Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Bundestagswahl 2005
Die gewerkschaftliche Wahlprüfung 2005 findet heraus:

Das Vertrauen der Arbeiter gehört den staatstragenden Parteien

Die Bundestagswahl ist für die organisierte Macht der Arbeitnehmer jedes Mal eine ganz wichtige Sache. Der deutsche Gewerkschaftsbund sieht sich herausgefordert, seine Mitglieder zur Wahrnehmung ihres Wahlrechts aufzurufen; und natürlich dazu, den Richtigen die Stimme zu geben, damit eine Führung an die Macht kommt, die den Gewerkschaften aufgeschlossen gegenüber steht.

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Bundestagswahl 2005
Die gewerkschaftliche Wahlprüfung 2005 findet heraus:

Das Vertrauen der Arbeiter gehört den staatstragenden Parteien

Die Bundestagswahl ist für die organisierte Macht der Arbeitnehmer jedes Mal eine ganz wichtige Sache. Der deutsche Gewerkschaftsbund sieht sich herausgefordert, seine Mitglieder zur Wahrnehmung ihres Wahlrechts aufzurufen; und natürlich dazu, den Richtigen die Stimme zu geben, damit eine Führung an die Macht kommt, die den Gewerkschaften aufgeschlossen gegenüber steht. Dafür stellt der Verein seit je die Programme der Parteien vor so genannte „Wahlprüfsteine“, an denen die größere oder kleinere Übereinstimmung der Wahlangebote mit seinen Forderungen an die Politik abzulesen sein und die unausgesprochene, aber regelmäßige Wahlempfehlung für die SPD erkennbar werden sollte.

Das war schon immer ein Offenbarungseid für die Kampforganisation der Arbeiterklasse; mit ihrem Bedürfnis nach einer ihrer Sache gewogenen Staatsführung räumt sie ja ein, dass sie ihrer eigenen organisierten Gegenmacht, die auf der Fähigkeit zur kollektiven Verweigerung der Arbeit gründet, nicht viel zutraut – immerhin der Arbeit, auf deren Leistungen die Gewinne des Kapitals und die Macht des Staat beruhen. Die freimütig bekannte Ohnmacht ist freilich gar kein Ergebnis verlorener Kämpfe, keine erwiesene Unfähigkeit, sich durch Streiks erpresserisch durchzusetzen, sondern ein Dokument des Willens einer Arbeitervertretung, die nur im äußersten Notfall und eigentlich niemals den kapitalistischen Gang von Arbeit und Ausbeutung stören und schon gleich nicht gegen die Vernunft der Wirtschaft und die Räson des Staates verstoßen will. Von all dem weiß sie sich und die Erwerbsgelegenheiten ihrer Mitglieder abhängig – und die Vertretung dieser Abhängigen, die ihre Abhängigkeit billigen, will sie sein. Wenn nicht der Staat der Arbeiterschaft Rechte einräumt, per Gesetz die Ausbeutung begrenzt und die Gewerkschaft stärkt, sieht auch sie nicht, wie sie für derlei sorgen sollte; nur wenn der Staat ihr den Weg bereitet, wenn sie nichts mehr gegen den Mainstream des Gemeinwesens durchsetzen muss, kann sie etwas für die Arbeiterinteressen tun. Ohnmächtig, wie sie sich als Kampfverband ihrer Mitglieder sieht, erinnert sie sich einer anderen Macht, über die sie schon eher gebietet: Sie organisiert Millionen Arbeiter und Angestellte, die in ihrer ökonomischen Rolle außer arbeiten nicht viel für sich tun können – als Wähler sollen sie Gewicht haben! Ausgerechnet in der traurigen Rolle von Stimmbürgern, für die sie sich nicht zu Gewerkschaften hätten zusammenschließen müssen, versprechen sich Gewerkschafter Einfluss auf den Staat: Wenn die Parteien unsere Stimmen wollen, müssen sie auf uns hören (DGB-Chef Sommer). Bei der periodischen Ermächtigung der souveränen politischen Führung ringen sie um ihre Anerkennung durch die Organe der Macht, wollen von Kandidaten gewerkschaftsfreundliche Töne hören, sich Versprechen abholen und an ihre Einlösung glauben. Dafür organisieren sie gerne ihre Mitgliedschaft als Wahlverein und liefern beim demokratischen Staat im Allgemeinen und bei der sozialen Staatspartei im Besonderen mit den Wahlstimmen ihrer Mitglieder deren vertrauensselige Bereitschaft ab, sich weiterhin brav regieren zu lassen. Diese Leistung für die Demokratie ist beachtlich: Immerhin organisieren die Gewerkschaften damit die Treue der Klasse zum Staat, die, weil bleibend arm und unzufrieden, einmal als bedrohlich fürs kapitalistische System galt.

So verkehrt ist die Stellung der Gewerkschaft zur Wahl von jeher; heute ist dasselbe aber doch noch etwas anderes. Denn:

Die Lage ist für Gewerkschafter und das, was sie vertreten, katastrophal.

  • Die großen Parteien bestreiten ihren Wahlkampf mit der Ankündigung von weiteren Schritten der Streichung von Sozialleistungen und der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, sprich der Verbilligung der Arbeiter und der Senkung der Löhne. Soziale staatliche Gesichtspunkte, den Erhalt der Arbeiterklasse betreffend, sowie Sorgen um den ‚sozialen Frieden‘ – alles ist heute dem entgegengesetzten Standpunkt untergeordnet: Der Lohn ist zu teuer. Er wird ausdrücklich für die Wachstumsschwäche im Land, die Abwanderung des Kapitals in benachbarte Billiglohnländer sowie für die Krise der Sozialsysteme und der Staatskasse verantwortlich gemacht. Die Parteien, die Deutschland wieder flott machen wollen, konkurrieren darum, wer am konsequentesten mit den proletarischen Besitzständen aufzuräumen verspricht. Ein noch so versöhnlicher Antrag auf Begrenzung eingetretener oder zukünftiger Schäden passt einfach nicht mehr in die heutige Landschaft.
  • Für die Gewerkschaften selber, die diesen Wunsch vortragen, trifft dies gleichfalls zu. Sie sind vom respektierten Honoratiorenklub mit Kanzlerfreundschaft und sicherem Listenplatz degradiert worden zu geschwächten Lobbyisten eines störenden partikularen Interesses und zum Sündenbock erklärt für die Krise der Nation. Der Kanzler hat den runden Tisch, an dem Gewerkschaften mit Unternehmerverbänden und Regierungsleuten Konzepte für die Reformen der Sozialsysteme und des Umgangs mit Arbeitslosen entwickeln durften, aufgelöst, die gewerkschaftlichen Berater heimgeschickt und seine Agenda 2010 gegen meine Leute (Sommer) durchgezogen. Die Unionsparteien beabsichtigen, den Flächentarif, das Herzstück der gewerkschaftlichen Errungenschaften, per Gesetz zu erledigen, Westerwelle gleich den ganzen Verein. Keine politischen „Verbündeten“ nirgends.
  • Und die Gewerkschaften selbst machen alles mit und jammern, wie unfair das sei. Mehr oder anderes, gar Gegenwehr, ist bei ihnen nicht drin. So bitter es ist, wir haben Tarifverträge abgeschlossen, die bringen einer Verkäuferin in einer saarländischen Bäckerei gerade mal 1000 Euro Bruttolohn. Oder einem jungem Friseur aus Sachsen 3 Euro 82 Cent in der Stunde. Macht am Ende des Monats 615 Euro. Ist das ein gerechter Lohn? Oder nutzen die Arbeitgeber dieser Branchen nicht schamlos die Massenarbeitslosigkeit aus? (Gute Arbeit – Würde, Respekt und gutes Geld, 4.7.05)

Der DGB lässt sich sein gutes Verhältnis zur Politik nicht kaputt machen!

Die politische Marginalisierung, die dieser Verein von seinen früheren Freunden und Ansprechpartnern erfährt, merkt er wohl – und diese, wenn schon nicht die Verarmung seiner Mitglieder bekämpft er auch; freilich auf eine Weise, die der deutschen Gewerkschaftsbewegung würdig ist. Den Unvereinbarkeitsbeschluss der Politik nimmt er eben nicht zum Anlass, auch seinerseits das überkommene Konsensmodell zu kündigen; im Gegenteil, er ignoriert ihn offensiv und macht einfach weiter wie bisher. Ungerührt formuliert er wieder seine Prüfsteine, die heuer „Wahlanforderungen“ heißen. Mit ihnen bringt er sich konstruktiv und ausdrücklich nicht oppositionell in den Wahlkampf 2005 ein – in einen Wahlkampf wohlgemerkt, in dem die Parteien nichts zur Wahl stellen, vielmehr dem Volk endlich ein klares Ja zu den vergangenen und kommenden „sozialen Grausamkeiten“ abverlangen und entweder für die Konsequenz, mit der sie die Agenda 2010 durchziehen, oder für die Ehrlichkeit, mit der sie deren Radikalisierung versprechen, das Mandat beanspruchen. Diese Ankündigungen des unabänderlich antisozialen Weges zu neuen nationalen Erfolgen „versteht“ der DGB als einen offenen Ideenwettbewerb darüber, wie soziale Politik in Deutschland zu gestalten wäre, und trägt eigene Vorschläge zu einer Diskussion bei, die niemand mit ihm führt.

„Für die Gewerkschaften geht es nicht primär um die Frage, wie nah oder fern sie zur CDU, SPD oder WASG stehen, sondern es geht darum, dass die Gewerkschaften den Wahlkampf aktiv nutzen, um ihre inhaltlichen Vorstellungen öffentlich zu kommunizieren. Dass sie den Streit der Modelle und Optionen annehmen, um sich im Wettbewerb der Ideen offensiv einzubringen. Dies beginnt wie immer bei den eigenen Mitgliedern und Beschäftigten. Dazu gehören Lob und Kritik an den Forderungen der Parteien ebenso wie eigene Vorschläge.“ (W. Schroeder, Leiter Sozialpolitik der IG-Metall, Einblick, 11.7.)

Die sind dann freilich nichts als ein Sammelsurium kompetent klingender Phrasen aus den Wahlprogrammen der diversen Parteien; alles kommt vor, das ganze Staatsprogramm wird als notwendig anerkannt, keine der antisozialen Reformen wird ausgelassen oder zurückgewiesen. Für alles und jedes findet man gewerkschaftsnahe Ausdrucksweisen, um in dieser Form zu fordern, was Schröder oder Merkel sowieso im Programm haben:

„Aktive, expansive Wirtschaftspolitik … Stärkung der Binnennachfrage … Förderung der Innovation des Mittelstands … Neujustierung der Finanzarchitektur des Sozialstaats … echte Bürgerversicherung … solidarische Neuordnung des Steuerrechts … gesetzliche Mindestlöhne … Korrekturen an Hartz IV.“ (DGB, Deutschland sozial gestalten, Gewerkschaftliche Anforderungen an die Programme der Parteien im Bundestagswahlkampf 2005).

Das alles, weil schließlich gilt: Die Wirtschaft muss dem Menschen dienen, und damit die das wieder besser kann, müssen „die Menschen“ die dafür nötigen Lasten solidarisch und gerecht verteilt tragen.

Der Gewerkschaftsbund tut so, als würde er die Parteien auf Kompatibilität mit seinen Zielen überprüfen, tatsächlich macht er das Gegenteil: Er versichert sie seiner Kompatibilität mit ihren antisozialen Reformen. Er bescheinigt den Parteien, dass ihre Programme durchaus Schnittmengen mit ihm und Anknüpfungspunkte für Arbeiterinteressen bieten, und beteuert, dass er jedenfalls keinen Grund sieht, mit Parteien zu brechen, die mit ihrer gewerkschaftsfreundlichen bis gewerkschaftsnahen Vergangenheit brechen. Der DGB jedenfalls lässt sich, wie ein verschmähter Liebhaber, der die Zurückweisung einfach nicht zur Kenntnis nimmt, nicht davon abbringen, die Nähe der Macht zu suchen und seine programmatischen Hoffnungen auf sie zu setzen. Ganz auf eigene Kosten lesen seine Vertreter Bezüge und Rücksichten auf gewerkschaftliche Standpunkte in die Wahlprogramme dieser Parteien hinein und spielen die unübersehbaren Angriffe auf all das, wofür Gewerkschaften stehen, als vorläufig noch ungeklärte Sachfragen herunter.

„Die SPD nähert sich in einigen Bereichen Positionen der IG-Metall an.“ „Aber: Die Vorschläge zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und für mehr Wachstum und soziale Gerechtigkeit bleiben noch unzureichend.“ (IG-Metall-Vorstand, 4.7.)

Das windelweiche „sowohl – als auch“ schafft Raum für die Hoffnung auf weitere Annäherung: Das Wahlmanifest der SPD: positive Ansätze, wenig plausibel. (IG-Metall-Chef Peters, 11.7.) Eigentlich klingt alles schon ziemlich gut, aber nach den Erfahrungen der letzten Jahre bleiben eben Zweifel, ob die SPD ihre guten Absichten auch ernst meint: „Die SPD kann viel erklären, aber die Leute müssen es auch glauben.“ (Sommer, SZ, 5.7.) Dafür wollten die Gewerkschaften, die der SPD selbst gerne glauben, einiges unternehmen, wenn die SPD es nur honorieren würde.

Mit der chancenreichen Frau Merkel will der DGB es aber auch nicht verderben. Weil sie in Kürze Kanzlerin sein kann, entdeckt er auch bei ihr gewerkschaftlich Wünschbares: Die Signale von der CDU sind widersprüchlich. In einzelnen Punkten liegen wir beieinander. Und dort, wo das nicht der Fall ist, sondern die Lady offene Rücksichtslosigkeit gegen die Gewerkschaften ansagt, zeugt auch das von Beziehung und vom Gewicht der Gewerkschaften: „Aber Merkel kennt auch unsere Schmerzpunkte.“ (Sommer, Die Zeit, 7.7.)

Ihr nur noch eingebildetes Gewicht demonstrieren die Granden der Gewerkschaftsbewegung in den Wochen des Wahlkampfs; sie lassen sich sehen bei und mit den Repräsentanten der großen Parteien und tun einfach so, als wären sie noch wer im Lande, nämlich die respektierte und berücksichtigte gesellschaftliche Macht von gestern – um es auf diese Weise, so gut es geht, zu bleiben oder wieder zu werden. Zu den Mächtigen von morgen pflegen sie ihre Kontakte und lassen keine Peinlichkeit der persönlichen Anbiederung aus: Eine Spargelfahrt mit der SPD, ein Konzertabend zum 60. Jahrestag der CDU, Kanzlertreffen, ein Grußwort auf dem CDA-Kongress; verschwiegene Abendessen mit Merkel und Westerwelle, eine handschriftliche Karte zu Schröders Geburtstag usw. Wo Sommer und seine Leute den Eindruck erwecken, sie würden die Überparteilichkeit wahren und SPD, CDU, Grüne und sogar die FDP ausgewogen mit ihrer Gunst und ihrem Gütesiegel „sozial“ beehren, achten sie tatsächlich genau darauf und zählen nach, von wem und wie oft sie überhaupt eingeladen werden – und sonnen sich in der so weit noch gewährten Nähe zur Macht.

Ihre Gegenleistung bringen sie dafür gerne: Sie halten den Staatsparteien, die ihre Errungenschaften und ihre Stellung im Land schleifen, die Treue und leben ihrem Anhang vor, wo der seine politische Heimat zu suchen hat. Denn eines – das stellt dieser Zirkus klar – kann der immer schlechter gestellte deutsche Arbeiter gar nicht gebrauchen: Gegenwehr, Widerstand gegen das Unternehmerinteresse und den Kurs der Nation, der ihn verarmt. Noch nicht einmal eine kreuzbrave politisch-parlamentarische Vertretung seiner Enttäuschung.

Bloß keine Opposition!

Als Probe aufs Exempel definiert der DGB sein Verhältnis zur neuen Linkspartei. Immerhin ist diese Partei programmatisch so ziemlich das, was der DGB ins Parlament hineintragen möchte. Sie vertritt zu allem eine soziale Alternative, bestreitet, dass der Erfolg des Vaterlands so viel Armut des niederen Volkes braucht, hat viel übrig für eine starke Stellung der Gewerkschaften im Land – ja ist überhaupt eine Gründung von Gewerkschaftern, die an der Schröder-SPD verzweifeln. Nichts Kommunistisches – also eigentlich eine echte Gewerkschaftspartei. Die Entscheidungsgremien des DGB merken das durchaus – und zwar als eine ärgerliche, vielleicht gefährlich breite Sympathie, die in ihren Reihen der Neugründung entgegen gebracht wird. Sie sehen ihre Aufgabe darin, diesen Zuspruch zu bekämpfen.

„Wir werden mit denen genauso umgehen wie mit den anderen. Eines will ich nur anfügen: Die große Mehrheit der Gewerkschaftsmitglieder will eine Änderung der Politik, sie will die Probleme gelöst sehen. Sie will nicht nur eine bessere Opposition. Besser fordern können wir selber.“ (Sommer zur WASG/PDS, Die Zeit, 7.7.)

Wie recht Sommer doch hat: Als Ansprechpartner für gewerkschaftliche Petitionen taugen nur die, die die Macht auch haben. An sie muss eine Gewerkschaft sich halten und anwanzen, auf sie sollen ihre Mitglieder ihren verantwortlichen Zorn und ihre Hoffnungen auf Besserung richten. Protest bringt nichts! Ein Nein! zu arbeiterfeindlichen Gesetzen hilft keinem; da hält man sich doch besser an diejenigen, die diese Beschlüsse mit ihren Mehrheiten durchsetzen. Und außerdem, Sommer sagt es gerade heraus: Fürs folgenlose Fordern gibt es ja schon den DGB.