Italiens Kampf um seinen Platz in der 1. Liga der Euro-Nationen
Mit einem neuen Armutsniveau für einen europakonformen Staatshaushalt
Seitdem Italien in den Kreis der Euro-Nationen aufgenommen ist, kämpft es um seinen Stand in diesem, indem es sich anstrengt, die Euros zu verdienen, die es per Kreditaufnahme für sich in Anspruch nimmt. Diesem obersten polit-ökonomischen Ziel unterwirft es in immer neuen Reformrunden seinen Standort.
Aus der Zeitschrift
Teilen
Siehe auch
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Gliederung
- Eine Föderalismusreform zur Stärkung der Regionen: Die verfassungsrechtliche Vollendung einer Abschreibungsaktion
- Die Gesundheitsreform: Eine Klassen-Medizin für die italienische Klassen-Gesellschaft
- Die Reform des Rentensystems: Ein staatlicher Angriff auf den sozialen Besitzstand schlechthin
- Die Reform des Arbeitsmarktes: Anpassung des Arbeitsrechts an die real existierende Arbeitswelt
- Die Reform des Zuwanderungsgesetzes: Ohne Beitrag zum Sozialprodukt keine Aufenthaltsgenehmigung
- Reform der tariflich geregelten Arbeitsverhältnisse: Staatliche Manöver zur direkten Lohnsenkung und zur Durchsetzung neuer Freiheiten für die Unternehmer
- Die Reform zur Angleichung der Armutsverwaltung an europäische Standards: Ein eher langfristig angelegtes Projekt
- Die regierungsamtliche Präsentation der Reformen und die Antwort auf sie: Anwälte der Betroffenen kritisieren Berlusconis „Machtmissbrauch“
Italiens Kampf um seinen Platz in
der 1. Liga der Euro-Nationen
Mit einem neuen Armutsniveau für einen
europakonformen Staatshaushalt
Die italienische Wirtschaft ist in der Krise. Pleiten von prominenten Unternehmen erschüttern das Land. Der Fiat-Konzern schreibt seit Jahren rote Zahlen, die staatliche Luftverkehrsgesellschaft steht vor dem Ruin, der Lebensmittel-Multi Parmalat meldet Insolvenz an, und jeden Monat beantragen Hunderte von Unternehmen aus „konjunkturbedingten Gründen“ die Aufnahme ihrer Belegschaft in die staatliche Lohnersatzkasse.
Ebenso in der Krise sind damit der italienische Staatshaushalt und das staatliche Sozialkassenwesen: Die Einnahmen aus versteuerten Gewinnen und Gehältern brechen weg, das Beitragsaufkommen der Sozialversicherung schwindet dahin, die Ausgabenverpflichtungen steigen tendenziell, so dass die staatliche Finanzplanung insgesamt durcheinander gerät; der nationale Schuldenstand steigt – deswegen.
Und damit ist Italien als Euro-Nation in der Krise. ‚In crisi‘ ist das Land, das sich aus einem wuchtigen staatsmaterialistischen Grund gerne als das europäischste aller europäischen Länder begreift: Nach dem Krieg angetreten als kapitalistisches Erschließungsprojekt mit einer notorisch inflationären Lira, hat es Italien innerhalb von drei Jahrzehnten in und mit Europa ökonomisch zu einem Staat gebracht, der – erst im Rahmen des EWS, jetzt als Mitglied der Währungsunion – über Weltgeld und die dem entsprechende Kreditmacht verfügt. Seine Schulden sind, wie die der anderen Euro-Länder, international anerkanntes Geld – das können nicht viele kapitalistisch verfasste Nationen in der Welt von sich behaupten. Dieser ökonomische Status ist allerdings kein nationaler Besitzstand auf Dauer. Seit Italien ihn errungen hat, weiß es ihn gefährdet – es bestehen Zweifel, ob seine Schulden durch das Kapitalwachstum auf seinem Standort gerechtfertigt sind –, und seitdem kämpft es um seine Sicherung: Die Lira war die erste europäische Währung, der ‚die Märkte‘ Anfang der 90er-Jahre das Vertrauen entzogen haben; mit seinen Staatsschulden drohte ihm Ende der 90er-Jahre der Ausschluss aus der damals gerade in Gründung befindlichen europäischen Währungsunion. Die Erringung der Teilhaberschaft am europäischen Gemeinschaftsgeld war dem Land damals enorme nationale Anstrengungen wert. Und seitdem es in den Kreis der Euro-Nationen aufgenommen ist, kämpft es schon wieder um seinen Stand in diesem, indem es sich anstrengt, die Euros zu verdienen, die es per Kreditaufnahme für sich in Anspruch nimmt. Diesem obersten polit-ökonomischen Ziel unterwirft es in immer neuen Reformrunden seinen Standort.
So betreibt die italienische Regierung schon seit Jahren
Krisenmanagement: Um den europäischen Stabilitätspakt und
seine haushalterischen Verpflichtungen einzuhalten, will
sie möglichst viele Haushaltsposten los werden. Wo, ist
keine Frage: Dort, wo Geld und Staatskredit nicht als
Geschäftsmittel, sondern als Lebensmittel eingesetzt
werden. Außerdem will sie dem Staat neue Finanzquellen
erschließen. Wie, ist ebenfalls keine Frage: Durch
Maßnahmen zur Senkung des nationalen Lohnniveaus soll der
Standort fürs Kapital attraktiver und mehr rentable
Arbeit geleistet werden. Ihrem Volk mutet sie seit den
90er-Jahren in etwa die dritte strukturelle
Reformrunde
zu, nachdem schon die
Vorgängerregierungen mittels einer Verbilligung von
Gesundheit, Alter und Arbeitslosigkeit um die Teilnahme
Italiens am Euro-Unternehmen gekämpft haben. Hier zeigt
sich, dass Reformen im modernen Europa
staatliche
Daueraufgabe sind. Und der stellt sich die italienische
Regierung an allen möglichen Fronten.
Eine Föderalismusreform zur Stärkung der Regionen
:
Die verfassungsrechtliche Vollendung einer
Abschreibungsaktion
In Italien sind im Prinzip alle staatstragenden Parteien
übereingekommen, dass das Land mehr Föderalismus braucht.
Durch eine Verfassungsreform, deren Verabschiedung im
Parlament jetzt ansteht, soll die überkommene
Aufgabenverteilung zwischen dem Gesamtstaat und den 20
Regionen entsprechend geändert werden, wobei es eines der
zentralen Vorhaben der Reform ist, den Regionen die
ausschließliche Gesetzgebungskompetenz für die
Ausstattung und Organisation der Bereiche Gesundheit,
Schule und Ausbildung und lokaler Polizei
zu
übertragen (Gesetzentwurf zur
Veränderung des Art. 117 der Verfassung vom 14. April
2003). Ausdrücklich alle Regionen sollen
in ihren Kompetenzen gestärkt
werden, und zur
Erfüllung ihrer neuen sozial-, bildungs- und
ordnungspolitischen Aufgaben werden sie auch
finanzpolitisch ermächtigt. Sie dürfen neue,
regionale Steuern erheben, und je nach dem Erfolg, den
sie dabei haben, sollen sie sich dann an die Ausübung der
ihnen übertragenen Kompetenzen machen. Sie dürfen auf
dieser Grundlage auch Schulden machen – zweckgebunden für
Investitionen –, werden darin allerdings von einer von
Rom eingesetzten Kommission überwacht, die im Interesse
einer Europa-konformen italienischen Gesamtverschuldung
dafür sorgt, dass ihre Kreditaufnahme in einem als solide
geltenden Verhältnis zu ihrem Beitrag zum italienischen
Sozialprodukt und zu ihrem Steueraufkommen bleibt. Dem
Umstand, dass es recht unterschiedlich bemittelte
Regionen sind, die von der Zentralgewalt da zu autonomen
fiskalischen Subjekten erhoben werden, trägt ein fondo
perequativo
Rechnung, eine Art Lastenausgleichsfonds
zwischen Regionen unterschiedlicher ökonomischer Potenz.
Zusätzlich verpflichtet sich der Staat darauf, zur
Beförderung der ökonomischen Entwicklung
und zur
Beseitigung ökonomischer und sozialer Ungleichheit
Zuwendungen zu gewähren, damit die Regionen ihre
Funktionen
wahrnehmen können (Gesetzentwurf zu Art. 119). Mit der
politischen Ermächtigung der Regionen geht somit
unmittelbar ihre Verpflichtung auf ihre eigenen
finanziellen Ressourcen einher, und dies sorgt
dafür, dass die ihnen allen formell gleichermaßen
eröffnete finanzpolitische Freiheit recht
unterschiedliche Konsequenzen hat: Die vergleichsweise
„reichen“ Regionen des Nordens, die als Kapitalstandort
funktionieren, können die bei ihnen erhobenen
Steuern auch bei sich und für ihre Belange verausgaben,
die „armen“ Regionen im Süden müssen mit den
Geldern zurechtkommen, die bei ihnen auszuheben sind.
Aufrecht erhalten bleibt in der Reform des italienischen
Föderalismus zwar der Grundsatz, dass wegen des
ökonomischen Nord-Süd-Gefälles
im Land der
Gesamtstaat weiterhin mit kompensatorischen finanziellen
Leistungen in der Pflicht steht; schließlich sollen seine
südlichen Regionen und Provinzen auch weiter die
Funktionen wahrnehmen können, die ihnen zugedacht sind.
Neu aber ist der Inhalt der Verpflichtung, die der Staat
mit seinem Ausgleichsfonds auf sich nimmt, und der an die
Stelle der berühmten Cassa per il Mezzogiorno
tritt, mit deren Mitteln aus dem Süden des Landes früher
einmal etwas anderes gemacht werden sollte.
Auf verfassungsrechtlicher Ebene schreiben die
italienischen Politiker nämlich zunächst einmal fest, was
sie in den haushaltspolitischen Manövern der letzten zehn
Jahre praktiziert haben: Im Zuge der Ausrichtung der
finanziaria
, des Haushaltsgesetzes, an der
Erfüllung der Euro-Beitrittskriterien, und erst recht
angesichts der krisenbedingten Verschärfung der
Haushaltslage, unter der die verschiedenen Regierungen
den europäischen Stabilitätspakt erfüllen wollten, haben
sie den Gesamtstaat von einem Bündel sozialpolitischer
Aufgaben entlastet und die Zuschüsse an Regionen,
Provinzen und Kommunen gekürzt. In einer bloßen
Neuorganisation der Prinzipien föderativer
Haushaltspolitik und einer Verlagerung politischer
Obliegenheiten in den Zuständigkeitsbereich der Regionen
geht diese Verfassungsreform Italiens daher nicht auf.
Mit der Kombination von Verpflichtung und Ermächtigung
der Regionen befreit sich der italienische Staat auch
nicht nur von einigen bislang getragenen
sozialpolitischen Verbindlichkeiten seinem regional
verwalteten Volk gegenüber, sorgt nicht nur für die
Verallgemeinerung des „Sparzwangs“, den er sich selbst
als Teilhaber an der Euro-Finanzmacht auferlegt: Er
relativiert damit auch den Stellenwert des
politischen Projekts, das ihm bislang diese
„Belastungen“ seines Haushalts wert war. Denn damit, dass
der Übergang Italiens vom Agrarland zur modernen
kapitalistischen Industrienation im Wesentlichen nur im
Norden des Landes stattfand, hat sich die Nation über
Jahrzehnte hinweg nicht abfinden wollen. Ganz
Italien zu einem funktionstüchtigen kapitalistischen
Standort herzurichten und darüber als Reichtumsquelle der
Nation zu erschließen war das Interesse noch jeder der
vielen Regierungen des Landes und ihnen allen auch immer
– wenn auch zusehends in geringerem Maß – die
entsprechenden kompensatorischen Leistungen wert: Weil es
mit der kapitalistischen Erschließung und Bewirtschaftung
seines Mezzogiorno von sich allein nicht vorangehen
wollte, sollten Kredite und Fördermittel des Staates die
Entwicklung Süditaliens
anschieben und
perspektivisch auch diesen Landesteil zu einem Beitrag
zum nationalen Wachstum machen. Wenigstens rudimentär
sollten daher auch dort die Voraussetzungen einer
kapitalistischen Benutzung geschaffen und erhalten
werden, also wurde die für nötig erachtete Infrastruktur
hingestellt und auch für das Quantum an sozialer Fürsorge
und Alphabetisierung gesorgt, das für das Vorhandensein
einer kapitalistisch brauchbaren Arbeiterschaft
unerlässlich ist. Mit seiner Föderalismus-Reform zieht
der italienische Staat unter seine diesbezüglichen
Bemühungen einen Schlussstrich. Er konstatiert, dass
trotz all seiner Bemühungen diese Hälfte des Landes für
die Kalkulationen der Unternehmerschaft, denen die
Kommandogewalt über die gesellschaftliche Arbeit
überantwortet ist, nach wie vor nur höchst bedingt
brauchbar ist – und zieht daraus die Konsequenz, dass
sich Förderung dort nicht lohnt, dass die
stattfindende Geschäftstätigkeit den Transfer weiterer
Mittel nicht rechtfertigt und daher
Anstrengungen, den Süden ökonomisch brauchbar zu
machen, überflüssige Mühe sind. Mit Blick
auf die Staatsschulden, in denen sich diese Anstrengungen
bilanzieren und die jetzt als Gefährdung der Rechnungen
zu Buche schlagen, die er als Euro-Nation anstellt, will
er vom materialistischen Grund seiner alten
kompensatorischen Leistungen nichts mehr wissen. Mit
denen wollte er einmal das praktische Urteil
korrigieren, welches seine und die
europäisch-internationale Geschäftswelt über seine
südlichen Regionen gefällt haben: Jetzt, im Lichte seiner
Sorge um die Solidität und den wirkungsvollen Einsatz
seiner Finanzmacht, stellen sich ihm seine früheren
Versuche, den Süden des Landes zur kapitalistischen
Anlagesphäre herzurichten, als pure
Geldverschwendung dar, so dass die unter seiner
Obhut befindlichen Landesteile, die sich kapitalistisch
nicht rentieren und daher ihren Dienst als nationale
Reichtumsquelle nicht wie verlangt verrichten, als eine
einzige ökonomische Last abzuschreiben sind.
Eine staatliche Entwicklungshilfe
im eigenen Land,
ein Solidaritätsverhältnis
zwischen Nord und Süd,
das den im Norden verdienten Reichtum zugunsten
unterentwickelter Regionen
umverteilt
und
sich im Staatshaushalt als Akkumulation von Schulden
negativ bemerkbar macht: Das alles hat es nicht gebracht,
hätte es also auch nie gebraucht, weil sich in den
betreffenden Landesteilen das private Geschäftemachen,
wie man ja sieht, einfach nicht lohnt. Also braucht es
das alles auch ab sofort für eine Nation nicht mehr, die
sich zum Euro-Regime als ihrer Lebensgrundlage bekennt
und daher für Geld und Schulden als einzig senkrechten
Verwendungszweck nur noch die Förderung eines real
existierenden kapitalistischen Geschäftserfolgs und
dessen weitere Konkurrenzfähigkeit kennen will.[1]
So erinnert zwar auch der neue Art. 119 der Verfassung
den Staat noch an seine überkommenen kompensatorischen
Pflichten bei der Pflege der südlichen Hälfte seines
Standorts; praktisch stellen dann aber die Regierenden
den Geist des neuen Gesetzes in Form von Restriktionen
bei den Mitteln klar, die man in Rom für die südlichen
Landesteile noch übrig hat. Doch auch wenn in Bezug auf
diese Neudefinition bisheriger Grundsätze italienischer
Wirtschafts- und Sozialpolitik Konsens zwischen den
staatstragenden Parteien besteht: Stoff für politischen
Streit zwischen ihnen gibt sie allemal genug her.
Vertretern der post-faschistischen Alleanza Nazionale
(AN) und der christlichdemokratischen Unione Democratica
dei Cristiani (UDC) leuchtet die Föderalismus-Reform
zwar, wie gesagt, durchaus ein; die Notwendigkeit, einen
zentral von Rom aus regierten Gesamtstaat Italien mit
seiner neuen föderalen Struktur noch
zusammenzuhalten, aber schon auch. Daher haben
sie so ihre Vorbehalte gegen die Reform, gegen
eine allzu weit gehende Entlassung der Regionen aus der
Aufsichtsbefugnis der Zentralmacht, gegen zu viel
Kompetenzen des neu einzurichtenden Organs zur Vertretung
der Regionen gegenüber dem Gesamtstaat, gegen eine die
eigene Partei womöglich benachteiligende Reform des
Wahlrechts usw. – vor allem aber gegen eine Ausweitung
der Machtbefugnisse des Ministerpräsidenten, die die
Chefs von ‚Lega‘ und ‚Forza Italia‘ in der Verfassung
auch noch gerne institutionalisiert hätten. Wenn also
Wirtschafts- und Finanzminister Tremonti mit der
Mutter aller Reformen
(Bossi
zum neuen Föderalismus in Italien) in seinem Sinn
vorankommen will und die zur Förderung von
Investitionen im Mezzogiorno gewährten
‚A-fonds-perdu‘-Hilfen
(NZZ,
14.5.) streichen möchte, sehen AN und die
mitregierende UDC die passende Gelegenheit, ihren
Vorbehalten wirkungsvoll Ausdruck zu verleihen, ohne die
Sache der Reform selbst dabei in Frage zu stellen: Sie
sägen Berlusconis ‚Superminister‘ einfach ab. Damit ist
der projektierte Fortschritt zur ‚Effektivierung‘ des
kapitalistischen Wachstums im Land, für dessen produktive
Indienstnahme die Bevölkerung im Mezzogiorno nach
Auffassung aller regierenden Parteien
überflüssig ist, dann wieder auf genau der
Ebene, auf der er dem Sachverstand demokratischer
Öffentlichkeiten zugänglich ist: Gelingt es Berlusconi
noch, seine Koalition zusammen zu halten? Wie? Mit wem
als Minister? Und wenn sich dann namhafte Koalitionäre
gegen ihn und Bossis Lega ‚profilieren‘ wollen und sich
zu diesem Zweck dafür stark machen, dass der
Mezzogiorno noch stärker gefördert werden
(NZZ, 3.7.) solle, versteht
solche Wortmeldungen schon auch in diesem Land keiner
falsch. In ihrem Streit um die Reform Italiens verhehlen
die regierenden Koalitionsparteien nämlich ihre
Berechnungen überhaupt nicht, die sie selbstverständlich
mit im Auge haben, wenn sie die ‚Zukunft‘ des
kapitalistischen Standorts Italien ‚sichern‘ und
derentwegen die Reform so eine verifica infinita
nach sich zieht. Für sie fällt die Reform Italiens eben
damit zusammen, dass im Zuge ihrer endgültigen
parlamentarischen Verabschiedung sie sich gegen
ihre politischen Konkurrenten stärken, und damit steht
auch für das regierte Volk die maßgebliche Perspektive
fest, aus der es die Neudefinition seiner materielle
Lebenslage zu würdigen hat: Allemal stehen die
‚Betroffenen‘ in Strategien und Taktiken der
Parteienkonkurrenz im Mittelpunkt, und so können sich die
Menschen im armen Süden Italiens
ihr zukünftiges
Elend auch noch als anerkennenswertes Bemühen von Fini
und Co. zurechtlegen, sich ihre angestammte
süditalienische Wählerklientel
zu erhalten.
Praktisch in Gang gebracht ist der Reformprozess
jedenfalls schon jetzt, vor der formvollendeten
parlamentarischen Verabschiedung der Verfassungsartikel,
nämlich dadurch, dass im Zuge der ganz gewöhnlichen
Konsolidierung des Haushaltes im Sinne der neuen
Verfassung verfahren und an den Regionalfonds wie an den
Ausgaben unter der Rubrik ‚Süden‘ gespart wird. Indem der
italienische Staat die regionalen und kommunalen
Verwaltungskörperschaften seines Landes so auf den
Grundsatz festlegt, sich fortan mit eigenen
Mitteln
um die soziale Pflege der Bevölkerung zu
kümmern, etabliert er im Land einen geldpolitischen
Sachzwang, der ganz von selbst sein regional verteiltes
und regiertes Volk in neuer, radikalisierter Weise mit
dem Maßstab der Brauchbarkeit fürs kapitalistische
Geschäft vertraut macht. Den Geldbedarf der Regionen
bekommen die lieben Bürger im ganzen Land – dort, wo die
Zahlungskraft notorisch gering ist, ganz besonders – so
zu spüren, dass ab sofort vermehrt Teile ihrer Einkommen
für ihre auf eigene Rechnung wirtschaftenden Regionen und
kommunalen Verwaltungen reserviert sind: Die lassen sich
alle öffentlichen Dienstleistungen vom Strom über die
Wasserversorgung bis zur Müllabfuhr und zum Museumsbesuch
entsprechend teurer bezahlen.[2]
Ganz besonders zu spüren bekommt der – nicht geringe –
kapitalistisch unproduktive Teil der italienischen
Bevölkerung die Folgen, wenn nunmehr regionale und andere
Gebietskörperschaften für die Wahrnehmung von
Staatsfunktionen aus der Abteilung ‚Soziales‘
alleinzuständig sind. Indem diese sich um den Erhalt der
bei ihnen ansässigen Teile der lohnarbeitenden Klasse
fortan ganz nach Maßgabe der Mittel kümmern, die sie auf
Grundlage des bei ihnen laufenden Geschäfts dafür
erübrigen können, setzen eben sie den
sozialpolitischen Grundsatz euro-imperialistisch
rechnender Nationen durch, dass für Leute, die sich nicht
selbst mit eigener Arbeit ihren Lebensunterhalt
verdienen, auch noch der schäbige Lebensstandard zu
kostspielig ist, der ihnen von ihren Obrigkeit bislang
zugestanden wurde. Mit dem können in Italien allenfalls
noch Bürger in solchen Regionen rechnen, in denen die
Verwaltung genügend Mittel für das Durchfüttern von
unproduktiven Armen und Alten und für die Versorgung der
Kranken auf dem bisherigen Niveau übrig hat. Wo dies
nicht der Fall ist – südlich von Rom verläuft da in etwa
die soziale Demarkationslinie –, ist mit der geringeren
Masse des regionalen Steueraufkommens auch die Reichweite
der ‚sozialen Verantwortung‘ entsprechend kürzer
bemessen. Dann finden im Süden selbst ‚soziale
Versorgungsleistungen‘ der lächerlichsten Art einfach
nicht mehr statt, weil regionale und kommunale Behörden
die casa del popolo
mit TV im Sommer und ein wenig
Heizung im Winter einfach zusperren – und die
pauperisierten Massen können sich ausschließlich in
eigener Verantwortung mit der Perfektionierung all der
Techniken durchs Leben schlagen, mit denen sie sich schon
bisher in ihrem Elend eingehaust haben.
Die Gesundheitsreform: Eine Klassen-Medizin für die italienische Klassen-Gesellschaft
Gemäß der Beschlussfassung, seine Zuständigkeit für die
Volksgesundheit den Regionen zu übertragen, kürzt der
italienische Staat allein mit dem Haushaltsgesetz 2004
seine Zuwendungen an den nationalen Gesundheitsdienst
(Servizio Sanitario Nazionale, SSN) um 6,3 Mrd. Euro, was
etwa 8% der Einnahmen des SSN entspricht. Das haut rein
in den Etat eines Gesundheitssystems, das im Wesentlichen
durch den Staatshaushalt finanziert wird – und deshalb
schon bislang nicht gerade üppig ausgestattet war –, und
schlägt entsprechend in den Leistungen des
Gesundheitswesens durch: In den armen
Regionen und
Provinzen des Südens, in denen der Wegfall bislang
geleisteter staatlicher Zahlungen mangels Zahlungskraft
weder mit Steuern noch mit Privatrechnungen zu
kompensieren ist, verrotten Krankenhäuser. Weil
Gehaltszahlungen für medizinisches Personal oft genug
ausfallen, wandern Ärzte ab. Unter die Vorgabe gestellt,
den Dienst am Kranken betriebswirtschaftlich rentabel
abzuwickeln, werden die Gesundheitseinrichtungen
reihenweise in den finanziellen Ruin getrieben. Sie
machen zu – gleichgültig dagegen, in welchem technischen
Zustand sie sind, und auch dann, wenn sie weit und breit
die einzigen Einrichtungen zur medizinischen Versorgung
sind.[3] Auf
der anderen Seite wird von den örtlichen
Gesundheitsämtern (Unità Sanitarie Locali; USL) der Bezug
der medizinischen Leistungen verteuert. Die ticket
genannten Zuzahlungen des Patienten – weltweit die
zweithöchsten nach den USA – werden laufend erhöht;
gerade in den Regionen, deren Bewohner sich die eigene
medizinische Versorgung gar nicht leisten können. Nur
dort, dort aber schon, wo entsprechende private und
regional-öffentliche Zahlungsfähigkeit vorhanden ist,
sind medizinische Technik und Behandlung auf dem neuesten
Stand zu haben. Und damit die Leute mit besser gefülltem
Geldbeutel für ihre dementsprechend anspruchsvolleren
Gesundheitsbedürfnisse auch das passende Angebot
vorfinden, lässt der Staat seit neuestem die private
Liquidation auch durch Ärzte zu, die in Krankenhäusern
Dienst tun – erstaunlicherweise tun sie Letzteres dann
mit einem Mal zusehends weniger. Mit dieser Kombination
aus regionalem Rückbau von Gesundheitseinrichtungen
einerseits, der Einführung einer individuellen Medikation
in Abhängigkeit von der privaten Zahlungskraft
andererseits, verabschiedet sich der italienische Staat
endgültig von dem Standpunkt, er hätte – kostenlos
womöglich, wie es in der italienischen Verfassung heißt!
– für ein das ganze Volk betreuendes Gesundheitswesen zu
sorgen, und leitet die letzten Schritte zur Abschaffung
einer sozialen ‚Errungenschaft‘ ein, die er einmal für
durchaus vereinbar mit kapitalistischen
Systemnotwendigkeiten gehalten hat. Für einen auch in
Gesundheitsfragen konsequenten Kapitalismus gehört es
sich ab sofort, dass über Art und Umfang der
medizinischen Behandlung Kranker deren private
Zahlungsfähigkeit entscheidet, und dafür tut der
Staat dann alles Nötige: Er macht für seine
minderbemittelte Klasse die Ware ‚Gesundheit‘
unerreichbar und setzt den Stand von Volksgesundheit
durch, der seiner kapitalistisch durchsortierten
Bevölkerung entspricht.
Die Reform des Rentensystems: Ein staatlicher Angriff auf den sozialen Besitzstand schlechthin
Auch dem italienischen Staat sind seine Rentner zu viel;
sie werden zu alt und beziehen zu lange zu früh zu viel
Rente – gemessen nämlich an der von ihm gestifteten
Rechtslage, mit der er ihre Versorgung von der
Einkommensquelle der abhängig Beschäftigten abhängig
gemacht hat: Das für die soziale Vorsorge zuständige
Institut, das Istituto Nazionale della Previdenza Sociale
(INPS), finanziert sich aus Pflichtbeiträgen der
Lohnarbeitenden; 24% von deren Verdienst bezahlen die
Arbeitgeber, 9% die Arbeitnehmer. Und die Mittel, die
sich auf diese Weise dem Lohn abringen lassen, reichen
schon lange nicht mehr, um die durch 35 Beitragsjahre
erworbenen Ansprüche der Alten auf Unterhaltszahlungen in
Höhe von maximal 80 Prozent ihres letzten Einkommens zu
bedienen. Gereicht haben sie etwa die 35 Jahre, in denen
sich eine wachsende lohnarbeitende Bevölkerung den
Anspruch auf eine Rente erst einmal durch
Beitragszahlungen erwerben musste; in den Zeiten des
kapitalistischen Aufbruchs Italiens, in denen auch die
Löhne gestiegen sind. Seitdem auch die italienische
Wirtschaft ihr Wachstum und ihre internationale
Wettbewerbsfähigkeit mit Rationalisierungen und
Massenentlassungen steigert, seit den 80er-Jahren also in
etwa, reichen diese Mittel bei weitem nicht mehr. Zumal
es die Unternehmer schon damals gerne der Sozialkasse
überlassen haben, den von ihnen betriebenen Abbau ihrer
Belegschaften ‚sozial abzufedern‘ – die ebenfalls vom
INPS unterhaltene cassa integrazione
hat sich
darüber sehr flott von ihrer ursprünglichen Bestimmung
als bloßer Lohnersatzkasse für Kurzarbeit zur allgemeinen
Fürsorgeeinrichtung für die wachsende
disoccupazione
gewandelt.[4] Im Etat des INPS machte sich
dies alles als chronisches und ausuferndes Defizit
bemerkbar, das bis Anfang der 90er-Jahre der Staat mit
Mitteln aus seinem Haushalt ausgeglichen hat.
Seit damals – und deswegen – steht für Italien und seine
Partner in Europa fest, dass es den italienischen
Rentnern entschieden zu gut geht. Unter dem Gesichtspunkt
seiner Staatsfinanzen und seiner mit Blick auf die
gemeinsame europäische Geldwirtschaft für viel zu hoch
erachteten Staatsschulden ist dieser Befund damals
regelrecht zum nationalen Skandal gediehen: Der nationale
Fahndungswille hat die Alten in den Zeiten der ‚Wende‘
als Urheber der nationalen Finanzmisere ausgemacht; sie
sollen sich massenhaft – mithilfe einer korrupten
politischen Klasse, die sich damit ihre Wählerstimmen
erkauft hat – Geld vom Staat erschlichen haben. Und
seitdem steht noch für jede italienische Regierung der
Handlungsbedarf im Prinzip fest: Die Renten müssen auf
das kapitalistisch korrekte, quasi natürliche Maß
reduziert werden, das durch die Finanzarithmetik der
Sozialversicherung ‚vorgegeben‘ ist, also so
zusammengestrichen werden, wie es das durch eine sinkende
nationale Lohnsumme schwindende Beitragsaufkommen
‚gebietet‘. Das beschert dem Land nun die dritte
Pensionsreform innerhalb eines Jahrzehnts. Mit ihr will
die Regierung Berlusconi endlich
– man denke:
Wir sind die Letzten in Europa!
– auch den
Empfehlungen der EU-Kommission und der OECD nachkommen.
Nachdem schon die Vorgängerregierung durch entsprechende
Änderung der Rentenformel und Abschaffung des
Inflationsausgleichs dem Institut der sog.
baby-pensione
, einer Art Mindestrente, auf die
sich der Italiener mit einigen Beitragsjahren einen
Anspruch erwerben konnte, zu Leibe gerückt ist, sollen
nun endlich
Nägel mit Köpfen gemacht werden. Die
im Mai 2004 zur Verabschiedung anstehende Reform sieht
Einsparungen von ca. 30 Mrd. Euro in den Jahren 2008-2013
vor; durch eine stufenweise Anhebung des
Renteneintrittsalters von 57 auf 60 Jahre und der für den
Bezug der vollen Rente nötigen Beitragsjahre von 35 auf
40, durch eine Verringerung der Leistungsansprüche, die
Abschaffung von Sonderrenten und Frühpensionierungen
sowie durch ‚Anreize‘ zum Arbeiten über das bisher
geltende Eintrittsalter hinaus.[5]
Diese Reform beschäftigt die Nation seit bald zwei Jahren, sie veranlasste die Gewerkschaften zu mehreren landesweiten Streiks und führte auch sonst zu viel Aufruhr. Von ungefähr kam diese Aufregung nicht, schließlich macht sich die Regierung mit ihrer Reform an dem sozialstaatlichen Besitzstand der italienischen Arbeiterklasse zu schaffen: Nicht dass das skandalös hohe Rentenniveau von sage und schreibe bis zu 80 Prozent des Lohnes jemals ein gigantischer Besitzstand gewesen wäre – es waren eben bestenfalls 80 Prozent von einem italienischen Lohn. Aber die waren oft genug der einzige Besitzstand einer kompletten italienischen Familie. Aufgrund der landestypischen Besonderheit, dass die italienischen Kapitalisten das ihnen zur Verfügung stehende Arbeitsvolk in einigen Regionen gar nicht übermäßig brauchen können und wenn, dann nur zum Teil zu sozialstaatlich geregelten Verhältnissen in Dienst nehmen (siehe dazu den nächsten Abschnitt), sind in diesem Land oftmals die Pensionszahlungen der Eltern oder Großeltern – häufig auch bloß besagte „baby-“ oder „mini-pensioni“ – das einzige regelmäßige Familieneinkommen, das dann auch noch für den Unterhalt dauerarbeitsloser Kinder oder Enkel herhalten muss. Genau diesen großfamiliären Versorgungsdienst der Rente unterhöhlt in diesem Land eine Pensionsreform, die ansonsten ganz nach dem Muster anderer EU-Staaten vonstatten geht.
Die Reform des Arbeitsmarktes: Anpassung des Arbeitsrechts an die real existierende Arbeitswelt
In Italien ist etwa ein Drittel aller Lohnabhängigen ohne
feste Anstellung beschäftigt; in so genannten „prekären“
Arbeitsverhältnissen, die unter verschiedenen, zumeist
mehreren rechtlichen Gesichtspunkten als problematisch
gelten, unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten
betrachtet einen nicht zu unterschätzenden
Wirtschaftsfaktor darstellen, vom italienischen Staat
daher auch mehr oder weniger geduldet, gelegentlich aber
auch rechtlich verfolgt und in dieser juristischen
Grauzone vom Kapital jedenfalls massenhaft unterhalten
werden: Erstens die Beschäftigung illegaler Einwanderer.
Dieser Quelle billigster Arbeitskräfte, die sich
irgendwelche Ansprüche schon deswegen nicht leisten
können, weil sie von Abschiebung bedroht sind, bedienen
sich italienische Unternehmer in großem Umfang, und der
italienische Staat, der das Bedürfnis seiner Wirtschaft
nach einem unschlagbar billigen, von allen sozialen
Sicherheiten befreiten Ausbeutungsmaterial allemal
bestens versteht, anerkennt die Konkurrenznöte seiner
mittelständischen Kleinindustrie, seiner Bau- und
Agrarwirtschaft, seiner Dienstleistungsbetriebe usw. auch
so weit, dass er 1-2 Millionen extracomunitari
,
EU-externe Ausländer meist aus Afrika und Asien, bei sich
hat gewähren lassen – was nicht heißt, dass er den
clandestini
nicht schon in der Vergangenheit immer
wieder massiv mit Großrazzien in den einschlägigen
Quartieren zu Leibe gerückt ist. Der zweite Posten dieser
‚prekären‘ Arbeitswelt ist die Schwarzarbeit (lavoro
nero
bzw. irregolare
), abgeleistet im Dienste
von Arbeitgebern, die alle steuerlichen und
sozialrechtlichen Verpflichtungen umgehen; üblicherweise
ist das bei allen möglichen Formen der Tagelöhnerei, der
Gelegenheits- und Saisonarbeit sowie bei allen möglichen
Dienstleistungen der Fall, bei Putzkolonnen,
Hausmeisterdiensten etc.; auch die Pflege der Alten wird
größten Teils so, für 2-3 Euro die Stunde schwarz auf die
Hand, von extracomunitari erledigt. Drittens gibt es
Formen der unmittelbaren Lohnsklaverei, die zwar im
bürgerlichen Gemeinwesen eigentlich verboten sind, der
kapitalistischen Ausbeutung aber überhaupt nicht
widersprechen und dort, wo sie auf der Grundlage
elendster Verhältnisse zu haben sind, von einer sowieso
hart am Rande der Legalität wirtschaftenden Geschäftswelt
auch in größerem Stil praktiziert werden. Z.B. der Handel
mit und die Vermietung von de facto rechtlosen Subjekten,
in Italien als caporalato
jedermann geläufig: So
genannte caporali
heben auf dem Lande
Elendsgestalten aus und vermieten diese Figuren an
Großgrundbesitzer oder sonstige Dienstherren, deren
Willkür sie dann völlig ausgeliefert sind.
Diesen – auf Basis eines absoluten Überschusses an Arbeit
suchenden Massen – blühenden Niedriglohnsektor findet der
italienische Staat an sich natürlich überhaupt nicht
prekär. Sofern sich seine Unternehmer bei der
erpresserischen Ausnutzung der Notlage dieser
einkommenslosen, auch von keiner Gewerkschaft vertretenen
Volksmassen an seine Mindestanforderungen
halten, sofern sie die Meldevorschriften einhalten und
die für ihre Tagelöhner fälligen Pauschalbeiträge zur
Sozialkasse abführen, ist für ihn die Arbeitswelt in
Ordnung. Nicht in Ordnung für ihn ist freilich die
‚Schattenwirtschaft‘ (economia sommersa
), die
herauskommt, wenn sie dies nicht tun, und damit das
Arbeitsleben in diesem Sinne künftig mehr in Ordnung
kommt, treibt die Regierung Berlusconi mit ihrer legge
Biagi
, ihrer großen Reform des Arbeitsmarktes, die
gesetzliche Regelung dieser Sphäre voran: Das Geschäft
mit den Billigstarbeitskräften soll unter Kontrolle
genommen, unter weitgehender Anerkennung aller Praktiken,
mit denen die Unternehmer den Preis der Arbeit gegen Null
treiben, vermehrt in den Dienst der verschiedenen
Abteilungen des staatlichen Finanzwesens gestellt, als
Beiträger zum nationalen Finanzaufkommen dann auch
staatlich gefördert und darüber zum anerkannten,
wachsenden und auch durchaus Maßstab setzenden
Bestandteil des italienischen Arbeitsmarktes ausgebaut
werden. Mit ihrem Gesetz will die Regierung das
Arbeitsrecht erklärtermaßen den Erfordernissen einer
immer komplexeren gesellschaftlichen Realität
anpassen – Regeln, die für das fordistische
Fabrikwesen
gemacht seien, könnten nicht auf die
moderne Arbeitswelt angewendet werden, so die offizielle
Begründung. Sie gibt mit ihrer Reform also den
Unternehmern und ihrem Interesse programmatisch Recht,
indem sie all den von ihnen gestifteten ‚prekären‘
Arbeitsverhältnissen eine vertragsrechtliche Form
vorschreibt: Leiharbeit, befristete und unbefristete
Zeitarbeit, Gelegenheitsarbeit, Nebenerwerbstätigkeiten,
private Anwerbung und Vermittlung einzelner Arbeitskräfte
wie ganzer Belegschaften, projektbezogenes Anheuern und
Feuern von Arbeitskräften, Arbeit auf Abruf,
Scheinselbständigkeit, Outsourcing etc. – für all diese
Beschäftigungsformen, mit denen die Unternehmer die
Senkung des Kostenfaktors ‚Arbeit‘ betreiben, gibt es nun
per Gesetz – Stichwort nuovi contratti
, das
Herzstück der Reform – eine passende
Vertragsform. Die Regierung sorgt so dafür, dass
der Pauperismus nun auch staatsoffiziell als normale
proletarische Existenzweise anerkannt ist und der
‚working poor‘ ganz legal den nationalen Reichtum mehren
darf.
Die Reform des Zuwanderungsgesetzes: Ohne Beitrag zum Sozialprodukt keine Aufenthaltsgenehmigung
In einer Abteilung dieses nationalen Billigarbeitsmarktes
greift die Regierung allerdings doch korrigierend in die
Praxis der Unternehmer ein: Die massenhafte Beschäftigung
illegaler Einwanderer kriegt schon einen Dämpfer, wenn
die Behörden, wie im neuen Zuwanderungsgesetz vorgesehen,
Ernst machen mit der verschärften Ausweisung der
clandestini – das aber ist Italien sich, seinem Volk und
dem Schengener Abkommen einfach schuldig. Das neue
Gesetz, die legge Bossi-Fini
, knüpft die
Aufenthaltserlaubnis für Einwanderer ausdrücklich an die
Bedingung, dass die einen sicheren Arbeitsvertrag
vorweisen können. Durch den muss garantiert (sein),
dass sie für ihren Unterhalt während ihres Aufenthalts in
Italien selber aufkommen können … darüber hinaus muss der
Arbeitgeber für eine angemessene Unterkunft sorgen und im
Stande sein, für die Kosten der Rückführung
aufzukommen.
Die Masse der anlandenden
Elendsgestalten, die gar nicht die Chance auf ein
irgendwie vertraglich geregeltes Arbeitsverhältnis hat,
soll nach dem Willen des Gesetzgebers sofort
von
italienischem Boden entfernt werden; und zwar durch
entsprechende Maßnahmen der sie abfangenden Grenzpolizei
so effektiv
, dass sie gar nicht erst Gelegenheit
bekommt, in die Kriminalität abzutauchen und sich der
Kontrolle des Staates zu entziehen
. Die italienische
Regierung scheidet so nachdrücklich das ausländische
Strandgut in eine staatsnützliche und als solche, bei
nationalem Bedarf, auch willkommene Zufuhr an billigem
Ausbeutungsmaterial auf der einen Seite und in die Vielen
auf der anderen, die unter Ordnungs- und
Sozialfürsorgegesichtspunkten betrachtet eine bloße Last
für den Staat darstellen und als solche wie eine Seuche
zu bekämpfen sind.
Reform der tariflich geregelten Arbeitsverhältnisse: Staatliche Manöver zur direkten Lohnsenkung und zur Durchsetzung neuer Freiheiten für die Unternehmer
Als Arbeitgeber und Lohnzahler seiner eigenen Bediensteten geht der italienische Staat unter Berlusconi im Kampf gegen das nationale Lohnniveau selbst vorbildlich voran und profiliert sich als Vertragsbrecher langfristig ausgehandelter Abmachungen mit den Gewerkschaften. Seinen Angestellten und Beamten bleibt er Lohnzahlungen einfach schuldig, Ende 2003 warten laut der Zeitung Repubblica ca. 4,5 Millionen Arbeitnehmer auf vertraglich vereinbarte Lohnerhöhungen: Der Staat zahlt sie einfach nicht. Erst auf Druck der Gewerkschaften hin bemüht sich der „Welfare“-Minister Maroni an den Verhandlungstisch zurück, wo er dann darauf besteht, dass über die bereits vertraglich zugestandenen Lohnerhöhungen neu verhandelt wird. Abgeschlossen wird in der Regel zu deutlich schlechteren Konditionen, welche die großen Gewerkschaften akzeptieren, um von der Gegenseite überhaupt noch als Instanz akzeptiert zu werden, mit der man zum Zwecke der Vereinbarung von Tarifverträgen verhandelt.
Mit der demonstrativen Missachtung der Tarifverträge in
eigener Sache will der Staat durchaus als Vorbild wirken.
Flächentarifverträge, contratti collettivi nazionali
del lavoro
, gelten auch in Italien als Fesseln einer
freien unternehmerischen Kalkulation mit der
Arbeitskraft, die ja für das Zustandebringen von Wachstum
für den in Europa regierenden politökonomischen
Sachverstand die unabdingbare Voraussetzung ist.
In den Verhandlungen zu den patti nazionali per
Italia
, eine Art konzertierte Aktion, in deren Rahmen
der Staat den Gewerkschaften das Interesse der
Unternehmer als Leitfaden für die anstehenden nationalen
Reformaufgaben vorbuchstabiert, dringt die Regierung
Berlusconi daher auf die Revision dieser Sorte von
‚Wachstumshindernissen‘ – und macht sich daran, das von
den Gewerkschaften durchgekämpfte Prinzip zu kippen,
wonach in ganz Italien, also auch in seinen minder
kapitalisierten Regionen, für dieselbe Arbeit derselbe
Lohn zu zahlen ist. In der Praxis hat dieses Prinzip zwar
schon in der Vergangenheit immer weniger gegolten; die
italienischen Industrieunternehmer behandeln die
südlichen Regionen des Landes längst als ihre
‚Sonderwirtschaftszonen‘, in denen für sie Arbeitskräfte
billiger zu haben sind als in Mailand oder Turin;[6] und die
Gewerkschaften selbst haben diese Praxis auch immer mehr
zugelassen. Aber der Regierung kommt es auch da darauf
an, die von den Unternehmern hergestellten Verhältnisse
ins Recht zu setzen und damit zu verallgemeinern. Unter
dem Stichwort gabbie salariali
, wörtlich
„Lohngehege“, sollen nun wieder regional unterschiedliche
Tarifniveaus eingeführt werden, deren Abschaffung die
Gewerkschaften Ende der 60er-Jahre als einen ihrer ganz
großen Erfolge gefeiert haben. Die Arbeitgeber sollen
endlich auch offiziell das Recht auf die Billiglöhne
erhalten, zu denen sie in den minderentwickelten Regionen
Italiens die Arbeit suchende Bevölkerung erpressen
können. Die Linie ist klar: Soweit es tariflich geregelte
Verhältnisse gibt, sollen sie ausgehebelt und auf das Maß
hinorientiert werden, das in Gestalt des neben ihnen
existierenden Billiglohnmarktes vorgegeben ist. Die
Betroffenen sollen sich das mit dem schönen Argument
einleuchten lassen, dass derselbe Lohn, der im Norden für
teure Mieten und Lebensmittel reichen muss, im Süden, wo
Mieten und Lebensmittel im Vergleich billiger sind, gar
nicht nötig ist. Umgekehrt dürfen sich die Nordlichter
schon mal mit der Perspektive vertraut machen, dass ihr
vergleichsweise hoher Lohnstandard angesichts der
Konkurrenten, an denen sie verglichen werden, wohl
demnächst nicht mehr zu halten sein wird und nach unten
korrigiert werden muss.
Die andere große Front, an der die Regierung gegen den
gewerkschaftlich durchgesetzten Arbeitsstandard ankämpft,
betrifft das Arbeiterstatut (statuto dei
lavoratori
) mit seinem berühmten articolo 18, dem
gesetzlichen Kündigungsschutz. Besagter Artikel ist
mittlerweile dahingehend geändert, dass Betriebe bis 15
Mitarbeiter – und das sind in Italien 95% aller Betriebe
– nicht mehr unter den alten Kündigungsschutz fallen; sie
dürfen nun ohne Begründung und finanzielle Abfindung
entlassen. Genutzt werden diese neuen Freiheiten von den
Unternehmern nicht zuletzt dazu, sich der
gewerkschaftlichen Mitbestimmung zu entledigen: Sie
spalten (schein)selbständige Abteilungen von sich ab, die
dann aus dem Geltungsbereich des Arbeiterstatuts ganz
herausfallen.
Neben dem Kampf gegen alles, was Gewerkschaften einmal als ihre ‚Errungenschaften‘ zu feiern pflegten, geht die Regierung auch unmittelbar gegen störende gewerkschaftliche Umtriebigkeit vor. Autonome gewerkschaftliche Basisgruppen, die sog. Cobas (Comitati di base), die in ihrem Kampf gegen die von oben betriebene Verschlechterung proletarischer Lebensbedingungen mit mehr als nur symbolischen Streiks auf lokaler Ebene das öffentliche Leben wirklich stören und lahm legen, werden mit Geldstrafen und ihre Mitglieder mit Entlassungen bedroht. Oder auch einmal mit Einzelverträgen, die ursprünglichen Abmachungen entsprechen, zufrieden und damit ruhig gestellt. Und wenn dann der Staat – wie im Falle der öffentlichen Verkehrsbetriebe – schließlich doch vereinbarte Lohnerhöhungen auszahlt, dann schlägt er prompt bei der Benzinsteuer zu: Mit einem zeitlich befristeten Aufschlag auf den nationalen Benzinpreis bittet er sein Auto fahrendes Volk zur Kasse.
Die Reform zur Angleichung der Armutsverwaltung an europäische Standards: Ein eher langfristig angelegtes Projekt
Darüber, was sie mit ihren Reformen anrichtet, macht sich die italienische Regierung selbstverständlich nichts vor. Sie weiß, dass sie massenhaft Sozialfälle in ihrem Volk schafft, jedenfalls rechnet sie fest damit, dass auf die Kommunen, an denen auch in Italien die leidige Aufgabe hängen bleibt, die endgültig mittellosen proletarischen Existenzen mit irgendeinem Almosen abzuspeisen, zusätzliche Belastungen zukommen. Mit der Einrichtung eines Fonds, mit dem der Staat seinen Kommunen dann hilfreich zur Seite stehen kann, anerkennt sie grundsätzlich, dass diese Wirkung der von ihr vorangetriebenen Verelendung auf die kommunalen Haushalte irgendwie geregelt sein will. Die Einrichtung dieses Fonds gibt ihr schon mal Gelegenheit, sich dafür zu feiern, dass Italien – als einer der letzten Staaten in Europa, der seinen pauperisierten Massen bislang so gut wie keine Sozialhilfe zahlt – die Prinzipien der europäischen Sozialcharta nun auch bei sich verwirklicht hat:
„Die Republik sichert dem Einzelnen und den Familien ein integriertes System von Sozialmaßnahmen und -diensten zu, fördert Maßnahmen zur Gewährleistung der Lebensqualität, der Chancengleichheit, der Nichtdiskriminierung und der Bürgerrechte, leistet Präventionsarbeit, beseitigt oder verringert Zustände der Behinderung, des Notstands und des Unbehagens von Einzelpersonen oder Familien, die durch die Unangemessenheit des Einkommens, durch soziale Schwierigkeiten und Pflegebedürftigkeit bedingt werden, im Einklang mit den Artikeln 2, 3 und 38 der Verfassung.“
Die Ausstattung dieses Fonds mit Mitteln lässt dann
freilich erst einmal auf sich warten. Schließlich müssen
erst einmal ganz genau die Kriterien festgelegt werden,
nach denen staatliche Gelder für diesen eigentlich
unwerten Zweck verausgabt werden. Und das kann dauern.
Die von der Regierung eingesetzte sozialwissenschaftliche
Expertenkommission ist noch dabei, zu erforschen, welche
Formen des proletarischen Pauperismus als Armut überhaupt
anerkannt zu werden verdienen, und hat sich bislang noch
nicht auf ein einheitliches Kriterium für die
vielfältigen Formen der Armut
einigen können.
***
Die regierungsamtliche Präsentation der Reformen und die Antwort auf sie: Anwälte der Betroffenen kritisieren Berlusconis „Machtmissbrauch“
Mögen die erwünschten Wirkungen ihrer Reformen bislang
auch ausbleiben und mag sich Italien den „Blauen Brief“
aus Brüssel nun doch noch einhandeln, eines kann man der
Regierung Berlusconi nicht vorwerfen: Versäumnisse.
Dafür, dass auf ihrem Standort mehr Geschäftstätigkeit
stattfindet und der Staat auf der Grundlage wieder mehr
finanzielle Spielräume gewinnt, setzt sie die ganze ihr
zu Gebote stehende Macht ein. Nach allen Regeln der
Regierungskunst und so, wie es der wirtschaftspolitische
Sachverstand in ihrem Land und in Europa von ihr fordert,
verbilligt sie ihr Volk und sorgt für mehr Freiheiten des
Kapitals, es härter ranzunehmen. Und der Chef dieser
Regierung ist nicht nur extrem tätig bei der
kapitalistischen Renovierung des Standorts, er
verkauft seine Werke auch perfekt und nach allen
Regeln der demokratischen Kunst, nämlich in aller erster
Linie sich selbst als ihren genialen Urheber.
Zur in der Demokratie dafür allemal nötigen
Überzeugungsarbeit hat er sein eigenes
Medienimperium
, also ausreichend technisches Gerät
und Personal in Diensten, um in Presse, Funk und
Fernsehen das Volk davon zu informieren, mit was für
einem menschlichen Glücksfall an der Regierungsspitze es
da beschenkt wird: Wo könnten Macht und Geld Italiens
besser aufgehoben sein als in Händen eines unglaublich
erfolgreichen Geschäftsmannes, der es mit seinem Vermögen
auch noch dazu gebracht hat, vom Volk an die Staatsspitze
kommandiert zu werden! Was könnte Italien Besseres
passieren, als von einem regiert zu werden, der selbst
eine einzige Synthese von Macht und Reichtum ist und
verspricht, die Nation kapitalistisch so vorbildlich auf
Vordermann zu bringen wie einen seiner Konzerne! Als
dieses vom Himmel geschickte Geschenk für die Nation
inszeniert sich der Mann und lässt sich von seinen
Schranzen für jede seiner Taten beweihräuchern, und da
dank seiner gesetzgeberischen Kompetenz inzwischen auch
öffentlich-rechtliche Sendeanstalten weitgehend frei von
abweichenden Meinungen sind, besteht an dem Umstand, dass
Italien von einer einzigen personifizierten
kapitalistischen Erfolgsgarantie regiert wird, kein
nennenswerter öffentlicher Zweifel mehr. Zumal der Mann
auch keine Gelegenheit versäumt, noch ein
unwidersprechliches Argument für seine und seiner
Regierungskunst Güteklasse in den Vordergrund zu
schieben: Auch als Retter der Nation vor dem
Kommunismus
ist Berlusconi immer und überall
unterwegs. Dessen Handlanger sind seiner maßgeblichen
Auffassung nach neben einigen unbelehrbaren Journalisten
und einer Journalistin mit roten Haaren vor allem
Staatsanwälte und Richter, die ihn irgendwelcher
unsauberer Machenschaften bezichtigen und dafür belangen
wollen – IHN!, und damit steht auch schon fest, was das
für Leute sein müssen: Ewiggestrige, die den Aufbruch
Italiens in die kapitalistische Moderne hintertreiben
wollen, für den er steht; Verbrecher in roten
Roben
also, die letzten Relikte sozial inspirierter
Vaterlandsverräter, die einfach nicht kapieren wollen,
dass alles, was im Land Recht ist und infolgedessen auch
als gerecht gilt, an ihm und seinem
nationalen Erfolgsprogramm Maß zu nehmen hat. Also
säubert er den Justizapparat von den entsprechenden
Figuren, dekretiert als Gesetz, dass Gesetze ihm
grundsätzlich nichts anhaben können, und macht sich so
die Justiz auch als moralische Anstalt zurecht,
die in seinem Sinne fungiert. Denn in Gestalt
kommunistischer
Menschheitsverbrecher, die da den
Justizapparat, die oberste Instanz aller Gerechtigkeit im
Staat, unterwandert
hätten, bekämpft er nicht nur
ihm unbequeme Rechtspfleger. Mit der sittlichen Aura, die
er sich dabei verleiht, diskreditiert er in aller
Grundsätzlichkeit einen Standpunkt, der ihm und der
politischen Linie, die er dem Land verordnet, womöglich
noch mit irgendwelchen sozialen Bedenklichkeiten kommen
könnte. Dafür steht das Schreckgespenst
‚Kommunismus‘ für Berlusconi: Es ist der sittliche
Totschläger, der alle vom neuen obersten
nationalmoralischen Wert abweichenden Vorstellungen in
Sachen Recht und Gerechtigkeit ächtet, den er in
seiner glanzvollen Synthese von Macht, Reichtum und
Regent des öffentlichen Meinens repräsentiert.
Berlusconis Regierung räumt nicht nur auf mit allem, was
in Italien einmal an praktizierter sozialer
Fürsorglichkeit politisch institutionalisiert war. Sie
sorgt auch dafür, dass im Volk derselbe Geist Einzug
hält, in dem sie ihr nationales Aufbruchswerk verrichtet
– und sich so auch bei den regierten Massen die
Auffassung breit macht, dass alles, was auch nur
irgendwie an den alten staatlichen
assistenzialismo
erinnert, ein einziges Verbrechen
wider die kapitalistisch-nationale Menschennatur von
Italienern ist.
Auf ihre Weise verdient um die Herstellung genau dieses Geistes machen sich im Land aber auch andere:
Erstens eine Öffentlichkeit, die der Berichterstattung über die sozialen Notlagen, in die die Regierung die Bevölkerung mit ihren Reformen stürzt, breiten Raum gibt. Ausgiebig wird breit getreten, dass bei 60 Prozent aller Italiener die Einkünfte fürs Notwendigste nicht mehr reichen; Lokalzeitungen ergehen sich in drastischen Schilderungen gar nicht besonderer Härtefälle; wohlmeinende Menschen vom Gemüseverkäufer bis zum Staatspräsidenten kommen zu Wort und sind sich darin einig, dass das Leben immer weniger gerecht, dafür zusehends härter wird, usw. Die Allgemeinheit des Elends ist die erste Botschaft solcher Informationen, die Unausweichlichkeit, mit der man als ‚Betroffener‘ mit ihm zu rechnen hat, die zweite, die Alternativlosigkeit des Verhängnisses, das da über einen hereinbricht, die dritte, und so gewöhnt man ein Volk daran, dass es sich an das neue Niveau der Armut anzupassen hat, an das es von seiner Herrschaft angepasst wird.
Ihrem Beruf gleichfalls alle Ehre macht zweitens die
linke parlamentarische Opposition im
Land. Ihr oppositioneller Standpunkt ist mit der
Auffassung, dass Berlusconi die falsche
Besetzung für die Führung der Nation ist, fertig auf
den Begriff gebracht, und dafür sucht sie dann
ihre Belege zusammen. Sie bringt zur Sprache, wie sehr
dieser Mann die Freiheit der Meinung mit Füßen tritt und
das Recht manipuliert – und will damit den
Einwand gegen Berlusconi untermauern, mit dem
sie als letzte noch verbliebene Wacht an der
Demokratie moralisch Eindruck machen will: Den
Interessenkonflikt
zwischen seinem privaten
Reichtum und seiner politischen Macht. Ziemlich
fadenscheinig führt sie den Nachweis, dass sich
Berlusconi mit seinem Einsatz für seine persönliche
Unternehmer- und Medienmacht in Widerspruch zu den
Interessen Italiens als kapitalistischer Macht begibt;
sie hält ihm vor, dass sein Dauerkampf gegen die
italienische Justiz eine Verfehlung darstellt;
dass er seinem Auftrag nicht gerecht wird, weil er
Italien nur egoistisch
im Sinne seiner
eigenen Interessen und Vorlieben – Rettung des
italienischen Fußballs! – regiere, und dass er vor lauter
Verwicklungen in seine diversen Affären seine
eigentlichen Aufgaben nicht erledige. So
agitieren die ‚linken‘ Parlamentarier das Volk für eine
denkbar sachfremde Befassung mit der Politik,
deren Opfer es gerade wird. Wo Berlusconi in seiner
Politik vorführt, was eine parlamentarische Demokratie so
alles an Mitteln für den Zweck parat hält, die Nation
kapitalistisch auf Vordermann zu bringen, monieren sie
Verstöße gegen parlamentarische und andere
demokratische Verkehrsformen, wo der Privatmann und
Angeber ad personam nur die Linie demonstriert,
auf die es nach seinem herrschaftlichen Willen für
Italien politisch anzukommen hat, ignorieren sie
konsequent, dass da der Chef einer amtierenden Regierung
mit der Sache renommiert, die er auf den Weg
bringt: Nie und nimmer ist für diese linke Opposition
die Politik, das, was der Mann seiner Nation als
Maxime allen kapitalistischen Erfolges vorgibt und dann
auch noch als Insignien seiner auf Erfolg geeichten
Persönlichkeit vor sich herträgt, der Skandal. Skandalös
für sie ist, dass da einer in der Regierung sitzt, den
nur seine persönliche Bereicherungssucht treibt,
und damit gehen sie beim Volk dann werben – auf
dass es beim nächsten Urnengang diejenigen ermächtige,
die Italiens Reformagenda wirklich in nationaler
Verantwortung in die Tat umsetzen!
Drittens sind da noch die drei großen
Gewerkschaften, die Berlusconi zu seinen
Oppositionellen rechnet. Auch die wollen von einem
Gegensatz der Sache Italiens zu den Interessen ihrer
Klientel einfach nichts wissen. Auch sie klagen
Versäumnisse der Regierung bei der Regelung der
nationalen Notwendigkeiten an; sie betreibe keine
Wirtschafts- und Forschungspolitik
und tue nichts
gegen die Billiglohn-Konkurrenz aus China und den
osteuropäischen Anschlussnationen. Wo die Regierung mit
ihrem Reformprogramm gerade nach Kräften die Zurichtung
italienischer Arbeitsplätze zum Instrument einer
erfolgreichen Standortkonkurrenz betreibt, bestreiten sie
mit der Vorstellung eines alternativen Programms
zur Stärkung Italiens in ebendieser Konkurrenz der
Regierung, dass die ihrer Verantwortung für den Schutz
italienischer Arbeitsplätze nachkommt. So nationalistisch
verdorben treten am Ende Gewerkschaften auf, die als
Interessenvertretung der Lohnabhängigen antreten und an
deren Zwangslage, sich im Dienst an fremdem Eigentum
einen Unterhalt verdienen zu müssen, als ihrer eigenen
Geschäftsgrundlage unverdrossen festhalten: Sie kennen
nur mehr ein Interesse ihrer Mitglieder, nämlich das an
einem Arbeitsplatz; dieses Interesse wissen sie vom
Geschäftserfolg der Unternehmer abhängig, die mit
Arbeitsplätzen ihren Profit erwirtschaften, und machen
sich deswegen für deren Konkurrenzerfolg in der Welt
sowie für eine Regierung stark, die dem zur Durchsetzung
verhilft. Mit der Linken ‚verschwistert‘ zu sein, hieß
hierzulande einmal der Vorwurf an die Adresse der
italienischen Gewerkschaften. Heute zeigen die Vereine,
dass sie in Sachen Verantwortlichkeit mit einem DGB
lässig jeden Vergleich aushalten: Unter der Parole
Gegen den Abstieg Italiens
betteln sie um
Mitsprache beim Reformieren und sind, damit ihnen diese
gewährt wird, zu jeder Schandtat beim Umgang mit den von
ihnen Vertretenen bereit.
Bleibt zu erwähnen, dass es in Italiens Betrieben
vereinzelt noch Arbeiter gibt, die sich von ihren
zahlreichen Anwälten nicht vertreten sehen und sich zum
Zwecke der Behauptung ihres Interesses aufstellen: Sie
organisieren sich in Basisgruppen und verweigern den
Dienst, um höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen zu
erzwingen oder wenigstens die Verschlechterungen
abzuwehren, die ihnen serviert werden. Das ist von all
dem, was man in Italien einmal für eine ‚starke
proletarische Linke‘ gehalten hat, übrig geblieben – und
prompt sehen die Gewerkschaften an diesen versprengten
Überbleibseln ihrer eigenen ‚kämpferischen‘ Tradition
ihre letzten großen Bewährungsproben und neuen
Kampfaufgaben. Mit ihren Streiks und Betriebsblockaden
bereiten die Basisgruppen nämlich nicht nur den
Betriebsherren Schwierigkeiten. Sie stören auch die
großen Gewerkschaften in ihrem Bemühen, in einem
ausschließlich konstruktiven Klima den
sozialen Dialog
mit der Regierung zu pflegen. Die
Führung von UIL, CISL oder CGIL bietet also gelegentlich
ihre Vermittlung
an in der Auseinandersetzung
zwischen Konzernleitung und aufmüpfigen Belegschaften –
um diese zu befrieden, um die lokalen
Streikführer auszuschalten und sich so
wenigstens ihr unangefochtenes Monopol auf
Vertretung der Arbeiterinteressen als das Argument zurück
zu erobern, das in ihrem Kampf um Anerkennung und
Mitsprache beim Reformkurs die Gegenseite als Letztes
überzeugen soll!
[1] Fast sieht es so aus, als wollte die Regierung in Rom mit ihrer Föderalismus-Reform der immer schon vorhandenen Kritik norditalienischer Bürger recht geben, die schon immer der Auffassung waren, dass der Süden Italiens ihnen auf der Tasche liegt und die ‚terroni‘ mit der Unterstützung ihrer in Rom regierenden Diebesbande den Reichtum verpulvern, der im Norden verdient wird. Der Regionalismus der Bossi-Partei ‚Lega Nord‘, die mit dieser Kritik zur staatstragenden Partei aufgestiegen ist und es zum Koalitionspartner in der Regierung Berlusconi gebracht hat, war in der Tat Geburtshelfer dieser Reform. Festzuhalten bleibt jedoch: Lange Jahre ist dieser Standpunkt von Italiens regierenden Patrioten im Namen der Einheit Italiens als unpatriotisch zurückgewiesen worden – bis die es sich haben einleuchten lassen, dass die Beanspruchung des Staatskredits für ein im Resultat zweifelhaftes Entwicklungsprojekt Italien und seinen nationalen Geldrechnungen zum Schaden gereicht. Erst das hat die Bossi-Partei über die Grenzen eines Lokal-Patriotismus hinaus respektabel gemacht.
[2] Italien diskutiert – nach längerer Pause – mal wieder heftig über die Höhe seiner nationalen Inflationsrate. Die Teilnehmer am öffentlichen Leben streiten darüber, ob die Teuerungsrate eher bei 2% oder 20% liegt. Dieser zahlenmäßige Unterschied um den Faktor zehn macht bereits deutlich, dass es hier nicht um irgendwelche statistischen Feinheiten oder Rechenfehler geht: Der regierungsamtlichen Definition einer staatlichen Erfolgsziffer halten die Konsumentenverbände und Gewerkschaften die von ihnen beklagte Rate der Verarmung entgegen. Die Interessensverbände von unten finden mit ihren Klagen über zweistellige Kaufkraftverluste in der Öffentlichkeit großes Gehör, und ihre akribischen Auflistungen dokumentieren durchaus glaubwürdig, wie sehr der Staat, besonders in Gestalt seiner regionalen und provinziellen Unterabteilungen, das Leben seiner Bevölkerung verteuert hat und wie erfolgreich sich die Unternehmer im Lande darum bemüht haben, sich über höhere Preise der vorhandenen Zahlungsfähigkeit der Bevölkerung zu bemächtigen. Dagegen setzt die Regierung mit den vom staatlichen Statistikinstitut amtlich beglaubigten 2,3% ihre an Europa gerichtete Botschaft: Die Erfüllung der Stabilitätskriterien, denen sie sich mit der Teilnahme am Euro verpflichtet hat, ist für sie nach wie vor die Maxime ihrer nationalen Finanz- und Wirtschaftspolitik; in der Hinsicht ist unter Berücksichtigung der allgemein schwierigen wirtschaftlichen Lage, sogar ein Erfolg zu vermelden, das Inflations-Kriterium wurde so gut wie erfüllt; und von den desaströsen Wirkungen, die sie mit ihren Bemühungen um einen europatauglichen Staatshaushalt anrichtet, lässt sie sich nicht beeindrucken. Wer die beklagt, hat immer noch nicht begriffen, was die entscheidenden Mittel Italiens sind, sich in Europa zu behaupten und seine Finanzmacht zu stärken: Maßnahmen zur Beschneidung des Lebensstandards seiner Bevölkerung.
[3] Berichte über Zustände, dass Familien in süditalienischen Krankenhäusern mittlerweile Betten und Verpflegung selbst ins Krankenhaus mitbringen müssen, betreffen längst keine „Auswüchse“ mehr. Zur Normalität gehört mittlerweile auch ein „Gesundheitstourismus“: Patienten aus dem Süden reisen quer durch Italien, um in den Genuss einer Untersuchung oder medizinischen Behandlung zu gelangen. Die armen Regionen bezahlen lieber die dadurch entstehenden Kosten an auswärtige Krankenhäuser als selber welche zu unterhalten.
[4] Dieser ursprünglichen Bestimmung verdankt sich die Eigentümlichkeit, dass es in Italien die Unternehmer sind, die staatliche Beihilfe für die von ihnen Entlassenen beantragen. Deren Beschäftigung gilt nur als temporär unterbrochen, ihr Arbeitsvertrag läuft formell weiter, so lange, wie sie für die Zeit ihrer Nichtbeschäftigung Lohnersatzleistungen aus der cassa integrazione bekommen. Arbeitslosenunterstützung aus dieser Kasse erhält somit sowieso nur, wer ein Beschäftigungsverhältnis vorweisen kann. Die vielen Arbeitslosen, die nie einen Arbeitgeber gefunden haben bzw. nur einen solchen, der sich die Sozialversicherungsbeiträge lieber spart, kommen also gar nicht erst in den Genuss eines Arbeitslosengeldes. Statistiker bemerken das an ihren Zahlen so: Italien gibt pro Arbeitslosen etwa 15% der Summe aus, die in Deutschland ausgegeben wird.
[5] Noch bevor diese Rentenreform in Kraft tritt, kann die Regierung erste Erfolge vorweisen: Angesichts der „Anreize zum Weiterarbeiten“ und der Aussicht auf niedrigere Renten vertagen 100.000 rentenberechtigte Arbeiter schon heute ihren Eintritt in den ‚wohlverdienten Ruhestand‘ und schonen damit die Rentenkasse.
[6] Faktisch bezahlt z.B. der Fiat-Konzern in seinem modernsten Werk im süditalienischen Melfi seit 10 Jahren ca. 15% weniger Lohn als im Norden. Dazu kommen ein Sanktionsregime mit Lohnabzügen bei Nichterfüllung der Leistungsvorgaben und ein 3-Schichten-System, in dem 12 Nachtschichten ohne Unterbrechung abzuleisten sind. Dafür gibt es Löhne zwischen 900 und 1200 Euro.