Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Bundestagswahl 2005
Verfassungspatriotisches Intermezzo:
Die Neuwahlen und das Grundgesetz
Dass einer Regierung die Kanzlermehrheit und damit eine Vertrauensfrage verloren geht, mag vorkommen, dass das Parlament einem Kanzler das Vertrauen entzieht, ist im Grundgesetz rechtsförmig geregelt. Der Fall jedoch, dass ein Kanzler dem Parlament das Vertrauen entzieht, ist von der Verfassung nicht vorgesehen. Was also, wenn ein Kanzler, der im Parlament die Mehrheit hinter sich hat, die Vertrauensfrage nur ausruft, „um sie zu verlieren“?
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Bundestagswahl 2005
Verfassungspatriotisches
Intermezzo:
Die Neuwahlen und das
Grundgesetz
Alle wollen Neuwahlen: Der Kanzler, der sie über die
Vertrauensfrage erzwingen und die Opposition, die sie
gewinnen will; die demokratische Öffentlichkeit, die
allenthalben die Chance zum Neuanfang
feiert, und
auch die Bürger, die Umfragen zufolge mehrheitlich dafür
sind, ein Jahr früher als geplant an den Urnen
anzutreten. Bis auf ein paar Hinterbänkler, die ihre
Pfründe nicht vorzeitig verloren sehen wollen, herrscht
bei jedermann eitel Freude über das bevorstehende Ende
der Agonie
. Doch dann bahnt sich, sozusagen aus den
Tiefen des verfassungsrechtlichen Raums, ein
politisches Dilemma
an. Das ehrwürdige Prinzip,
dass alles, was deutsche Politik tut und lässt,
rechtmäßig und auf dem Boden der Verfassung stehend
geschieht, kommt dem eingeschlagenen Weg zu den Wahlurnen
in die Quere. Dass einer Regierung die Kanzlermehrheit
und damit eine Vertrauensfrage verloren geht, mag
vorkommen, dass das Parlament einem Kanzler das Vertrauen
entzieht, ist im Grundgesetz rechtsförmig geregelt. Der
Fall jedoch, dass ein Kanzler dem Parlament das Vertrauen
entzieht, ist von der Verfassung nicht vorgesehen. Was
also, wenn ein Kanzler, der im Parlament die Mehrheit
hinter sich hat, die Vertrauensfrage nur ausruft, um
sie zu verlieren
? In Ordnung geht das jedenfalls
nicht ohne weiteres im Rechtsstaat: Eine gezinkte
Vertrauensfrage, wie sie diese Woche der Bundeskanzler
plant, ist keine Vertrauensfrage im Sinn des
Grundgesetzes
. (SZ,
27.6.05) Also muss für die Freunde der Verfassung
die Vertrauensfrage so gezinkt werden, dass der Weg zu
Neuwahlen durch den verfassungsrechtlichen Notausgang
zumindest so aussieht, als stünde er in Einklang mit
deren Geist und Buchstaben
. Keinesfalls darf das
rechtliche Nadelöhr
, da sind die Rechtsgelehrten
deutscher Redaktionsstuben anspruchsvoll, wie ein
politischer Taschenspielertrick
erscheinen, und
zum Gelingen der verlangten Inszenierung, beim
Zurechtbiegen des Gesetzes auf jeden Fall dem Gesetz
Genüge zu leisten, tragen sie dann bei. So darf die
geneigte Zuhörerschaft ihren vielen lächerlich
alltäglichen Sorgen ungleich gewichtigere hinzugesellen:
Muss der Kanzler um seinen Neuwahl-Plan bangen
?
Welche Begründung saugt er sich vor dem Parlament aus den
Fingern? Kann diese dann vor bohrenden Nachfragen
bestehen? Welche Gewissensnöte kommen auf Parlamentarier
zu, die ihrem Kanzler eigentlich vertrauen
, ihm
dieses Vertrauen aber nicht aussprechen dürfen, sondern
ihm in die Stimmenthaltung folgen müssen? Fällt ihm am
Ende gar sein eigener Parteivorsitzender in den
Rücken
, der vor der Opposition mit einer Mehrheit
prahlt, die es doch laut Schröder nicht mehr gibt? Und
nachdem die Abstimmung dann wunschgemäß verläuft: Welche
Last ist jetzt dem Präsidenten aufgebürdet? Wie schwer
gemacht
hat es ihm Müntefering, unter welchen
Druck gesetzt
hat ihn Stoiber? Muss Köhler nein
sagen
und das demokratische System
beschädigen
, oder zustimmen und riskieren, selbst
beschädigt zu werden
? Tage bangen Wartens vergehen,
bevor endlich aus Schloss Bellevue weißer Rauch
aufsteigt: Wir haben Wahlen
. Jedoch: Wie wird
das letzte Wort des Verfassungsgerichts
lauten? Schon
der beiläufig geäußerte Nebensatz eines Richters, der von
einem Wahltermin am 18. September oder später
spricht, löst bei den Auguren helle Aufregung aus. Kann
das heißen, dass der ganze schöne Wahl-Fahrplan
zum Teufel ist? Usw.
Willig lässt sich eine ganze Nation in die ernsthafte Befassung mit der Frage verstricken, ob und wie ein grundgesetzwidriger Wunsch nach Neuwahlen den Segen der Verfassungsorgane erhält. Dass dabei jeder um den Theatercharakter der Veranstaltung weiß, macht gerade ihren demokratischen Reiz aus: Nichts schöner, als für besonders glaubwürdiges Rechtsverdrehen oder die besonders überzeugende Pose des besorgten Grundgesetzhüters Noten zu vergeben, abzuwarten, welche Noten der Herr Bundespräsident vergeben wird, um dann zu bemerken, dass man sich’s ungefähr genau so gedacht hat wie der und die meisten anderen auch. Fast so schön wie Wahlkampf!