässig verfügbare Rohstoffbasis für deren Nationalökonomien geschaffen. Ausgangspunkt dafür war das Interesse Frankreichs, nach der ihm abgerungenen bzw. durch die neuen Weltmächte diktierten Verselbständigung seiner Kolonien sich die neuen Souveräne als dienstbare Partner zu erhalten; an den damit anfallenden Unkosten für die Alimentierung botmäßiger Herrschaften vor allem in Afrika gedachte die 5. Republik ihre europäischen Partner zu beteiligen, ohne sie bedingungslos als Konkurrenten um den Nutzen solcher Herrschaften zuzulassen. Belgien mußte geradezu auf eine „kollektive Verantwortlichkeit“ seiner kapitalistischen Partner für seinen Kongo setzen, um überhaupt noch auf dessen Benutzung rechnen zu können. Umgekehrt sah und ergriff hier die BRD ihre Chance, mit den souverän gewordenen Kolonien der alten Gegner Deutschlands ins Geschäft zu kommen; dies konnte und mußte um so besser gelingen, als sie ohne den Makel der Kolonialmacht auftrat und sich außerdem nur ökonomisch an der Erhaltung der frischgebackenen Souveräne beteiligen durfte, ihre „Entwicklungshilfe“ also ganz auf für sie ertragreiche Projekte konzentrieren konnte. Großbritannien brachte schließlich aus ähnlichen Gründen wie Frankreich die ansehnlichen Reste vor allem seines afrikanischen Kolonialreiches in das inzwischen eingespielte System weltweiter „Kooperation“ ein, das auf Seiten des exotischen Partners der EG derzeit 58 Staaten aus Afrika, der Karibik urid dem Pazifik – die AKP-Staaten – umfaßt.

Die reifsten Dokumente dieses kollektiven Imperialismus sind die beiden Lomé-Abkommen von 1975 und 1979. Hauptstück des ersten Vertrages ist „Stabex“: ein ausgeklügeltes, von den EG-Staaten mit Geldmitteln ausgestattetes Finanzierungssystem, das die mit ihrem Haushalt ganz auf den Export weniger agrarischer Rohstoffe angewiesenen AKP-Staaten im Fall eines drastischen Preisverfalls ihrer wichtigsten Exportartikel über Wasser halten soll. Der Erlös, den diese Staaten aus der Ausrichtung ihrer Landwirtschaft auf die Bedürfnisse der EG-Wirtschaft – denn nur für Exporte in EG-Länder gilt „Stabex“ – ziehen, wird so ohne großen Aufwand tauglicher gemacht, um den dazugehörigen Herrschaftsapparat zu erhalten; entlastet werden damit nicht diese Staaten, sondern die kapitalistischen Partnerländer, die ihr Interesse an einer geordneten Herrschaft bei ihren Rohstofflieferanten ja auf alle Fälle mit der Abwendung oder finanziellen Bewältigung des fälligen Staatsbankrotts zu bezahlen haben. Gleichzeitig sind die so „unterstützten“ Souveräne damit auf die Güter, mit denen sie der Ökonomie ihrer EG-Partner von Nutzen sind, als ihre einzige halbwegs zuverlässige Einkunftsquelle festgelegt, wozu sehr gut das in demselben Vertragswerk verkündete und beschlossene Ideal der „Diversifizierung“ der landwirtschaftlichen Produktion paßt – eben als Ideal. Lohnend gemacht wird so überdies die rücksichtslose Umwandlung der in ihren Ländern betriebenen Subsistenzlandwirtschaft in Plantagen für Exportartikel. An Industrialisierung ist da schon gar nicht zu denken, zumal die „Stabex“-Artikel meist schon nach den ersten und einfachsten Verarbeitungsschritten aus den entsprechenden Regelungen herausfallen; dennoch mag die EG noch nicht einmal Zollfreiheit auf Halb- und Fertigwarenexporte der AKP-Länder zugestehen, ohne gleich Einschränkungen sowie einen generellen „Marktordnungs“-Vorbehalt zu machen; mit 2 % ist der Anteil solcher Artikel am Gesamtexport dieser Länder in die EG denn auch über die Jahre konstant lächerlich geblieben. Die wesentlichste neue Errungenschaft des Lomé II-Abkommens, „Minex“, ist als Perfektionierung des „Stabex“ für den ökonomisch noch weit interessanteren Bereich der mineralischen Rohstoffe erwähnenswert. Ausgleichskredite und ‑zahlungen für Einnahmeausfälle werden hier nicht bei Erlösminderungen, sondern nur bei produktionsbedingtem Exportrückgang und nur zweckgebunden für dessen Beseitigung gewährt – ein Verfahren, das überhaupt keinen Zweifel am Hauptzweck des gesamten Unternehmens, der Sicherung der europäischen Rohstoffzufuhr, mehr zuläßt und in vielen Fällen auf eine Subventionierung der afrikanischen Aktivitäten europäischer Minengesellschaften hinausläuft. Von den AKP-Staaten hat die EG sich diese Großzügigkeit mit Sicherheiten und Freiheiten für den Kapitalverkehr bezahlen lassen.

Diese minimale ökonomische Stabilisierung der Staaten des EG-Einflußgebiets beseitigt per Saldo deren letzte Chance, wenigstens noch die Konkurrenz zwischen den EG-Staaten, geschweige denn zwischen dem EG-Block und anderen kapitalistischen (oder sozialistischen) Interessenten zu ihrem Vorteil auszunutzen; andererseits beinhaltet sie keine ökonomische Sanierung und noch nicht einmal eine finanzielle Überlebensgarantie für die beglückte Herrschaft, so daß noch genügend Raum bleibt für besondere nationale Erpressungsmanöver der einzelnen EG-Staaten. Gefügigkeit wird da vor allem erkauft durch die Gewährung von Machtmitteln, die die Botmäßigkeit des so beglückten Souveräns überhaupt erst in allerlei strategischen Hinsichten so richtig interessant machen. Aus alter Verbundenheit stehen dabei Großbritannien und vor allem Frankreich mit diversen Söldnertruppen Tür die Grundlage der gesamten „Kooperation“ gerade, erledigen also im Zweifelsfall all die imperialistischen Häßlichkeiten, die der friedliche „Gemeinschafts“-Imperialismus immer voraussetzt und von denen er nichts wissen will. Die BRD gefällt sich inzwischen ebenfalls in der Rolle des „Schiedsrichters“, der über innere Streitigkeiten – etwa im rhodesischen oder südwestafrikanischen Guerillakrieg – oder äußere Konflikte der im EG-Bereich beheimateten Staaten befindet und sich um „Lösungen“ kümmert. In schöner Arbeitsteilung mit ihren Partnern nutzt sie auch für die Durchsetzung dieses Anspruchs auf politische Zuständigkeit ihre ökonomische Potenz, die sie in den meisten Fällen zum wichtigsten „Kunden“ und Kreditgeber macht, und präsentiert sich nach außen wie nach innen arrogant genug als Friedensmacht.

Aus der in nationaler Verantwortung wahrgenommenen politisch-militärischen Beaufsichtigung des EG-Hinterlandes durch die EG-Hauptmächte erwächst selbstverständlich der „Europäischen Politischen Zusammenarbeit“ der einschlägigen Regierungschefs, dem imperialistischen Führungszirkel der „Gemeinschaft“, eine Fülle von gemeinsam zu bewältigenden weltweiten „Ordnungsaufgaben“, die sich wiederum keineswegs auf die AKP-Staaten beschränkt. In logischer Verknüpfung ihrer strategischen Interessen an einer stabilen NATO-Südflanke und ihrer ökonomischen Interessen an einer verläßlichen Rohstoffbasis melden die EG-Chefs, zunehmend gewichtiger, ihre „guten Dienste“ für die „Stabilisierung“ der Ölregion an und geraten dabei wie auch sonst in ihrer Behandlung der „3. Welt“ – etwa in ihren Entscheidungen darüber, ob Angola mit der alten „revolutionären“ oder einer neuen konterrevolutionären Regierung zum stabilen „Satelliten“ der freien Welt voranentwickelt werden soll oder wie Südafrika am zuverlässigsten als westlicher Eckpfeiler zu erhalten sei – laufend in „Meinungsverschiedenheiten“ mit ihrem überlegenen Konkurrenten und Verbündeten. Die USA nämlich – darin wirkliche Weltmacht – lassen sich in der Freiheit ihrer strategischen Kalkulationen nicht durch Gesichtspunkte ökonomischer Notwendigkeit beschränken und beurteilen die Nützlichkeit und Botmäßigkeit exotischer Souveräne nach viel großzügigeren und zugleich härteren Kriterien als die EG-Staaten, die da um die Sicherung ihrer Rohstoffbasis feilschen und deswegen auch auf die Zukunft ihrer „Partnerländer“ setzen, folglich in diese investieren müssen. Insofern ist es keine bloße Ideologie, sondern besitzt eine gewisse diplomatische Realität, wenn die Europäer sich doch noch immer zu gewissen Idealen der „Entwicklungshilfe“ und der wirtschaftlichen „Kooperation“ bekennen und dies als einen Gegensatz verstanden wissen wollen zu der Linie der neuen Reagan-Administration, den Rest der Welt sehr rigoros und geradezu per Antizipation einer weltweiten Kriegssituation nach Freund und Feind zu sortieren, ohne weitere Zwischenstufen. Ideologisch ist allerdings die Vorstellung, der in anderer Weise mit ökonomischen Notwendigkeiten rechnende Imperialismus der EG-Staaten, einschließlich der BRD, wäre deswegen eine prinzipiell unkriegerische Angelegenheit und dem Interesse an dauerhafter Benutzung des EG-Hinterlandes wären Gesichtspunkte einer rigorosen weltweiten Frontbegradigung fremd. In Afrika im großen und ganzen schon seit Ende der Entkolonialisierungsphase, im Nahen Osten derzeit entschiedener als je zuvor, bewähren die europäischen Nationen sich mit ihrem imperialistischen Egoismus als notfalls auch militante Hilfskräfte der USA.

In diesen Rahmen „eingebettet“, dringlich gebeten von ihren Bündnispartnern und deswegen noch immer unter dem diplomatisch und ideologisch so komfortablen Anschein grundsätzlicher Gewaltlosigkeit, beginnt hier sogar die BRD endlich einige der letzten Restriktionen ihres imperialistischen Wirkens abzulegen und die ihrem politischen Gewicht und Geltungsanspruch angemessene militärische Präsenz aufzubauen. Bisher schon haben Entwicklungshilfeprogramme für die Ausbildung von Polizei und Militär in fernen Staaten auch bundesdeutsche Waffenlieferungen nach sich gezogen. Nun stehen Waffenlieferungen an, die die Entsendung von Ausbildungskompanien der Bundeswehr nötig machen werden; denn als dringlichster Bedarf der „unterentwickelten Partner“ wurden praktisch auch in der BRD nicht mehr Stahlwerke und Landbewässerung zur Kenntnis genommen und erfüllt, sondern allerlei Waffenwünsche von der Fregatte bis zum Kampfpanzer. Auch von einigen der herkömmlichen Ideologien über den humanitären Edelmut des eigenen „bloß“ ökonomischen Imperialismus sagt man sich in Bonn allmählich los: daß Industrialisierungsprojekte, einst der Stolz bundesdeutscher „Auslandshilfe“, für die „3. Welt“ gar nichts taugen können und die staatliche Hungerhilfe gar nicht knapp genug bemessen sein kann, um die Entwicklung „ökologisch angepaßter Überlebensstrategien“ zu befördern, das sind die aktuellsten bundesdeutschen Ideologien für diesen Sektor. Ihre amtliche Verlautbarung begleitet die eindeutige diplomatische Klarstellung, daß die bundesdeutsche „Hilfe“ stets als Instrument hegemonialer Macht gemeint war und ernster denn je heute so verstanden und genommen sein will.

3. In ihrer Betätigung als ökonomische Ordnungsmacht in den Hinterlanden des europäischen Kapitalismus treten die EG-Staaten weltweit in eine gewisse Konkurrenz zu den USA, vor allem aber gemeinsam mit diesen der Sowjetunion als universelle praktische Einschränkung für deren Bemühen um politischen Einfluß entgegen. Mit der Durchsetzung und Sicherung ihrer ökonomischen Interessen am Rest der Welt machen sie also getrennt von ihrer Rolle als westeuropäischer Kern des zur „Eindämmung“ sowjetischer Macht geschaffenen mächtigsten Militärblocks der Welt und deswegen überwiegend vormilitärisch, den Zweck der NATO wahr; und zwar einerseits in einem viel weiter gesteckten Bereich und mit unter Friedensbedingungen viel aggressiver ersetzbaren politischen Mitteln, als es die Selbstdefinition der NATO als militärisches Verteidigungsbündnis ausdrücklich vorsieht, andererseits aber allemal im Rahmen der „Wertordnung“ als deren Schutzschirm die westliche Kriegsallianz verstanden sein will. Gerade in der Abtrennung ihres EG-Imperialismus von dessen militärischer Grundlage im NATO-Bündnis erfüllen die westeuropäischen Führungsmächte dessen offensiven Endzweck mit politischem Leben – und zwar keineswegs bloß auf NATO-Boden und auch nicht nur auf „dritten“ Schauplätzen. Längst haben dieselben Staaten, die als NATO „Abschreckung“ gegen die Sowjetunion betreiben, als EG nicht bloß das dem RGW assoziierte Jugoslawien auch offiziell durch ein Sonderabkommen an sich gebunden, sondern auch die Planwirtschaft ihres Gegners und seines Blocks für die Nutzung durch ihr nationales Kapital erschlossen. (Siehe das Kapitel „Osthandel“!) Und auf diesem Wege des „friedlichen Austauschs“ und der „Kooperation“ sind den kapitalistischen Demokratien Westeuropas Einbrüche in den Zusammenhalt des gegnerischen Bündnisses sowie in die ökonomische Basis seiner Macht gelungen, die durch die Aktivitäten derselben Staaten allein im Rahmen der NATO nicht, und auf gar keinen Fall in so lohnender Form zu erringen waren. Denn ausgerechnet an der antiimperialistischen Weltmacht des Globus bestätigt sich die imperialistische Wahrheit, daß eine ökonomische „Zusammenarbeit“ mit den Führungsmächten des weltweiten Kapitalismus für Staaten mit weniger effektiv funktionierender Ausbeutung nicht zu haben ist, ohne daß sich alsbald politische Machtansprüche von deren Seite geltend machen. Der Fall Polen ist da das bislang extremste Beispiel für die ökonomischen und politischen Auswirkungen einer Außenwirtschaft, die die nationale Planwirtschaft des Landes bereits bis hin zur Lebensmittelversorgung der Bevölkerung zu einem Nebenschauplatz westlicher Kapitalinteressen macht und so der Staatsgewalt selber ihre ökonomische Grundlage in der eigenen Nationalökonomie und der Kooperation innerhalb des RGW praktisch entzieht. Da gibt es auf einmal eine polnische Außenpolitik, die angesichts der fortschreitenden Auflösung ihrer realsozialistischen Produktionsweise für die Stabilisierung der nationalen Herrschaftsgewalt zumindest auch auf das Interesse der westlichen „Partner“ und Bündnisgegner an geregelten politischen Verhältnissen im „kommunistischen“ Polen setzt – und nicht einmal zu Unrecht. Da hat die sowjetische Außenpolitik bei ihren Bemühungen um die Wiederherstellung der Bündnisdisziplin mit einem Berg polnischer Westschulden wie auch mit einer ökonomischen Aggression des Westens gegen die eigene Planwirtschaft zu rechnen. Und dementsprechend werden die außenwirtschaftlichen Erfolge der EG zum politischen Erpressungsmittel der NATO gegen die Sowjetunion: In ihnen verfügen die Hegemonialmächte Westeuropas über ein Mittel, die Hegemonialmacht der Sowjetunion über Osteuropa zu relativieren.

Für die EG-Staaten und insbesondere für die BRD macht sich dabei natürlicherweise der Widerspruch zwischen dem Standpunkt des außenwirtschaftlichen Erfolgs als solchem und dem Standpunkt seiner Verwendung als außenpolitisches Druckmittel geltend. Innerhalb des NATO-Bündnisses übersetzt sich dieser Widerspruch derzeit in allerlei diplomatische Konflikte zwischen den USA, die Anstoß daran nehmen, daß ihre Bündnispartner bei der fälligen Offensive gegen die Weltmachtansprüche der gegnerischen Atommacht noch ans Geschäft denken, und den EG-Staaten, insbesondere der BRD, die ihr Ostgeschäft dadurch bewahren wollen, daß sie es als optimale Waffe gegen die Bündnisdisziplin im Ostblock nicht bloß empfehlen, sondern auch zielstrebig einsetzen. Den Schein von Friedlichkeit, der der ökonomischen Seite des Imperialismus im Vergleich zu seiner dazugehörigen kriegerischen notwendig anhaftet, sogar den Schein von Schwäche, wie er der Sorge um gedeihliche Wirtschaftsbeziehungen bei verschärfter politischer Konfrontation anhängt, handhabt die sozialliberale Bundesregierung geradezu virtuos der östlichen Seite gegenüber als schlagendes Beweismittel dafür, wie ernst es ihr ist und wie schlimm es tatsächlich steht, wenn sie – dessen ungeachtet! – auf sowjetischen Zugeständnissen in Polen oder auch schon in Bezug auf Afghanistan besteht und die Drohung der NATO – schweren Herzens! – mitträgt: Kaum eine westliche diplomatische „Warnung“ an die Sowjetunion ist so unzweideutig und dringlich wie die diplomatischen Kriegssorgen und Friedensmahnungen westdeutscher Friedenspolitiker; tatsächlich ist der Sowjetunion ja auch kein Getreideembargo so schädlich wie die Stornierung sämtlicher westdeutscher Ostprojekte. Ihrer imperialistischen Substanz nach beruhen die – durchaus realen – beiderseitigen diplomatischen „Verstimmungen“ im westlichen Bündnis also auf einer höchst effektiven „Arbeitsteilung“ bei der gemeinschaftlichen politischen Offensive, wobei auch die europäischen Partner in völliger Klarheit über die Rangfolge zwischen Zweck und Mittel agieren; und wenn diese Priorität von den USA „gegen“ ihre Partner immer wieder einmal klargestellt wird, so entspricht das der „Aufgabenverteilung“ im Bündnis und zeigt keineswegs an, daß der Bündniszweck nurmehr eine einseitige Angelegenheit der Führungsmacht wäre.

4. Denn daß die EG-Staaten sich mit den USA beständig um das relative Gewicht ihres besonderen Standpunkts streiten, das ist die notwendige Verlaufsform der ihre gesamte Außenpolitik bedingenden Absicht, ihre eigenen imperialistischen Interessen innerhalb des Bündnisses mit den USA zu definieren und zu praktizieren. Das Bemühen um ökonomische und politische Selbstbehauptung neben den USA auf Grundlage der von ihnen gesetzten Bedingungen, mit dem die EG-Staaten angetreten sind und das nach wie vor das Prinzip ihres Zusammenschlusses ist, enthält selbstverständlich neben der Botmäßigkeit ein Moment von „Antiamerikanismus“: eben den Willen zum Konkurrieren. Klar ist auch, daß in einer Demokratie, die das gehorsame Volk explizit als ökonomische und politische Grundlage der staatlichen Souveränität, einschließlich ihrer imperialistischen Ambitionen, in Anspruch nimmt, dieser relative praktische Gegensatz sich in diversen Spielarten des einen nationalistischen Ideals einer ganz wirklich unabhängigen und erstrangigen „Weltmacht Europa“ übersetzt. Ob dieses Ideal als „Europa der Vaterländer“ daherkommt – die in Frankreich erfundene Manier, den nationalistischen Zweck des Zusammenschlusses hervorzuheben –, ob es in die Vorstellung einer dereinstigen einigen „Nation Europa“ unmittelbar nach dem Vorbild der USA gefaßt wird – die zum anfangs nur bedingt wieder zugelassenen deutschen Nationalismus passende Spielart, dasselbe auszudrücken und alle anderen Nationen für Hindernisse beim Aufbau einer westeuropäischen Großmacht zu erklären – oder ob es sich in das Konzept eines neutralen „Blocks zwischen den Blöcken“ übersetzt – dies die Variante des linken Nationalismus in verschiedenen EG-Staaten –, immer wird damit den beteiligten Völkern das fatale Kompliment gemacht, im Grunde wüßte man sie schon für einen autonomen Imperialismus von amerikanischem Kaliber zu benutzen. Den Hinweis auf seine Relativität enthält dieser Idealismus europäischer „Selbständigkeit“ aber auch: sei es in der Sorge um die eigene „nationale Identität“; sei es in Form der linken Illusion, die Autonomie mit Neutralität, also dem Verzicht auf imperialistische Aktivitäten zu erkaufen; sei es schließlich in der fiktiven Dialektik von Macht und Ohnmacht, der Selbstdarstellung als eine den angeblich vorgegebenen Weltläuften ziemlich hilflos ausgesetzte Mittelmacht, die die Bundesregierung am perfektesten beherrscht – in ihrer Werbebroschüre für die ,,Europawahl“ fand sich sogar die EG als kleiner Schrebergarten dargestellt, mit harmlosen nationalen Charaktermasken bevölkert und von den riesenhaften düsteren Gestalten eines Chinesen, eines Ölscheichs mit Tonne, eines Breschnew mit Rakete und eines „Uncle Sam“ mit Dollarsymbol drohend umstanden. Der „Realismus“ des Ideals eines zur Weltmacht vereinigten Europas besteht daher allemal in einer nicht weniger ideologischen Rückbesinnung auf die grundlegenden Bedingungen nationaler Machtentfaltung in Europa: im Idealismus der „Freundschaft mit Amerika“, als besondere Position zeitweise von den „Atlantikern“ gegen die „Europäer“ unter den westeuropäischen Weltpolitikern vertreten.

Im Namen dieses Ideals, ob nun mehr nationalstolz in der Erinnerung an vergangene gemeinsame Großtaten oder mehr defensiv als Beschwörung der Unabdingbarkeit amerikanischen Schutzes vorgetragen, pflegen denn auch in Europa die nötigen politischen Übergänge stattzufinden, wann immer die USA – wie etwa derzeit – ihre Bündnispartner entschiedener für eine Abwicklung des Ost-West-Gegensatzes im Sinne ihrer großzügigeren weltpolitischen Kalkulationen in Anspruch nehmen. Unter amerikanischem Druck verwandelt die Konkurrenz der „Gemeinschaft“ zu ihrer transatlantischen Führungsmacht sich nämlich allemal sehr schnell in eine Konkurrenz der europäischen Staaten untereinander um nationale Sonderkonditionen fürs Mitmachen der jeweils aktuellen amerikanischen Linie. Es ist keine bloße Ideologie, sondern eine handfeste diplomatische Absichtserklärung, wenn die Mahnungen der Reagan-Administration, die Europäer sollten sich gefälligst an den militärischen und politischen Lasten der neuen Aggressivität gegen den Osten stärker beteiligen, vom französischen Präsidenten mit öffentlich propagierter „Enttäuschung“ über die sowjetische Entspannungspolitik, von der britischen Premierministerin ausgerechnet mit Warnungen vor der Gefährlichkeit der Sowjets, von dem bundesdeutschen Kanzler mit einer nachdrücklichen Erinnerung an seine „Vaterschaft“ am NATO-„Nachrüstungs“-Beschluß beantwortet werden. In der „Europäischen Politischen Zusammenarbeit“ gibt es Streitigkeiten und neue Koalitionen um die Verteilung der Lasten und die optimale Unterstützung westlicher Offensiven; und für die Bewältigung der von den USA initiierten neuen Rüstungsprogramme sucht jedes Land sich auf dem gemeinsamen Markt möglichst gute ökonomische Bedingungen zu verschaffen. Und nichts widerlegt schlagender als diese innereuropäische Konkurrenz das gerade in solchen Phasen immer wieder auflebende Gerücht, die europäischen Staaten wären letztlich doch die – unschuldigen! – Opfer amerikanischer Pression: so setzen sie die Prioritäten ihres nationalen Egoismus.