Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Bundestagswahl 2005
Die Antwort der Opposition auf die Machtfrage des Kanzlers:
Führungskraft durch Ehrlichkeit wie noch nie
Die Opposition hat bei der demokratischen Transformation von politischem Verdruss in Ja-Stimmen zu einer politischen Führung, die „Stärke“ verspricht, „die Nase vorn“. Und die Union weiß, was sie „dem Wähler“ schuldet, der ihr solche Vorschusslorbeeren gewährt: vor allem andern die Person zum Ideal einer mit sich und ihren Erfolgen zufriedenen machtvollen Führung.
Aus der Zeitschrift
Teilen
Siehe auch
Bundestagswahl 2005
Die Antwort der Opposition auf die Machtfrage des Kanzlers:
Führungskraft durch Ehrlichkeit wie noch nie
1. Die Kunst demokratischer Meinungs- und Willensbildung: aus Verdruss über die Politik Politiker ermächtigen
Beim Kampf um die Macht, den der Kanzler so überraschend ansagt, ist die Opposition gleich voll mit von der Partie und guten Mutes. Nach allgemeiner und öffentlich vorherrschender Auffassung – und vor allem auch nach Einschätzung Schröders, der sich von seinem „Überraschungsangriff“ Vorteile gegen eine noch unsortierte Konkurrenz verspricht – sind Union und FDP zwar noch gar nicht fit für eine Machtübernahme: Es fehlt an „überzeugenden Konzepten“; die Unionsspitze weiß in vielen Punkten noch gar nicht, was sie will, geschweige denn – was für erfahrene Demokraten fast noch schwerer wiegt – wie sie das, was sie mit der Regierungsmacht anstellen will, „verpacken“ und „verkaufen“ soll; bei der Ankündigung sozialer Härten noch weit über die „Halbherzigkeiten“ der ‚Agenda 2010‘ hinaus, die sie dem Fußvolk des Standorts zu dessen eigenem Besten zuzumuten gedenkt, nimmt sie den Mund ziemlich voll, lässt es, „wenn es konkret wird“, dann aber doch an „Mut“ und „Konsequenz“ fehlen. Und vor allem, größte aller Schwächen: Zum Zeitpunkt der Ansage vorgezogener Neuwahlen ist die Kanzlerkandidatenfrage noch nicht geklärt; an der Position der CDU-Chefin, auf die „natürlicherweise“ alles zuläuft, sägen intrigante Landesfürsten und abgehalfterte Ehrgeizlinge; die freidemokratische Hilfstruppe laboriert noch immer am Spaßvogel-Image ihres Vorsitzenden; kurzum: Die Profis des kritischen Geistes der bürgerlichen Freiheit sehen ihre Mindestanforderungen an eine zukünftige „bürgerliche“ Regierung: das Ideal einer imposanten Führung, die widerspruchslos Gefolgschaft findet, durch die „Leichtmatrosen“ der Opposition noch bei weitem nicht erfüllt. Andererseits macht das aber nichts. Denn gegen alle Schwächen steht ein absolut schlagender Pluspunkt zu Buche: Die Union hat eine Serie von Landtagswahlen gewonnen und liegt in allen Umfragen vorn, fast schon bei der absoluten Mehrheit. Der Souverän findet die Schwarzgelben mindestens anderthalbmal so gut wie Rotgrün.
Fragt sich nur warum. Denn in den Punkten, die allgemein als die für seine wählerische Meinungsbildung entscheidenden gelten, macht er sich nichts vor: Eine noch viel größere Mehrheit als die für Union und FDP ist sich sicher, dass die „Bürgerlichen“ das normale Volk kein bisschen besser behandeln würden – weniger schröpfen, die Arbeitslosen weniger drangsalieren, Alte und Kranke menschenwürdiger behandeln – als die Macher der ‚Agenda 2010‘. Und was den nationalen Ertrag und sozialen Nutzen und massenfreundlichen Effekt der avisierten Opfer, nämlich den „Abbau der Arbeitslosigkeit“ angeht, erwartet sich „der Wähler“ von der Opposition auch nicht viel: Die verspricht schon gar nichts weiter als die Beseitigung wirtschaftsfeindlicher „Besitzstände“ des nationalen Arbeitnehmerstandes mit dem Ziel, aber ohne jede Garantie, dadurch die Bedingungen der Möglichkeit neuer Arbeitsplätze zu verbessern; das honoriert der meinungsumfragte Bürger zwar mit einer leicht besseren Note im Fach ‚wirtschaftspolitische Kompetenz‘, an durchschlagende Erfolge im Kampf gegen das „Krebsübel der Nation“ mit seinen zahllosen „schweren Einzelschicksalen“ glaubt er deswegen aber noch lange nicht.
Trotzdem, und obwohl die kritische Öffentlichkeit die Opposition für „schwach“ und einstweilen kaum regierungsfähig erklärt, bevorzugt das Wählervolk ganz eindeutig die Schwarzgelben. Und dieselbe Öffentlichkeit weiß dafür auch den Grund und findet den überhaupt nicht kritikabel, sondern völlig überzeugend: Die amtierende Regierung zeigt noch größere Schwächen; sie bleibt auf der ganzen Linie Erfolge schuldig, nicht zuletzt – die Serie rotgrüner Wahlniederlagen beweist es – bei der Betörung des wahlberechtigten Volkes; das macht die Stärke der Opposition aus; und insofern geht die dann doch ganz in Ordnung.
Wenn das stimmt – und die Berichterstatter müssen es ja wissen, schließlich besteht ihr Beruf in der Bildung der Volksmeinung, die sie interpretieren –, dann bestätigt die Gemeinde der Stimmbürger mit ihrer Präferenz für die Opposition schon wieder alle Vorurteile, die ihre demokratischen Führer im Zuge demokratischer Wahlen praktisch zur Anwendung bringen. Sie macht die Subsumtion aller ihrer politisch arrangierten Lebensverhältnisse unter das Bedürfnis der politischen Führung nach uneingeschränkter Richtlinienkompetenz auch theoretisch mit, orientiert sich mit ihrem Urteil über die politische Macht und deren Gebrauch an so Kategorien wie „Stärke“ und „Schwäche“, also an immanenten Qualitätsmerkmalen und Erfolgskriterien der Herrschaft, am Ideal durchgreifender Führung und widerspruchsloser Gefolgschaft. Und nicht nur das: „Der Wähler“, dieses wunderliche demokratische Kollektivsubjekt, ist glatt in der Lage und bereit, eine oppositionelle Partei an die Macht zu wählen, von der er wenig hält und sich nichts Gutes verspricht; einfach deswegen, weil die gerade Regierenden so viel Anlass zur Unzufriedenheit geben. Er liefert damit gewissermaßen die Gegenprobe auf den demokratischen Reifetest ab, den der Kanzler seinem Souverän mit seiner Machtfrage zumutet: Wähler können Kritik an ihrer Herrschaft tatsächlich nicht anders üben, ihre wie auch immer motivierte Ablehnung ihrer Machthaber in keiner anderen Weise ausdrücken, ihrer Unzufriedenheit kein andres „Ventil“ verschaffen als in der Weise, dass sie sich in die Konkurrenz der Parteien um die Macht im Staat verstricken lassen und für die eine oder andere Seite, für eine neue Herrschaft oder doch noch einmal für die alte, eine Ermächtigung ausstellen – sie können nicht anders, weil ihnen als Wählern von Rechts wegen gar kein anderes Mittel zu Gebote steht; und als gereifte Demokraten kennen sie auch gar keine andere Weise, über Herrschaft zu urteilen. Ein anderes Nein!
zu der Macht, die ihnen ihre Lebensbedingungen diktiert und deren Sachwalter sie nicht leiden können, kriegen sie einfach nicht fertig, weder praktisch noch theoretisch, ein anderes „Nein!“ kommt ihnen deswegen auch gar nicht erst in den Sinn als in Gestalt eines Ja!
zu eben dieser Macht – in anderen oder sogar erneut in denselben Händen. Und um diese Art der Urteilsbildung perfekt zu machen: Für die freie Entscheidung, die ihnen damit eröffnet wird, nämlich zwischen verschiedenen Bewerbern, finden aufgeklärte Bürger ein gutes Argument und geistigen Rückhalt im Prozentsatz derer, die sich schon entschieden haben: Die Masse macht’s; praktisch beim Ergebnis sowieso; und das fließt als wichtiger Gesichtspunkt in die abwägend-vergleichende Einschätzung der Führungsqualitäten der Kandidaten ein.
Deswegen also hat die Opposition bei der demokratischen Transformation von politischem Verdruss in Ja-Stimmen zu einer politischen Führung, die „Stärke“ verspricht, „die Nase vorn“. Und die Union weiß, was sie „dem Wähler“ schuldet, der ihr solche Vorschusslorbeeren gewährt: vor allem andern die Person zum Ideal einer mit sich und ihren Erfolgen zufriedenen machtvollen Führung.
2. Die Konstruktion einer rundum überzeugenden Führungspersönlichkeit
Eine unangefochtene Führungspersönlichkeit muss her, schnell und ohne den geringsten Anschein von parteiinternem Gezerre, das wissen die politischen Karrieristen aus der Führungsetage der C-Parteien und beschließen, ihre seit Jahren von einer interessierten Öffentlichkeit immer wieder genussvoll kommentierten Intrigen gegen die Parteichefin einstweilen in aller Öffentlichkeit einzustellen. Damit beginnt sie: Die schönste Woche im politischen Leben der Angela Merkel.
(FAZ, 30.5.05)
„Jetzt sagt keiner mehr: Sie kann es nicht. Das Ergebnis der Landtagswahl ist noch nicht offiziell, da hat das CDU-Orchester bereits die Musik drauf: ‚Das Signal von heute heißt: Angela Merkel ist die Kanzlerkandidatin der Union. Das ist doch klar.‘ Klar? Ausgerechnet Hessens Ministerpräsident Roland Koch, mit Merkel in heftigster Rivalität verbissen, posaunte es am vergangenen Sonntag als Erster laut heraus. Und auch Kochs Kollege und Kontrahent für künftige Spitzenjobs auf Bundesebene, Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff, erkennt ganz schnell an, dass allein Merkel die Union im Wahlkampf 2005 dirigieren wird. War da was? Klar. So und nicht anders funktioniert er, der Dynamo der Macht. Er generiert Anpassung, vulgo: Opportunismus. Beide CDU-Spitzenpolitiker galten neben dem längst als Spitzenkandidat ausgemusterten Edmund Stoiber als Erfolg versprechendste Konkurrenten Merkels. Doch die Dirigentin wurde am Sonntagabend regelrecht nobilitiert und zur absoluten Maestra gekürt. Nichts symbolisiert den triumphalen Durchmarsch der Angela Merkel in ihrer Partei so sehr wie dieser Ausweis neuer Unterwürfigkeit. Es war keine Frage der Ehre. Es war eine Frage der Macht.“ (Handelsblatt, 30.5.05)
Das ist sie also, die Hauptqualifikation einer demokratischen Führungspersönlichkeit, über die kritische Journalisten sich und ihrer Leserschaft überhaupt nichts vormachen: Wer sich in einem Haufen gleich gesinnter machtgeiler Intriganten auf dem Weg nach oben zur Parteiführung und schließlich zum Kandidaten für das machtvollste Amt im Staate durchsetzt, der hat bewiesen, dass er ES kann. Wer die unangefochtene Führung in einem Verein wie der CDU/CSU erringt, der ist zweifellos auch dazu fähig, Macht über ein ganzes Volk auszuüben. Diesem fundierten Urteil kann sich auch die unabhängige freie Öffentlichkeit – selbstverständlich ohne jeden Anflug von Opportunismus – nur anschließen und sich mit all ihrem Sachverstand noch rückblickend darüber wundern, wieso die Zweifler an ihrer Durchsetzungsfähigkeit und ihrem Machtinstinkt ihr so lange den Weg in der Union verbauen wollten, auch als sie längst schon als Vorsitzende ganz oben saß?
(ebd.)
Nachdem jetzt also die „Zweifler“ von der parteiinternen Konkurrenz – einschließlich der ewigen Stänkerer aus den Reihen der bayerischen „Schwesterpartei“ – sich für einen „kämpferischen Wahlkampf“ hinter ihrer „einmütig und einstimmig“ gewählten Kanzlerkandidatin formieren, ist der entscheidende Schritt zur Entwicklung von Frau Merkel zur wahrhaft großen Staatsfrau getan. Kaum inthronisiert, stellt sie dann auch sofort ihr Format unter Beweis, indem sie vor die Presse tritt und erklärt: Ich will Deutschland dienen.
Jeder weiß, die Frau tritt an, um Deutschland zu beherrschen – oder wie sie es so schön formuliert hat: um „durchzuregieren“. Und niemand lacht, wenn sie diese Absicht in aller Demut dem Land als Dienstleistung anbietet und sich selbst – mitsamt ihrem von allen einschlägigen Presseexperten attestierten „Machtinstinkt“ – als bescheidene Magd.
Das ist schon mal ein schöner Anfang, aber noch lange nicht alles, was in Sachen Selbstdarstellung der Kanzleranwärterin geleistet werden muss. Die entsprechenden Stichworte liefern PR-Spezialisten der Partei und persönliche Merkel-Image-Berater. Die demokratische Öffentlichkeit greift sie auf und bastelt mit am Bild der Kanzlerkandidatin, das der Wähler zweifellos braucht, damit er sich ein Bild machen kann von „der ersten Frau im Lande“, die „es so weit nach Oben gebracht hat“, dass er sich von ihr ab Herbst sagen lassen soll, wo es lang geht in Deutschland.
Was der Wähler dann über die besonderen Fähigkeiten und Eigenschaften der Angela Merkel erfährt, die diese Frau ganz speziell dazu prädestinieren, Deutschland zu regieren, ist – einerseits – nichts Neues. Allzu viel Phantasie müssen ihre Werbestrategen nicht mobilisieren, um „das unterschätzte Mädchen“ (FR, 2.6.) in völlig neuem Lichte erstrahlen zu lassen. Es genügt, einfach alles Altbekannte, was über die Frau so kolportiert wurde, radikal mit positiven Vorzeichen zu versehen, und schon ist Angela Merkel zwar immer noch ganz eindeutig Angela Merkel – alles andere, so hört man aus Expertenkreisen der Image-Branche, würde den Wähler auch verunsichern – , aber trotzdem wie verwandelt. Alle Attribute, die über Merkel schon seit Jahr und Tag in Umlauf sind und die man ihr bisher – vor allem auf Seiten der „Männerriege“ altgedienter Karrieristen in den C-Parteien – mit skeptischem bis nörglerischem Unterton zugesprochen hatte, sprechen im Lichte des Erfolgs für sie.
- Ihre DDR-Vergangenheit war früher ein ziemliches Manko. Da hieß es: „Ihr fehlen 20 Jahre Sozialisation durch die Junge Union, dadurch mangelt es ihr an Hausmacht“, ohne die sich bekanntlich noch keine Führungspersönlichkeit in einer ordentlichen demokratischen Partei nach oben geboxt hat. Heute dagegen, nachdem sie es trotzdem geschafft hat, weiß man: Die „Newcomerin“ ist „unverbraucht“, nicht belastet durch die überkommene Intrigenwirtschaft in der West-CDU. Und vor allem auch nicht behindert beim
Aufstieg als Alleingängerin
durch untaugliche Strategien wie denso genannten Andenpakt, die erfolgreichste bekannte Seilschaft junger CDU-Nachwuchsfunktionäre
, die – nach den Recherchen von Johannes Leithäuser von der Süddeutschen Zeitung – alsSeilschaftsmethode von Gleichberechtigten zwar zum parallelen Aufstieg taugt, nicht aber zum Einstieg auf den höchsten Gipfelweg zur Kanzlerkandidatur
(SZ, 30.5.), weil die dann doch keiner dem andern gönnt. - Wo früher die gegnerischen Hausmächte in der eigenen Partei schon mal durchblicken ließen, bei „der Ostdeutschen“ handle es sich um ein „berechnendes“, „kaltschnäuziges“, „CDU-Männer-mordendes“ Wesen ohne wahre Führungsqualität, da gibt heute der Erfolg ihr Recht: Wer sich im inneren Intrigenwesen der Christenpartei, im Machtgerangel der diversen „Kohl-Kronprinzen“ durchsetzt, der hat damit den glasklaren Beweis geliefert, dass er über genau diese demokratische Grundqualifikation reichlich verfügt.
- Naturwissenschaftlerin ist sie, Physikerin; das bedeutet heute: Angela Merkel ist „effektiv, klar, präzise wie ein Uhrwerk, nervenstark“. Neulich stand dasselbe noch für „gefühlskalt, ohne jedes Charisma“, ohne die glaubwürdige Anbiederei ans Volk, ohne den Schuss Populismus, ohne den der wahre Volkskanzler nicht auskommt.
- Kinderlos, protestantisch, geschieden ist sie, also ganz eindeutig eine „selbständige, emanzipierte Frau, die ins 21. Jahrhundert passt“, womit sie voll „die moderne CDU“ repräsentiert. Das meinen jetzt auch die Machos aus der Führungsriege, die es bis vor kurzem noch für einen Trumpf im innerparteilichen Machtzirkus gehalten haben, wenn sie der falsch sozialisierten Ostdeutschen mit Verweis auf die „klassischen CDU-Wähler/innen“ einen „gewissen Widerspruch zum wertkonservativen Frauenbild“ der christlich-abendländischen Staatsparteien ankreiden konnten.
- Und überhaupt, last but not least, ist Angela Merkel längst nicht mehr „Kohls Mädchen“, sondern wirklich und wahrhaftig – eine Frau! Das können sich die Grünen mit ihrer unsäglichen Frauenquote hinter die Ohren schreiben – Alice Schwarzer hat auch schon gratuliert. So schön war Feminismus mindestens seit den Zeiten der alten Maggie Thatcher nicht mehr!
Mit dem Entschluss der Partei, sich – bis auf weiteres – hinter ihrer Kanzlerkandidatin zu formieren, steht also fest, dass hier eine interessante, zielstrebige Persönlichkeit konsequenterweise und verdientermaßen an die Spitze der großen gesamtdeutschen C-Parteien gelangt ist. Alles und jedes bekommt in dieser „gesamtdeutschen Biographie“ seine tiefere Bedeutung, wird ein notwendiger Schritt auf der Stufenleiter hin zum erreichten Erfolg und ergibt so ganz selbstverständlich das Material für die Stilisierung eines ganz vortrefflichen weiblichen Führungsnaturells.
Dabei ist die kritische Öffentlichkeit keineswegs einfach so platt parteilich. Es ist durchaus bekannt, dass, nüchtern betrachtet, die wesentlichen Meilensteine der wunderbaren Merkel’schen Lebensgeschichte darin bestanden, zum richtigen Zeitpunkt als exemplarische Ostfrau zur Verfügung zu stehen, um am Arsch ihres „Gönners“ Kohl ihre Politkarriere starten zu können; dass sie dann wieder zur rechten Zeit zur Verfügung stand, um als „unverbrauchte Kraft“ die „CDU-Spendenaffäre“ mit dem „Absägen alter CDU-Seilschaften“ aus der Welt zu schaffen; und dass sie, Gipfel ihres politischen Instinkts, schließlich das Glück hatte, den Stoiber die Wahl 2002 verlieren zu lassen, weshalb der jetzt als „verbrannt“ gilt – all das wird durchaus erwähnt und in differenzierte Hintergrundberichte eingebaut. Unter Überschriften, die meist so ähnlich heißen wie „Metamorphose einer Naturwissenschaftlerin“ (FAZ, 30.5.), wird dann in aller gebotenen Distanz berichtet, wie sich das Bild der Angela Merkel „in der öffentlichen Wahrnehmung“ doch drastisch gewandelt hat. Die Feingeister des Feuilletons von der Frankfurter Rundschau reden gleich überhaupt nicht von irgendwelchen wirklichen oder angeblichen politischen Leistungen „der Physikerin“, sondern gleich nur noch von Angela Merkel als Mädchenroman und ihr plötzlicher Reifeschub in der öffentlichen Wahrnehmung
, also bei ihnen selber:
„Bis vor kurzem, ja man könnte sagen, bis zum vergangenen Sonntagabend, war Angela Merkel immer ‚das Mädchen‘. Kein anderer Begriff wurde so oft auf sie angewandt. Durch kein Etikett wurde ihr Name so oft ersetzt… Der öffentliche Roman Angela Merkels hat den Topos seiner Erzählung gewechselt. Aus dem Topos des Mädchens wurde der Topos der nüchternen berufstätigen Frau. Auch diesmal wurde Angela Merkel wieder ein wenig unterschätzt. Noch bevor Anfang dieser Woche aus dem Mädchen die Physikerin wurde, hat sie sich in der vergangenen Woche femininer, erwachsener, unverklemmter gezeigt denn je. Von ihrem befreiten Lächeln ist jetzt landauf, landab die Rede. So lächeln nur Frauen. Mädchen grinsen und grimassieren immer etwas schief und angestrengt. Das kannte man seit fünfzehn Jahren von Frau Merkel.“ (FR, 2.6.)
Und jetzt kennt man eben die „neue feminine Angela“ – kein Wunder, denn auch die Profis aus den Bildredaktionen haben die Zeichen die Zeit erkannt. Wenn die C-Parteien beschlossen haben, dass Angela Merkel ihre neue Lichtfigur sein soll, dann wissen Bildreporter nicht nur sofort, worauf man jetzt in Sachen Foto-Material unbedingt zu achten hat; sie haben noch nicht einmal Hemmungen, das auch öffentlich zu Protokoll zu geben: Die Zeiten der „Angela Merkel mit den hängenden Mundwinkeln“ ist erst mal vorbei, ab jetzt werden „Lächel-Bilder von Frau Merkel“ geschossen und veröffentlicht. Damit es die Jungs von den Presseagenturen bei ihrem Geschäft der politischen Willensbildung nicht zu schwer haben, lässt das Wahlkampfteam aus dem Konrad-Adenauer-Haus vermelden, dass man der Kandidatin zu einer „neuen freundlicheren Frisur“ verholfen habe, und klärt auch gleich darüber auf, dass sich diese neue Haartracht „langsam entwickeln musste“, damit das neue Outfit der Frau Kandidatin vom Wähler „nicht als gar zu offensichtliche Kritik am alten Erscheinungsbild verstanden werden kann.“ Der Wähler darf also in all seinem politischen Sachverstand zur Kenntnis nehmen, wie viele komplizierte Gedanken sich die Wahlkampfstrategen um seinen Geisteszustand machen. Er wird nicht darüber im Unklaren gelassen, dass es sich bei der sympathischen Frau, die ihn demnächst regieren will und dafür mit all ihrer sympathischen Ausstrahlung um sein Vertrauen wirbt, um ein ziemlich durchgestyltes Produkt handelt, das einzig zu dem Zweck so durchgestylt wird, damit er die Frau – im Vergleich zu früher, wo sie noch nicht so durchgestylt war – nicht gar so aufgestylt findet, weil er sie sonst vielleicht nicht mehr wieder erkennt oder sie womöglich irgendwie weniger glaubwürdig finden könnte. Außerdem hat sich Angelas ultracooles Wahlkampf-teAM (AM!) orange-farbene T-Shirts zugelegt und setzt überhaupt auf die Farbe Orange, weil die für „Energie“ und „Aktivität“ und solche Sachen steht – sie ist ja auch in der Ukraine neulich schon ausgesprochen gut angekommen –, was die stolzen Erfinder dieser Masche auch gleich öffentlich herumerzählen. Denn offenbar gehen demokratische Wahlkämpfe heutzutage so, dass die Werbemanager sich erst das dümmste Zeug ausdenken, um den Wähler zu manipulieren, und denselben Wähler dann in ihre Überlegungen einweihen, um dessen Beifall für die Kunstfertigkeit ihrer Manipulationstechniken zu gewinnen und ihm das als Beifall für ihr Produkt auszulegen, dem allein schon deswegen das Wahlkreuz gebührt.
Diese Sorte herrschaftsfreier Unterredung zwischen Kandidat und Stimmbürger ist für eine demokratische Öffentlichkeit, die sich verantwortungsvoll um seine politische Willensbildung bemüht, ein gefundenes Fressen. Der von den Unionsparteien angesagte Personenkult um die Kanzlerkandidatin wird dem Volk in aller Ausführlichkeit nahe gebracht. Und selbstverständlich kritisch hinterfragt; das sind sich die freien Medienarbeiter schon ganz prinzipiell um ihrer eigenen Glaubwürdigkeit willen, als „vierte Gewalt“ und nationale Überprüfungsinstanz, schuldig; außerdem treibt die einen die Sorge um ein optimales Erscheinungsbild ihrer Vorzugskandidatin, da möchten sie als überparteilich freischaffende Experten schon ein bisschen konstruktiv mitwirken; dahingegen suchen die Sympathisanten der alten Koalition nach dem Haar in der Suppe: nach Missgriffen bei der Präsentation des Markenprodukts AM, die ganz von selbst deren Politik in Misskredit geraten lassen. In dem einen oder anderen Sinn werden daher Zweifel laut, ob das tatsächliche Erscheinungsbild der Kanzlerkandidatin dem Bild entspricht, das sie von sich in Umlauf gebracht haben will und eine kritische Öffentlichkeit von ihr erwartet. Lässt sie nicht doch vielleicht in Sachen „Charisma“ einiges zu wünschen übrig, fehlt es nicht irgendwie an „Esprit“ oder an „Landesmütterlichkeit“? Mit der Sprachgewalt hat sie es auch nicht so, „haspelt, atemlos in gestanzten Formulierungen“… Kann man sich als deutscher Untertan von so einer Frau gut vertreten fühlen, wenn sie – in einem ihrer „typischen Hosenanzüge“ und mit ihrer „erschreckenden Humorlosigkeit“ – auf die Großen der Welt trifft? Würde Chirac mit ihr Herrenwitze austauschen, Bush „die Hacken zusammenschlagen“? Kurz: Wäre der Wähler mit seinem berechtigten Anspruch, von einer wirklich weltweit beeindruckenden Führerpersönlichkeit regiert zu werden, nicht doch irgendwie mit dem altbekannten Charmebolzen Schröder besser dran, der wenigstens Fußball spielen und glaubwürdig Rotwein genießen kann?
Und überhaupt: Wie steht es eigentlich mit ihren „Konzepten“?
3. Merkels Wahlprogramm: Ehrlichkeit!
Die sind einerseits noch gar nicht fertig; und das ist schlecht. Denn wenn er schon zustimmt, demnächst weiterhin aus Berlin regiert zu werden, und sich entscheiden soll, von wem lieber, dann möchte der Wähler doch wenigstens mal mitgeteilt kriegen, worauf er sich einzustellen hat, damit er sich darauf auch einstellen kann, rechtzeitig. Andererseits hat die Kandidatin ihr entscheidendes Haupt- und Generalkonzept bereits vorgelegt. Es lautet: Ehrlichkeit. Was auch immer im Einzelnen ins christlich-demokratisch-soziale Wahl- und Regierungsprogramm hineingeschrieben wird, auf alle Fälle handelt es sich um das ehrlichste, das Deutschland je gesehen hat: Ehrlicher, als wir sind, kann man nicht mehr sein.
(CDU/CSU-Fraktionsvize Pofalla im Deutschlandradio Kultur)
Das ist für sich schon ein interessantes Versprechen: Da operiert ein demokratischer Wahlkampfverein ganz selbstverständlich mit der – in dieser besten aller Regierungsformen offensichtlich jedermann geläufigen und selbstverständlichen – Unterstellung, dass in demokratischen Wahlkämpfen kein Verantwortlicher je die Wahrheit über seine Absichten von sich gibt, so dass das Land nichts dringender braucht als die eine rühmliche Ausnahme von dieser – offensichtlich auch von der eigenen Partei in der Vergangenheit immerzu gepflegten – demokratischen Sitte. Die Tugend der Lügner soll für die grundehrliche Angela Merkel sprechen, die die sonst übliche Heuchelei demokratischer Politiker endlich nicht mehr praktizieren will. Gemeint ist damit aber nicht nur, dass die Merkel-Union im Unterschied zu allen Vorgängern und Konkurrenten offen ansagt, was sie zu tun gedenkt. „Ehrlichkeit“ steht vor allem dafür, dass die Kandidatin den Leuten, die sie regieren will, über die Lage der Nation nichts vormacht, die Krisen- und Notlage nämlich, aus der sich alle Programmpunkte ihrer Politik, die ganze lange „Liste der Grausamkeiten“, die da abgearbeitet werden soll, wie von selbst zwingend ergeben. Dass eine Merkel-Regierung nichts beschönigt, sondern das Unabänderliche, lauter quasi naturnotwendige Härten gegen die Masse der Gesellschaft, ohne Abstriche, „Eins zu Eins“, durchzusetzen gedenkt: Dafür steht das fromme Versprechen und enthält insofern tatsächlich schon, pauschal, aber hinreichend deutlich, das ganze Programm. Das Lohn- und Rentenniveau – „nicht mehr zu halten“, Gesundheit – muss für alle Bürger gleich viel, also für die meisten wirklich viel kosten, Schutzrechte für Arbeitnehmer – rückwärts gewandt, unter Sozialismus-Verdacht und überhaupt nicht mehr von dieser Welt, Steuern und Abgaben – für den wachsenden Reichtum der Reichen der Nation nicht zumutbar, für das Volk der Konsumenten dafür umso mehr: In der Ansage, vor allem andern ehrlich regieren zu wollen, sind lauter Staatseingriffe in die ganz normalen Lebensbedingungen, die den ‚Faktor Arbeit‘ verbilligen und das Kapital von den Lebenshaltungskosten der lohnabhängigen Masse der Gesellschaft entlasten, als selbstverständliche Sachzwänge unterstellt: als Zwänge, die nur noch die Frage offen lassen, ob ein zukünftiger Regierungschef als Vollstrecker des ohnehin Notwendigen geradlinig und entschieden oder verlogen und zaudernd ans Werk geht. Die Stimmbürger werden zu einer Überprüfung aufgefordert, die an den unterstellten Notwendigkeiten künftiger Politik gar nichts überprüft, jede derartige Überprüfung im Gegenteil als abgeschlossen voraussetzt und allein der Frage gilt, wie kompromisslos die Aspiranten aufs machtvollste Staatsamt ans Werk zu gehen versprechen.
Mit dem ‚Programmpunkt‘ Ehrlichkeit nimmt die Merkel-Union also die denkbar verlogenste Stellung zu ihrem Programm und zum Wähler ein, der ihr diese Tugend honorieren soll: Ihre Wahlwerbung lebt programmatisch von der Lüge, das politische Vorhaben, den Kapitalstandort Deutschland auf Kosten des abhängigen Fußvolks umzumodeln, damit er den Konkurrenzkampf noch mit den letzten Billiglohnländern der kapitalistischen Welt gewinnt, und nicht locker zu lassen, bis die kapitalistische Rechnung mit Lohn und Leistung flächendeckend wieder aufgeht – dieses Vorhaben wäre so etwas wie ein alternativlos zwingender Sachverhalt, im Grunde nichts anderes als die Realität, so unanfechtbar wie die Zahl der Alten, deren Unterhalt für die christdemokratische ebenso wie für die rotgrüne Standortverwaltung schlicht zu teuer ist und deswegen gesundgeschrumpft werden soll, oder wie die Menge der Kranken, für deren Heilbehandlung dasselbe Sparsamkeitsgebot gilt. Die Lüge geht freilich als Ehrlichkeit durch, weil sie von der nationalen Öffentlichkeit geteilt wird – oder genauer und noch schlimmer: Das Meinungsbild der Republik wird von Fanatikern dieses Schwindels, die Konkurrenzinteressen des Kapitals und des Kapitalstandorts als alternativlose Gegebenheiten in Anschlag zu bringen, dermaßen beherrscht, dass es als kritische Messlatte an Merkels Ehrlichkeits-Versprechen angelegt wird: Löst sie absehbarerweise wirklich alle Gemeinheiten gegen das gemeine Fußvolk und sämtliche Vergünstigungen für den kapitalistischen Reichtum und dessen Wachstum ein, die die ideell Sorgeberechtigten des Standorts, die Experten und Apostel einer flächendeckenden Kapitalakkumulation, sich im Laufe der Jahre ausgedacht und mit dem Stilmittel der permanenten Wiederholung in den Rang von Selbstverständlichkeiten erhoben haben? So richtig zufrieden kann man da auch mit der ehrlichen Angela noch nicht sein. Immerhin macht sie sich der vergleichsweise geringsten „Realitätsverweigerung“ schuldig – meint jedenfalls der interessengeleitete Sachverstand der Nation. Die Börse antizipiert bereits den Aufschwung, den der alte Kanzler mit seiner ‚Agenda 2010‘ schuldig geblieben ist. Deren Urteil braucht der aufgeklärte Stimmbürger nur noch nachzuvollziehen – dann hat er die Führung, auf die die Sachzwänge des Standorts so scharf sind.