Sozialpolitik als Wegwerfaktion – oder: Das Leiden von Staat und Kapital an ihren Standorten muss ein Ende haben
„Strukturelle Reformen“ in Europa

Europaweit lassen Staatshaushalte, Wirtschaftswachstum und globale Erfolge zu wünschen übrig und erzwingen „strukturelle Reformen“ im Umgang mit Lohnkosten und Sozialleistungen. Mit den allseits eingerichteten kapitalistischen Abhängigkeitsverhältnissen wird gegen deren Kosten als Wachstumshemmnis und damit für die fällige Verelendung argumentiert. Das Ideal „schonend und gerecht“ begleitet deren rigorose Durchsetzung gegen „Bremser“ durch einen Führer, der sich mit „sozial ist, was Arbeit schafft“ in guter Gesellschaft befindet.

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Sozialpolitik als Wegwerfaktion – oder: Das Leiden von Staat und Kapital an ihren Standorten muss ein Ende haben
„Strukturelle Reformen“ in Europa

Zumindest für die Abteilung Inneres steht das Programm guten Regierens europaweit fest. Alle Nationen, die mit ihrer Marktwirtschaft reich und bedeutend geworden sind und es auch bleiben wollen, brauchen Reformen. Deren Notwendigkeit steht außer Zweifel. Selbst die jeweiligen politischen Führungsmannschaften, sonst der Bewahrung des Gemeinwesens vor störenden Veränderungen verpflichtet, lassen wissen, dass es „keine Alternative gibt“ – zu den „einschneidenden“, „grundsätzlichen“, „umfangreichen“, „nachhaltigen“ etc. Reformen, die sie planen. Ein Notstand ist eingetreten – Not herrscht im Haushalt des Staates, in „der Wirtschaft“, die nicht wächst, wichtige Kapitalstandorte Europas sind eingebrochen –, und der gebietet staatliche Verfügungen, welche mit fatalen Behinderungen des nationalen Wirtschaftslebens aufräumen. Die Schäden am Allgemeinwohl, das in dreifacher Ausführung – als Staatshaushalt, als Wirtschaftswachstum, als globaler Konkurrenzerfolg – durch gescheites Regierungshandeln zu gewährleisten ist, resultieren nämlich aus den Kosten, die für den Lebensunterhalt von Leuten aufgebracht werden, die entweder arbeiten oder aufgrund ermittelter Unbrauchbarkeit diesen Dienst unterlassen.

Die Politiker lassen mit dieser Diagnose kein Rätselraten um den Gehalt ihrer Reformen aufkommen. Sie organisieren den sparsamen Umgang mit dem Geld, soweit es nicht als Geschäfts-, sondern als Lebensmittel gebraucht wird. Das ist erstens bei der abhängigen Arbeit der Fall, von der jeder weiß, dass sie Kosten verursacht, was ihrem eigentlichen Sinn – nämlich rentabel zu sein – schon seit jeher Abbruch tut. Zweitens gilt es für das weite Feld des Sozialen, wo mancher Bedarf ohne Gegenleistung finanziert wird, jedenfalls ohne ausreichende. Wenn dann Minister noch vernehmlich „Lohn-Nebenkosten“ in Prozenten ausdrücken, ist drittens die Brücke geschlagen zwischen den gebeutelten Instanzen des Gemeinwohls und den verschiedenen Abteilungen des Volkes, die zu einer einzigen Belastung entartet sind. Dann können sich die Moderatorinnen und Wirtschaftsfachleute dem Realismus der Regierenden nicht mehr verweigern, und sie wenden sich der spannenden Sachfrage zu, was „wir“ alles tun und lassen müssen, und ob die Regierung, die Opposition oder eine Koalition „es“ hinkriegt.

Demokraten argumentieren – nicht für, sondern mit Kapitalismus

Damit ist die erste und durchschlagende Lüge fertig. Denn der Realismus, der sich auch als Abschied von Ideologien lobt, hält sich nicht groß bei dem Dogma der alten Linken auf, nach dem die Sache von Wirtschaft & Nation mit dem gesicherten Wohlstand der lieben Massen unvereinbar ist. Für moderne Anwälte des Gemeinwohls entsprechen erst ihre tatkräftigen Schlussfolgerungen aus solcher Schieflage der Wirklichkeit: Wenn „die Wirtschaft“, die öffentlichen Haushalte und die nationalen Sozialwesen Not leidend sind, dann ist es unstreitig, dass vor dieser „Sachlage“, als die heutzutage die einschlägigen Interessen daherkommen, die Interessen der privaten Haushalte an halbwegs ausgeglichenen Bilanzen zu weichen haben. Dafür gibt es inzwischen Rechnungen, die fraglos als objektiv gelten und in leicht fasslichen Zahlen und Graphiken das „Unhaltbare“ am Verhältnis von Rentnern zu Beitragszahlern, von Lohnhöhe und Arbeitszeit zur Rentabilität der Arbeit oder des Lohns zu seinen „Nebenkosten“ darstellen. Und es gibt andere Kalkulationen, etwa bei Leuten, die von Lohn oder sozialstaatlichen Lohnersatzleistungen leben, die von den Verfechtern entschiedener Reformen mühelos als Ausdruck eines Interesses an „Besitzstandswahrung“ entlarvt werden, das jetzt – „endlich“ – der Einsicht in die unabweisbaren „Sachzwänge“ Platz zu machen habe, deretwegen „es“ so jedenfalls „nicht weiter gehen“ könne. Lupenreine Parteilichkeit geriert sich so als Bemühung um Vernunft, die seit jeher nichts anderes ist als ein Diktat der Realität. Und die begnügt sich in ihrer unbestechlichen Art eben nicht mit der betrüblichen Auskunft, dass sich die Wohlfahrt von Staat und Kapital nicht mit dem Bedarf der Massen verträgt. Die Mitteilung schließt gleich den Hinweis darauf ein, welche Abteilung der Volkswirtschaft über ihre Verhältnisse lebt und damit auf Kosten der anderen. So weiß die Politik sofort Bescheid und stellt lauter Kostenvorschläge auf, die die Opfer beziffern, mit denen die Nutznießer des staatlichen Sozial- und wirtschaftlichen Lohnwesens dem Allgemeinwohl auf die Sprünge helfen.

Die Parteinahme für das eine und gegen das andere Interesse kann sich so unwidersprochen als „Realismus“ aufführen, weil sie auf das Abhängigkeitsverhältnis, das Kapital und Arbeitsbevölkerung miteinander verbindet, als ebenso bekannte wie unverrückbare Geschäftsgrundlage verweist: Regierungsamtlich wird daran erinnert, dass in der Marktwirtschaft nun einmal die Verteilung von allem und jedem auf dem Wachstum der Wirtschaft beruht. Weswegen sich die Leistungen und Einkommen derer, die nicht mit Kapital und Profit wirtschaften, den Erfordernissen des Wachstums unterzuordnen haben. Da aus den Interessen dieser Leute ohne Wachstum sowieso nichts wird, sind sie so zu bemessen, dass sie als Dienst und Mitwirkung am Wachstum taugen. Einige Millionen Arbeitslose und sonstiges Elend, das sich mit Wachstum eingestellt hat, stacheln nicht zu Zweifeln an der Reformwut neuen Typs an – die Unbrauchbaren sind ja bereits als Belastung der Wirtschaft verbucht. Sie ausgerechnet als Produkt der Wirtschaft und ihres Wachstums wahrzunehmen, ist da ziemlich unrealistisch.

Die erpresserische Berufung auf diese Abhängigkeit als das Argument für ihre kostengünstigere Ausgestaltung zitiert eine Notwendigkeit des Systems und duldet keine Ablehnung aus Interessensgründen. Sie braucht bei der Festlegung der „abhängig Beschäftigten“ auf ihre Rolle als Variable des Erfolgs von Kapital und Staat keine großen Verheißungen in die Welt zu setzen. Nur so viel ist sicher, das aber immerhin: Weil man den Grund für alles Misslingen auf den Feldern des Wirtschaftens und Sozialstaat-Machens letztlich im zu hohen Preis der Arbeit dingfest gemacht hat, lassen sich die daraus folgenden „Probleme“ bestimmt nicht lösen ohne diesbezügliche und entschiedene Preissenkungen. Dann vielleicht, aber nur unter dieser Bedingung, könnte es zu neuen Arbeitsplätzen auf den europäischen Standorten kommen: wenn die Beschäftigten es sich selbst angelegen sein lassen, den Vergleich in Sachen „Produktivität“ – so nennt man Rentabilität heute gerne und fühlt sich ein wenig „wissenschaftlich“ dabei –, der laufend mit ihnen im Verhältnis zu allen anderen Lohnempfängern weltweit angestellt wird, nicht mit störenden Ansprüchen zu behindern. Dabei liegt es ganz offenkundig in der Natur dieses Vergleiches, dass die Aussicht auf für das Kapital lohnende Arbeitsplätze nur auf Widerruf gilt: so lange eben, wie er gut ausgeht für die Rentabilitätsrechnungen der agierenden Kapitalisten.

Die zweite Lüge fügt der Behauptung der Notwendigkeit all der Schönheiten einer neu dimensionierten Armut die Verheißung des Nutzens hinzu. Bei allem zur Schau gestellten interesse- und alternativlosen Realismus verzichten Demokraten nicht darauf, die geforderten Opfer als Dienst zu verkaufen. Wenn sie den Lebensunterhalt aller Schlechterverdienenden für unbezahlbar erklären, beabsichtigen und bewirken sie eine Neuordnung von Arbeit und Leben, in der Fürsorge aufrechterhalten und gesichert ist. Aus jeder Beschränkung und Belastung des Einkommens, die mit den Reformen beschlossen wird, sollen ja Arbeitsplätze entstehen, und die Finanzierbarkeit des Sozialsystems, das die Leute schließlich brauchen, wird gewährleistet. Es gibt ja weiterhin Renten und Krankenversicherung; bloß eben weniger von all dem, was sich endgültig als „zu teuer“ herausgestellt hat.

So kommt das umfangreiche Zerstörungswerk, das auf dem Feld der mit sozialrechtlichen Ansprüchen ausgestatteten gewöhnlichen Armut herbei reformiert wird, nicht nur im ehemaligen „Modell Deutschland“ als Rettungsaktion im Dienste des „sozialstaatlichen Kernbestandes“ (Schröder) daher. Wer die gesetzliche Krankenversicherung retten will, muss seine dritten Zähne privat bezahlen, wer auf Sozialrente angewiesen ist, muss von seinem Lohn selbst vorsorgen, und wer für den Kündigungsschutz ist, der ein „Einstellungshindernis“ ist, muss für seine Einschränkung sein, damit es mehr Arbeitsplätze gibt, für die er dann auch gar nicht mehr zu gelten braucht. Der Fanatismus für die Sache der Reformen, der das Sozialwesen der kapitalistischen EU-Staaten als das große Hindernis für den Erfolg der Nationen haftbar macht, es wie den entscheidenden Krisengrund behandelt, dessen erfolgreiche Bekämpfung über den künftigen Weg in der Konkurrenz der Nationen entscheidet, führt zu unbefangenem Umgang mit den verrechneten Kostengrößen und ihren Wirkungen. Dabei scheut er den Übergang ins komische, auch ins zynische Fach nicht: Da hängt dann der Erfolg deutscher Mittelstandskapitale mit fünf Beschäftigten davon ab, ob man den sechsten leichter feuern darf, und es hebt eine ernsthafte Debatte über eine Altersgrenze für teure medizinische Versorgung an, weil davon abhängt, ob die Jugend eine Zukunft hat. Zwar will niemand als sicher behaupten, dass das alles dem Wachstum auf die Beine hilft. Aber die Notwendigkeit, dass endlich ganz schnell und ganz radikal „etwas“ geschieht bei der Verbilligung von Lohn- und Sozialstaatskosten, will schon gleich niemand bestreiten.

Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst der Unfinanzierbarkeit der Arbeiterklasse

Das ist die Art, wie heute die Systemfrage aufgeworfen wird. Nicht in einer Debatte der alten sozialreformerischen Art, welche Alternativen außer der Verarmung der verehrten Massen der Kapitalismus eigentlich sonst noch zu bieten hätte, sondern in einer darüber, welche er auf jeden Fall ausschließt; nicht im Zeichen der Illusion, die Verteilungseffekte der kapitalistischen Produktionsweise ließen sich sozialreformerisch ungeschehen machen, sondern auf Grundlage des Verdikts, dass korrigierende Eingriffe in die „naturwüchsige“ Zuteilung von Armut und Reichtum als widernatürlich, schädlich und ein Bärendienst an den „Begünstigten“ selber zu ächten sind. „Nicht von dieser Welt“ sind demnach alle Reformideen, die ohne Kürzungen beim Preis der Arbeit und bei den sozialen Kosten für den Erhalt der nationalen Arbeitsmannschaften auskämen. Die zeitgemäße Systemkritik von oben kennt nämlich ein neues Gespenst, das in Europa umgeht: Das der Unfinanzierbarkeit der eingerissenen Sozialansprüche. Mit dieser Formel geben sozialsystemkritische Kapitalisten ihren Unwillen zu Protokoll, weiterhin Löhne zu bezahlen, mit denen über den täglichen Überlebensbedarf der Beschäftigten hinaus der Lebensunterhalt der inaktiven Teile der Arbeitsbevölkerung finanziert wird. Solche Löhne sind erstens ungerecht, weil Arbeitgeber für den letztgenannten Lohnteil von ihrem Arbeitnehmer gar keine Arbeit erhalten und mit irgendwelchen Rentnern, Kranken oder Arbeitslosen gar keine Arbeitsverträge geschlossen haben. Sie sind zweitens wirtschaftlich unvernünftig, weil zu hohe Arbeitskosten die Konkurrenzfähigkeit des Standorts schädigen. Deswegen werden sie, aufs Ganze gesehen, auch schon gar nicht mehr gezahlt und sind folglich drittens gar nicht möglich – was zu beweisen war. Kurz: Das bestehende Lohn- und Sozialsystem ist grundsätzlich falsch und deswegen „strukturell“ reformbedürftig. Dem betroffenen Publikum wird die „Wahl“ vorstellig gemacht zwischen einerseits fortschreitendem Niedergang des Standorts wg. zu viel Lohn und Sozialkosten, „also“ Arbeitslosigkeit und Zusammenbruch des nicht mehr finanzierbaren Sozialsystems, oder andererseits Kürzung von Lohn und Sozialversicherungsansprüchen, zwecks „Rettung des Sozialstaats im Kern“. Innerhalb dieser alternativlosen Perspektive trifft die Politik kraft ihrer demokratischen Zuständigkeit stellvertretend für ihr Volk die Entscheidung zu Gunsten von „Reformen“. Dieses benimmt sich weiterhin als Volk und nimmt seine Abhängigkeit vom Lohn- und Sozialsystem als Grund genug, auch dessen Änderung bis hin zur teilweisen Annullierung hinzunehmen und mit der Frage zu quittieren, was ihm denn dann noch zusteht. So werden für die Quantität der anstehenden Verarmung neue Maßstäbe fällig.

Das Ideal zum Reformrealismus: Verelendung ja, aber bitte schonend und gerecht

Die dritte Lüge steuern die Minderheiten bei, die sich in Parteien und Gewerkschaften zu Wort melden. Wenn sie sich nicht gleich, wegen Publikum, verstellen, reden sie sich und anderen schonende Alternativen ein. Und zwar bei und nach kompletter Anerkennung der Definition von Krisen aller Art in der Wirtschaft, im Staatshaushalt, in den Sozialkassen, in der Demographie… Sogar für den Glauben an einen positiven Effekt von Wachstum auf Arbeitsplätze und für die Lehre, dass Lohnabhängige in modernen Sozialstaaten alteuropäischer Prägung nicht zu teuer und zu träge sein dürfen, haben sie etwas übrig. Diese alternativen Rechner lassen sich auf die Kalkulationen von Staat und Kapital ein und bringen den Lebensunterhalt der privaten Haushalte als Gesichtspunkt eben dieser Kalkulationen mit der Bitte um Berücksichtigung ein, also ohne das Prinzip des grassierenden Reformunwesens anzugreifen. Die Antwort auf Gewissensfragen der Art, ob sie denn wirklich gegen Wachstum, schuldenfreie öffentliche Haushalte und ein gesundgeschrumpftes Sozialwesen wären, wo doch Alle und Alles davon abhängen, verweigern sie nicht und wollen auch die Behauptung der alternativlosen Abhängigkeit der Opfer des kapitalistischen Geschäftslebens von dessen Gelingen nicht kritisieren, geschweige denn die Abhängigkeit, die es wirklich gibt. Deswegen lassen sie sich ein aufs Mitmachen, zeigen viel kreatives Engagement, wenn sie es dürfen, lassen von Störungen ab, plädieren auf Milde und Gerechtigkeit und müssen immer wieder ihre Anträge auf Schonung der ohnehin schon Gebeutelten mit dem Verweis auf die Notwendigkeiten des Reformrealismus kontern lassen. Die herrschenden Interessen zu beurteilen, die zu einem ganzen System von Notwendigkeiten geraten sind, ist mitfühlenden Gewerkschaftern, Anhängern von Attac und Lula-Fanclubs fremd; dafür stören sie sich an zu viel sozialer Ungleichheit und verfallen auf kindische Ersatzveranstaltungen: Reiche sollen neben den Steuersenkungen für ihre arbeitgebenden Betriebe aus ihrem persönlichen Vermögen wenigstens „symbolisch“ ein wenig mehr für die Gemeinschaftskasse abdrücken; als Zeichen dafür, dass die Gerechtigkeit lebt im Gemeinwesen, und überhaupt für die Verbesserung der Stimmung. Nach überwiegender Auffassung der Reformer mag das zwar gut gemeint sein, taugt aber nicht viel: Einerseits wirken Vermögenssteuern wie die Erinnerung an einen Unterschied – wenn nicht Gegensatz! – zwischen Arm und Reich, wo man doch gerade die Förderung des Eigentums und die Kürzungen am Lebensunterhalt der Nicht-Eigentümer als den überparteilich-interesselosen Weg zum Allgemeinwohl propagiert. Und andererseits verderben solche Belastungen garantiert die Stimmung bei den Vermögenden, die uns mit guter Investitionslaune aus der Krise führen sollen.

Den Lügen Taten folgen lassen

Die Lügen über den Nutzen und die Wirkungen der Reformen sind in Umlauf und entfalten ihre meinungs- wie willensbildende Kraft. Sie halten auch den zarten Versuchen stand, sie zu widerlegen. Ihre Urheber legen gar nicht so viel Wert darauf zu beweisen, dass die einzelnen Berichtigungen am Preis der Arbeit und seinen sozialstaatlich verwalteten Bestandteilen Arbeitsplätze schaffen und neue Steuern geradewegs den Aufschwung erzeugen. Sie dementieren locker ihre diesbezüglichen Behauptungen, die sie keinesfalls als Versprechen werten lassen wollen. Umso fester bestehen sie auf der Notwendigkeit ihrer Maßnahmen. Die wären nämlich erst der Anfang und noch überhaupt nicht gründlich genug; deswegen sei es auch kein Wunder, dass von irgendwelchen segensreichen Wirkungen weit und breit nichts zu sehen ist; genau das sei vielmehr der schlagende Beweis für die Notwendigkeit, unerbittlich weiter zu machen. Auf jeden Fall müssten ihren Lügen Taten folgen, weil sonst das Leiden an den europäischen Standorten kein Ende hat – erstens das Leiden derer, die das Sorgerecht für diese Standorte von Berufs wegen wahrnehmen; es nimmt ohne durchgreifende Reformen aber zweitens auch bei all denen kein Ende, die zu den abhängigen Variablen dieses Standorts gehören und seine Konjunkturen zu spüren kriegen. Die erarbeiten sich unter Anleitung der politischen Führung die entsprechende staatstragende Definition der Krise: Krise ist, wenn und weil sich auf dem Standort lauter Hindernisse für das Wachstum von Kapital angesammelt haben. Die werden jetzt weggeräumt.

Mit der eifrigen Präsentation von Zahlen und Rechnungen, die belegen, welches Sparpotential die Einkommen und Lebensstandards der regierten Massen in sich bergen, ist diese Aufgabe freilich noch nicht erledigt. Denn kaum haben Parteien, Minister und Kommissionen die Beschränkungen, die sie auf dem Feld der sozialen Leistungen vorsehen, zu stattlichen Entlastungen des Staatshaushalts hochgerechnet, stellt sich die Frage nach der Durchsetzung. Kaum sind die Belastungen, die eine zum „Handeln“ entschlossene Elite den Einkommen der vielen nicht so gut Verdienenden zumutet, beziffert und angesagt, ergehen sich Anhänger des Reformkurses in Zweifeln: ob auf den Willen und die Fähigkeit zum Vollzug auch wirklich Verlass ist, ob sich die benötigten Erfolge auch einstellen etc. Diese Ungewissheit bildet keineswegs speziell in den Nationen die Begleitmusik zu dem epochalen Projekt, wo sich die Unzufriedenheit mit den Taten der Regierung noch in Demonstrationen äußert, statt bloß an Stammtischen und in kritischen Wortmeldungen abweichender Meinungsbildner ihr Dasein zu fristen. Die demonstrativ breit getretenen Warnungen vor einem Scheitern sind Mahnungen zur Entschlossenheit, die überhaupt keine Furcht vor Widerstand verraten, welchen die Betroffenen üben könnten. Damit, dass die zahlreichen Opfer der Initiative „finanzierbares Volk“ ihre Gegnerschaft organisieren, brauchen die Profis einer neuen Sozialarithmetik wahrlich nicht zu rechnen. Wenn sie den großen Ruck, einen Aufbruch oder dergleichen anmahnen, dann haben sie entdeckt, dass die Festsetzung eines neuen Preises für Arbeit und Soziales mit dem Taschenrechner nicht zu bewerkstelligen ist, vielmehr – auch wenn kein Klassenkampf unterwegs ist – manche Auseinandersetzung mit dem institutionellen Gefüge des überholten Sozial- und Rechtsstaats einschließt.

Kampf den „Bremsern“ – Reformen brauchen Führer!

Denn die Reformen alten Typs, durch die über Jahrzehnte die heute verworfenen Standards der Gestaltung nützlicher Armut zustande kamen, waren stets Gesetzeswerke, die nicht nur Geldsummen zu- und umgeteilt haben. Verteilt wurden auch Kompetenzen, Zuständigkeiten bei der „Findung“ des Wünsch- und Machbaren; etabliert wurde so ein System von (Gewohnheits-)Rechten, in welchem allerlei Instanzen anerkannte Mitwirkung zugestanden war. Sie sind vom Gesetzgeber dazu ermächtigt worden, „Verantwortung“ zu übernehmen und als Interessenvertreter untereinander und mit der jeweiligen Regierung auszuhandeln, wie das weite Feld des Sozialen zu verwalten sei. Die Interessen von Lohnabhängigen an ihrem Geldbeutel, die von Versicherten an ihrer Versorgung wie den anfallenden Kosten usw. haben darüber eine öffentlich anerkannte Vertretung gefunden und sind nicht selten – und gar nicht immer zu ihrem Vorteil – in das Kalkül von Behörden und Instanzen überstellt worden, die in ihren Bilanzen den passenden Maßstab für die je aktuelle Gerechtigkeit suchen und finden. Die rechts- und sozialstaatliche Ermächtigung zur gewissenhaften wie interessierten Mitbestimmung bei der möglichst rentablen Bewirtschaftung des nationalen Lohnwesens ereilte so disparate Vereine wie Gewerkschaften und Unternehmerverbände, Ärzte- und Apothekerverbände und versicherungsmathematisch geführte Kassen aller Art, Wohlfahrtsverbände, Beamtenbund, VdK und Pharmaindustrie. Und ältere Mitbürger dürften noch wissen, dass diese Operationsweise in der Zurückweisung von einheimischen wie auswärtigen Systemkritikern das schlagende Argument abgab – dafür, dass Sozial- und Rechtsstaat die tätige Widerlegung des linken Dogmas wären, das von einer Unversöhnlichkeit von Arbeit & Kapital berichtet. Ausgleich herzustellen sollte nach seinerzeitiger Lesart von Demokraten die große und erfüllte Mission der geteilten Macht und Zuständigkeit sein; die vom Staat konzedierte Mitwirkung, die Beauftragung von jeder Menge Interessengruppen galt als Gütesiegel der „sozialen Marktwirtschaft“, in der von Konflikten zwischen der „Wirtschaft“ und den anderen kaum noch etwas zu sehen war. Und vor allem kein Lohnabhängiger mehr, der durch den Rost gefallen ist.

Heute, wo einige Millionen unter die Räder gekommen sind – der Sozialstaat hat da irgendwie versagt –, finden die Fanatiker der Reformen neuen Typs nicht nur an den Einkommen von sozial Schwachen einen ungerechtfertigten Besitzstand vor, den die „Wirtschaft“ einfach nicht aushält. Die Konzessionen, die eine zum großen Wurf aufgelegte „politische Klasse“ in Gestalt von lauter Agenturen antrifft, die mit Sitz und Stimme auf ihren Befugnissen und ihrem überkommenen Einfluss bestehen, sind ein einziges Übel. Wo Schröder tönt: „Schluss mit Konsens!“, sekundieren die nationalökonomischen Fachkräfte lauthals mit dem Plädoyer, die störenden Interessenvertreter aller Art zu übergehen, ihnen ihre Lizenz zu entziehen und vor allem den Gewerkschaften das Genick zu brechen. So richtig in ihrem Element sind sie, wenn sie die Errungenschaften ihres demokratischen Gemeinwesens, die bis gestern als Überwindung kapitalistischer Rohheiten im Umgang mit den armen Leuten galten, heute als die entscheidende Bremse für ihr kapitalistisches Wachstum entlarven. Selbst in der föderalen Verfassung der Nation und im handelsüblichen Streit zwischen Regierung und Opposition haben manche schon eine der Nation zutiefst schädliche Behinderung der einzig senkrechten Politik, des durchgreifenden Gebrauchs der Staatsmacht ausgemacht. Dass er damit einer alten, in Krisen modernen Übung folgte, die auch einmal in schlechtem Ruf stand, ficht den gemischten Chor nicht an: Was denn sonst außer Führung und rigorose Führer braucht das Land!

Dass manche der amtierenden Führer das sozialdemokratische Etikettenwesen – eben „sozial“, „demokratisch“, „gerecht“ etc. – aus dem Verkehr ziehen wollen, ist da nicht erstaunlich. Warum sollte ein Verein, der als Regierung den nationalen Kapitalismus vor zu teurem Fußvolk retten muss, ausgerechnet seine Wähler mit Urteilsmaßstäben versorgen, die nur zu Kritik und Ablehnung einladen? Sollen sie doch lieber lernen, wie recht der alte Marx hatte mit seiner Bemerkung, dass gerecht immer das ist, was zur Produktionsweise passt, die gerade herrscht! Und respektieren, was ein anderer Führer deutscher Arbeiter vorwegnahm: „Sozial ist, was Arbeit schafft!“