Vom internationalen Vergleich der Arbeitslöhne in den Zeiten von Krise und Antiterror-Krieg

Die Regierenden agieren wie geschädigte Konkurrenten: Ihrer Nation fehlt es an gesamtwirtschaftlichem Wachstum, während anderswo noch Geld verdient und Kapital akkumuliert wird. Dass ihre weltweit aktiven Kapitalisten sich schwer tun, für ihre akkumulierten Überschüsse überhaupt eine lohnende Anlage aufzutun, und allenthalben Kapital vernichten, registrieren sie als nationalen Kapitalmangel; den führen sie auf fehlenden Zuspruch des internationalen Kapitals zurück und engagieren sich für ihren Wirtschaftsstandort.

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Systematischer Katalog
Länder & Abkommen

Vom internationalen Vergleich der Arbeitslöhne in den Zeiten von Krise und Antiterror-Krieg[1]

1.

Da der Terrorismus auf der Welt ausgemerzt werden muss, führen die maßgeblichen Demokratien Krieg, bereiten weitere Frieden schaffende Interventionen vor und planen einen gründlichen Umbau der Staatenwelt. Aus ein paar monströsen Attentaten antiamerikanischer Fanatiker ziehen sie einen Schluss, den man besser nicht mit Hilfe des moralischen Menschenverstandes nach dem Schema von verwerflichem Angriff und gerechter Verteidigung zu entschlüsseln suchen sollte, weil er tatsächlich einer exklusiven imperialistischen Logik folgt: Ziel des „Kriegs gegen den Terrorismus“ ist die Kontrolle über den Gewalthaushalt der Staatenwelt, die deren Benutzbarkeit und Nutzen zuverlässig verbürgt.

In Bezug auf Zeit, Ort und Ausmaß des Einsatzes militärischer Gewalt, hinsichtlich der Unterstützung von Regierungen hier und Widerständlern dort, über Kandidatenauswahl, Zeitpunkt und Art der Kür eines neuen Herrschaftspersonals in „fehlgeschlagenen“ und „Schurken“-Staaten sind sich die Leiter des Projekts keineswegs einig. Sie streiten eher heuchlerisch um die Methoden und mit großer Härte um die Zuständigkeit für die Aufsicht über den Umgang anderer Staatsgewalten mit ihren Völkern, um die Federführung beim Zurechtrücken von Gewaltverhältnissen bzw. um das Maß ihres Einflusses darauf. Diplomatisch wickeln sie ihren Machtkampf als Konkurrenz um die Rechte des Weltordnens ab – um das Exklusivrecht aufs Ordnung-Stiften ebenso wie um anerkannte Rechte aus ihren Beiträgen zum Frieden schaffenden Export von Tod und Zerstörung in Terrorismus-verseuchte Weltgegenden.

In dieser Auseinandersetzung antizipieren die demokratischen Weltmächte künftige Erträge, obwohl die noch gar nicht abzusehen sind; durch die Methoden ihrer Sicherung werden die vielmehr gründlich in Frage gestellt. Dafür leisten sie sich einen beträchtlichen Aufwand an Gewalt- und Finanzmitteln.

2.

Dabei ist es um den Nutzen, den Europas bedeutende kapitalistische Nationen aus dem von ihnen inszenierten und betreuten Weltgeschäft ziehen, derzeit sowieso nicht gut bestellt. Die alte Gleichung: ‚Globalisierung‘ schafft Wachstum weltweit, an dem die führenden Weltwirtschaftsmächte ganz von selbst vorrangig partizipieren – geht nicht mehr auf. Es fehlt an Wachstum: Das geben die zuständigen Regierungen mit jedem neuen Haushaltsplan bekannt – von Mal zu Mal wachsen die Schulden, mit denen sie kein neues Wachstum „anstoßen“, sondern bloß unproduktive Defizite finanzieren. Und mit ihrer Bilanz der schon wieder „verloren gegangenen Arbeitsplätze“ lassen sie erst recht keinen Zweifel: Nach wie vor schlagen sie sich mit den Konsequenzen einer kapitalistischen Krise herum. Die Unternehmerschaft, der alle fortschrittlichen Nationen den Gebrauch des produktiven Reichtums und das Kommando über die gesellschaftliche Arbeit überantwortet haben, konkurriert mittlerweile schon seit einigen Jahren nicht mehr um Anteile an einem flott wachsenden Geschäft, vielmehr um Gewinne bei und trotz allgemeinem Einbruch ihrer Geschäfte; denn mit ihren akkumulierten Geschäftserfolgen hat sie es dahin gebracht, dass ihr kapitalistischer Reichtum für weitere Vermehrung zu groß, dadurch untauglich geworden ist und deswegen in großem Stil kaputtgeht. Ihr Wettbewerb tobt um die Verteilung ihres Schadens, der freilich vor allem ihre Belegschaften trifft: Die erfolgreichen Firmen behaupten sich am Markt mit gesenkten Lohnstückkosten, also geringeren Löhnen für eine geringere Anzahl verschärft ausgenutzter Mitarbeiter; die andern verschwinden vom Markt und hinterlassen zusätzliche Arbeitslose. Die Folgen ihrer Krisenkonkurrenz rechnen die Unternehmer entgegenkommenderweise gerne in Arbeitsplätze um – in die nämlich, die sie durch die Streichung anderer bis auf Weiteres vor der Vernichtung gerettet haben. Der Staat kommt nicht umhin, die Verluste zusammenzuzählen; er bilanziert den ökonomischen Gesamtschaden, nämlich den am nationalen Wachstum, und verwaltet einen Haushalt, in dem keine Rechnung mehr aufgeht.

3.

Entsprechend heftig reagieren die Regierenden. Sie agieren selber als geschädigte Konkurrenten: Ihrer Nation fehlt es an gesamtwirtschaftlichem Wachstum, während anderswo noch Geld verdient und Kapital akkumuliert wird. Dass ihre weltweit aktiven Kapitalisten sich schwer tun, für ihre akkumulierten Überschüsse überhaupt eine lohnende Anlage aufzutun, und allenthalben Kapital vernichten, registrieren sie als nationalen Kapitalmangel; den führen sie auf fehlenden Zuspruch des internationalen Kapitals zurück und engagieren sich für ihren Wirtschaftsstandort. Den Unternehmern, denen sie im Zeichen der Globalisierung den ganzen Globus als Geschäftsfeld erschlossen haben und verfügbar machen und halten, kommen sie kritisch – mit dem Vorwurf des „mangelnden Patriotismus“ –, fordernd – mit dem Imperativ „Hiergeblieben!“ –, zugleich und vor allem werbend – mit dem Angebot „bester Investitionsbedingungen“. Anderen Nationen wird alles zum Vorwurf gemacht, was sich als unfaires Werbemittel denunzieren lässt: Elende soziale Verhältnisse, die das selektive Engagement der Geschäftswelt in vielen Weltgegenden geschaffen hat, insbesondere die verheerenden Folgen des Systemwechsels in Osteuropa, mit dem eine Unmenge sozialer Errungenschaften als wertlose Belastung des einzig wahren kapitalistischen Reichtums abgeschrieben und liquidiert worden ist, werden als „Lohn-“, „Sozial-“ oder „Umweltdumping“ angeklagt; die Forderung nach einer weltweit gültigen oder wenigstens innereuropäischen „Sozialcharta“, die anderen Staaten eine Verelendungspolitik als Konkurrenzmittel verbieten würde, wird berechnend erhoben und ebenso berechnend im Namen des freien Wettbewerbs zurückgewiesen. Ans jeweils eigene Volk schließlich ergeht die Ansage: Lohn, Arbeitszeiten, Krankenversorgung, Altersrente, Sozialhilfe – alles muss „auf den Prüfstand“ und für die Zwecke eines national gerechten Sozialdumping zurechtgemacht werden.

Mit dieser entschlossenen Antwort auf ihr Leiden an der Krise sorgen Europas demokratische Regierungen in mehreren Punkten für klare Verhältnisse.

Erstens gibt es kein Zurück hinter die Globalisierung. Auch wenn das große Weltgeschäft aktuell seine Dienste am nationalen Wachstum versagt; auch wenn in der Polemik gegen „vaterlandslose“ Kapitalisten und gegen die Arbeitsplätze in deren ausländischen Filialen noch so nationalistische Töne angeschlagen werden: An eine Kündigung des freien Geschäftsverkehrs über die Grenzen hinweg, an Einschränkungen der Bewegungsfreiheit des kapitalistischen Eigentums denken die zuständigen Standort-Verwalter ganz entschieden nicht. Die Chefs der großen Nationen, in denen zwar nicht mehr alle Produktionsstätten und proletarischen Dienstkräfte, dafür aber die entscheidungsmächtigen Hauptquartiere des weltweiten Geldverdienens zu Hause sind, die für die Zentralisierung des in aller Welt und unter Ausnutzung aller Ressourcen auf dem Globus verwerteten Kapitals sorgen, verstehen gut genug, dass es für ihre Macht entscheidend auf die Finanzmacht ankommt, die aus der freien Benutzung des Weltmarkts durch die kapitalistischen Zentren unter ihrer Obhut erwächst. Ihre Kollegen, die mehr die Randzonen des Weltgeschäfts regieren, haben sich genauso unwiderruflich darauf festgelegt, den wirklichen Kapitalmangel in ihren Ländern durch die Öffnung ihrer Grenzen für und unwiderstehliche Angebote an jeden kapitalkräftigen Ausbeuter zu überwinden, auch wenn die teuer erkaufte, dabei allemal höchst selektive Nutzung ihrer nationalen Ressourcen alles andere als eine flächendeckend wirksame Akkumulation abstrakten Reichtums in Gang bringt.

Damit ist zweitens auch schon entschieden, dass aus der im Geiste der Konkurrenz vorgenommenen Diagnose der Krise als Mangelerscheinung, nämlich als nationales Defizit an Investitionen, nur eine Folgerung zu ziehen ist: Was fehlt, muss her. Die Nation muss sich dem Weltkapital als ein allen konkurrierenden Ländern überlegener Standort präsentieren, damit Wachstum hier statt anderswo stattfindet. Wie das zu bewerkstelligen ist, steht drittens für die politisch Verantwortlichen erst recht fest: Die Konkurrenz der Nationen um Kapitalanlage wird durch den internationalen Vergleich der Arbeitslöhne und -bedingungen entschieden. Von den vielfältigen Berechnungen, von denen sich Staaten bei der Sicherung und Förderung der Kapitalakkumulation in ihrem Zuständigkeitsbereich leiten lassen, wenn sie mit ihresgleichen um die nationalen Erträge des Weltmarkts kämpfen, hat sich diese eine Maxime den Rang eines nicht mehr bestrittenen Patentrezepts erobert.

4.

Mit diesem Beschluss verabschieden sich die großen Demokratien von ihrer alten Erfolgsgleichung, wonach überlegene „Produktivität“ – gedacht ist in Wahrheit an die Rentabilität des in modernsten Produktionsmitteln angelegten und für Arbeitskraft aufgewandten Kapitals – „Verteilungsspielräume“ schafft und für Wachstum und Lohnhöhe dazu sorgt. Dass überlegene Produktivkräfte Konkurrenzmittel des Kapitals und als solche allein dazu da sind, Arbeitern das Leben nicht etwa gemütlicher und sie wohlhabender zu machen, sondern mehr aus ihnen herauszuholen und dadurch die Bezahlung überflüssiger Arbeit einzusparen, war in der Praxis sowieso immer klar; was Gewerkschaften erstritten haben, hat sich allemal im Rahmen des für perfekte Arbeitsleistung und die passende private Reproduktion funktionell Notwendigen gehalten. Durch die Folgen der globalisierten Krise haben die zuständigen Wirtschafts- und Sozialpolitiker sich nun darüber belehren lassen, dass die noch so perfekte Herrichtung ihrer Länder zu den denkbar fortschrittlichsten Kapitalstandorten allein Wachstumseinbußen nicht verhindert, also die Überlegenheit im internationalen Wettbewerb nicht wirklich sichert. Also kommen sie auf die elementare kapitalistische Weisheit zurück und bekennen sich offensiv dazu, dass der Lebensunterhalt der Lohnabhängigen überhaupt eine Last fürs Kapital und nur in dem Maß zu rechtfertigen ist, wie der gezahlte Lohn die geleistete Arbeit nicht bezahlt. Dieses schlichte Prinzip machen sie direkt zur Richtschnur staatlicher Politik und verschreiben sich dem Ziel, dem Kapital auf Biegen und Brechen zu verbilligter Arbeit zu verhelfen. Dafür räumen sie auf mit überholten sozial- wie christlich-demokratischen Dogmen von der Bekömmlichkeit der Lohnarbeit im Allgemeinen, einem Gleichklang zwischen kapitalistischem Fortschritt und proletarischem Wohlstand im Besonderen und stellen die Logik ihres überkommenen Sozialsystems auf den Kopf. 100 Jahre lang hat der bürgerliche Klassenstaat sich darum gekümmert, die Ausbeutung, zu der er seine Kapitalisten ermächtigt, so zu beschränken, dass die lohnabhängige Klasse ihre kapitalistische Ausnutzung überlebt, und das unweigerlich anfallende Elend sozialfriedlich zu entsorgen – ein Hilfsdienst an den Betroffenen, der vor allem eine politische Ökonomie überlebensfähig macht, in der „die Wirtschaft“ die Menschen nicht versorgt, sondern zu deren Schaden benutzt oder noch nicht einmal das. Jetzt gilt umgekehrt: Indem der Staat dafür sorgt, dass das lohnabhängige Volk seine Lohnabhängigkeit aushält und seinen Arbeitgebern immer und überall in brauchbarer Verfassung verfügbar bleibt, versorgt er die Leute, was sich irgendwann notwendigerweise als unbezahlbar, also letztlich systemwidrig herausstellt und zwingend zu dem Befund führt: er versorgt sie zu gut. Eine moderne Sozialpolitik hat daher vorauseilend mehr Armut, billigere Löhne, längere Arbeitszeiten zu organisieren, damit mehr Kapital den so zurechtgemachten Standort aufsucht und dort statt anderswo die nationale Wachstumsschwäche behebt. Galt früher einmal für die staatliche Armutsbetreuung der Kausalzusammenhang: weil das kapitalistische Wachstum „prekäre Lebensverhältnisse“ schafft, muss die Obrigkeit sich dieser Verhältnisse annehmen und der Verelendung Grenzen setzen, so gilt im heutigen Europa die finale Umdrehung: Der Staat mit seinem durchorganisierten Zugriff auf Lohn und Arbeitsbedingungen muss die Lebensverhältnisse der Lohnabhängigen umfassend verschlechtern, damit das Wachstum wieder in Schwung kommen kann.

5.

Dass mit mehr unbezahlter Arbeit und mehr organisierter Armut dem Wachstum des kapitalistischen Reichtums auf die Sprünge zu helfen wäre, wenn der sich in ein Übermaß an Akkumulation hineingewirtschaftet hat und aus diesem absurden Drangsal nicht so recht herausfindet, ist zwar sehr unternehmerfreundlich gedacht und gehandelt, als Patentrezept zur Sanierung des Standorts politökonomisch aber doch eher zweifelhaft. Das gestehen die heutigen Vertreter des Demokratie und Faschismus einigenden bürgerlichen Grundsatzes Sozial ist, was Arbeit schafft! auch halb und halb ein, wenn sie ihr zynisches Versprechen, mit härteren Arbeitsbedingungen für bessere Ausbeutungsbedingungen zu sorgen, um eine Ohnmachtserklärung bezüglich der zu erwartenden Arbeitsplätze ergänzen: Sie verweisen auf „die Konjunktur“, die irgendwie schon erst von selber wieder anspringen müsste, um den Arbeitsmarkt in nennenswertem Umfang zu „entlasten“, und entlasten so vor allem ihre neue Sozialpolitik von allen Momenten einer sozialen Wohltat, für deren Ausbleiben man sie haftbar machen könnte. An ihrem Programm, Mehrarbeit und Verarmung als Hebel für mehr nationales Wachstum einzusetzen, machen sie aber überhaupt keine Abstriche. Der Übergang zu einer Sozial- und Wirtschaftspolitik der gezielten Verelendung ist für seine Veranstalter zwingend und ohne Alternative; Wachstumsprogramme per Kreditaufblähung sind nicht im Angebot, „klassische“ Rezepte einer „antizyklischen Konjunkturpolitik“ in der Mottenkiste systemfremder Weltverbesserungsversuche abgelegt. Denn ganz grundsätzlich geht es nicht bloß um die Bewältigung der aktuellen Konjunkturlage, die Behebung einer Wachstumsschwäche durch „Kapitalspritzen“. Der Fortschritt, den Europas Modernisierer inszenieren, ist ausdrücklich als Epochenwende gemeint: als Übergang zu einem historisch neuen Erfolgsrezept, mit dem sie die Konkurrenz der kapitalistischen Nationen ganz bestimmt und langfristig zu gewinnen gedenken. Ihr Ziel, für das sie ihre Völker derart in die Pflicht nehmen, ist nicht einfach mehr kapitalistisches Wachstum – geschweige denn nur die Vermeidung und Abwälzung von Schäden, die die andauernde Krise an ihrer Volkswirtschaft anrichtet –; sie haben den imperialistischen Zweck wachsender nationaler Wirtschaftsmacht im Auge: den erfolgreichen Aufstieg zur Weltmacht, die sich die Richtlinien der globalen Ordnung nicht mehr vorgeben lassen muss, sondern selber diktiert. In diesem Sinn verknüpfen Europas ehrgeizige Demokraten den notwendigen, aber ausbleibenden Nutzen ihrer Nation aus dem kapitalistischen Weltgeschäft gleich zweifach ein-eindeutig mit der umstrittenen Kontrollmacht über den Gewalthaushalt der Staatenwelt: Mit dem Machtkampf um die Lizenz zum Weltordnen entscheidet sich für sie der künftige nationale Nutzen des Weltgeschäfts, nämlich als Motor ihres nationalen Wachstums, und umgekehrt mit dem erfolgreichen Zugriff auf den kapitalistischen Reichtum der Welt die Verfügung über die notwendigen Mittel, also über ihre Fähigkeit, wirksam in das Projekt einer neu geordneten, „demokratisierten“ Staatenwelt einzugreifen; dass der eine Erfolg so unsicher ist wie der andere unabsehbar, macht die Sache für sie nur um so dringlicher. Im Sinne dieser doppelten Rivalität reorganisieren sie die Indienstnahme und die Armutsopfer ihrer Völker.

In ihrem nationalen Konkurrenzkampf begnügen sich Europas regierende Reformer derzeit also nicht mit immanent ökonomischen Erfolgs- und Risikokalkulationen. Die Bewältigung der schon viel zu lange andauernden Krise gehen sie unter dem übergeordneten Gesichtspunkt an, dass mit ihrer nationalen Wachstumsbilanz die imperialistische Kompetenz ihrer Nation auf dem Spiel steht. Mit der krisengemäßen Zurichtung ihrer Klassengesellschaft folgen sie den Anforderungen der Kriegslage, die sie mit ihrem von den USA zwar vorgegebenen, dann aber durchaus in eigener Regie gefassten Beschluss zum Umbau der Staatenwelt heraufbeschworen haben.

6.

Die wichtigsten Mitglieder der EU betreiben den offensiven Vergleich der nationalen Arbeitslöhne unter dem Titel „Reform“. Sie tun das berechnend, weil das nach sowieso notwendiger Anpassung und Fortschritt klingt, und insofern auch zu Recht, als sie die sozialpolitische Betreuung ihres Standorts tatsächlich gründlich umstellen. In der notorisch reformunwilligen BRD hat die „Agenda 2010“ innerhalb eines Jahres in diesem Sinn schon mehr in Bewegung gebracht als jahre- bis jahrzehntelange Kämpfe um die 35-Stunden-Sonne und gegen die Altersarmut in der anderen Richtung. Auch Italien bemüht sich schon seit Jahren um die Anpassung seiner sozialen Errungenschaften an die Notwendigkeiten einer Krisenbewältigung, die dem wirtschafts- wie weltpolitischen Ehrgeiz der großen Mittelmeermacht der EU Genüge tut. Das andere namhafte Mitglied der europäischen Südschiene hingegen braucht sich gar nicht groß umzustellen: Seit seinem Beitritt zu Europas imperialistischer Union konkurriert Spanien mit Billigarbeit um Kapital, ordnet den Aufbau eines sozialen Netzes ganz dem Projekt unter, vom Status einer peripheren Anlagesphäre europäischen Kapitals zum Standort einer auf den Rest Europas und der Welt zugreifenden kapitalistischen Wirtschaftsmacht aufzusteigen; das Land kämpft mittlerweile darum, als eigenständig mitwirkende Macht im globalen Antiterror-Krieg ernst genommen zu werden – und verspürt prompt das Bedürfnis, sozialpolitische Vorkehrungen gegen eine in Zukunft womöglich drohende Überteuerung der nationalen Lohnarbeit zu treffen.

So versucht sich jedes ambitionierte EU-Mitgliedsland auf seine Art und mit seinen landesspezifischen Voraussetzungen daran, mit dem Mittel der organisierten Verelendung der Lohnabhängigen den Kampf um Reichtum und Macht der Nation zu gewinnen.

[1] Die nachfolgenden Artikel zu den Verhältnissen in Italien, in Spanien und zu den Fortschritten der Sozialpolitik in der BRD setzen die Zwischenbilanz in Sachen ‚Strukturelle Reformen‘ in Europa in GegenStandpunkt 3-03, S.49 fort.