Das Rezept der EU-Aufsteigernation Spanien
Aufbau eines demokratischen Sozialstaats und Organisierung billiger Arbeitskraft – immer schon ein und dieselbe Sache: Mittel im politischen Kampf um Kapitalanlage!

Während sich die führenden europäischen Nationen bei ihrer Verwaltung der Lohnarbeit im Notstand wähnen, der nur mit einer radikalen Senkung der Arbeitskosten zu bekämpfen ist, erhöht die neue Regierung den Mindestlohn um mehr als sechs Prozent. Zumindest Spanien lobt sich für sein „Wirtschaftswunder und den erreichten Wohlstand“. Der dabei übliche rückschauende Vergleich – „Es geht uns zwar nicht blendend, aber auf jeden Fall besser als unter Franco“ – zeigt allerdings schon, dass da Bescheidenheit den Gedanken führt.

Aus der Zeitschrift
Siehe auch
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Gliederung

Das Rezept der EU-Aufsteigernation Spanien
Aufbau eines demokratischen Sozialstaats und Organisierung billiger Arbeitskraft – immer schon ein und dieselbe Sache: Mittel im politischen Kampf um Kapitalanlage!

In Spanien ist der Sozialstaat in Ordnung. Weder Gewerkschaften und Unternehmer, noch Parteien und Öffentlichkeit inszenieren einen Wettstreit darüber, wer die Kosten der Arbeit am besten zu senken versteht und wie das am effektivsten ginge. Nicht einmal beim diesjährigen Parlamentswahlkampf wird dieses „Thema besetzt“. Ganz im Gegenteil. Während sich die führenden europäischen Nationen bei ihrer Verwaltung der Lohnarbeit im Notstand wähnen, der nur mit einer radikalen Senkung der Arbeitskosten zu bekämpfen ist, erhöht die neue Regierung den Mindestlohn um mehr als sechs Prozent.

Krise in ganz Europa, bloß in Spanien nicht?

Zumindest Spanien sieht das so und lobt sich für sein „Wirtschaftswunder und den erreichten Wohlstand“. Der dabei übliche rückschauende Vergleich – „Es geht uns zwar nicht blendend, aber auf jeden Fall besser als unter Franco“ – zeigt allerdings schon, dass da Bescheidenheit den Gedanken führt. Jedenfalls im Hinblick auf den Lebensstandard, den anspruchsvolle demokratische Politiker ihren Normalbürgern so als Grund zur Zufriedenheit präsentieren. Der ebenso beliebte Vergleich der aktuellen Lage der arbeitenden Klassen in den Nationen Europas – immerhin ist nach den einschlägigen EU-Statistiken das durchschnittliche Realeinkommen im fernen Deutschland doppelt so hoch wie daheim – führt in Spanien denn auch regelmäßig zur Konstatierung einer deutlichen „Lohn- und Sozialkluft“. Das propagierte Ziel der „Angleichung der Lebensverhältnisse“ an das Niveau der EU-Kernstaaten relativiert sich jedoch beständig am Realismus des „wirtschaftlich Möglichen“, dem sich die Regierungen unterschiedlicher Couleurs verschreiben. Und da hat die besagte „Kluft“ eine fundamentale – positive – Bedeutung: Der in den zwei Jahrzehnten seit dem EU-Beitritt herrschende Abstand zum Durchschnittslohn in der Europäischen Union ist die entscheidende Grundlage des Wirtschaftserfolgs, den die spanische Nation seither verbucht.

Das Staatsprogramm, (Welt-)Markterfolge durch die Billigkeit des Produktionsfaktors Arbeit herbeizuregieren, ist in Spanien nämlich gar nichts Neues, sondern beste demokratische Tradition. Bereits 30 Jahre lang, seit den Zeiten der „Transición“, des Übergangs vom Franco-Faschismus zur Demokratie, besteht „moderne spanische Sozialpolitik“ in der Einrichtung, Verwaltung und Sicherung eines Niedriglohnlandes. Zu diesem Angebot an das „Anlagemöglichkeiten“ suchende europäische Kapital hat Spanien sich im Auftrag der Europäischen Gemeinschaft zugerichtet, dahin wollte es sich und seine nationalen Ressourcen auch selbst „überführen“ und dabei ist es weit gekommen.

Mit dem Tod Francos lautet der nationale Auftrag, die Ökonomie endgültig und nachhaltig von den Schranken zu befreien, welche – laut um sich greifender Diagnose seiner politischen Erben – die faschistische Herrschaftsform dem Geschäftemachen verordnet hatte, und sie zu einer, selbstverständlich erfolgreichen, unverfälschten Marktwirtschaft zu entwickeln. Sich für und mittels ‚Europa‘ fit zu machen und so langsam, aber sicher in den Rang seiner potenten Staatsgewalten aufzusteigen, das ist der politökonomische Grund und Inhalt der Wende zur Demokratie. Ganz bewusst setzt Spanien seine als hoffnungslos „rückständig“ apostrophierte Ökonomie dem Konkurrenzvergleich mit dem bereits existierenden europäischen Wirtschaftsraum aus und nimmt so an der Produktivität des fortgeschrittensten Kapitals Maß. Die Nation macht sich daran, mit Hilfe der EG-Fördergelder und der dazugehörigen Kreditgarantie die Voraussetzungen für ein erfolgreiches Bestehen dieser Konkurrenz zu schaffen, weswegen sie die anspruchsvollen Forderungen aus Brüssel als sachgerechte Verpflichtung betrachtet, sich in einen attraktiven „Investitionsstandort“ zu verwandeln. Dabei nehmen die politisch Verantwortlichen das zu erwartende Urteil „der Märkte“ über die wirtschaftliche Erbmasse der Franco-Diktatur vorweg und machen sich nach Kräften zu dessen politischen Vollstreckern: Sie organisieren die „Umstrukturierung“ des produktiven Besitzstands, über den der bis dato „isolierte Randstaat Europas“ verfügt.

1. Freisetzung von Kapital und Arbeit: Abbau von „rückständigen“ Erwerbsquellen und Förderung von „modernem“ Ersatz

Spanien und seine europäischen Förderer forsten das gesamte franquistische Erbe durch und entdecken erst mal wenig Brauchbares. Sämtliche Bereiche der real existierenden Ökonomie gelten der EG und dem demokratischen Spanien als Europa-untauglich – manche grundsätzlich, die anderen wegen ihrer unproduktiven „Struktur“. Fällig sind und werden umgehend in Angriff genommen: der Abbau der „überschüssigen“ Werft- und Schwerindustrie und der staatlichen Energieversorgung, die vollständige Aufhebung der protektionistischen „Abschottung“ in Gestalt der franquistischen „Autarkiepolitik“, die Privatisierung bzw. Rationalisierung gewinnversprechender Unternehmen, die systematische Anpassung der umfangreichen landwirtschaftlichen Sektoren an die Kriterien der EG-Agrarordnung usw. Mit dem neuen politischen Imperativ ‚Unsere Wirtschaft muss wettbewerbsfähig werden!‘ ergeht ein Verdikt über den bisherigen Einsatz der Arbeit – deren Rentabilität ist ja bestritten – und damit über diejenigen, welche von ihr leben müssen. Arbeitsplätze, deren Produktivität, sprich Eignung für die Mehrung des Profits, nicht den Ansprüchen des überlegenen, deshalb die Konkurrenz-Maßstäbe setzenden auswärtigen EG-Kapitals genügt, zählen ab sofort nicht mehr als Beitrag zum Reichtum der Nation.

Unhaltbar geworden ist damit das „franquistische Prinzip der Beschäftigungsstabilität“: eine Verpflichtung der Betriebe, die von ihnen in Dienst genommenen Teile der nationalen Arbeitskraft auch dauerhaft aus- und damit in Stand zu halten. Wie kärglich auch immer: Das stand dem fleißigen Arbeitsvolk zu, dem Kündigung der Arbeit und damit Verlust der Einkommensquelle nur bei politischer Unbotmäßigkeit drohte. Von diesem Verstoß gegen die Vertragsfreiheit, auch und gerade im Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit, wird der demokratische Spanier umgehend befreit. Mit dem Abbau des einen und dem Umbau des anderen Teils der Ökonomie befördert das Aufbruchsprogramm des demokratisch gewendeten Staates einen nicht unerheblichen Teil seiner arbeitenden Bevölkerung in den Zustand der Arbeitslosigkeit, die innerhalb weniger Jahre auf offiziell anerkannte 25% (der Arbeiterklasse Wohlgesonnene errechnen bis zu 40%) hochschießt.

Dieses Arbeitslosenheer ist der neuen spanischen Demokratie allerdings sofort ein Problem, und zwar in doppelter Hinsicht: Auch sie hätte von der neuartigen, das Welt-Geld der Nation vermehrenden ‚Beschäftigung‘ gern mehr in ihrem Land, und außerdem bekommt sie es mit einer – in illegalen Streiks geübten – leicht rebellischen Arbeiterklasse zu tun, die sich von Freiheit und Demokratie etwas anderes als den Weg in die Einkommenslosigkeit verspricht. In mehreren „Königlichen Dekreten“ ab 1977, im „Gesetz über den Status der Arbeiter“ (LET) von 1980 und mit der Reformierung des LET durch die sozialistische Regierung 1984 widmet sich der Staat der Förderung rentabler Beschäftigung mittels einer besonderen Arbeitsgesetzgebung, welche die Sachwalter eines liberalisierten Kapitalismus als erste große Dienstleistung spanischer Sozialpolitik verstehen und durchsetzen. Sie machen von Anfang an Ernst mit der inzwischen allgemein anerkannten Parole, dass Arbeit das größte soziale Gut ist, weshalb den Arbeit gebenden Eigentümern jede Möglichkeit einzuräumen ist, die menschliche Arbeitskraft profitlich zu nutzen. Mit der gesetzlichen Anerkennung von befristeten Arbeitsverträgen, Teilzeit- und Saisonarbeit, Tagelöhnerei etc., kurz: von Lohnarbeit zu allen Konditionen, genehmigt und fördert der Staat lauter Ausnahmen vom „Normalarbeitsvertrag“, um das Bedürfnis des Kapitals nach Flexibilisierung der Arbeit zu erfüllen und dergestalt die (Wieder-)Nutzbarmachung von „Parados“ (auf Deutsch: Stillgestellten) zu erleichtern. Die Prämisse lautet: ‚Spanien ist anders‘ – als beispielsweise die Nordstaaten: In seiner Landwirtschaft braucht es temporäre Ernteeinsammler, für das Geschäft mit den jährlich 50 Mio. Touristen braucht es saisonale Kellner und auf den vielen Baustellen kann unmöglich kontinuierlich gearbeitet werden.[1] So wird gleich für Klarheit gesorgt: Weil in Spanien genau wie anderswo alle Arbeit derselben geschäftlichen Rechnungsweise zu dienen hat – sie muss sich lohnen! –, gehören eben auch überkommene Ausbeutungsmethoden wie Stunden-, Tage-, Saison- und sonstige ‚just in time‘ geleistete Arbeiten zur Normalität. Heute haben laut Spiegel (15/2004) „ein Drittel aller spanischen Arbeitnehmer Zeitverträge mit einer durchschnittlichen Dauer von 10 Tagen“; bei Berufsanfängern ist eine Befristung des Vertrags die Regel. Kein Wunder, wenn das Normalarbeitsverhältnis amtlicherseits quasi zu einem Beschäftigungshindernis erklärt und die unternehmerische Freiheit der Kalkulation auf die Weise ordentlich beflügelt wird.[2]

Ein nützliches Erbe aus der faschistischen Epoche: das niedrige Lohnniveau

Der Rückblick auf die alte faschistische Wirtschaft entdeckt an ihr nur ein brauchbares Moment. Die Höhe des Arbeitslohns der ererbten franquistischen Ökonomie gilt den frisch gebackenen Demokraten als ganz und gar nicht rückständig; die relative Billigkeit des Volkes wird im Gegenteil zum Ausgangspunkt aller staatlichen Lohnpolitik.

Dabei erfährt das vom Franquismus übernommene Institut des „branchenübergreifenden Mindestlohns“, des SMI (salario mínimo interprofesional), allerdings eine grundlegende Wandlung. Unter Franco hieß er noch SMIG, das „G“ für „garantizado“ ist ihm in der Zwischenzeit nicht bloß im Namen abhanden gekommen. Mit der Streichung sämtlicher Beschäftigungsgarantien, die eine minimale Existenzsicherung in der Höhe eben dieses SMIG beinhalteten, und mit der Aufhebung der Beschränkung der Vertragsfreiheit zwischen Lohnarbeit und Kapital, bleibt eine gesetzlich festgelegte Zahl übrig: Die demokratisch gewählten Verwalter des neuen spanischen EU-Standorts halten diese Summe Geldes für durchaus angemessen und ausreichend, um ein „menschenwürdiges“ Dasein als Lohnarbeiter zu führen – unbeschadet der Freiheit der Tarifvertragsparteien, auch höhere Löhne auszuhandeln.[3] Mit dem politisch dekretierten Minimallohn schreiben sie den produktiven Eigentümern, deren erpresserischer Umgang mit den Lohnabhängigen ihnen bestens bekannt ist, eine Grenze ihrer diesbezüglichen Freiheit vor – die, wie alle von Staats wegen diktierten Gebote, in den ebenfalls geregelten Ausnahmefällen ausdrücklich missachtet werden darf. Und solche Fälle gibt es zuhauf, nämlich die – s.o. – der befristeten Ausbeutung, die das Arbeitsministerium deswegen auch „prekäre Arbeit“ nennt.

Der vom Staat je nach Wirtschaftskonjunktur und Kassenlage festgesetzte Mindestlohn erhält eine zweifache praktische Bedeutung. Zum einen regelt er die Entlohnung in dem von ihm gebilligten und geförderten Niedriglohnsektor. Damit sorgt er nicht nur für eine Ausdifferenzierung der nationalen Lohnhöhe nach unten und für eine Senkung des Durchschnittslohns; er stellt auch eine einzige Einladung und Aufforderung zu allgemeiner Lohndrückerei dar, und zwar einfach dadurch, dass er einen historisch und ökonomisch, also auch moralisch gültigen Mindeststandard definiert, der die Reproduktion des lohnabhängigen Individuums anerkanntermaßen gewährleistet – weil er sie gewährleisten muss! Diese Funktion des SMI-regulierten Niedriglohnsektors ist den demokratischen Politikern sehr recht. Sie, die der freien Wirtschaft das Kommando über die Produktion des Reichtums, die Arbeit(er) inklusive, übertragen, wollen gleichzeitig alles in ihrer Macht Stehende dafür tun, dass die Herren des privaten Eigentums über die nötigen, sprich besten Ausbeutungsbedingungen in ihrem Lande verfügen: Die Spanier müssen eben so billig sein, dass Anlage suchendes heimisches wie europäisches Kapital darin ein attraktives Angebot sieht zuzugreifen. Über die betriebswirtschaftlichen Kalkulationen ausländischer Unternehmer mit den europa- bis weltweiten Lohnkosten brauchen sich die spanischen Wirtschafts- und Sozialminister deswegen nicht den Kopf zu zerbrechen. Spitzenwerte bei den Arbeitslosenzahlen beweisen ihnen zur Genüge, dass der Niedrigpreis der offerierten Ware Arbeitskraft immer noch zu hoch ist. Umgekehrt erlauben sinkende Arbeitslosenzahlen auch einmal eine Erhöhung des Minimallohns und damit die partielle Kompensation der „verloren gegangenen Massenkaufkraft der Wenigverdiener“ (Regierungserklärung Zapatero, März 2004).[4] Zum anderen, neben seiner Bedeutung als real existierender Preis eines Teils kapitalistisch angewandter Arbeit, fungiert der SMI als sozialpolitischer Index: als Bezugsgröße für die Leistungen, die der Staat im Zuge seiner sozialen Betreuung der außer Dienst gestellten Teile der arbeitenden Klasse „gewährt“ (siehe unten). Heute hängt das Einkommen eines Drittels der spanischen Haushalte direkt und indirekt (über die Regelungen des Sozialstaats) vom SMI ab. Anerkanntermaßen haben selbige „große Schwierigkeiten, das Monatsende finanziell zu erreichen“ (Wahlreden aller Parteien). Von Anfang an organisiert der Staat seine neue Marktwirtschaft also zielstrebig dahingehend, dass bei der Scheidung in Oben und Unten das Unten eine schöne „Differenzierung“, also Hierarchie der „Einkommensbezieher“ erhält, wie sie das Oben allenthalben verlangt, um das Lohnniveau insgesamt zu drücken.

Der zweite grundlegende soziale Dienst der spanischen Modernisierer besteht also in der politischen Definition dessen, was ein auf Lohnarbeit angewiesener, weil von allen Lebensmitteln getrennter freier Bürger für ein menschengerechtes Auskommen braucht. Es wird ein tolerables Armutsniveau eingerichtet, das dafür gut ist, jedenfalls darauf zielt, produktive Wirkungen auf das Wachstum des Geldreichtums der Nation zu entfalten. Auch dies ein „Kampf gegen die Arbeitslosigkeit“! Das gemeine Volk muss so kostengünstig sein, dass die Klasse mit dem Beruf ‚Arbeitgeber‘ ihrem Auftrag auch nachkommen kann! Es darf nie zum Hindernis für seine profitable Handhabung durchs Kapital werden und wegen bzw. trotz des dadurch erzeugten Elends nie zu einer Last für den Staat geraten, der den Sinn und Zweck seines Finanzhaushalts darin weiß, seine Gesellschaft funktional zu machen für die Erfordernisse des Kapitals.

Für die Verantwortungsträger im Staat ist es deshalb auch kein Widerspruch – anders gesagt: eben ein notwendiger Widerspruch, den er sich leistet –, wenn er sich die Ausweitung des Billiglohnsektors sogar einiges kosten lässt, wenn er also öffentliche Gelder – eigene Schulden und EG-Fonds – locker macht und die Neueinstellung von politisch verbilligten Erwerbsfähigen direkt subventioniert. Dafür zuständig sind die immer wieder neu aufgelegten „Planes de Empleo“, das ist die spanische Variante der „Beschäftigungsförderungspläne“. Und soweit stimmt dieser schöne Titel ja auch: „Beschäftigt“ wird von den Unternehmern nur, wer sich für deren Kalkulation lohnt, folglich müssen die Rechnungen der Unternehmer „gefördert“ werden. Und das passiert nicht ohne Erfolg: Ab Mitte der 80er-Jahre sinkt die nationale Arbeitslosenquote immer mehr in Richtung auf den Durchschnitt der EU, der seinerseits fleißig steigt.

Gewerkschaftsfreiheit für nationalbewussten Lohnverzicht

Die Einrichtung eines weitgefächerten Sektors für Niedrigstlöhner und dessen besondere staatliche Pflege bedeutet keineswegs, dass sich die postfranquistischen Regierungen um die „regulären“ Löhne nicht kümmern würden. Deren Aushandlung obliegt zwar – wie es sich in freien Gesellschaften gehört – grundsätzlich den freien Verbänden der „patrones“ und „sindicatos“, der angemessene Gebrauch dieser Tariffreiheit wird jedoch von Anfang an durch den Staat sichergestellt, der sich als Dritter im Bunde unwiderstehlich gegen „unrealistische Forderungen“ der Arbeitnehmerseite aufbaut. Die heftigen und blutigen Arbeitskämpfe der ersten demokratischen Jahre, in denen die sich erneuernde Staatsgewalt und ihre altbewährte Polizei den „kommunistischen und anarchistischen Unruhestiftern“ gleich den nötigen politischen Nachhilfeunterricht erteilte, haben sich als Auftakt für eine Politik der Sozialpakte bewährt, mit welcher die Gewerkschaften zur konstruktiven Mitgestaltung der kapitalistischen Modernisierung an den runden Tisch zitiert und eingebunden werden. Da sich die legalisierten gewerkschaftlichen Organisationen, vor allem die ehedem kommunistischen „Arbeiterkommissionen“ (Comisiones Obreras) sowie die sozialistische „Allgemeine Arbeitsunion“ (Unión General de Trabajo), dem Motto „Demokratie erfordert mehr Verantwortungsbewusstsein als Diktatur“ nicht verschließen wollen, machen sie sich zum Instrument einer permanenten „concertación“ (in Deutschland heißt so etwas „konzertierte Aktion“). Deren erste und seitdem dauerhaft erbrachte Leistung besteht in der Vereinbarung von Lohnleitlinien, die dafür sorgen, dass das allgemeine Reallohn-Niveau auf keinen Fall – wie in der Phase des Umbruchs – steigt und die Zahl der wirtschaftsfeindlichen Streiktage radikal sinkt. Das Programm, den tariflichen Durchschnittslohn als Hebel der „Umstrukturierung“ und des nachholenden Wachstums der spanischen Wirtschaft einzusetzen, also niedrig zu halten, erfolgt selbstverständlich abermals unter dem Titel der „Beschäftigungsförderung“ (inklusive „Inflationsbekämpfung“), und in diesem Sinne machen sich die Gewerkschaften denn auch für den ständigen Lohnverzicht ihrer Mitglieder (die deshalb immer weniger werden) stark.

Als dritte soziale Elementarleistung der wechselnden Regierungen kann so gesehen mit Fug und Recht die gelungene Disziplinierung der Gewerkschaften gewürdigt werden. Die dürfen im Gegenzug für sich verbuchen, dass die neuen demokratischen Herren die Armut und Not, die sie der lohnabhängigen Bevölkerung verordnen, mit der Einrichtung eines „modernen Systems der sozialen Sicherheit“ beantworten und dass sie in ihrer Eigenschaft als staatstragende Arbeitnehmervertreter in diesem System der Armutsverwaltung nach Kräften und hoch verantwortungsvoll mitarbeiten dürfen.[5]

Zwecks nachhaltiger Benutzbarkeit seiner Normal- und Billiglöhner kommt nämlich auch der spanische Staat nicht um die Einrichtung eines institutionellen Sozialwesens herum. Und auch da berücksichtigt er, gerecht, wie er ist, beide Teile seines Arbeitsvolks gleichermaßen.

2. Der spanische Sozialstaat: Bewirtschaftung des nationalen Lohns unter der Leitlinie der Abstandswahrung zu den „Hochlohnländern“ der EU

Die Vorbilder in der sozialstaatlichen Sicherung der Brauchbarkeit der arbeitenden Bevölkerung für den Dienst am Kapitalreichtum, welcher die Verunsicherung des materiellen Lebensunterhalts wie die Ruinierung der Gesundheit auf Seiten des „Humankapitals“ unvermeidlich einschließt, findet der spanische Staat in den erfolgreichen EU-Nationen. Er reformiert ab 1974 die „Soziale Sicherheit“ – „Seguridad Social“, so hieß die Verwaltung der Armut schon unter Franco – gründlich durch und organisiert eine Kombination von beitragspflichtiger Sozialversicherung und staatlicher Fürsorgeleistung.

Dabei sehen sich die regierenden Demokraten damit konfrontiert, dass die extreme Niedrigkeit der spanischen Arbeitslöhne den Abzug der als nötig veranschlagten Beitragssumme für die Sozialversicherung nicht erlaubt. Umgekehrt bietet sie dem Staat aber die Möglichkeit, die nationalen Löhne zwecks Finanzierung der Vorsorge für die „Wechselfälle“ des Arbeiterlebens per Dekret zu erhöhen, ohne gleich das nationale Abstandsgebot zum europäischen Lohnniveau substantiell zu verletzen. Die Einführung der neuen Sozialbeiträge: 6,35%, die vom nominellen Bruttolohn des Arbeitnehmers abgezogen und abgeführt werden, und 30,6%, die zusätzlich vom Arbeitgeber zu entrichten sind, dokumentiert insofern den Willen und Anspruch des Staates, die durch den nationalen Billiglohn ermöglichten Geschäftserfolge auch für die – durchaus geschäftsdienliche – Pflege des ‚Faktors Arbeit‘ zu nutzen. Das muss seine kapitalistische Ökonomie schon hergeben. Immerhin verteuert die gesetzliche Sozialversicherung damit die Kosten für Lohnarbeit auf einen Schlag um knapp ein Drittel. Einmal eingeführt, bildet das sozialstaatlich modifizierte Lohnniveau für die mit Staatskredit flott gemachten heimischen Unternehmen wie für die umworbenen internationalen Kapitalanleger dann die neue Grundlage ihrer Gewinnkalkulation.[6]

Spezialbehandlung des Niedriglohnsektors: Autonome Benutzer ihrer eigenen Arbeitskraft und landwirtschaftliche Hilfskräfte

Für seinen Niedriglohnsektor erscheinen dem Staat solche Lohn„zusatz“kosten allerdings zu hoch. Außer dem allgemeinen System (régimen general) der Seguridad Social führt er folglich von vornherein besondere Systeme (regímenes especiales) für diesen Bereich des nationalen Arbeitsmarktes ein: Hier veranschlagt er geringere Beiträge. Das gilt für das Bergbauregime, mit dem die Abwicklung dieser Branche verwaltet wird, für die Abteilung Seefahrt und Hausangestellte, und vor allem für die große Abteilung Landwirtschaft sowie für die so definierten „Autónomos“, die formell auf eigene Rechnung tätigen „Selbständigen“, von denen nur eine Minderheit ‚Unternehmer‘ in dem Sinn ist.

Beim – schon zu Beginn der Demokratie eingeführten – Rechtsstatus des „Autonomen“ handelt es sich um den spanischen Vorläufer der Ich-AG, für den eine eigene Abteilung der Sozialversicherung mit niedrigeren Beitragssätzen zuständig ist (18,5% bis 1983, seither 28,3%); der allgemeine Beitragssatz von 36,95% des Einkommens des „Angestellten“ würde die unternehmerische Kalkulation des „Chefs“, der sich selber anstellt, sofort ruinieren! Mittlerweile sind die Hälfte aller spanischen „Unternehmen“ Einmannbetriebe (Nationalstatistik 2003). Sofern sie in Dienstleistungen für das produktive Geschäft, z.B. im Transportwesen, engagiert sind, senken „Autonome“ die (Zirkulations-)Kosten des Kapitals, tragen also zu dessen Rentabilitätssteigerung bei; sofern sie bloß eine ‚selbständige‘ kümmerliche Existenz an Stelle einer Lohn-abhängigen Beschäftigung fristen, sind sie zwar ökonomisch nur unnütze Selbstversorger, aber immerhin aus der Sphäre der Schwarzarbeit herausgeholt, staatlich registriert und damit in den Status eines regulären Einkommensbeziehers versetzt. Und das ist auch der Zweck des ganzen Regimes: den umfangreichen Sektor der „Schattenwirtschaft“ unter Kontrolle zu nehmen und die in ihm tätigen Personen dem Zugriff der Finanzämter und Sozialkassen zu unterwerfen. So dürfen die ‚Autonomen‘, wie kümmerlich ihr Einkommen auch ausfällt, die öffentlichen Kassen entlasten helfen, indem sie überhaupt Beiträge entrichten. Sie stellen immerhin ca. 20% der Beitragszahler. Heute rekrutieren sich die 2,7 Mio. registrierten „Autonomen“ zu einem großen Teil aus jenen Figuren, die hierzulande zum iberischen Lokalkolorit gezählt werden – aus fliegenden Straßenhändlern, Schuhputzern, Losverkäufern, Strandbudenbesitzern etc., ja sogar der Beruf des Bettlers darf seine Ehrenwertigkeit mit der Mitgliedskarte der Sozialversicherung krönen.

Das régimen especial für die 1,1 Mio. in der Landwirtschaft Arbeitenden wird knapp zur Hälfte aus Beiträgen der Tagelöhner finanziert, der Rest aus dem Staatshaushalt. Die Tagelöhner müssen mindestens 35 Tagesdienste pro Jahr leisten und monatlich 11,5% des aktuellen SMI an Beitrag abführen, um Rechte auf eine Minimalrente aus dieser Sozialversicherung anzusparen. 1984 kommt die Einrichtung des „subsidio agrario“ dazu, eine Lohnfortzahlung, die es den Olivenpflückern und anderen Gelegenheitsarbeitern der andalusischen und estremadurischen Landwirtschaft erlaubt, die Zeiten zwischen den Erntearbeiten zu überstehen und bei der nächsten Gelegenheit den Latifundienbesitzern wieder zur Verfügung zu stehen. Da es marktwirtschaftlich undenkbar ist, dass die Lohnzahlung der Agrarbetriebe den Tagelöhnern für den „arbeitsfreien“ Rest des Jahres reicht, gewährt der Staat in Form dieser speziellen Arbeitslosenversicherung eine Subvention für die landwirtschaftliche Produktion: Er erkennt deren Bedarf nach „Eventualarbeitern“ an, organisiert und finanziert auf diese Weise den ständigen Wechsel von Benutzung und Überflüssigkeit der Arbeitskraft tatkräftig mit. 600.000 Agrar-Tagelöhner leben seitdem von dieser „speziellen agrarischen Arbeitslosenunterstützung“, in den Monaten erzwungener Freizeit nämlich, in denen ihre Arbeitskraft auf den Obst- und Gemüsefeldern einfach nicht gebraucht wird.

So achtet der spanische Staat schon seit Beginn der Zwangskollektivierung eines Lohnbestandteils für die Alimentierung seines nicht beschäftigten Arbeitsvolks darauf, dass die vom Lohn Lebenden je nach der Höhe ihres Einkommens mehr oder weniger strapaziert werden; vor allem aber darauf, dass die freie Disposition der Herren Arbeitgeber über den Einsatz der Arbeitskraft nicht durch unrentable Kosten für ihren dauerhaften Unterhalt in Mitleidenschaft gezogen wird.

Das öffentliche Gesundheitswesen: Kein nationaler Geschäftszweig – bloß eine notwendige Last

Der öffentliche Gesundheitsbereich, der anfangs auch mit Sozialbeiträgen gefüttert wurde, ist schrittweise aus dem Beitragswesen herausgenommen worden und seit 2000 vollständig von den Beitragszahlungen abgekoppelt. Die Finanzierung der medizinisch-pharmazeutischen Leistungen für die Mitglieder der Seguridad Social und deren Familien – und damit mittlerweile fast alle Spanier – wird aus dem Staatshaushalt bestritten. Auf diese Weise entlastet der Staat seine Arbeit gebenden Lieblingsbürger von zu hohen Lohn(neben)kosten, die dem Wachstums ihres und damit des nationalen Reichtums im Wege stehen. Denn dem gilt ja seit jeher seine größte Sorge. Die Attraktivität des spanischen Kapitalstandorts darf nicht sinken!

Mit der Finanzierung des Gesundheitswesens aus dem allgemeinen Steueraufkommen ist der Betrag, der für die Volksgesundheit zur Verfügung steht, von der „allgemeinen Haushaltslage“ abhängig gemacht. Die obersten Volksvertreter entscheiden Jahr für Jahr, wie viel (nämlich etwa ein Drittel der in Deutschland anfallenden Kosten pro Einwohner) die staatliche Haushaltskasse für die Gesundheit der Untertanen übrig hat. Mehr ist jeweils „nicht finanzierbar“. Eine „Kostenexplosion“ ist so schon mal ausgeschlossen. Die Gesundheitszentren und Krankenhäuser sind in kommunaler bzw. regionaler Verwaltung, sie haben mit den ihnen zugeteilten Summen zu wirtschaften. Ärzte und Helfer sind öffentliche Angestellte und es wird (außer in Notfällen) nur der behandelt, der zum Sprengel gehört. Dafür ist die ärztliche Dienstleistung umsonst. Eine Konkurrenz um die Gelder des staatlichen Gesundheitsdiensts zur Bereicherung von Weißkitteln findet nicht statt. Ebenso wenig ist Spanien Standort einer nationalen pharmazeutischen Industrie. Der Staat als oberster Verwalter und Abnehmer pharmazeutischer Produkte schreibt den auswärtigen Pillenproduzenten umgekehrt Preise vor, die bei allen gängigen Medikamenten unter den in Europa gängigen Preisen liegen – und ihnen immer noch ein lukratives Massengeschäft garantieren. Der Mündigkeit des Bürgers wird dadurch Rechnung getragen, dass er für alle Medikamente 40% selber bezahlen muss und so mitentscheiden kann, was ihm seine Gesundheit wert ist. Zur Entlastung des staatlichen Gesundheitsbudgets trägt er in jedem Fall bei. Qualität und Umfang der medizinischen Leistungen, auf die Mitglieder der Sozialversicherung Anspruch haben, sind in einem Katalog der obersten Gesundheitsbehörde haarklein definiert. „Überzogene Ansprüche“ können so gar nicht aufkommen. Denn Untersuchungen und Behandlungen, die im Katalog nicht aufgelistet sind, sind im öffentlichen Gesundheitswesen einfach nicht zu haben.

Und das sind nicht wenige. Außerhalb einer ‚Grundversorgung‘, mit deren Definition der Sozialstaat das gewünschte Maß an Volksgesundheit festlegt, ist im staatlichen Leistungskatalog wenig vorgesehen. Seit Bestehen des öffentlichen Gesundheitswesens gibt es daher bei denjenigen, die etwas Geld übrig haben und beispielsweise auf Zahnersatz Wert legen, das Bedürfnis, sich zusätzlich privat zu versichern, um die finanzielle Freiheit zu erlangen, sich behandeln zu lassen, wie und wo man will: von Privatärzten in privaten Krankenhäusern auf Privatrechnung. Die Etablierung eines von seinem Sozialwesen getrennten Geschäfts mit Gesundheit und Versicherung ist dem Staat natürlich immer recht. Außerdem wird dadurch schon wieder seine Gesundheitskasse entlastet, die ja nur für Leistungen aufkommt, die über die gesetzliche Versicherung in Anspruch genommen werden.

Beitragsunabhängige Fürsorge, wo die Sozialversicherung nicht greift

Für alle Spanier, die keine Rechte auf Leistungen der Sozialversicherung erwerben können, weil sie ihr (noch) nicht angehören, und für alle, die nicht genügend Rechte angespart haben, genauso wie für diejenigen, deren Leistungsansprüche ausgelaufen sind – wie überall sind Arbeitslosengeld und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zwecks Hebung der Arbeitsmotivation zeitlich begrenzt –, hat der Sozialstaat im Laufe der Zeit Fürsorgeleistungen installiert: 1984 für Arbeitslose ohne alle Einkünfte, 1991 für Alte ohne Rente. Die Höhe der Hilfsgelder ist auf maximal 75% des SMI begrenzt.[7] Auch mit diesen schieren Überlebenshilfen will er den Lohn seiner Nationalökonomie (vorerst) nicht belasten. Er bestreitet sie aus dem Staatshaushalt. Dessen Belastung stört die Politiker schon wieder, darf also ebenso kein Dauerzustand sein. Die leidige Tatsache, dass ein Zwangsversicherungssystem, das sich aus den Löhnen der arbeitenden Klasse finanziert, in der Aufbauphase durch hohe staatliche Sozialkosten ergänzt werden muss, gibt den Sozial-Politikern vielmehr die Linie für die nächsten Schritte seines Ausbaus vor. Ziel ist die perspektivische Entlastung des Staatshaushalts von derartigen Zahlungsverpflichtungen, das bevorzugte Mittel heißt:

„Universalisación“ der Sozialversicherung: Ausweitung der Zwangssolidarität durch politisch induzierte Erweiterung der für das Kapital „aktiven Arbeitsbevölkerung“

Nach und neben dem sozialpolitischen Kampf um die Überführung der „Schattenwirtschaft“ in das „reguläre“ System der steuer- und sozialabgabepflichtigen Ökonomie (s.o.) gilt das politische Augenmerk einer zweiten Sorte von „Verallgemeinerung des Sozialsystems“: Der Staat will möglichst alle seine erwerbsfähigen Bürger in den Kreis der erwerbstätigen Bevölkerung integrieren, d.h. aus notorisch arbeitslosen Abteilungen seiner Gesellschaft produktive Diener des kapitalistischen Eigentums machen, die als solche ihren Beitrag zur Mehrung des staatlichen Reichtums leisten – statt ihm auf der Tasche zu liegen. Das ist es nämlich, was ihn stört: nicht deren Misere und Abhängigkeit von familiärer Nächstenliebe, sondern die Tatsache, dass „benachteiligte Personen wie Frauen, junge Leute, Personen über 45(!), Zigeuner und Behinderte“ dauerhafte Sozialfälle darstellen, deren noch so bescheidenen Unterhalt er im Zweifel garantieren muss. Sie erscheinen ihm deswegen als vom kapitalistischen Nützlichkeitskalkül zu Unrecht für minderwertig befundene und ausgeschlossene Anbieter von Arbeitskraft, weshalb die Regierung sich höchstpersönlich für ein Ende der Diskriminierung aller Benachteiligten und Beleidigten einsetzen muss. Das tut sie mittels eines „Nationalen Aktionsplans für den sozialen Einschluss“ (2001) besagter Gruppierungen. Der Haken an der Sache: Das Programm kostet seinerseits Geld, viel Geld, das er, der Staat, aufbringen muss, um sich – so das Kalkül – von den ungeliebten Kostgängern zu entlasten. Denn wie soll das „Kollektiv der sozial ausgegrenzten und/oder rückständigen Bevölkerung“ der Ausnutzung durch die Herren Arbeitgeber zugeführt werden, wenn diese deren Tauglichkeit gerade gering schätzen? Streng marktwirtschaftlich geht das nur durch ein System materieller Anreize, also auf gut Deutsch durch Subventionen „zugunsten der Arbeitgeber“ – sei es in Form der teilweisen Übernahme von Lohnzahlungen an die betreffende Klientel und/oder der Befreiung von Sozialversicherungszahlungen für sie. Mit solchen „Eingliederungshilfen“ für bis dato ausgegliederte potentielle Arbeitskräfte werden dem Kapital neue Rechnungen eröffnet, jene werden für die Geschäftswelt interessanter und womöglich vermehrt in Dienst genommen. Das „Recht auf Lebensunterhalt der aktiv Einzuschließenden“ sieht einen „Soziallohn“ vor, was ebenfalls marktwirtschaftlich gerecht ist, sofern es doch wohl nur am „zu hohen“ Preis ihrer Arbeitskraft liegen kann, wenn sie bisher keiner lohnenden Verwendung zugeführt wurden. Mehr als einen Lohn in der Nähe der Sozialhilfe dürfen sie folglich nicht erwarten. Mit der Annahme dieses Angebots ist – abgesehen von den Gewinnerwartungen der kostenbewussten Arbeitgeberschaft – vor allem die Gleichberechtigung der Frauen vorangekommen und die Masse der steuer- und beitragszahlenden Beschäftigten in Spanien gestiegen: eine erfolgreiche Investition zur Erweiterung des kapitalistischen Arbeitsmarkts im Bereich der working poor. Ob und inwieweit die Investition den Staat von künftigen Fürsorgelasten befreit, ist eine andere Frage. Fest steht nur, dass der spanische Staat sich das gigantische Subventionsprogramm von 24 Milliarden Euro (Laufzeit 2001-2005) nach eigenem Bekunden nur leisten kann, weil es zu einem guten Teil aus den Fonds der Europäischen Union finanziert wird, die ihrerseits den Wirtschaftsraum Spanien für das gesamteuropäische Kapital attraktiv(er) machen will.

Selektiver Einbau von Immigranten, die als billigste „Arbeitshände“ das nationale Bruttoinlandsprodukt befördern sollen

Eine andere Sorte flexibelster ‚Arbeitskräfte‘ (die ihrem spanischen Namen „manos de obra“, also ‚Arbeitshände‘ aufs Schönste entsprechen, denn genau so werden sie behandelt) braucht den vorurteilslos rechnenden Geschäftsleuten erst gar nicht aufgedrängt zu werden. Als ein Reservoir jederzeit einsetzbaren und abstoßbaren Menschenmaterials sind die Immigranten ein willkommenes Objekt kapitalistischer Selbstbedienung, sobald sie im Lande auftauchen. Das tun sie seit den 90er-Jahren in wachsender Zahl, so dass Spanien inzwischen von einem Land mit hoher Emigration zu der EU-Nation mit dem höchsten Immigrantenzuwachs geworden ist (2003: eine halbe Million). Da sind erstens die Latinos aus Hispano-Amerika, die zumindest teilweise mit anerkannten Einreisedokumenten erscheinen; da tauchen zweitens mehr und mehr vom Kommunismus befreite Osteuropäer auf (vor allem Polen und Rumänen), denen der gute Ruf nacheilt, sie wären „Arbeitstiere“ und würden nach getaner Erntearbeit gottlob sofort wieder nach Hause verschwinden; und da sind drittens die Elendsflüchtlinge aus dem von Europa und den USA ausgeplünderten und ruinierten Nachbarkontinent. Spaniens Lage an der südlichen Außengrenze der EU garantiert das „Einsickern“ von massenhaft Afrikanern, welche die Schleppergebühren aufgebracht haben und trotz ständig verschärfter Grenzsicherung lebendig anlanden, ohne prompt aufgegriffen und zurückverfrachtet zu werden. Die meisten von ihnen sind im besten arbeitsfähigen Alter, nicht wenige verfügen sogar über Schul- und Berufsausbildung. Diese und all die anderen, offiziell unerwünschten, „Illegalen“ (bis Dezember 2003 laut staatlichen Recherchen etwa 1,5 Mio., das sind fast ebenso viele wie die „Legalen“)) erfreuen sich zweischneidiger politischer Wertschätzung. Das „Programm zur Regulierung und Koordinierung des Ausländerrechts und der Einwanderung (2001 bis 2004)“ definiert die Einwanderung als ein für Spanien im Rahmen der EU wünschenswertes Phänomen; es beabsichtigt die Integration der in Spanien lebenden Ausländer, die aktiv zum Wachstum der spanischen Wirtschaft beitragen, samt deren Familien, und die Regulierung der Einwanderungsflüsse, um das Zusammenleben in der spanischen Gesellschaft zu gewährleisten… Dabei werden sanktionierende Maßnahmen bei Verletzung der Gesetze und fördernde Maßnahmen zur gesellschaftlichen Integration der Einwanderer ergriffen.

So hat sich der Staat zu dem Standpunkt durchgerungen: Fremde, die „aktiv“ der Nation dienen, sollen, dürfen und müssen diesen Dienst legal verrichten! Nicht schwarz und klandestin, sondern ordnungsgemäß registriert, damit unter polizeilicher Kontrolle, und in regulärem Arbeitsverhältnis. Sie und nur sie, die nützlichen, weil von den Herren des Eigentums nützlich gemachten Ausländer, sollen das Heer der tributpflichtigen Einkommensbezieher erweitern, egal wie gering Steuern und Sozialversicherungsbeiträge dieser Billigstlöhner auch ausfallen mögen. Die anderen, die per definitionem die Schädlichen sind, womöglich gar Nährboden des islamischen Terrorismus, müssen draußen bleiben oder nach draußen zurückverfrachtet werden.

Das einzige Bestreben der Einwanderer, sich mittels irgendeiner Arbeit durchzuschlagen, soll also gar nicht scheitern, sondern erste Bedingung für den Nachweis sein, dass man eigentlich gar kein „Wirtschaftsflüchtling“ ist, sondern dem spanischen Reichtum dienen und sich der spanischen Hoheit unterwerfen will. Das ist gar nicht einfach. Da erstens schon die illegale Einwanderung ein Verstoß gegen das Gesetz ist, steht es ganz im Belieben der zuständigen Behörden und in ihrer freien Beurteilung der geschäftlichen Bedürfnisse, ob sie die Arbeitstätigkeit eines Illegalen – schon die zweite Gesetzesverletzung – als „Beitrag zum spanischen Wirtschaftswachstum“ betrachten und ihn deswegen per Arbeitserlaubnis und/oder Aufenthaltserlaubnis nachträglich „regularisieren“ oder eben nicht und ihn abtransportieren. Kein Wunder also, wenn die Anzahl der so genannten „sin papeles“ (der „Ohne-Papiere“), die sich lieber in der Schattenwirtschaft verstecken, hoch bleibt.

Der institutionalisierte Zwang, sich mittels illegaler Arbeit die Legalität zu verdienen, hat Konsequenzen für die ökonomische Erpressung des eingewanderten Arbeitswillens: Das Doppelpack von Kriminalisierung und Legalisierung bestimmt sowohl die Lohnform – vertragslose Tagelöhnerei für Leistung pur, einfachste und zugleich anstrengendste Arbeit – als auch das „Lohnniveau“ dieser Sphäre: Das Entgelt schwankt nach übereinstimmenden Angaben zwischen 30 und 0 Euro pro Tag, wobei ein anonymer Anruf bei der Polizei kurz vor dem Zahlungstermin von manch lästigem Lohnempfänger befreit. Nach wie vor scheint vorwiegend in der Landwirtschaft, am Bau und im Tourismus der Bedarf nach diesem schrankenlos ausnutzbaren Menschenmaterial ungebrochen, so dass im Jahr 2003 knapp 100.000 aus dem Land geschafft, aber mehr als 300.000 für staatsnützlich befunden und legalisiert wurden. (Einwanderungsbehörde des Innenministeriums, El País, 13.1.04)

So wird nach Kräften dafür gesorgt, dass die Immigranten „wirtschaftlich gesehen ein Aktivposten“ sind und bleiben und jedenfalls keine Chance erhalten, bloße Kostgänger des Staates zu sein, wie der neue sozialistische Wirtschaftsminister zur Beschwichtigung des mancherorts grassierenden Rassismus klarstellt.[8] Von den 1,6 Mio. regulär anwesenden Ausländern sind inzwischen mehr als 1 Million „als Arbeitende“ in die Seguridad Social integriert, werden also abkassiert; damit haben sie das Recht auf eine rudimentäre gesundheitliche Versorgung. Das Programm der „Universalisierung“ der Sozialversicherungspflicht kennt also keine Rassenschranken, sofern die betreffenden Mitglieder die öffentliche Ordnung nicht stören, sondern den nationalen Wohlstand fördern. So wird die aktuellste Form der Verallgemeinerung des Sozialsystems schon wieder zu einem eindrucksvollen Exempel dafür, dass nach den Rechnungsweisen auch des modernsten Kapitalismus jede Methode der Ausbeutung gleichermaßen gültig, also willkommen ist – und insofern auch jede Sorte Mensch, die sich durch ihre Not dazu erpressen lässt, der Vermehrung des in Geld bezifferten Reichtums zu dienen.

3. Laufende Korrekturen am Sozialsystem – es muss dem Kapital „Lohnzusatzkosten“ und dem Staat „konsumtive Ausgaben“ ersparen

Auch im spanischen Sozialversicherungssystem muss der zwangsversicherte Bürger erst mal eine Reihe von Jahren Beiträge zahlen, um überhaupt nennenswerte Leistungen aus der beitragsfinanzierten Abteilung der Seguridad Social beanspruchen zu können. Da dieser Typ Sozialstaat erst seit Ende der 70er-Jahre im Aufbau ist und die projektierte „volle Integration“ der Spanier und Immigranten in die Sozialversicherung ihre Zeit dauert, ist es kein Wunder, dass bisher vorwiegend eingezahlt wurde und die Rechte auf den Empfang von Leistungen jetzt überhaupt erst so richtig „angespart“ sind. Genau dies erfüllt die sozialen Standortpfleger mit Sorge. Wenn die Auszahlungsverpflichtungen der Versicherung deswegen jetzt steigen, dann ist die bisher so positive Bilanz von Ein- und Auszahlungen gefährdet. Das darf nicht sein! Die Regierung stellt fest, dass die zwangskollektivierten Teile des Lohns nicht ausreichen, um die außer Funktion und damit außer Einkommen gesetzten Abteilungen der arbeitenden Klasse in dem „früher“ vorgesehen Maße zu alimentieren. Eine Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge schließt sie – der obersten Prämisse der Einhaltung des Lohn-Abstandsgebots folgend – aus, weil sie die Lohnkosten steigern und damit die Konkurrenzposition der Nation schwächen würde. Und das angesichts der „Herausforderungen der Zukunft“, wozu vor allem die Osterweiterung der EU um 10 „Billigstlohnländer“ gehört. Das Prinzip der fälligen „Reformen“ steht damit fest: Die bis dato beschlossenen Rechte auf Lohnersatzleistungen sind „auf Dauer nicht finanzierbar“, sind mithin so zu modifizieren, dass eine „Konsolidierung“ des Systems durch die Kürzung von Arbeitslosengeldern und Renten herauskommt. So landen die spanischen Armutsverwalter – in konsequenter Fortführung ihres von vornherein schlank formatierten Sozialstaats – bei haargenau derselben Therapie wie ihre Kollegen von der „radikalen Strukturreform“-Front in Mitteleuropa, die in den „zu teuren Arbeitskosten“ das Hindernis ihres nationalen Wachstums sehen, das es abzubauen gilt.[9]

Also wird auch in Spanien gespart, am Lebensunterhalt der Lohnabhängigen nämlich. Selbstverständlich auch dort nur zum Nutzen derjenigen, deren weitere Verarmung beschlossene Sache ist. Es geht schließlich darum, die finanzielle Zukunft der Sozialversicherung zu gewährleisten, die ansonsten laut unzähligen Expertisen irgendwann „zwischen 2015 und 2020“ zusammenbrechen würde. Dem staatlich organisierten und betreuten Bestandteil des Lohnes wird eine neue nationale Aufgabe übertragen, nämlich Überschüsse zu erwirtschaften, die einem „Reservefonds“ für zukünftige Sozialleistungen zugewiesen werden. Die gegenwärtigen müssen dafür sofort runter.

Die politische Neudefinition des Arbeitslosenstatus reduziert die Anzahl der Leistungsempfänger und die Ausgaben für deren Lebensunterhalt

Im Sommer 2002 gibt es heftige Auseinandersetzungen zwischen Gewerkschaften und Regierung über die auf die Tagesordnung gesetzte „Reform der Arbeit“, bei der beide Seiten entgegen der spanischen Gewohnheit die einvernehmliche „Konzertierung“ aufkündigen. Regierungschef Aznar setzt seine Reform per Notstandsdekret in Kraft, die beiden Gewerkschaften setzen einen Generalstreik an. Weil sich die Gewerkschaften allerdings mehr daran stören, dass der „autoritäre Präsident“ Aznar sie und das Parlament übergangen hat, beenden sie ihren Streik, als Aznar sein Dekret zurücknimmt und ihnen die „Rückkehr zum sozialen Dialog“ anbietet. Die Gewährung konstruktiven Mitwirkens am Regierungsprogramm mussten sie sich glatt erstreiken, obwohl sie doch über die „Notwendigkeit“ der geplanten Zumutungen immer mit sich reden lassen wollen. Da die Gewerkschaften die staatliche Lektion – Respekt gibt’s nur bei, also nur für Unterwerfung in der „Sache“ – verstanden haben, kommt die geplante „reforma laboral“ im Folgejahr auf dem üblichen Weg des „demokratischen Dialogs“, also unanfechtbar voran:

– Arbeiter mit befristeten Arbeitsverträgen sollen nach dem Willen der Regierung kein Arbeitslosengeld mehr erhalten, sofern ihnen die Zeiten, zu denen sie (nicht) beschäftigt sind, vorher bekannt sind, was bei befristeten Arbeitsverträgen ja die Regel ist. Als solche „fest unregelmäßig Beschäftigte“ werden sie grundsätzlich in den Status von „Teilzeitarbeitern“ versetzt, die nicht als arbeitslos gelten. Sie erhalten nur noch in Ausnahmefällen Überbrückungsgeld. Ergebnis: Die Zahl der Leistungsempfänger des Arbeitslosengeldes ist um einige 100.000 Saisonarbeiter vor allem des Tourismusgewerbes bereinigt worden.

– Die Bedingungen für die „Zumutbarkeit“ einer Arbeit werden gelockert: Nun gilt auch eine Arbeit als zumutbar, für die sich der Arbeitslose „physisch und bildungsmäßig eignet“, also im Prinzip so ziemlich jede unterhalb seines bisherigen beruflichen Standards. Nach einem Jahr ununterbrochener Arbeitslosigkeit ist ausdrücklich jede Arbeit zumutbar, auch unabhängig davon, ob es sich um eine feste oder befristete Stelle, eine Voll- oder Teilzeitarbeit, Saisonarbeit etc. handelt. Der Verdienst darf dabei in allen Fällen unter die Höhe des Arbeitslosengeldes bis auf den „branchenübergreifenden Mindestlohn“ SMI fallen. Wer die ihm zugemutete Arbeit ablehnt, verliert erst drei, dann sechs Monate lang jede Unterstützung, nach dem dritten Mal für immer.

– Die Einrichtung des „subsidio agrario“, der speziellen Arbeitslosenunterstützung für die Tagelöhner Andalusiens und der Estremadura in Höhe von 75% des SMI – beziehbar für maximal 6 Monate pro Jahr –, wird abgeschafft. Eine derart großzügige Lohnsubvention im Agrarsektor ist nach Ansicht der Regierung heute nicht mehr nötig, weil sie zu teuer ist und die Gelegenheitscampesinos obendrein nur zur Bequemlichkeit verführt. Die Folgeeinrichtung namens „renta agraria“ knüpft die Unterstützungszahlung an verschärfte Zugangsbedingungen und Wartefristen, außerdem beschränkt sie die Anzahl der Jahre, in welchen die neue Agrarrente in Anspruch genommen werden kann. Im Juli 2003 können bereits erste Erfolge gemeldet werden: 50.000 Leistungsempfänger weniger! (El País, 23.7.2003)

Die inzwischen regierende ‚Sozialistische Arbeiterpartei‘ knüpft nahtlos an die Maßnahmen „der Rechten“ (wie sie die Aznar–Partei zuweilen schimpft) an:

– Geplant ist die Beseitigung des unhaltbaren Zustands, dass „fast 40% der ‚Autónomos‘ (s.o.) nach nur 15 Jahren Beitragszahlung in Rente gehen. Das kann nicht sein.“ Was sein muss, ist „deswegen“, dass „sie mehr Jahre und höhere Sätze einzahlen, auch wenn das ihnen eine kleine Anstrengung abverlangt“ (Arbeitsminister Caldera, a.a.O.).

– Beabsichtigt ist die Entkopplung des Arbeitslosengeldes und anderer Unterstützungszahlungen (Wohngeld, Stipendien etc.) vom Mindestlohn bzw. von dessen Anhebung. Ansonsten würden die Sozialkassen zu stark belastet und das kann nicht sein!

All die Methoden des rechtsstaatlichen Weges der Verbilligung der Armutsverwaltung geraten zu einem eindrucksvollen Beleg für eine hierzulande gerne übersehene Tatsache: Es sind gerade die kleinlichsten und penibelsten bürokratischen Regelungen, Gesetze, Umsetzungsverordnungen und dergleichen, welche dazu taugen und dafür sorgen, dass all die Einschränkungen für den Empfang öffentlicher (Sozial-)Leistungen in Kraft treten, auf die es – den Politikern aller Parteien – ankommt. Nur so wird der „Missbrauch“ des Sozialstaats verhindert, denn Missbrauch heißt die Wahrnehmung bisher gültiger Regelungen immer dann, wenn diese als zu großzügig bemessen definiert werden. Von wegen also, „Entbürokratisierung und Deregulierung“ täten not. Die Entschränkung der Interessen des unser aller Wachstum besorgenden Kapitals durch die Senkung der Lohn(neben)kosten, also auch der Kosten sozialstaatlicher Betreuung, verlangt eben die penetranteste Herunter-Regulierung aller Hilfsgelder, von denen Leute, die von Berufs wegen Lohnabhängige sind, ja nur leben müssen!

In diesem Sinne ermutigt das Gesamtresultat der „reforma laboral“ – die Politiker und Behörden jedenfalls: Erstens kann sich das Arbeitsamt INEM über ein Sinken der Gesamtkosten für die Arbeitslosen freuen, so dass es für das Haushaltsjahr 2003 einen Überschuss von 3 Milliarden Euro ausweisen kann. Da viele von denen, die jetzt keinen Leistungsanspruch mehr haben, auch gleich den Status des Arbeitslosen verloren haben, sinken zweitens die absoluten Arbeitslosenzahlen. Drittens steigt so der relative Anteil derjenigen, die eine Unterstützung erhalten, auf stolz vermeldete 60%. (Regierungssprecheramt: El entorno económico y social en 2002, Presupuesto del INEM, 2003) Die analoge Verfahrensweise steht folglich für die andere Abteilung des sozialen Versicherungswesens an:

Anpassung des Rentensystems: Zielpunkt Mindestrente, Mittel Versicherungsmathematik

Dem vorgesehenen Turnus von fünf Jahren entsprechend wird Ende 2003 das Rentensystem „weiterentwickelt“. Die Kommission aus allen Parlamentsparteien empfiehlt die „Anpassung des Rentensystems an die wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen“ und schlägt vor, den „Grundsatz der Deckung des Sozialstaats durch Beiträge“ zu vervollkommnen. Unter dem bürokratisch-gelungenen Titel „Trennung und Klärung der finanziellen Quellen zur Erlangung des wirtschaftlichen Gleichgewichts zwischen dem Staat und der Sozialversicherung“ geht es erklärtermaßen darum, den Staatshaushalt nachhaltig von sozialen Fürsorge-Lasten für Ruheständler zu befreien, ohne deshalb der Seguridad Social eine Aufblähung ihres Topfs für Rentenzahlungen aufzuerlegen.[10]

Zum einen wird auch in Spanien der „Kampf gegen die Diskriminierung aus Altersgründen“ fortgesetzt, will sagen: der gegen den „vorzeitigen Ruhestand“, noch genauer: gegen die weitere „Subventionierung“ des „aus betrieblichen Gründen“ von der Lohnliste gestrichenen alten Eisens (ArbeiterInnen über etwa 50 Jahre). Frühpensionierungs-„Anreize“ in Form von Zuschüssen aus der Sozialkasse werden strenger dosiert.

Zum andern wird in der Hauptsache ein Ärgernis aufs Korn genommen, das sich einer Besonderheit des spanischen Sozialstaats verdankt. Wegen der hohen Anzahl von „prekären“ Arbeitsverträgen verfügt der Spanier neben anerkannten Zeiten der Arbeitslosigkeit allgemein über ein sehr löchriges Arbeitsleben, in der Sprache der Sozialpolitiker über eine „irreguläre Beitragslaufbahn“. Dies berücksichtigt die Berechnungsgrundlage der Renten mit ihrer komplexen Integralgleichung, so dass sich die individuellen Beitragslöcher auch in einer entsprechenden Rentenhöhe niederschlagen: einmal als niedrigere Rentenberechnungsbasis und ein zweites Mal in Form von Abschlägen, die durch geringere Beitragszahlungsdauer fällig werden. So kommt es, dass ein Viertel der Rentner nicht einmal die staatlich festgelegte Mindestrente – von 75% des Minimallohns SMI – erreicht; bei Hausangestellten, Landarbeitern und „Autonomen“ bleibt die Hälfte unter dieser offiziellen Armutsgrenze. Hier muss bislang der „nichtbeitragsgebundene Pfeiler“ der Sozialen Sicherheit, die Sozialfürsorge, die ausschließlich aus dem allgemeinen Haushalts des Staates geleistet wird, die Differenz zum unvermeidlichen Existenzminimum zuschießen. Ein Unding! Dieses „Ungleichgewicht“ muss und soll aus der Welt geschafft werden.

Also haben, wie immer in solchen Fällen, die Experten von der versicherungsmathematischen Abteilung die Aufgabe erhalten, die Rentenformel zu ändern. Und zwar unter der Maßgabe, dass die Sozialversicherung künftig für eine Mindestrente für möglichst jedermann gerade steht, ohne dass sich das Rentenbudget insgesamt erhöht, so dass der Staat sich seine Ausgleichszahlungen aus dem allgemeinen Haushalt weitestgehend sparen kann. Und siehe da, das Rechenexperiment war erfolgreich. Der Trick: die Erhöhung der Anzahl der unmittelbar vor der Verrentung liegenden Jahre, die für die Berechnung der Rentenansprüche herangezogen werden. Im Unterschied zu einer seit mehreren Arbeitergenerationen laufenden Rentenversicherung wird in Spanien die individuelle Höhe der Rente nicht aus den Beitragszahlungen des gesamten Arbeitslebens errechnet, sondern nur aus den letzten Jahren vor der Verrentung. Diese wurden in der Vergangenheit bereits schrittweise von 8 auf heute 15 Jahre erhöht, sie sollen nun nach den Vorschlägen der Kommission weiter erhöht werden; um wie viel und in welchen Schritten, hat die neu gewählte sozialistische Regierung festzulegen. Denn die Rentenversicherung feiert inzwischen ihren 30. Geburtstag, also ist wieder Luft zur Aufstockung der Berechnungsjahre drin. Die Löchrigkeit der „Beitragskarriere“ wirkt dabei doppelt: Für diejenigen, die aufgrund ihrer vielen „Teilzeitarbeiten“ oder „Zeiten der Arbeitslosigkeit“ in den letzten Jahren vor der Verrentung „nicht oder nicht lange genug Beitragszahlungen geleistet haben“, folglich bisher unter den Minimalrenten lagen, erhöhen sich die Rentenansprüche. Bei denjenigen, die „eine Berufskarriere von hoher Kontinuität vor allem in den letzten Arbeitsjahren aufweisen“ – und deswegen über der Minimalrente lagen –, „führt das zu einer Verringerung ihrer Rente“[11]. Ebenso wie für solche Erwerbstätige, die in den letzten Jahren mehr verdienten. Genau das ist der Effekt, auf den es ankommt! Es kommen immer mehr rentenabhängige Bürger ‚von unten‘ an die Minimalrentenhöhe heran und gleichzeitig sinken ‚von oben‘ die Leistungsansprüche an die Sozialversicherung. Der Staatshaushalt muss immer weniger zuschießen und der Überschuss der Sozialversicherung steigt.[12] Und das allgemeine Armutsniveau der Alten ebenfalls.

So schafft auch der spanische Sozialverwalter beim „Vorsorgen für die Zukunft der Sozialversicherung“ heute schon die Sozialfälle, für die dann auch in Zukunft kein Geld mehr da ist.

4. Ökonomische Standortkonkurrenz für nationalen Aufstieg ins Machtzentrum der EU und in die Weltordnungsriege der „Großen“

Wofür der spanische Staat, mit welchem Regierungspersonal auch immer, seine Ökonomie und deren menschliche Antriebs-Mittel betreut und fördert, worin folglich die Funktionalität besteht, auf die er bei der Einrichtung und Dauerreformierung seiner sozialpolitischen Armutsverwaltung so penibel achtet, daraus machen die verantwortlichen Volksvertreter selbst keinerlei Geheimnis. Das anspruchsvolle Ziel, dem das Florieren des von seinem Boden ausgehenden kapitalistischen Geschäfts dienen soll, heißt endgültige Überwindung der „peripheren Rolle“ in Europa, unter der die demokratisch gewendeten Machthaber Spaniens immer noch leiden. Ihr Programm ist die erfolgreiche Fortsetzung des Aufstiegs innerhalb der Europäischen Union, um als politische Kern-, also (Mit-)Führungsnation anerkannt zu werden, so über die Gemeinschaftsbedingungen und -mittel an vorderster Front mitzuentscheiden, als Nation von ihnen zu profitieren und – auf dieser Grundlage – deren „Gewicht in der globalisierten Welt“ zu vergrößern.

Über diese Ambition Spaniens hat schon Ministerpräsident Aznar offen Auskunft gegeben, indem er (in Madrid wie in Washington und anderen Hauptstädten der Welt) unermüdlich die hohen Wachstumsraten und die vorbildliche Haushaltslage der Nation anpries, wovon die EU-Führungsnationen „nur träumen“ könnten – um klar zu machen, dass Spanien heute der Wachstumsmarkt in Europa sei und somit ein „Land der Avantgarde“, das seinen Platz mit Fug und Recht im Kreise der G8 beanspruchen kann.[13] Vor allem aber hat er sein Land im Antiterrorkrieg demonstrativ an die Seite der USA gestellt, als einer der „Drei von den Azoren“ den Kriegsbeschluss von Bush und Blair gegen den Irak bedingungslos unterstützt und die so erworbene Rolle als Mit-Veranstalter der Neuen Weltordnung gleich zum Aufbau einer innereuropäischen politischen Oppositionsfront gegen den deutsch-französischen Führungsanspruch genutzt, dem sich Spanien „nie mehr“ unterwerfen werde. Derselbe Standpunkt – der Wille zur Eroberung eines höheren Machtstatus in Europa und der Welt – geht ebenso unmissverständlich aus der Kritik hervor, mit welcher die neu gewählte sozialistische Regierung ihre Vorgängerin des Versagens bezichtigt. Wenn sie „den Rechten“ und dem „Autokraten Aznar“ vorhält, sie hätten mit ihrem politischen Vasallentum gegenüber den USA Spanien „in die europäische Isolation getrieben“, dadurch seinen Einfluss geschmälert und so heraufbeschworen, dass die ohnehin in Frage stehenden Finanzquellen aus Europa (von denen Spaniens Aufstieg eben zu einem Gutteil lebte) mehr als nötig gefährdet seien, dann bekräftigt sie das gemeinsame Ziel. Wenn die Regierung Zapatero die alternative – und in der Tat gegensätzliche – Strategie bevorzugt, die Kriegsallianz mit der Weltmacht aufzukündigen, stattdessen im Bündnis mit Deutschland und Frankreich die Entfaltung autonomer europäischer Macht voranzubringen und auf diese Weise eben auch die imperialistischen Rechte, Kompetenzen und Mittel Spaniens, dann einzig deshalb, weil sie diese Methode für „realistischer“, sprich für Erfolg versprechender hält.[14]

Die Ökonomie – eine Waffe in der Konkurrenz der Staatsgewalten: Sie muss also wohl organisiert werden!

Für jeden spanischen Politiker ist sonnenklar, dass, wer in der Welt der kapitalistischen Nationen etwas zählen will, wer kein abhängiger Vasall sein, sondern aus eigener Machtvollkommenheit andere Nationen auf eine nützliche Abhängigkeit festlegen will, daheim über einen attraktiven Kapitalstandort verfügen muss, der sich als Quelle nationaler Geldvermehrung bewährt; und dass das Gelingen dieser gesellschaftlichen Basisleistung die Bereitstellung, Organisierung und Mobilisierung produktiver, genauer: vergleichsweise rentablerer Armut verlangt. Angesichts der globalen – teils sogar in die EU herein geholten – Billiglohn-Konkurrenz bekommt das erfolgreiche Billiglohnland Spanien da ein Problem: das des drohenden Kapitalabflusses nämlich.[15] Um dieser „Herausforderung“ zu begegnen, gibt die neue Regierung folgende Zukunfts-Parole aus:

„Die Sozialistische Arbeiterpartei setzt auf ein Modell, das nicht auf der Reduktion der (Lohn-)Kosten gründet, sondern ‚auf der Erhöhung der Qualifikation der Arbeiter und dem Wachsen des physischen und technologischen Kapitals als der einzigen Formel für die Konkurrenz in einer globalisierten Wirtschaft‘.“ (El País, 5.7.2004)

Das mit dem Nicht – Sondern ist natürlich eine schlichte Lüge. Praktisch setzt diese Partei schließlich die Niedriglohn-Politik konsequent fort, hält sie also keineswegs für ausgereizt. Was die Regierung Zapatero bezweifelt, ist offenkundig, dass die weitere Verbilligung des ‚Faktors Arbeit‘ allein irgendeine Garantie für künftige Erfolge der Nation darstellt. Wenn sie sich jetzt von den Polen, Ungarn und Slowaken darüber belehren lässt, dass Verelendung des Proletariats nicht der Weg Spaniens sein kann, demgegenüber – und gar nicht zufällig im Stile des amtierenden deutschen Bundeskanzlers – auf „Produktivität“, „Qualität“ und „Innovation“ pocht, dann verkündet sie zwar einerseits auch bloß das Ideal eines über alle Zweifel erhabenen, dauerhaft profitablen Kapitalstandorts, und kein neues Patentrezept. Sie unterstreicht damit jedoch andererseits ihren kategorischen politischen Willen, Spanien mit allen zu Gebote stehenden Mitteln[16] zu einem echten Zentrum des Kapitals herzurichten, von dem aus potente, d.h. durch ihre Größe schlagkräftige Konzerne globale Anlagemöglichkeiten und Billiglohnländer taxieren, um so zu verhindern, dass Spanien in erster Linie Objekt der Spekulation auswärtiger Multis und Finanzgiganten ist bzw. bleibt. Kein Wunder, dass die projektierte Übernahme der größten britischen Hypothekenbank durch die führende spanische Bank (Banco de Santander), wodurch letztere zur Nr. 4 in Europa und Nr. 8 in der Welt wird, stolz als Paradebeispiel für den unaufhaltsamen Aufstieg der Nation gefeiert wird. Dass derartige Fusionen zugleich einen kritischen Zustand des Bankgeschäfts signalisieren, das „kapitalkräftige Partner“ sucht, die dessen – angeschlagene – Kreditmacht verbürgen und derart retten sollen, stört die Freude einstweilen nicht! Immerhin ist damit „die Deutsche Bank überflügelt“! Man orientiert sich auf der Iberischen Halbinsel schließlich nicht mehr an irgendwelchen westlichen Zweitligisten oder östlichen „Lohndumpern“, sondern an erfolgsverwöhnten „Hochlohn-Ländern wie Deutschland“ – wo die Arbeitskräfte auch immer billiger zu haben sind und der Sozialstaat entsprechend immer „unfinanzierbarer“ wird.

[1] „Es existiert Konsens über den prekären Charakter (precariedad) solcher Arbeitsverhältnisse (die ihren Mann nicht ernähren), aber man kann keine Vergleiche ziehen, ohne die Struktur der Beschäftigung in jedem Land zu berücksichtigen. Wer mehr Bauwirtschaft hat, hat mehr prekäre Arbeitsverhältnisse, und wer mehr Landwirtschaft oder saisonalen Tourismus hat, auch.“ (der ehem. EU-Wirtschaftskommissar und neue sozialistische Wirtschaftsminister Solbes, El País, 25.4.04).

[2] Kein Wunder auch, dass dieselben Politiker, welche die Freiheit im Gebrauch der Arbeitskraft zum Recht der Geschäftswelt gemacht haben, angesichts der negativen Folgen dieser Freiheit für die Sozialkassen, die immer wieder mit ihren „Lohnersatzleistungen“ einspringen müssen, das Ideal der Begrenzung solch „prekärer Arbeitsverhältnisse“ kultivieren. Das gilt schon für die Regierung Aznar, und jetzt ruft die Regierung Zapatero zum Kampf gegen den „Missbrauch“ der Unternehmerfreiheit auf. Nur „wenn wirklich nötig“, soll „die Kultur der Zeitverträge“ gepflegt werden. Deren Anteil von gegenwärtig 31% soll – „das wäre schon ein Erfolg“ – auf 25% gesenkt werden. (Arbeitsminister Caldera, El País, 19.7.04)

[3] Die Unternehmer hatten die Rückständigkeit des faschistischen Lohnsystems – die Beschränkung ihrer Konkurrenz in Lohnfragen – praktisch ja schon bewiesen, indem nicht wenige bereits zu Francos Zeiten mit den Gewerkschaften Löhne über dem SMIG vereinbarten.

[4] Mit dieser Begründung erhöht die neue sozialistische Regierung im Mai 2004 den SMI von 460,50 Euro auf 490,30 Euro, berechnet auf 14 Monatszahlungen im Jahr. Er soll bis zum Ende der Legislaturperiode auf 600 Euro steigen. Nach Regierungsangaben erhalten etwa 600.000 Festangestellte ohne Tarifvertrag einen Lohn in Höhe des SMI; Saisonarbeiter, Teilzeitarbeiter, und sonstige nicht regelmäßig Arbeitende liegen im Jahresdurchschnitt oft darunter, Tagelöhner und „die Illegalen“ sowieso. (El Mundo, 26.12.03) Selbstverständlich ist der offizielle SMI allemal und jederzeit auch für eine ideologische Wirkung gut: Wer dauerhaft mehr als den branchenübergreifenden Mindestlohn verdient, darf sich zu den Besserverdienenden zählen. Der durchschnittliche Bruttolohn liegt laut Nationalstatistik INE bei etwa 1450 Euro (erstes Quartal 2004).

[5] So sitzen die beiden großen Gewerkschaften CCOO und UGT in allen sozialstaatlichen Gremien und gestalten und verwalten die Armut der lohnabhängigen Klasse derart konstruktiv mit, dass selbst eine konservative Aznar-Regierung lobend anerkennen muss, dass Dialog und Konzertierung entscheidend zur Schaffung eines stabilen sozialen Rahmens beigetragen haben, der von fundamentaler Bedeutung für das Wirtschaftswachstum und die Verbesserung der Beschäftigungssituation war. (Regierungspresseamt, España hoy, 2002).

[6] Natürlich haben die Unternehmer diese staatliche Lohnkostenerhöhung bei den folgenden Tarifauseinandersetzungen gegen die Gewerkschaften in Anschlag gebracht und ihr Interesse auch ein Stück weit durchgesetzt. Die Gewerkschaft CCOO hat sich dabei explizit zur Übernahme der konstruktiven Rechen- und Sichtweise der Arbeitgeber durchgerungen: In der gesamtwirtschaftlichen Klassenperspektive kann man schließlich die 30,6%, die der Arbeitgeber zusätzlich an die Sozialversicherung überweist, wirklich und eigentlich auch als „salario diferido“, als „verzögerten Lohn“ betrachten und dafür locker auf einen Teil des „direkten Lohnes“ verzichten. (CCOO, Sistema de Seguridad Social español en el año 2000)

[7] Davon betroffen sind heute rund 4 Millionen Leute. Auch bei den Leistungen der beitragspflichtigen Sozialversicherung fungiert der SMI, wie gesagt, als eingeflochtene, feste Bezugsgröße, mittels derer die Höhe der Auszahlungen bestimmt wird. Beispielsweise wird das beitragsbezogene Arbeitslosengeld zunächst aus den durchschnittlichen Beiträgen der letzten 6 Jahre individuell berechnet, die tatsächlich ausgezahlte Summe ist aber so bemessen, dass sie je nach Familienstand und Kinderzahl innerhalb einer Quote von 75% bis 220% des SMI variiert. Somit gelten in Spanien 75% des SMI als (in)offizielles Existenzminimum.

[8] Die neue Regierung des Sozialisten Zapatero kritisiert die Vorgängerregierung Aznar wegen ihrer angeblich nicht konsequent durchgeführten Strategie des selektiven Instrumentalismus (Nützliche importieren bzw. legalisieren, Unnütze verhindern bzw. zurückführen!); sie gelobt, dieselbe Ausländerpolitik entschieden besser zu machen: „Die wichtigste Orientierung der Einwanderungspolitik muss die an den Arbeitserfordernissen sein. Die Unternehmer erzählen uns, dass es Probleme gibt, Arbeiter zu finden. Manchmal gibt es Angebote und eine potentielle Nachfrage (nach Arbeit), aber weil diese Nachfrage sich nicht in einer Situation der Legalität befindet, kann sie nicht zum Tragen kommen. Was man also tun muss, wenn es einen festen Aufenthaltsort und eine Beschäftigung gibt, ist, die Beschäftigung legalisieren und eine vorübergehende Genehmigung konzedieren, damit die Situation legalisiert wird.“ (Arbeitsminister Caldera, El País, 19.7.) Wie weit der politische Zynismus im Umgang mit den wirtschaftsdienlichen und deshalb zu „integrierenden“ Flüchtlingen geht, erhellt die Tatsache, dass die errechneten Einwanderungsquoten noch unter einem höheren Aspekt positiv verbucht werden: Sie führen zu der erwünschten Zunahme der spanischen Bevölkerung, die wegen des mangelnden Zeugungswillens der Einheimischen immer nicht zustande kommt – und damit zu einer Steigerung des politischen Gewichts der Nation in der Hierarchie der europäischen Mächte, das sich laut neuer Verfassung ja auch an dem superdemokratischen Kriterium ‚Bevölkerungszahl‘ bemisst.

[9] Regierungsamtlich: Die Sozialversicherung muss das Wirtschaftswachstum im Rahmen der Globalisierung begünstigen und dieses auf die Schaffung von Arbeitsplätzen ausrichten. Dieses Wirtschaftswachstum wiederum wirkt sich auf die soziale Sicherung aus, indem es die Anzahl der Mitglieder des Systems bestimmt. Um ein solches Wachstum zu erreichen, muss die finanzielle Zukunft der Sozialversicherung gewährleistet werden, ohne die Zulänglichkeit der Renten zu gefährden., (Regierungssprecher, La Moncloa, España hoy 2002) Und dasselbe gewerkschaftlich: „Die Zukunft der Rentensysteme steht und fällt mit der Verfügung über genügend Geldmittel. Deshalb muss die Schaffung von Reichtum insgesamt die Schlüsselvariable sein, auch wenn sie dabei von einer ausgeglichenen Verteilung des Ertrags begleitet sein muss und die notwendigen Einlagen des Systems (der Sicherheit) mittels Sozialbeiträgen erfolgen.“ (CCOO, La renovación del Acuerdo de Pensiones, Oktober 2000)

[10] Vereinbarung im Rahmen des sog. Pacto de Toledo, des modernen Forums für die „Konzertierung“ der Sozialpolitik zwischen dem Staat und seinen großen Ständen, am 2.10.2003. Dieser Bericht wurde mit einer „positiven Enthaltung“ der IU (Vereinigte Linke) von allen beteiligten Parteien verabschiedet, vom Parlament abgesegnet, den Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und der Regierung als Grundlage der Erneuerung ihres Paktes übergeben, und soll in diesem Jahr in Gesetzesform verabschiedet werden.

[11] Comisiones Obreras: La renovación del Acuerdo de Pensiones, Oktober 2000

[12] Laut Regierung beträgt er aktuell 18 Mrd. Euro. Die Überschuss-Milliarden aus den einkassierten Lohnbestandteilen haben im Übrigen schwer dazu beigetragen, dem spanischen Staat einen berechnungstechnisch ausgeglichenen Haushalt zu bescheren, mit welchem Präsident Aznar sich als Musterknabe des Stabilitätspakts in Europa profilierte.

[13] Die spanische Wirtschaft ist die einzige große europäische Ökonomie mit ausgeglichenem Haushalt, ja sogar einigen Nationalökonomien voraus, die zu den G8 gehören. (Aznar, 12.7.2003 in Washington)

[14] Auf eine bemerkenswert originelle Art und Weise hat der gerade zum EU-Parlamentspräsidenten gekürte Spanische Sozialist Borrell den Grund für die spanische Wende im Verhältnis zu den maßgeblichen Bündnissen der Welt, Amerika und Europa, veranschaulicht: Auf einer Veranstaltung in Santiago de Compostela illustrierte Borrell seine Idee, dass eine ‚starke, soziale und laizistische‘ Europäische Union die beste Garantie für die Souveränität Spaniens gegenüber der nordamerikanischen Hypermacht darstellt. ‚Ohne den Euro hätte Spanien nie die Entscheidung treffen können, seine Truppen aus dem Irak zurückzuziehen‘, urteilte Borrell. Im Bewusstsein, dass seine scharfe Behauptung die etwa 500 versammelten Besucher in Verlegenheit bringen würde, die von seinem Vortrag sichtlich beeindruckt waren, schloss Borrell eine rhetorische Frage an: ‚Was soll der Euro mit dem Irak zu tun haben, werdet ihr euch fragen.‘ Und sofort entwickelte er sein Argument: ‚Wenn wir anstelle des Euro noch die Peseta gehabt hätten, hätten die von den USA kontrollierten Finanzmärkte nicht gezögert, unsere Währung sooft abzuwerten wie nötig, um uns in die Knie zu zwingen. So haben sie es im Jahr 1980 mit Mitterrand in Frankreich gemacht, als er beabsichtigte, eine linke Politik zu verfolgen.‘ (El País, 31.5.2004) Die Botschaft: Es ist einzig die Rückendeckung durch die Europäische Union, welche Spanien die Chance eröffnet (hat), eigene nationale Kalkulationen zu geltend zu machen und außenpolitische Souveränität zu gewinnen!

[15] Und bedrohliche Meldungen wie diese häufen sich seit einiger Zeit: „Für Spanien, wo der Stahlgigant Arcelor 23 Filialen hat, ist die Drohung mit einer Verlagerung ein Schlag, der dem traumatischen Rückzug von Seat-Volkswagen aus Barcelona oder der Entscheidung von Samsung, in die Slowakei zu übersiedeln, ein weiteres Trauma hinzufügt. ‚Tatsache ist, dass Spanien keine Industrien mit eigener Technologie entwickelt hat. Die ausländischen Kapitalinvestitionen stimulieren das Wachstum und die Entwicklung, aber worauf es ankommt, ist, Unternehmen zu schaffen und zu modernisieren.‘“ (El País, April 2004)

[16] Für die Verfolgung dieses großen Zieles, welches in der offiziellen Strategie der EU in Lissabon niedergelegt ist und darin besteht, die spanische Wirtschaft auf ein Modell stabilen und nachhaltigen Wachstums hin zu orientieren, welches auf der Konkurrenzfähigkeit der Unternehmen gründet, befürworten die Regierung und die Repräsentanten der Gesellschaft, dass – abgesehen von Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik – die politischen Behörden in erster Linie im Rahmen der folgenden großen Achsen und Eckpfeiler agieren müssen: a) Erziehung und Bildung, b) Infrastruktur und öffentliche Investition, c) Forschung, Entwicklung und Innovation, d)Industrie- und Umweltpolitik. („Wettbewerbsfähigkeit, stabile Beschäftigung und soziale Kohäsion, Erklärung für den Sozialen Dialog 2004“, unterzeichnet von Regierung, Gewerkschaften und Unternehmerverbänden)