Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Bundestagswahl 2005
Stoiber, Schönbohm und andere über die Ossis, die falsch wählen, also offenbar nicht richtig ticken:

Kein Wahlrecht den Frustrierten!

Angesichts der stabil guten Umfragewerte der Linkspartei in den östlichen Bundesländern wech-selt der CSU-Vorsitzende den Ton; er hört auf, den geschätzten Souverän höflich zu umwerben, und spricht Tacheles mit dem Stimmvieh. Den Wählern im Osten scheint nicht klar zu sein, was ein bayrischer Ministerpräsident in puncto Wahlverhalten für „nachvollziehbar“ und „akzeptabel“ hält. Sie werden zurechtgewiesen.

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Bundestagswahl 2005
Stoiber, Schönbohm und andere über die Ossis, die falsch wählen, also offenbar nicht richtig ticken:

Kein Wahlrecht den Frustrierten!

Angesichts der stabil guten Umfragewerte der Linkspartei in den östlichen Bundesländern wechselt der CSU-Vorsitzende den Ton; er hört auf, den geschätzten Souverän höflich zu umwerben, und spricht Tacheles mit dem Stimmvieh. Den Wählern in Osten scheint nicht klar zu sein, was ein bayrischer Ministerpräsident in puncto Wahlverhalten für nachvollziehbar und akzeptabel hält. Sie werden zurechtgewiesen:

„Dass in den neuen Ländern die größten politischen Versager, Gysi und Lafontaine, rund 35% Wählerstimmen erzielen könnten, das ist für mich nicht nachvollziehbar. Ich akzeptiere nicht, dass erneut der Osten bestimmt, wer in Deutschland Kanzler wird. Es darf nicht sein, dass die Frustrierten über das Schicksal Deutschlands bestimmen.“ (T-Online Nachrichten, 13.8.05)

Leuten, die Gysi und Lafontaine zu wählen gedenken, ruft Stoiber mit Bert Brecht, der es anders gemeint hat, zu: Nur die dümmsten Kälber wählen ihre Metzger selber. Leider gibt es eben nicht überall so kluge Bevölkerungsteile wie in Bayern, dann nämlich hätten wir in Deutschland keinerlei Probleme.

Der schwäbische Ministerpräsident Oettinger setzt noch eins drauf und pirscht sich an die Frage der Lizenz zum Wählen heran: Eigentlich sollten nur die Rechten und Mutigen, nicht die Linken und Mutlosen entscheiden (dürfen), wie Deutschland regiert wird. (ebd.)

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Die politisch interessierte Öffentlichkeit ist keinen Augenblick lang entsetzt. Sie versteht sofort und gerät ins Grübeln: Nicht freilich über Stoibers Belehrung zum Heiligtum der freien Wahl, sondern darüber, ob es klug ist, sie mitten im Wahlkampf so vernehmlich zu erteilen. Ist es nicht ungeschickt – gerade wenn man selber so denkt wie Stoiber und damit nach Auffassung vieler Christdemokraten völlig richtig liegt (SZ, 13.8.) –, der Hartz-IV-Kundschaft offen die Kompetenz zur Stimmabgabe abzusprechen? Werden die beleidigten Ostwähler jetzt noch weniger CDU wählen, als die Demoskopen ankündigen? Oder liegt ein ganz besonders raffiniertes Wahlkampf-Kalkül vor? Hat Stoiber den Osten schon abgeschrieben und setzt auf Zugewinne im Westen, wenn er Ressentiments gegen die Ossis schürt? Aber darf man das im Land der Einheit? In Blitzumfragen bekommt er erst mal schlechte Noten: Über 70 Prozent der Befragten sind der Auffassung, dass Stoiber die ostdeutschen Wähler beleidigt. 83 Prozent glauben, dass er dem Wahlkampf der Union schadet. (ebd.)

Weil ihm die Blitzmehrheiten vorerst kein geschicktes Kalkül attestieren, fragt man sich: Was treibt den Mann? Er schmälert die Wahlchancen des eigenen Vereins, legt also selbst ein psychologisch seltsames Gebaren (SZ) an den Tag. Ist er am Ende auch ein Frustrierter, weil er diesmal nicht Kandidat sein darf, und beschimpft die Ossis, weil sie ihm das letzte Mal den Wahlsieg verpatzt haben? Ist er also selber ein Fall und eine Belastung für Merkel, die ihn in der Kandidatenfrage ausgebootet hat? Oder schadet er ihr gar absichtlich, weil er ihr die Kandidatur nicht gönnt? Zutrauen würden demokratische Meinungsmacher und Bürgern ihren politischen Führern das alles. Aber was davon war es?

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Die Antwort wäre leicht, wenn man sich an das hielte, was der CSU-Chef gesagt hat, und es nicht gleich inhaltlich abnickte, um in der Pose eines Wahlkampfberaters über Nutzen und Nachteil der Einlassung für den Stimmenfang zu spekulieren: Stoiber hält es ganz einfach nicht aus, dass nach den Gesetzen der Republik an der Entscheidung über die zukünftigen Mehrheiten im Bundestag auch Landesteile mitwirken, in denen er keine so komfortable und sichere Mehrheit hat wie in Bayern mit seinen klugen CSU-Wählern. Er hält es für eine Zumutung, ja für eine Amtsanmaßung von unten, dass unzufriedene Bürger seinem Klüngel womöglich schon wieder den verdienten Sieg stehlen und Deutschland um die kompetente Führung bringen, die nur er und die Seinen bieten. Die von der Politik Frustrierten können nicht gescheit über die Politik urteilen! Nur die Zufriedenen, die ohnehin dafür sind, sind kompetent, über die Regierung mit zu bestimmen. Stoiber hat da eine sehr direkte Art gewählt, um zu sagen, dass Wählen Ja-Sagen – und nur als unmittelbares Ja-Sagen akzeptabel ist.

In seinen Ausfälligkeiten bekennt sich der bayrische Erzdemokrat zu seinem Leiden an der Demokratie. Er empfindet es – von der Warte eines regierenden Chefs aus sogar mit einigem Recht – als einen unerträglichen Widerspruch, dass der Staatsführer sich dem Votum der Massen aussetzen muss, die ja Führung brauchen und das als Wähler auch wissen und billigen. Dann sollen sie den berufenen Führern aber auch keine Schwierigkeiten machen. Nur Wahlen wie die bayrische, deren Ausgang seit Generationen feststeht und zuverlässig die Macht des Landesvaters bestätigt, können Stoiber mit der Zumutung versöhnen, dass die Regierten über die Regierenden bestimmen dürfen.

Es verrät einiges über sein Anspruchsniveau, dass er der Demokratie überhaupt nicht zugute hält, wie komfortabel sie die Abhängigkeit der Herrschenden von der Bereitschaft der Untertanen, sich regieren zu lassen, organisiert. Diese Abhängigkeit, die es in jeder Herrschaftsform und jeder Diktatur gibt, erkennt die Demokratie hochoffiziell an, konzentriert sie auf einen Tag in vier Jahren und reduziert sie auf eine einzige Entscheidung, die der Bürger legitimer Weise über die Führung fällen darf: Wer soll „es“ machen, wer soll an der Spitze des Staates stehen und über das Leben der Bürger entscheiden? Wo „autoritäre“ Regenten alle Hebel in Bewegung setzen und vor Zensur nicht zurückschrecken, um ihr Volk davon zu überzeugen, dass es gut regiert wird, brauchen demokratische Führer bloß alle paar Jahre die Bescheinigung, dass eine Mehrheit sich von ihnen vergleichsweise besser oder sogar bloß weniger schlecht regiert findet als von der Konkurrenz – wirklich kein schlechtes Angebot an die konkurrierenden Politgrößen etablierter Parteien. Und nach der Wahl heißt es: ‚Schnauze halten! Ihr habt die Führung gewählt, die jetzt mit Legitimität regiert. Wenn euch etwas nicht passt, dann wählt in vier Jahren halt wieder andere Entscheidungsträger an die Macht.‘ Ein Mann wie Stoiber jedoch bemerkt nichts von der Bequemlichkeit demokratischen Regierens: Er reibt sich daran, dass diese Bequemlichkeit mit dem Risiko verbunden ist, selbst dann hinter einem konkurrierenden Kollegen zurücktreten zu müssen, wenn man alle Partei-internen Intrigen und Machtkämpfe gewonnen hat; er sieht seine staatsmännische Freiheit in Frage gestellt und dadurch beschädigt, dass sogar ein enttäuschter und widerborstiger Pöbel zu einem Votum ermächtigt ist und er womöglich schon wieder nicht der Nutznießer ist.

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Mehr Sinn für die Herrschaftsleistung der Demokratie, nämlich Sorge um das Gelingen dieser Leistung zeigen die kritischen Journalisten, die an Deutschland und nicht nur an die Posten für CDU und CSU denken. Sie geben sich über Stoibers Ausfälle empört, klagen political correctness ein – und das aus unverhohlen taktischen Gründen: Offen verweigerter Respekt vor den Ostwählern könnte sie erst recht in die Arme der verkehrten Linkspartei treiben. Stoibers Kritiker, die allen Ernstes die Frage wälzen, ob Politiker ihren Wählern sagen dürfen, wie sie wirklich über sie denken, haben nichts einzuwenden gegen den Inhalt seiner Wählerbeschimpfung; den teilen sie vielmehr, wenn sie ihm und anderen empfehlen, sie aus Rücksicht auf unerwünschte Wirkungen besser für sich zu behalten. Bürger, die meinen das Angebot für Regierung und Opposition, das ihnen die staatstragenden Parteien machen, ausschlagen zu können, gelten selbstverständlich auch kritischen Journalisten als Gefahr für die Demokratie. So war die freie Wahl nie gemeint; und sie kann auch nicht funktionieren und ihre Leistung für die Stabilität der Ordnung bringen, wenn Bürger so unverantwortlich sind, um ihrer beschädigten Interessen willen Populisten nachzulaufen, die den Staat an die Interessen der Schlechtergestellten zu verraten drohen, anstatt dass sie eine Führung ermächtigen, die ihre Interessen den Erfordernissen des Staates opfert. Leute, die disqualifizierte Parteien wählen, disqualifizieren sich als Wähler – leider nur moralisch. Das sehen Stoibers Kritiker wie er. Sie aber erinnern daran, dass auch inkompetenten Wählern das Wahlrecht nicht gleich von denen, die die Staatsmacht gepachtet haben, entzogen werden kann. Politiker in der Demokratie müssen notgedrungen Kreide fressen, denn die rechtlichen Reglements der demokratischen Herrschaftsbestellung sind mit dem polit-moralischen Sinn des Wahlakts einfach nicht zur Deckung zu bringen. Das Leiden der Führer am unberechenbaren Wähler gehört nun einmal zu der Staatsform, die so bequem seine Enttäuschungen in die Ermächtigung einer Führung ummünzt; es muss mit Anstand ausgehalten werden. Die unzurechnungsfähigen Falsch-Wähler sind damit nicht entschuldigt. Im Gegenteil.

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Stoibers Zweifel am Geisteszustand der Wähler im Osten ist, entgegen aller Aufregung im Blätterwald, Gemeingut in Deutschland. Jede Zeitung räsoniert darüber, dass „die“ auch nach 15 Jahren Einheit immer noch „anders“ sind als „wir“, dass „die Mauer in den Köpfen“ nicht schwinden will und die echte, die geistige Einheit noch Generationen auf sich warten lassen dürfte. Den aktuellen Beitrag zu der Frage, worin genau der seelische Webfehler des missratenen Volksteils besteht, liefert der brandenburgische CDU-Innenminister und Ex-General Schönbohm. Auf Stoibers freimütige Frage: Ja sind die denn verrückt geworden? (in Deggendorf, T-Online Nachrichten, 13.8.) gibt er eine prompte und positive Antwort: Anlässlich eines 9-fachen Kindsmordes leitet er den bedenklichen Geisteszustand der Ostdeutschen schön materialistisch aus den gesellschaftlichen Verhältnissen ab, denen sie unter den Kommunisten vor längerer Zeit einmal ausgesetzt waren. Ihm erklärt sich die monströse Untat, freilich ebenso eine erstaunliche Unaufmerksamkeit der nachbarlichen Blockwarte im Spitzelstaat, damit, … dass die von der SED erzwungene Proletarisierung Ostdeutschlands und die Zwangskollektivierung auf dem Land die Menschen östlich der Elbe ums Verantwortungsgefühl für ihr Eigentum gebracht habe und daher um die inneren Werte. (SZ, 4.8.)

Auf diese seelenkundliche Einsicht hat den CDU-General nicht die Kindsmörderin gebracht, sondern sein tief sitzender Ärger über die Falschwähler im Osten. Um ein erratisches Verbrechen – eine Mutter tötet über mehr als ein Jahrzehnt verteilt alle ihre Neugeborenen – nicht der Polizei und den Irrenärzten zu überlassen, sondern als Index eines ganz speziellen verdorbenen Volksgeistes zu deuten und dessen Ursachen in den Sitten eines seit anderthalb Jahrzehnten aufgelösten politischen Gemeinwesens zu entdecken, muss man sich schon ganz unabhängig vom Verbrechen der Kindstötung im Allgemeinen und im Besonderen ganz aktuell an Verhaltensweisen stören, die sich noch irgendwie der alten DDR als Erblast zurechnen lassen; und welches Fehlverhalten der CDU-Mann da im Auge hat, ist kein Geheimnis – den Karrierewillen seiner Angela M. und das Wahlverhalten seiner zweifellos blitzgescheiten 20% CDU-Wähler in Brandenburg wird er kaum als Konsequenz erzwungener Proletarisierung unter SED-Herrschaft erklären wollen. Der antikommunistische Seelenkenner denkt in gerechtem Zorn an all die unzufriedenen Sozialfälle und PDS-Wähler, die er nicht leiden kann, wenn er die Ost-Psyche durch den einzigartigen Kindsmord ganz allgemein charakterisiert findet.

Schön zu sehen, wie Schönbohms Hass auf den Sozialismus und seine in der BRD immer noch nicht angekommenen Enkel eine neue Theorie der moralischen Bildung gebiert: Wo kein Eigentum – an der eigenen Scholle am besten, in die sich der freie Bauer mit allen Kräften verkrallt –, da keine Verantwortung fürs Eigentum, also überhaupt keine Verantwortung und auch sonst nichts Höheres, für das der Mensch sich einsetzt, hergibt, opfert. Das Privateigentum, so lernen wir, ist nicht ein Ding, das man besitzt, oder ein gesellschaftliches Verhältnis, das arm und reich hervorbringt, sondern eine moralische Anstalt, ein Erziehungsmittel, das das Gute im Menschen weckt. Da sind wohl ein paar Korrekturen am Ethikunterricht fällig. Dort galt das Eigentum eigentlich nie so umstandslos als Inbegriff des Anstands; dass es „verpflichtet“, musste das Grundgesetz immer noch extra dazusagen; das „Sein“ sollte immer noch ein bisschen wichtiger sein als das „Haben“. Der Jagd nach Eigentum, ohne jeden Zweifel notwendig, erlaubt, ehrbar und im Erfolgsfall auch durchaus als Zeichen menschlicher Größe anerkannt, wurde immer auch eine bedenkliche, antigesellschaftliche Seite nachgesagt; auf alle Fälle sollte sie durch die Tugend der Verantwortung für andere, durch Solidarität und Altruismus korrigiert oder wenigstens ergänzt werden; sonst käme nämlich eine „Ellbogen-“, womöglich sogar eine „Raubtiergesellschaft“ heraus. Schönbohm hat das nun richtig gestellt: Der Materialismus des Eigentums ist selbst die Quelle der Tugenden, die den Menschen gemeinschaftsfähig machen: Das Raffen und Haben-Wollen ist Sorge – ums Eigene; Konkurrenz und Erwerbsstreben sind Einsatz, Dienst, Opfer – fürs Vermögen der Familie. Umgekehrt: Wer sich nicht um ein eigenes Vermögen sorgt, ist ohne Verantwortung, entmündigt, kein richtiges Subjekt, im Grunde seines Herzens eine Bestie – Beweis: die schwangere DDR- und Wende-Bürgerin, die keinen Sinn fürs Eigentum hatte und deswegen ihre Brut gleich nach der Niederkunft wegwarf…

Schönbohms Massenpsychologie gefällt noch in anderer Hinsicht. Am Fall der ungeliebten Zonis und selbstverständlich nur gegen sie gibt da mal einer zu erkennen, wie die bürgerlichen Eliten über die große Mehrheit der Gesellschaft denken, die sie kommandieren: Wenn die „erzwungene Proletarisierung“ früherer Bauern und bürgerlicher Schichten einen so erschröcklichen Verfall von Verantwortung, Moral und höherem Menschentum bewirkt, dann stellt das der offenbar ganz zwanglos und naturwüchsig proletarisierten Bevölkerungsmehrheit in der freien Marktwirtschaft auch kein gutes Zeugnis aus. Denn irgendwie gilt auch für die Damen und Herren Proletarier in der Freiheit: Ohne gescheites Eigentum, ohne Verantwortung fürs Vermögen und also für den Staat sind auch sie letztlich eine Art Untermenschen.

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Damit Schönbohm nicht als fanatischer Einzeltäter dasteht, legt das Blatt für die klugen Köpfe im Land nach. Schönbohm hat nämlich ganz Recht, auch wenn er es im Wahlkampf nicht hätte sagen dürfen. Für ihn sagt und übertreibt es der Tageskommentar der FAZ vom 8.8. noch einmal. Jawohl, die Verhaltensweisen in Ostdeutschland lassen sich mit den späten Nachwirkungen einer proletarischen Gesellschaft erklären. Die DDR sollte ein Staat der Arbeiter und Bauern sein. … Die bürgerliche Gesellschaft wurde vernichtet. Mit ihr gingen bürgerliche Werte, Lebensweise, Stil, Bildung verloren, verschwanden Freiheit, Individualität und nicht zuletzt demokratisches und marktwirtschaftliches Denken. … Proletarisierung bedeutet Gleichmacherei im umfassenden Sinn, Verantwortungslosigkeit, Verwahrlosung der Sitten und Hoffnungslosigkeit, … kultureller Zerfall.

Dem durchgeknallten Hassprediger ist es egal, dass das Unterhaltungsniveau von Sat 1 und Pro 7 kein Produkt des DDR-Fernsehens, sondern des freien Werbe-TV ist, das Stil, Lebensweise und Werte seiner Kunden schichtenspezifisch bildet. Er hat wahrscheinlich auch keine Ahnung davon, dass Leute wie Dieter Bohlen, Daniel Kübelböck, die er selbstverständlich für „Prolo“ hält, nicht aus erzwungener Proletarisierung sondern aus dem zur freien Welt gehörigen Kult der Individualität hervorgehen, nicht anders als jene Diven und Stardirigenten, die er selber verehrt. Dass andererseits im „Leseland DDR“ – überflüssigerweise, wie wir überflüssigerweise anfügen möchten – die Arbeiterklasse an die Weimarer Klassik herangeführt, mit viel Orchestern und klassischer Musik kulturell gehoben wurde: ausgeblendet aus der scharfsichtigen Rückschau auf die Verwahrlosung der Sitten durch kommunistischen Egalitarismus und den unausbleiblichen kulturellen Verfall. Wo die Kultur des Geldverdienens, der gehobene Lebensstil der Großbürger, die Wohltätigkeit der großen Vermögen abgeschafft werden, da nix Kultura – klar; denn Privateigentum und die Herrschaft der Bourgeoisie sind die Dinge, die der FAZ-Autor als Kultur schätzt. Wie er das Eigentum als Erziehungsmittel zum höheren Menschentum versteht, so dessen Abschaffung wiederum als einen Akt der Erziehung, eben einen zum Untermenschentum. Die DDR-Kommunisten haben das Eigentum an Produktionsmitteln beseitigt, nur um alles Hohe, Wert- und Kulturvolle gezielt zu vernichten – und damit die Menschen allesamt grau, gleich, hoffnungslos und proletarisch werden. Sie haben sogar eine Art künstlicher Großindustrie errichtet, um sich selbst eine Arbeiterklasse zu schaffen, haben industrielle Arbeit organisiert, bloß um ihrem Volk proletarische Unkultur beizubringen und sich darin wohlzufühlen. Die subjektiv wie objektiv traurige Verfassung der heutigen Ossis ist die Frucht dieser künstlichen Industrialisierung: Jetzt, wo die natürlichen Verhältnisse Einzug halten, sind sie wieder arbeitslos, wie sie es ohne ihre durch und durch unechte Industrialisierung sowieso geblieben wären: Die Massenarbeitslosigkeit, die auch eine Folge der DDR-Industrialisierung ist, die gesundes Wachstum nicht zuließ, ist nur schwer zu überwinden. Und was machen die kommunistisch verdorbenen Ostbürger in dieser Lage? Sie leben ihre ganze stillose Lebensform einfach weiter: Die DDR-Lebensweise ist noch immer gegenwärtig. Gleichmacherei gilt als Tugend, eigene Ansprüche sind suspekt – fremde Ansprüche stellen sie natürlich viel zu viel, so unverschämte wie die nach einem Existenzminimum zum Beispiel. Aber ist das Individualität? Das Kollektiv mit seinen gemeinsam zu verbringenden Frühstückspausen lebt, als wäre die DDR nicht untergegangen – der freie Mann vespert alleine! Unvermindert gibt es die alte Nachbarschaftshilfe, die der Not geschuldet war, heute aber auf ihren Kern reduziert ist: Schwarzarbeit. Was nicht über den Markt und die Mehrwertsteuer geht, ist von vornherein kriminell; zum Schaden des falschen Systems mag das angehen, in der Freiheit aber hat damit Schluss zu sein; da wird gekauft und verkauft! Die Sozialisationsprodukte der DDR lernen das wohl nie und helfen einfach ihren Nachbarn.

Die richtige, kultur- und stilvolle bourgeoise Lebensweise hat es schwer, wahre Individualität hat noch einen weiten Weg zu gehen, ehe sie in Deutschland triumphiert. Denn bei Lichte besehen ist ja nicht nur die Zone, sondern das ganze Deutschland „proletarisiert“. Immerhin: Vielleicht dürfen wir uns die immer noch ausstehende Verwirklichung wahrer Freiheit, die mit dem Risiko der Verelendung beginnt, am ehesten von einer Ost-Konvertitin im Kanzleramt erhoffen: Wer den Weg in den Westen gegangen ist, im übertragenen wie im Wortsinn, der darf es sich jetzt auch mal herausnehmen, mit den Erfahrungen einer untergegangenen DDR einen kritischen Blick auf die rundum versorgende, sozialstaatliche Bundesrepublik zu werfen. Dabei lässt sich von der Proletarisierung und ihren Folgen sogar noch etwas lernen.