Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Bundestagswahl 2005
Was für das Zentralorgan der deutschen Arbeiterschaft im Wahlkampf ganz vorne steht. Und was das politische Revolverblatt der Besserverdienenden von all dem hält.
Bild kämpft für Sie! Der Spiegel hetzt für Sie!
Die Bildzeitung gibt dem Wähler eine Stimme, ihre Bild-Stimme eben. Mit seinen Worten und deshalb in der ersten Person Plural werden die Politiker angesprochen; zum Wähler, so wie ihn das Blatt sich zurecht und seiner Leserschaft vorstellig macht, als Leitbild des idealtypischen, proletarischen Wunsch- und Durchschnittswählers, hat Bild demonstratives Vertrauen. Der Spiegel geht die Sache ganz anders an: Die dortige Redaktion ist sowieso nicht gewohnt, im Namen der Wahlberechtigten im Lande oder fiktiv mit deren Stimme zu sprechen, sondern, von einem eigenen überlegenen Beobachterstandpunkt, über sie.
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Länder & Abkommen
Bundestagswahl 2005
Was für das Zentralorgan der deutschen
Arbeiterschaft im Wahlkampf ganz vorne steht. Und was das
politische Revolverblatt der Besserverdienenden von all
dem hält.
Bild kämpft für Sie! Der Spiegel
hetzt für Sie!
Im späten Sommer tun die Parteien wieder, was sie immer
tun, kurz bevor sie die wägend wartenden Bürger an die
Urnen schicken: Sie läuten die heiße Phase des
Wahlkampfes ein
.
Ausgerechnet bei der Zeitung mit den größten Schlagzeilen ist von dieser Hitze wenig zu spüren. Sie bleibt ruhig, behält den Überblick über die größeren Zusammenhänge. Bleibt der Leuchtturm freien proletarischen Meinens, die große Arbeiterzeitung Deutschlands. Bild berichtet für sie, die arbeitenden Stände. Verliert dabei nie deren Interesse aus dem Auge. Ihr nationales natürlich, das natürlich auch viel mit ihrem sozialen „zu tun hat“. Und präsentiert von diesem festen Interessenstandpunkt auf der Titelseite, mit viel Gespür für das Bedeutsame über den Tag hinaus, was heute wichtig ist.
Montag, 15. August:
Das ist heute Die Papstbotschaft an die Jugend der
Welt
(exklusiv in Bild
), die nach Deutschland
zu einem katholischen Weltjugendtag kommen soll. Da damit
ja wohl auch die Jungwähler angesprochen sein dürften,
führt der Aufmacher – egal ob absichtsvoll oder nur von
der Vorsehung arrangiert – sehr glücklich Aktuelles und
das, was auch übermorgen noch Geltung hat, zusammen und
taucht den Wochenanfang der Bild-Leser in ein –
gewissermaßen – überirdisches Licht.
Der neue Benedikt
„sieht es als eine liebevolle Geste der Vorsehung an, dass in diesem Moment ein deutscher Papst in der Nachfolge des Heiligen Petrus steht.“
Das tut gut. Da will der supranationale Kirchenchef den
nationalen Gemütern seiner Herkunftsnation schmeicheln.
Aber ist es nicht ein bisschen viel Aufwand von der
Vorsehung, nur für die zufällig hier stattfindenden
Selbstfeiertage von ein paar Hunderttausend intellektuell
verwahrloster, aber stark fühlender Youngsters extra
einen deutschen Papst hinzumanipulieren? Ist aber Sache
der Vorsehung und geht einen nichts weiter an. Aber dass
die auch nationalistisch ist und die Sache nur zum
Gefallen der Deutschen so gedeichselt haben soll!?
Andererseits: Angesichts dessen, was die Vorsehung an
Deutschland gut zu machen hat, dessen Volk und Führer
sich erst vor ein paar Jahrzehnten in wichtigen
Angelegenheiten so fest und vergeblich auf sie verlassen
haben, ist der Trick mit dem zeitlichen Zusammentreffen
von Köln und Benedikt tatsächlich nicht mehr als eine
Geste
.
Aber dass die deutschen Belange im Himmel weit oben auf
der Agenda stehen, ist nicht die einzige Botschaft von
Bild & Benedikt: Letzterer legt Wert darauf, dass die
große Seelenparty nicht einfach im selbstgenügsamen,
gemeinschaftlichen Irrationalismus versumpft, sondern die
Zusammenkunft schon für die Pracht, Macht und
Herrlichkeit seines alleinseligmachenden Vereins steht.
Bei aller Freude und Geschwisterlichkeit
(prima,
dann braucht man auch keine Kondome zu verteilen bei der
Veranstaltung!) des Treffens bleibt natürlich im
Zentrum das Beten und die Feier der Sakramente
. Und
beide zusammen haben extrem viel übrig für die
Hauptbotschaft der päpstlichen Begrüßungsadresse, die man
Jung- wie Alt-, aber auch den Ungläubigen nicht oft genug
sagen kann. Dass es etwas Größeres gibt als unser kleines
Leben. Dass das für sich genommen der richtigen
Größe
entbehrt und Sinn und Orientierung erst im
Jenseitigen bekommt:
„Die Freundschaft mit Christus … gibt dem Leben erst seine richtige Größe. … Wenn wir nicht auf uns zurückschauen, sondern bereit sind, für die anderen da zu sein, … dann wird das Leben größer und schöner. … Die Engel können fliegen, weil sie sich leicht nehmen. Und das können wir im Glauben auch lernen: Dass wir uns selber leichter leben, dadurch freier werden“
Also: Teil von etwas Größerem und Schönerem, als es
unsere kleinlichen Erdensorgen sind, werden wir
,
wenn wir
diese Sorgen und uns
nicht mehr so
schwer nehmen. Wie die Engel eben. Und die ‚Probleme‘ in
Gottes Hand legen. Oder in die der Obrigkeit
, was
bekanntlich ohnehin von selber passiert mit den meisten
von ihnen, egal, ob man sie schwer oder leicht nimmt.
Aber: Die ist ja bekanntlich auch schon wieder von
Gott
(Römer, 13,1). Der
hat es uns
unter den gerade obwaltenden
historischen Konstellationen auferlegt, sie, die
Obrigkeit, genauer gesagt: ihre Sachwalter, zu
wählen, die in ihrem Dienst, also dem des
Höheren unterwegs sind. Wie sonst sollten die vielen, die
„es“ können, sonst wissen, wer von ihnen uns
unsere
Sorgen abnehmen und uns freier
machen
soll. Das spielt aber gerade, man handelt da soeben vom
Höheren, im Hauptartikel keine Rolle.
*
Aber, so wie im Hauptartikel der Titelseite von Bild das
Transzendente ins Immanente greift, so fügt sich an
dessen Ende ein kurzer Bericht an, den man als
Operationalisierung der benediktischen Botschaft lesen
könnte und der mitten hinein führt ins streitige
Wahlkämpfen: Einer der seit vielen Jahren dem Höheren
verpflichtet ist, Edmund Stoiber von der Christlichen
Union, begibt sich in ein Wahlduell
mit dem
gefallenen Erzengel Lafontaine! Will ohne
Geschwisterlichkeit
die Linke entlarven, die den
Herrn nicht liebt, (nur alle, die den Herrn lieben,
gehören zueinander
!), Sozialdemagogie bekämpfen und
das falsche Zeugnis wider den Reformbedarf. Will ihn mit
dem Flammenschwert seiner scharfen Rede dahin
hinabstoßen, wo er hingehört, und entscheidet sich dann
doch, ach Gott, bloß für ein Print-Duell
, weil er
die teuflischen Künste von Luzifer-Lafontaine fürchtet,
und die Wirrnis, die ausbrechen könnte, wenn es nichts
Gedrucktes gäbe… Auch aus Nächstenliebe, nicht nur aus
Feigheit, wie ihm vorgeworfen wird, will er’s so haben,
um Angela, der Engelin (haben also doch ein Geschlecht!),
nicht Konkurrenz zu machen.
*
Daneben gibt es noch einen Kasten mit gut einem Dutzend kurzer Nachrichten, die sich im Lichte der geistlichen Handreichungen des Hauptartikels wie von selbst ordnen:
150.000 neue 1-Euro-Jobs wollen die Kommunen
schaffen
Ob die säumigen Mieter durch Hartz
IV
, die nach NDR-Informationen ihre Miete gar
nicht oder verspätet
zahlen, wie die
Grundeigentümerverbände beklagen
, davon ihre Miete
bezahlen können? Oder werden sie fliegen
? Wird es
ihnen helfen, wenn sie sich leicht nehmen
? Vier
Flüchtlinge aus Marokko sind auf ihrem Weg nach Europa in
einem heißen Container auf grauenhafte Weise ums Leben
gekommen
. Die hätten sich bestimmt über einen der
150.000 1-Euro-Jobs gefreut im sozialen Deutschland, wo
es so schlecht nicht sein kann, wenn Marokkaner unter
Lebensgefahr dahin wollen, auch wenn der
Autozulieferer Edscha mehrere Werke schließen und 1000
der 6900 Stellen abbauen will
. Damit das nicht noch
mehr Arbeitgeber machen müssen – die Arbeitskosten sind
bekanntlich zu hoch, weshalb ein paar mehr lebende,
billige Marokkaner vielleicht so übel nicht wären –, hat
der Chef der Wirtschaftsweisen, Bert Rürup, die für
dieses Jahr optimale Lohnerhöhung
ausgerechnet:
1,4 Prozent
. Da wären die 1-Eurojobber wohl froh
um so eine Erhöhung. Für die säumigen Mieter würde es
wohl immer noch nicht reichen. Aber sparen müssen auch
andere: BMW plant einen Mini-Rolls-Royce, ein rund
250.000 Euro teures ‚Einstiegsmodell‘ unterhalb des
Rolls-Royce Phantom
, der wegen seines höheren
Preises z.Z. angeblich nicht so gut geht.
Als Christen, so schreibt Benedikt für Bild, gehen wir
in eine große Gemeinschaft der Verantwortung, der Liebe
und so auch der Freude und der Freundschaft hinein.
Da wirft eine Meldung von weit her Fragen auf:
Verteidigungsminister Struck rechnet damit, dass der
Bundeswehreinsatz in Afghanistan gefährlicher wird.
Grund: Die Bundeswehr werde in dem Land mehr
Verantwortung übernehmen
Sagt Benedikt nicht, dass
Verantwortung
zu gemeinschaftlicher Liebe,
Freude und Freundschaft
führt? Wieso wird es dann für
die uniformierten Botschafter der deutscher Verantwortung
gefährlicher in Afghanistan? Weil die dortigen
moslemischen Heiden den benediktischen Zusammenhang von
(deutscher) Verantwortung, Liebe und Freundschaft nicht
kennen? Hoffentlich kann man die Missverständnisse
ausräumen, bevor etwas Ernsthaftes passiert. Nur gut,
dass die Deutschen dort sich für ihren verantwortungs-
und liebevollen Freundschaftseinsatz gut bewaffnet haben!
*
So orientiert kann man sich getrost in die folgenden
Seiten hineinwagen, wo Papst und Stoiber noch nachwirken
und auch der Sportteil am Montag nicht mehr verwirren
kann. Hat Ballack wieder nur auf sich
zurückgeschaut
, oder war er bereit für die anderen
da zu sein
, also mannschaftsdienlich zu spielen? Mit
Benedikt könnte man es bewerten. Der Bild-Wahlkampf kann
kommen.
Dienstag, 16. August
Auf der Titelseite kein Wahlkampf, nirgends. Nur eine
gewaltige Schlagzeile mit dem Bild einer grellen
Schickse, die – die Schlagzeile natürlich – auf die
Wichtigkeit von Liebe, Freundschaft und wirklicher
Geschwisterlichkeit verweist: „ Giulia Siegel schlug
ihren Mann ins Krankenhaus!“ Die Untersuchung auf
Wahlkampfbezüge im Subtext bleibt ergebnislos: Kann man
sagen, dass Schröder die family values
wegreformiert hat? Unklar. Einerseits macht Armut mehr
Zusammenhalt nötig. Andererseits gibt’s mehr Ärger um das
knappe Geld. Die Schlägerin gehört allerdings
offensichtlich Kreisen an, die von Hartz IV eher nicht
betroffen sind. Schwappt die Kombination aus
Sozialismus und Verwahrlosung
(FAS, 14.8.05, Schönbohm) aus der DDR
herüber und hinein in Party-Luder-Kreise? Einerseits hält
Bild das wohl einfach für unterhaltsam, wenn es den
Gaffer im bürgerlichen Menschen bedient, der sich etwas
drauf zugute hält, wenn er irgendwo – und sei’s nur per
Schlagzeile in Bild – dabei war und Bescheid weiß,
vorzüglich über die Oberklasse. Andererseits werden
allgemeine Erziehungsziele verfolgt: Bei Siegels geht’s
genauso zu wie bei uns Hempels. Klassenübergreifende
Zwischenmenschlichkeit im Guten wie im Bösen. Kohle
schützt vor Kummer nicht! Darunter weitere Unterhaltung
für ältere Leser, diesmal eher positiv: Großes
busenfreies Foto von Sophia Loren aus dem Jahr 1957 aus
einem damaligen Playboy-Heft. Damals war noch echt, was
heute ein kleines Vermögen kosten würde! Das waren
Zeiten.
Der Nachrichtenkasten eher dünn. Ein stärker angefetteter
Aufschrei springt ins Auge: EU-Beamte schon mit 50 in
Pension. Und wir sollen bis 70 schuften!
Wie zu
erwarten besteht der das Ausrufezeichen stiftende Skandal
nicht darin, dass wir
bis 70 schuften
müssen, sondern die EU-Beamten, unter bestimmten
Bedingungen nur bis 50. Ließe man die bis 90 schuften,
vielleicht könnten wir
dann mit 47 aufhören? Das
wäre doch mal eine Forderung, hinter der man sich
versammeln könnte, ohne bloß neidisch zu sein. Ferner:
Eichel soll härter sparen
, meint die Bundesbank.
Vielleicht geht es Eichel wie den vielen
Arbeitnehmern
in der nebenstehenden Meldung: 69
Prozent
von ihnen haben laut einer Gallup-Studie
innerlich gekündigt und machen Dienst nach
Vorschrift
.
Spart Eichel nur mehr nach Vorschrift? Weil ihn – auf
Seite 2 bricht voll die Politik herein nach dem
menschelnden Beginn auf der Titelseite – bald Angies
Kompetenz-Team-Professor Kirchhof ablöst, der
Deutschland aus dem Schuldenloch holen
soll? Der
soll ein Topjurist, Finanzexperte
und trotzdem
einer der klügsten Köpfe Deutschlands
sein. Für
Bild ein echter Hoffnungsträger:
Erstens hat er 1999 als Verfassungsrichter die
Bundesregierung dazu verdonnert
, Familien einen
deutlich höheren Kinderbetreuungsfreibetrag
einzuräumen
. Rund 20 Milliarden Mark!
Zwar
sind Kinder, laut Armutsbericht der Bundesregierung für
das Jahr 2004, noch immer das Armutsrisiko Nummer
eins
. Aber dank Kirchhof werden Kinderlose und
Alleinerziehende jetzt nicht mehr bevorteilt gegenüber
Familien mit Kindern. Alle werden jetzt gleich beschissen
behandelt. Da bleibt also noch Raum für die Familien mit
Kindern, sich an Kirchhofs Lebensmotto
zu
erproben: Jede Freiheit will errungen sein.
Zweitens gilt Kirchhof als Vordenker des
‚Bierdeckel-Steuerkonzepts‘ von CDU-Finanzexperte
Merz
. Er will die Steuer radikal vereinfachen
,
so dass auch Angela Brutto und Netto auseinanderhalten
kann. Sie findet Kirchhofs Ideen genauso brillant
wie Bild. Wird jetzt endlich die einfache Steuererklärung
– eine uralte Sehnsucht der deutschen Arbeiterbewegung –
Wirklichkeit? Und werden jetzt aus einer
einfachen Steuer ganz viel mehr
Steuern? Und die Krise? Wird die durch gerechte
Steuern wegregiert? Kann man tatsächlich durch
Herumfingern an Prozentsätzen und Schließen von
Schlupflöchern
die Erfolge des Kapitals beim
Aufhäufen von anlagesuchendem Reichtum ungeschehen
machen, die seit geraumer Zeit seine weitere
Rentierlichkeit erschweren? Fragen über Fragen. Aber:
Egal wie die von der Merkel-Mannschaft zu beantworten
wären. Erst einmal will sie kompetent
sein,
gewählt werden und durchregieren
. Dann sieht man
weiter. Was soll man auch sonst machen. Bild sieht das
auch so: Mehr Kompetenz kann man in ein Kompetenz-Team
nicht packen. … 1:0 für die Union!
(Bild-Kommentar auf S.2) Das schafft
Vertrauen bei der Leser- und Wählerschaft. Und darauf
kommt’s zunächst einmal an.
Mittwoch, 17. August
Mit den ganz großen Buchstaben wird der lesende Arbeiter
zunächst über das menschlich Naheliegendste informiert,
was für die Kaufentscheidung zugunsten des Blattes
offenbar wichtig ist: Die Schickse von gestern will sich
jetzt scheiden lassen. Mein Mann prügelt mich seit 5
Jahren
. Darüber, auch sehr fett, Prozessbericht über
die – angebliche?? – Vergewaltigungstat eines
TV-Moderators, der auch schon mehrere Tage geht. Heute
vielversprechend: „So (!) hat Türk mich
vergewaltigt.“ Wie hat er’s ganz genau gemacht? So!!
Kann man genau nachlesen – auf Seite 15! Alles nicht so
lustig heute. Vielleicht hilft eine sehr magere, nackte,
angebliche Rennfahrerin
, gerahmt mit launigem
Text, so von der Art: So schnell bumst dieser Frau
keiner in die Karosse
. Da kommt er dann schon ins
Schmunzeln, der Bild-Leser; kniet ziemlich aufreizend
links auf der Seite rum; da könnte man sich auch
vorstellen, dass man auch mal bisschen nachhelfen würde
bei der; wie der Moderator von oben, bei der
Karosse…
Apropos Karosse: Mitten in der Titelseite ein Kurzbericht
mit Foto über ein neues, riesiges Geländeauto von Audi
für mindestens 48 900 Euro
. Auch wenn das ca. der
zwei- bis dreifache Jahreslohn eines durchschnittlichen
Bild-Lesers sein könnte: Die Redaktion weiß, dass die
Leserschaft vielseitig interessiert ist und zu den Autos
der oberen Zehntausend, zu denen sie nie gehören wird,
ein ähnlich theoretisches Verhältnis pflegt wie zu den
nackten Models in Bild. Die sind nun mal beide nicht für
die Massen gemacht, da hilft kein Sozialneid. So kann
sich Bild-Leser technisch begeistern – 350 PS
–
und über die Konkurrenz in der Autoindustrie informieren:
Audi greift BMW und Mercedes an
. Man muss ja
mitreden können.
Der Nachrichtenkasten der Vorderseite gibt dafür nicht so
viel her heute: Immerhin senkt Ikea die Preise… Umsatz
in Deutschland erneut zweistellig gesteigert und will die
Preise weiter senken.
Die haben’s drauf die
Skandinavier! Während bei uns … Wird dann aber wegen der
Preissenkungen trotz Umsatzsteigerung nichts für
Lohnerhöhungen übrig bleiben. Aber die meisten Bild-Leser
arbeiten ja glücklicherweise nicht bei Ikea, haben aber
einen Vorteil, wenn sie das nächste Klippan-Sofa vier
Prozent billiger kriegen. So gleicht sich alles irgendwie
aus.
Bemerkenswert noch zwei Nachrichten darüber, dass von
gestern auf heute der, wie man immer wieder hört, ohnehin
dünne Bestand christlicher Priester weltweit weiter
gelichtet wurde: Linke Farc-Rebellen haben im
Nordosten Kolumbiens zwei katholische Priester …
erschossen
. Und eine psychisch gestörte Frau
hat den Gründer der Taizé-Gemeinschaft erstochen, einer
frommen Bruderschaft, die sich seit Jahrzehnten vor allem
und nicht ohne Erfolg der Bekämpfung des Verstandes in
jugendlichen Gehirnen widmet. Man kann ihnen nur
wünschen, dass ihr Glaube sich nicht bewahrheitet.
Vielleicht kämen sie sonst in die Hölle.
In Sachen Wahlkampf wieder Fehlanzeige. Fast jedenfalls.
Bild hat nur einen mittelkleinen Köder ausgelegt auf der
Titelseite, gleich über der nackten Rennfahrerin:
Merkel holt Beckstein. Seine Aufgabe – S.2.
So
geht das also! Wer denkt, Bild vernachlässige seine
staatsbürgerlichen Bildungsaufgaben, hat sich
geschnitten. Mit Giulia Siegel als Gleitmittel geht’s
weiter zu Angie auf S. 2
, mitten hinein ins
Kompetenz-Team! Mit diesen Neun will Merkel den
Kanzler schlagen.
Da steigt Bild dann voll ein:
Bild dir deine Meinung
heißt es da und man kann
nicht sagen, dass es der Redaktion ganz egal wäre, welche
man sich bildet: Da werden die Team-Mitglieder mit warmen
Worten volksnah vorgestellt. Der famose Prof. Kirchhof
vorneweg, heute mit dem Kampfruf „mehr netto für
alle!“. Warum nicht einfach mehr für alle
?
Das wäre undifferenziert, wahrscheinlich, und unter
seinem Niveau. Es ist zu anzunehmen, dass er gegen
mehr Brutto
ist. Vom Staat sollen die
Arbeitenden per niedrigerer Steuer was auf ihr
netto
drauf bekommen, dann brauchen sie nicht ihre
Arbeitgeber belästigen mit Forderungen nach
(Brutto-)Lohnerhöhungen. Angela findet das auch und
möchte für die Ideen ihres Professors gerne gewählt
werden.
Peter Müller von der Saar wird vorgestellt als einer –
zuständig für Wirtschaft, Arbeit und Infrastruktur
–, der tausende neuer Jobs schaffte
und die
Bürokratie entrümpelte
und Kohlesubventionen
kürzte
. Wo, wie und wie viele Jobs er
geschaffen
haben soll – machen das sonst nicht die
Arbeit-Geber? –, will Bild jetzt hier nicht so genau
sagen, klingt jedenfalls nicht schlecht, wo das genau
doch unser Problem
ist. Haben zu dem
Gerümpel
, das Müller aus Bürokratenstuben geworfen
hat, auch Bürokraten gehört, mit Lebenshaltungskosten und
echt unschuldigen Kindlein? Und haben von den
Kohlesubventionen
auch ein paar Kohlearbeiter
gelebt, soweit ihnen ihre Kohlekapitalisten was als Lohn
davon abgegeben haben? Wie viele Tausend waren das? Wie
soll man dem Kerl jetzt trauen? Dadurch, dass man hofft,
von ihm nicht zum Gerümpel gezählt oder als
Subventionsempfänger betrachtet zu werden? Demokratische
Wähler brauchen offenbar doch auch immer wieder viel
Glück, damit ihnen nicht ihr eigenes Wahlkreuz auf die
Füße fällt. Seltsam: Mit ihrem Leben gehen
Wahlberechtigte um wie Hasardeure. Wird schon gut gehen,
wenn wir jetzt Merkels Müller wählen, hoffentlich.
Eine niedersächsische Karrieremutter soll für Familie,
Soziales, Gesundheit, Rente und Pflege
zuständig
sein. Sie „wird um mehr Geld für die Familien
kämpfen.“ Wird sie sich mit Kirchhof verbünden, der
ja die Leute auch mit – s. oben – mehr netto
zuschütten will? Und gegen wen wird sie
eigentlich kämpfen
? Wenn sie Ministerin wird,
denkt man, dann bestimmt sie doch, wer Geld
bekommt und wer nicht. Sagt Bild das nur, damit die
künftige Herrin der Sozialknete so aussieht, als stünde
sie auf derselben Seite wie die, denen sie in Zukunft
Staatsgeld nach ihren Maßstäben zumessen wird?
Sieht fast so aus. Und so geht das weiter über alle
Team-Mitglieder, neunmal.
Drunter eines jener neuen Angie-Bilder, die die freie Presse massenhaft verbreitet, seit sie weiß, wer ihre künftige Chefin wird: Strahlend, schweinchenrosa Teint, die berühmten hängenden Mundwinkelfalten: einfach weg.
Der kurze Bericht zu den Bildern mit den kurzen
Vorstellungstexten lässt kommentierende Stimmen aus dem
Pro-Merkel-Lager zu Wort kommen, die sehr positiv
ausfallen. Das ist zwar keine Überraschung, macht aber
gute Stimmung: Der BDI-Präsident hält die Mannschaft für
einen großen Wurf
, ein führender CSUler: Erste
Sahne
.
Daneben zur Abrundung noch ein Kurzkommentar, der dem
Grünen Trittin so richtig eine mitgibt: Dessen Ökosteuer
ist ungefähr schuld an der Unsicherheit der Renten,
daran, dass uns
das Autofahren keinen Spaß mehr
macht, an den unermesslichen Benzinpreisen
und an
der Arbeitslosigkeit: Für manche Pendler, die wenig
verdienen, lohnt sich der Weg zur Arbeit nicht mehr – sie
haben mehr, wenn sie arbeitslos zu Hause bleiben.
Wenn sie mehr verdienten, würde es sich vielleicht
lohnen
, wenn sie hinführen, und ihr Benzin könnten
sie auch noch bezahlen. Aber: Das geht wahrscheinlich
nicht. Vielleicht, wenn ihnen Kirchhof mehr netto
auszahlt …
Donnerstag, 18. August
Giulia Siegel hält die Top-Position auf der Titelseite.
Ihr Mann, der einen Doktortitel führt und ein
Unternehmensberater
ist, legt jetzt eine intime
Beichte
über seine bizarre Ehe
mit der
Schickse von den Vortagen ab. Die Beichte ist natürlich
ab sofort nicht mehr so ganz intim, aber das ist wohl der
Sinn der Sache. Der Leser soll wahrscheinlich auf so
Sachen wie intim
und bizarr
abfahren und
leicht angemacht die dritte Folge nicht verpassen wollen.
Die Bild-Redaktion war offenbar wie wir alle mit
Klinsis Duseltruppe
gegen Holland mit auf dem
Platz gestanden und berichtet konsequent in der
nationalen ersten Person Plural darüber, dass wir uns
über eine Packung in Holland nicht hätten beschweren
dürfen – …Klinsi, du Glückspilz!
Das ging ja noch mal
gut für Deutschland.
Ein auffälliger Kasten am rechten Rand kündigt in
Alarm-Orange an: Asteroid rast auf die Erde zu! Steht
der Tag des Untergangs bevor?
, und beruft sich auf
US-Forscher
. Er scheint noch nicht allzu nahe zu
sein, was man daraus schließen kann, dass Bild sich mit
dem Bericht bis Seite 14 Zeit lassen kann. So kann man
vermutlich bis zum Weltuntergang Frau Siegels Affäre in
Ruhe abwickeln. So leicht lässt sich Bild seine Agenda
nicht durcheinander bringen. First things first, wie der
Ami sagt.
Die Nachrichtenlage scheint eher konsolidiert. Die Nachricht, dass im Irak an einem Tag 63 Menschen bei Anschlägen gestorben sind – eine Erfolgsnachricht eigentlich, weil sie zeigt, dass der Irak nach seiner Züchtigung durch die Herren der Freiheit nur mehr für die Iraker gefährlich ist, von ein paar US-Soldaten wöchentlich einmal abgesehen, und nicht mehr für die amerikanische Lebensart –; diese Nachricht also bekommt inzwischen weniger Kleindruck-Zeilen – sechs, einspaltig – als die, dass Arnie in Kalifornien Sextäter lebenslang per Satellit orten lassen will – siebeneinhalb, einspaltig. Wenn die Amis sich wieder ihren wirklichen Problemen zuwenden, braucht sich auch Bild nicht unnötig über tote Iraker aufzuregen. Man ist es ja auch einfach gewöhnt inzwischen. Wer will das dauernd sehen, und zuviel davon herzumachen ist auch für die deutsch-amerikanische Freundschaft nicht so gut.
Seite zwei ist die wahre Wahlkampfseite und überrascht
heute, ohne Ankündigung auf dem Titel, mit einer
Gegenüberstellung der amtierenden Minister im
Schröder-Kabinett mit Merkels Schatten-Ministern. Vom
Standpunkt der Nation werden vergangene Erfolge und
Drangsale der Regierungsleute und persönliche
Kurzcharakteristiken mit Versprechungen und Vorhaben der
Merkel-Mannschaft verglichen. Schön bunt mit Bildern,
ohne große Hetze. Richtig was für den ordentlichen
Staatsbürger im Bildleser, der sich kurz anschauen darf,
zwischen wem er sich zu entscheiden hat; wem er den Job
geben will, als Wähler. Dabei kann er ihnen ins Gesicht
sehen, wie sie ihn anlächeln, und versuchen,
herauszulesen, was das wohl für ihn heißen mag, wenn die
Lächler ihre Aufgaben gut
oder schlecht
erledigen. Ob da was für ihn dabei herauskommt,
wenn sie wie ihre künftige Chefin Merkel dem Land
dienen
werden. Bild und die Kandidaten sowieso tun
so, als wäre das allemal dasselbe. Der Dienst an
Deutschland und der an seinen Bewohnern, die als Deutsche
an ihrem Standort eben als einheitliche Mannschaft
auflaufen sollen. Ungefähr so wie beim Fußball, wo
angeblich auch immer wir
gewinnen oder verlieren,
auch wenn manchen von uns
die ungefragte
Eingemeindung in eine Mischpoke mit Leuten wie Angela
Schröder, Hundt und Schmoldt, Giulia Siegel, Benedikt und
Beckenbauer ziemlich ankotzt. Zumal nach dem Spiel
seltsamerweise immer nur ein Mannschaftsteil
gewonnen hat und die Loser, wenn sie Glück haben, nur ein
Lob für ihre deutschen Tugenden
bekommen und auf
ihre Chancen im nächsten Match verwiesen werden. So geht
solide Basisagitation mit der nationalistischen
Elementarlüge.
Freitag, 19. August
Heute ist auf der Titelseite, druckgraphisch gesprochen,
der Teufel los: Sieben Zentimeter hohe Lettern in Rot,
Großfoto in Seitengröße durch die Mitte der Seite.
Sachlich gesprochen geht es heute aber um den irdischen
Gegenspieler des sprichwörtlichen Höllenfürsten: Der
Papst ist los.
Will sagen, dass er Köln mit seinem
Besuch beehrt, angesichts der dort versammelten Massen an
jugendlich-christlichen Freizeitpilgern. Bild berichtet
von einer Art geistigen Kernschmelze in der
Karnevalshochburg. (Sogar Giulia Siegel wird heute
gnadenlos bis auf S.8 durchgereicht!) Nationale
Begeisterung der Bild-Zeitung amalgamiert mit geistlichem
Taumel der frommen Jecken aus aller Welt, die den
arrivierten Ex-Großinquisitor hochleben lassen.
Hunderttausende junge Menschen feierten ihn wie einen
Popstar.
Bild achtet darauf, dass dem Gebräu nicht
der nationale Hautgout abhanden und an der deutschen
Inbesitznahme des Papstes niemand vorbei kommt:
Deutschland feiert unseren Benedikt
und: Der
deutsche Papst
, Benedikt XVI. ist zu Hause
.
Schließlich hieß es in der denkwürdigen Bild-Schlagzeile
nach der Papst-Wahl, die jetzt auf einen kultigen
Sticker
gedruckt wurde: Wir sind Papst!
.
Die tausende von jungen Tröpfen könnten einem leid tun,
wenn sie nicht selbst verantwortlich wären für ihren
erbarmungswürdigen Geisteszustand, den Bild so begeistert
schildert. Aber sie leiden eben gar nicht daran. Im
Gegenteil: Sie genießen sich selbst, ihre moralisch
astreine Stellung zur Welt, ihr von Sünden und Konflikten
freies Gemüt – ersteres übrigens auf Grund einer
vatikanischen Garantie-Erklärung, die jedem Besucher des
Festivals einen Totalablass seiner Sünden verspricht;
geiler Deal, oder? Sie begeistern sich über ihre
Einigkeit mit sich selbst, allen anderen Anwesenden, mit
ihrer Obrigkeit, die sie lobt für ihren frommen Wahn, und
mit ihrem überirdisch höchsten Herrn sowieso, egal, ob
all diese Einigkeit in der wirklichen Welt besteht oder
nicht. Für sie gilt: Keine mühsamen Debatten, keine
Klärung für nix, kein Feind, nur Freund, solange
jedenfalls, wie der Feind die Schnauze hält; nur
demonstratives, exaltiertes Glauben oder stille Einkehr
zwischendurch, mit der Bemühung um die Reinigung des
Verstandes von jedem argumentativen Schmutz. Ganz Schaf
und cool drauf sein für ein paar Tage und möglichst noch
ein wenig länger! Das alles verkörpert und gefeiert in
einem weißgewandeten, personifizierten
Unterwerfungsangebot. Ein Inquisitor zum Liebhaben, den
man nicht einmal wählen muss, wie die lächelnde Angela,
der einfach da ist: Er da oben und wir
da unten
und alles hat so seine Ordnung und dann segnet er
uns
auch noch… Vielleicht ist dann sogar die
Kraft mit uns, wie im Kino, und man ist richtig gut
drauf eine Zeitlang, wenn diese super Erfahrung
noch nachwirkt … So gut, dass man sich von dem
Kleingedruckten in dem ganzen Glaubensscheiß, also dem
theologischen Kram mit diesen ganzen Vorschriften und
Pflichten und solchem Zeug, überhaupt nicht die Stimmung
verderben lässt. Man ist so gläubig, so herrlich fromm
und so herrlich frei
(Bild), lässt sich mit seiner neuen,
genau so frommen, frisch aufgerissenen
Kirchentags-Freundin leicht bekleidet und zungenküssend
für Bild fotografieren, bekennt offensiv, dass man
natürlich auch Sex hat vor der Ehe, das ist schon
ok.
Fällt das noch unter den Ablass? Oder ist den
Papstfreunden die Differenz zu ihrem Idol einfach
wurscht? Es sieht eher nach letzterem aus, weshalb
Ratzinger auch schon mal vor religiösen Privatwegen
warnen
muss.
Auf den Papst hört nämlich angeblich eh keiner
(Die Zeit), wenn’s um
spezielle Katholenregeln geht, und angeblich
verstehen
ihn die, die ihn bejubeln
, gar
nicht (SZ). Das mag schon
sein, aber in der großen, frommen, unterwürfigen
Gefühlswallung, die sie alle miteinander anzetteln,
verstehen sich irdische und kirchliche Obrigkeit,
zugehörige geistliche und weltliche Untertanen und die
Bildzeitungen aller Couleurs ziemlich gut: Die Welt ist,
im Prinzip, ziemlich ok, so wie sie von Gott und seiner
Kirche zusammen mit verschiedenen hochanständigen
Kanzlern und Präsidenten, die alle dem Stellvertreter des
Allerhöchsten ihre Aufwartung machen, geführt wird. Und
sie kann immer noch besser werden und alles, was
passiert, hat seinen Sinn, irgendwie; welchen,
das darf man sich entweder frei ausdenken oder er wird
einem, wenn’s wichtig ist und prinzipieller, zur rechten
Zeit mitgeteilt. In eben diesem Sinn kann sich der Ertrag
der Veranstaltung sehen lassen, und die Bildzeitung kann
mit Recht sagen, sie habe mitgeholfen: So entschlossen
das Weiß-Warum des eigenen – immerhin einzigen – Lebens
außerhalb der eigenen Zwecke und Vorhaben zu
suchen und sich vorurteilsfrei alternative Angebote von
den Ratzingers und Köhlers dieser Welt machen zu lassen,
in denen man selber immer nur als Mittel für die Zwecke
anderer vorkommt, und sich das als seine Freiheit
entdecken zu lassen: Das ist ein schönes Stück moderner,
gelebter Sittlichkeit. Und, weil das immer passt,
natürlich auch ein angemessener, überparteilicher Beitrag
zu einem demokratischen Wahlkampf.
Nach dem Aufenthalt im Trüben zwischen Himmel und Erde, in dem die Pfaffen nach Seelen fischen, findet man kaum zurück zum Nachrichtenkasten, den die Bild-Redaktion trotz allem auf der Frontseite untergebracht hat. Aber der erweist sich einmal mehr als Informationsquelle dafür, mit welch wechselndem Erfolg sich der moderne Mensch, in die Zange genommen von den Verhältnissen und der zugehörigen moralischen Agitation, aus der Affäre zieht
Die Commerzbank will das Weihnachtsgeld abschaffen.
Betroffen sind 25.000 Mitarbeiter.
Immerhin brauchen
sie dann nicht mehr so viel wegen der Geschenke zum
Christfest herumzuhetzen. Fördert das dann die
Besinnlichkeit? Bekommt die Commerzbank dafür einen
Extrasegen von Ratzinger aufs Konto überwiesen? Wg. Kampf
dem Materialismus?
Zwei Brüder (17, 19) aus Norwegen bauten eine Bombe,
um damit einen Geldautomaten zu sprengen. Der Sprengsatz
ging vorzeitig in die Luft, die Brüder starben.
Da
sieht man, wohin die Geldgier führt und schlampiges
Arbeiten. Haben nicht die Geduld für den großen Coup für
kleine Leute gehabt: 12 Mio im Lotto-Jackpot. Da lohnt
das Tippen.
Lohnen tut sich’s natürlich nur, wenn man
gewinnt. Aber: Hier darf man – mit jedenfalls staatlichem
Segen – getrost Sprengversuche unternehmen, da
hat der Fiskus sogar was davon. Ob auch kirchlicher Segen
auf dem kleinen Glücksspiel liegt, ist unklar. Aber die
Papstorgie ist ja fast schon vorbei.
Samstag, 20. August
Titelseiten-Business as usual. Eine neue Giulia Siegel
hält den Kreislauf von Promi-Scheidungen und Hochzeiten
in Gang. Diesmal unter dem Namen Sarah Connor, irgendeine
Schlager-Hupfdohle. Von deren Traumhochzeit
berichtet Bild mit Exklusiv-Fotos
. Der Nachschub
für die nächsten Scheidungsberichte ist damit
sichergestellt. Aber auch das Bedürfnis der Leser nach
positiven Nachrichten bedient; darüber z.B.,
dass im Zwischenmenschlichen nicht nur schmutzige Wäsche
gewaschen wird, sondern immer noch manch Schönes
passiert: Die Sache mit der Liebe ist eben, allen
Widrigkeiten zum Trotz, nicht tot zu kriegen. Kennt man
von sich selbst; immer wieder probiert man’s, vielleicht
klappt es ja doch noch mal. Das wollen doch alle: Die
Popstars
von der Titelseite genauso wie wir, die
davon lesen. Das ist es doch, wofür wir leben, oder?
Der Papst scheint auch noch mal auf. Links oben, in einem
kleinen Kasten: Papst segnet Krebskind!
Scheint keine Angst zu haben vor evtl. Enttäuschung wegen mangelnden Segens-Effektes, etwa im Vergleich zu Lourdes oder anderen Standorten für fromme Spontanheilungen. Scheint sich offenbar in einer echten Win-Win-Situation zu sehen: Wird das gesegnete Kind wieder gesund, dann lag’s an ihm. Wäre, das nur nebenbei, einer eigenen evtl. postmortalen Karriere als Heiliger oder zumindest Seliggesprochener auch nicht abträglich. Wird es nicht wieder gesund, sind wenigstens, je nach Gläubigkeit, die Eltern getröstet.
Nachrichten wieder mager heute: Das
Bundeskartellamt ermittelt gegen die Stromriesen E.ON und
RWE wegen des Verdachts der Preistreiberei. Es habe
deswegen viele Beschwerden gegeben.
Gewöhnlich
steigen die Preise immer einfach von selber. Das
ist erlaubt. Wenn sie getrieben
werden, so lernt
der Bild-Leser, ist das verboten. Gut zu wissen, auch
wenn man selber kaum je in die Lage kommt, einen Preis zu
treiben
. Umgekehrt kennt man’s eher. Ansonsten:
Typisch. Kaum hat man den Strom privatisiert, damit er
billiger wird, wegen der Konkurrenz, schon nützen die
Burschen das aus und verlangen Monopolpreise für ihren
Privatstrom. Aber würden wir doch auch machen, wenn wir
könnten, oder? Also auch menschlich irgendwo … Das
Kartellamt muss halt aufpassen. Und wir müssen noch
bisschen mehr sparen beim Strom. Gibt’s ja auch viele
Möglichkeiten, wenn man sich da mal drum kümmert …
Wenigstens verspricht Merkel: Mit mir wird es keine
Rentenkürzungen geben.
Dann können wenigstens die
Rentner den Strom zahlen, vorausgesetzt sie wählen die
Merkel, und vorausgesetzt die Mehrwertsteuer, die man von
der Rente bezahlen muss, wird nicht zu hoch.
Für die Rentner im Land sieht’s also richtig gut aus,
wenn sie das Richtige wählen. Für andere
Parallelgesellschaften eher nicht so sehr. Das
statistische Bundesamt meldet,
verzeichnet Bild ganz
lapidar in ein paar Kleindruckzeilen, dass die Zahl
der armen Kinder in Deutschland steigt
. Hoffentlich
sind wenigstens ihre Eltern reich!
Bild macht wieder beim Wahlkampf mit und zwar heute schon
auf der Titelseite: Nur 26 Prozent wollen Stoiber in
Berlin
. Bild berichtet über den neuesten Stand des
ZDF-Politbarometers und hebt Stoiber aus den sonstigen
Zahlen heraus in die Überschrift. Seit er die Ostwähler
beschimpft hat, mag ihn Bild nicht mehr so. Wollen zur
Zeit die Sache mit der Wahl ein bisschen anders sehen. Wo
Stoiber es nicht leiden kann, dass er von dem Votum
ausgerechnet derer, die er zu regieren gewohnt ist,
abhängig sein soll, wenn auch nur die eine Ankreuzminute
lang, und sie dem entsprechend anscheißt, wenn sie
falsche Neigungen erkennen lassen, da demonstriert Bild
demokratisches Vertrauen in die Wähler und meint, man
solle sie für ihren doch recht verlässlichen Dienst an
der Herrschaft nicht unnötig vergrätzen… Die Bürger sind
vielmehr schlaue Wähler
, wie sie der
Bild-Kommentar lobt: Stoiber, dem es gefiel,
ungehorsame Untertanen der östlichen Länder als
Dummbeutel hinzustellen
, gaben sie die
Quittung
in Form eines Absturzes in den
Meinungsumfragen
. Und dass sie die Linkspartei in den
Umfragen langsam auf Taschenformat einschmelzen
.
Auch das, befindet der Kommentar, beweist
Weitblick
.
Deswegen hat der Wähler es auch verdient, dass Bild sich
um Arbeit für den Bild-Wahl-Notar
bemüht. Der muss
im Auftrag von Bild mittels schöner, durchnummerierter
Bild-Urkunden
Wahlversprechen notieren und
beurkunden, … um sie nach der Wahl auf ihre
Glaubwürdigkeit abzuklopfen.
Z.B. die Urkunde Nr. 005 über ein Wahlversprechen:
‚Keine Erhöhung der Mehrwertsteuer‘
von Franz
Müntefering; oder: Nr. 006: ‚Nur noch 10 Minuten für
die Steuererklärung‘
von Prof. Kirchhof.
Das ist zwar ziemlich kindisch. Andererseits ist es auch
reichlich demokratisch-hinterfotzig: Bild plustert sich
mit und mehr noch an Stelle seiner Leser auf als
Prüfinstanz für Wahlkampfehrlichkeit, spielt kindgemäß
mit den Formen, in denen staatlicherseits mit notariellem
Brief und Siegel die sanktionsbewehrte Verbindlichkeit
von Vertrags- und anderen Versprechen erzwungen wird, und
will doch nichts anderes, als dass Herr und Frau Wähler
zum Wählen gehen, ansonsten sie ja auch nichts auf
Glaubwürdigkeit abzuklopfen
hätten. Sie sollen sich
also auf jeden Fall, bei allem Misstrauen in die
Versprechen von Politikern, das Bild mit ihnen und
stellvertretend für sie demonstriert, denen erst einmal
ausliefern, denen sie misstrauen und sie erneut als Chefs
der Nation bestallen.
Und dann? Wenn die jetzt doch nicht machen, was
versprochen war? Zwangsvollstreckung? Aufruhr? Umsturz??
Dazu schweigt Bild. Dem kann man entnehmen, dass dem
unglaubwürdigen
Politiker dann wohl die
Höchststrafe drohen würde: Die Wahl der Opposition in
vier Jahren. Es sei denn, er könnte Bild plausibel
erklären, warum nicht ging, was versprochen war, also gar
kein Wahlversprechen gebrochen wurde. Und dass er, oder
ein anderer, diesmal ganz wirklich macht, was er
ankündigt. Oder ganz ehrlich
ist, wie Angie dieses
Mal, indem sie nur noch ankündigt, was die Lage
,
die sie höchstpersönlich definiert, verlangt. Oder gleich
gar nichts mehr verspricht, außer Deutschland zu
dienen
oder so. Das kommt alles immer wieder mal vor.
Bild wird das aufmerksam beobachten.
Insgesamt muss man Bild im Wahlkampf
bescheinigen, dass es den lesenden und wählenden Arbeiter
als demokratisch politisierten Menschen sehr ernst nimmt.
Wenig einseitige Hetze, wenig Gegeifer. Der
abstimmungsbereite Bildleser wird von seiner Zeitung in
seiner Froschperspektive auf den Gang der Politik
bestärkt. Das aber nicht ohne dauernde Erinnerung daran,
dass die, die was werden wollen, sich schon auch bei ihm,
dem wahlentscheidenden und Bild-lesenden Volk, die Stimme
abholen müssen; die Stimme, die jeder, da gibt’s für Bild
kein Vertun, dann aber auch abzuliefern hat, wenn sie
verlangt ist. Dass Bild die Linkspartei nicht mag, das
wird schon ziemlich deutlich. Und dass man Rot-Grün
abgeschrieben hat und Merkel lieber hätte, lässt sich
auch erkennen. Aber, wie gesagt, ohne große, eindeutige
Parteinahme. Die geht eher zwischen den Zeilen: Wenn über
die hohen Benzinpreise geschimpft wird, und
Stellungnahmen aller Parteien dazu kritisch durchgenommen
werden, dann begleiten Fotos von Trittin und Müntefering
den Text. Wenn die kleinen Rubriken Gewinner und
Verlierer des Tages
abgewickelt werden, kommt schon
mal Fischer vor als Verlierer, weil er eine
Spreewaldgurke nicht bezahlt hat, die er im Wahlkampf
irgendwo gegessen hat.
Bild erweckt den Eindruck einer Einsicht, über den
wirklichen Stand der Dinge hinaus. Für Bild ist es
ausgemachte Sache: Wenn die Arbeiterklasse nichts mehr
von sich wissen will, dann gibt es sie auch
nicht mehr und ebensowenig ihren Interessenstandpunkt,
den man mit Anspruch auf Durchsetzung geltend machen
könnte. An die Stelle der Arbeiterklasse sind die
Bildleser getreten. Die arbeiten auch, so wie früher die
Mitglieder der Arbeiterklasse, teilweise jedenfalls.
Teilweise sind sie auch arbeitslos, in Rente oder krank.
Sie sind auch Autofahrer, Steuerzahler, Urlauber,
Christen, sind scharf auf Sex und wählen zwischendurch,
sind also neben allem Aufgezählten vor allem auch
Deutsche. Deutsche Arbeiter, Arbeitslose und Autofahrer
etc. Und natürlich Bildleser. Und weil sich in diesem
Land für die kleinen Leute, die Bildleser, niemand mehr
so richtig in die Bresche wirft, sie selber
eingeschlossen, hat das, journalistisch jedenfalls, die
Bildzeitung übernommen: Indem sie ihrer Leserschaft eine
politisch-moralische Rundumbetreuung angedeihen lässt,
vom Sex über Steuertipps bis zum Seelenleben. Bild
kämpft für Sie
. So macht Bild mit volkstümlichen
Rechtsstandpunkten dann eben auch mal tüchtig
öffentlich Furore, ohne aber, wie das praktische
politische Populisten ab und an mit neuen
Parteien probieren, mit einem in Stimmen
umgemünzten Nationalismus von unten die
Berechnungen der regierenden Nationalisten und
die eingerichteten demokratischen Verhältnisse
durcheinander bringen zu wollen. Im Gegenteil: Bild ist
bereitwilliger, konstruktiver und manchmal drängender
Teil dieser Verhältnisse. Bild gibt demokratischen
Politikern Gelegenheit, ihren Respekt vor dem
Moralismus und der bescheidenen Lebensweise der unteren
Schichten zu bekunden, gibt den Führern der Nation ein
Forum, in dem sie sich als die Fans ihrer
Anhänger vorführen können, denen sie ab und an und
immer öfter erklären müssen – auch das in Bild –, warum
wieder einmal ein paar Härten sein müssen. Das
sieht Bild am Ende meistens ein und entlarvt dafür immer
wieder Figuren der herrschenden Klasse, die sich korrupt
bereichern mitten im allgemeinen Verzicht und auch sonst
Wein trinken, während sie dem guten Bildleser Wasser
predigen. So macht sich Bild um das für demokratische
Gemeinwesen wichtige Denken in Vergleichen und
Alternativen verdient: Man muss in einer Demokratie als
Wähler gar nichts gut finden. Es genügt, wenn
Bild-Leser von den Handreichungen der Redaktion Gebrauch
machen, mit Hilfe derer sie entscheiden können, was sie
vergleichsweise besser oder weniger schlecht
finden könnten. Da tut sich dem wählenden Leser und
seiner Zeitung ein weites Feld auf für Lob und Tadel,
Begeisterung und Wut. Bild lässt seine Kundschaft nie
allein und versorgt sie getreulich mit den passenden
Gesichtspunkten und Sprachregelungen zu allem und jedem,
was ihr auf ihrem Weg durch den
demokratisch-kapitalistischen Alltag begegnet. Und
leistet damit einen beachtlichen, speziell
unterschichtorientierten Beitrag zur bürgerlichen
Öffentlichkeit dieses Gemeinwesens.
*
Montag, 22. August
Die Bildzeitung gibt dem Wähler eine Stimme, ihre
Bild-Stimme eben. Mit seinen Worten und deshalb in der
ersten Person Plural werden die Politiker angesprochen;
zum Wähler, so wie ihn das Blatt sich zurecht und seiner
Leserschaft vorstellig macht, als Leitbild des
idealtypischen, proletarischen Wunsch- und
Durchschnittswählers, hat Bild demonstratives Vertrauen:
„Schlauer Wähler“ tätschelt ihn der
Bild-Kommentar
, wenn er Gysi & Co abrutschen
lässt.
Der Spiegel geht die Sache ganz anders
an: Erstens ist es die dortige Redaktion sowieso nicht
gewohnt, im Namen der Wahlberechtigten im Lande oder
fiktiv mit deren Stimme zu sprechen, sondern, von einem
eigenen überlegenen Beobachterstandpunkt, über
sie. Wie man im Sinne erfolgreichen Regierens mit ihnen
umzugehen hätte; ob es Regierung und Parteien gelingt,
die anspruchsvollen Vorgaben des Spiegel für einen
gelungenen Einsatz der Bewohner des Standorts zu
erfüllen. Das ist nämlich fraglich, wenn diese sich so
äußerst merkwürdig benehmen wie zur Zeit. Die von
Umfragen aufgedeckten Neigungen der Wähler erregen
offenbar den Unwillen des Spiegel. Das Blatt hält es
deswegen für angebracht, mit einer vollen antilinken
Breitseite gleich auf dem Titelblatt in den Wahlkampf
einzusteigen. Von dort lässt es Karl Marx mit dem
Victory-Zeichen grüßen und behauptet, der Alte käme grade
als Gespenst
zurück, und seine
Wiederauferstehung
falle zusammen mit einer
neuen Macht der Linken.
Dafür haben die Hamburger eine zweiteilige Titelstory
zusammengeschustert. Teil eins kündigt sich im
Inhaltsverzeichnis gleich mit einer Kurzfassung des
Artikels an: Beim Werben um ostdeutsche Wähler
verdrängen alle Parteien die wahren Probleme
, während
Teil zwei die schon zitierte Wiederauferstehung
zu
beleuchten verspricht.
Teil eins fackelt nicht lange und kommt schnell zur
Sache: Anlässlich demoskopisch ausgeforschter noch 50
Prozent unentschlossener Wähler findet der Spiegel diesen
sonst als eher stabil und verlässlich bekannten
Menschenschlag derzeit ratlos
, verunsichert
und zickig
. Die Hamburger kennen das Homeland der
besonders wankelmütigen Wähler
. Es ist natürlich
der Osten und der Ostwähler
ist es, der offenbar
nicht einfach und klar durchwählen will, um sich
dann zügig durchregieren zu lassen.
Und dann bekommen diese Typen vom Hamburger
Nachrichtenmagazin für die westlichen Besserverdiener
einmal so richtig gesagt, was man von ihnen zu halten und
wie man mit ihnen umzugehen hätte, wenn man nicht der
derzeit leider in Politikerkreisen üblichen Feigheit
vor dem Osten
verfallen wäre, was beim Spiegel nicht
zufällig nach Feigheit vor dem Feind
klingt. Weil
national verantwortlicher Journalismus aber nicht gewählt
werden will, und sich in der Spiegel-Variante auch nicht
mit dem niederen Volk gemein macht, darf er auch richtig
grob werden, wie es sich nicht einmal Stoiber in einem
niederbayrischen Bierzelt trauen würde. Zumal gegenüber
Leuten, die sowieso nicht richtig dazu gehören.
Also, erstens und prinzipiell: In den neuen Ländern
tickt eine soziale und ökonomische Zeitbombe. … der
bisher gepflegte Transfer-Konsens – wir zahlen, ihr
haltet still – (ist) auf Dauer nicht durchzuhalten
.
Denn: fast 40 Prozent der Nettoeinkünfte ostdeutscher
Haushalte stammen aus öffentlichen Mitteln, mit
steigender Tendenz. Im Westen sind es etwa nur 25
Prozent. Dies beeinträchtigt in zunehmendem Maße den
Wirtschaftskreislauf in Westdeutschland.
Die Nation kann sich die Ossis nicht mehr
leisten. Der Spiegel setzt auf die volkswirtschaftliche
Bildung seiner Leser, die genau wissen, dass private
Haushalte eigentlich dazu da sind, die öffentlichen
Haushalte zu finanzieren und nicht umgekehrt. Um davon
möglichst wenig betroffen zu sein, beschäftigen nicht
wenige Spiegel-Leser teure Steuerberater. Wenn das aber
alle so machten, vor allem diese ostdeutschen
Haushalte
, wo kämen wir da hin? Dann stimmte die
Flussrichtung zwischen öffentlichen und privaten
Haushalten nicht mehr. Und das lässt den stärksten
Wirtschaftskreislauf
kollabieren.
Zweitens: Nach entschiedener Auffassung des Spiegel sollte sich die Nation diese Bevölkerungsteile auch nicht mehr leisten. Das muss jedem sofort einleuchten, der sich einmal bewusst macht, wofür und für wen eigentlich das ganze schöne Westgeld ausgegeben wird. Um diesen Aufklärungsprozess macht sich die Spiegel-Redaktion verdient:
Die Ost-Gesellschaft ist nämlich inzwischen nach den
Maßstäben der neuen Gesellschaftsordnung, für die frühere
und bessere Ostdeutsche eine Revolution
gemacht
haben sollen, fertiggestellt. Auch im Osten hat sich
die Gesellschaft ausdifferenziert in Gewinner und
Verlierer, in Flexible und Faule.
Sodann haben sich
aus leer gefegten Regionen die Klugen abgesetzt
und es ist eine fremde Welt
entstanden: Im
Osten ist eine Welt entstanden, die abgekoppelt ist von
der ökonomischen Wirklichkeit der alten Bundesländer, in
der es zwar auch Krisengebiete gibt, Gelsenkirchen oder
Bremerhaven etwa, aber weder durchschnittlich fast 20
Prozent Arbeitslosigkeit noch diese Abwanderungswelle…
Teile des Ostens… vergreisen, verblöden und versteppen.
Der bittere Scherz über das Kürzel DDR ‚Der Doofe Rest‘ …
hat noch heute Gültigkeit.
Da sprechen die Resultate des investigativen Hamburger Journalismus für sich: Milliarden in menschenleere östliche Steppen zu pumpen, wo nur mehr verblödete Greise herumlungern! Ein einziger Wahnsinn.
Drittens: Man sollte also endlich zur Kenntnis nehmen,
dass die Illusion von der ‚Angleichung der
Lebensverhältnisse‘ geblieben ist, was sie von Anfang an
war: eine Illusion
, und auf die Forderung des
Bundespräsidenten Horst Köhler
hören: dass man
sich in Deutschland vom Ziel gleicher Lebensverhältnisse
verabschieden müsse.
*
So sehr sich der Spiegel dafür ins Zeug legt, nicht
länger gegen alle schlechten Erfahrungen und gegen alle
volkswirtschaftliche Vernunft mit viel gutem Geld am
deutschen Mezzogiorno herumzuzerren, so suspekt ist ihm
die Partei, die sich die Verhältnisse dieser
fremden Welt
zunutze macht, sich gegen die neue
kapitalistische Vernunft stellt und damit gänzlich
unverdienten Erfolg bei den nächsten Wahlen zu haben
droht.
Der Osten will, so scheint es, den Weststaat kollektiv
leiden sehen und sei es durch eine Partei, die ihm früher
Karl Marx und die Planwirtschaft eingebrockt hat.
Eine Partei, die als Partei des Weiter-so auf den
alten Transfer-Staat setzt: ein hoher Mindestlohn, … mehr
Rente. Auch wer nicht arbeitet, soll das Leben
genießen.
Das sind die Skandale, an denen die
Spiegel-Redaktion kollektiv leidet: Rentner wollen ihr
Leben genießen, obwohl sie nicht arbeiten! Diesem
Weiter-so wirft sich das Blatt entgegen und verfolgt
den Populisten Gregor Gysi
und seine
Heilslehre
von der sozialen Gerechtigkeit
mit solidem Hass.
Dass die Ostler so verblödet, ihre Rentner so
genusssüchtig und sie alle so sadistisch gegenüber dem
Weststaat
auf dessen „Leiden“ aus sind, hat seinen
Grund in der Psychopathologie dieser weniger klugen
Bevölkerungsteile
: Die totalitäre Herrschaft hat
Spuren von Verstörung und Zerstörung in die Seelen
gezeichnet.
So lässt der Spiegel den Stasi-Jäger
Gauck zu Wort kommen und hält die ostdeutsche Wut und
die Enttäuschung
für zwangsläufig
. Diese
Seelenkrankheit hat Gysi immer bedient
. Und sich
dabei auch noch der Hilfe altgedienter Marxisten
bedient! Da haben die Spiegel-Leute kurz ihr Archiv
geöffnet: Die sollen sich gegenseitig sogar ab und an mit
einem Job ausgeholfen haben! Und mit Egon Krenz nach
seiner Haftentlassung eine diskrete Feier
abgehalten haben!!! Das tut zwar nichts zur Sache, wirft
aber für den Spiegel ein bezeichnendes Licht auf die
Typen, die sich jetzt das Vertrauen der gemütskranken
Bevölkerung mit allerlei Hilfsleistungen für den
kapitalistischen Alltag erschleichen und sich dafür
wählen lassen! Und die zum Gedenken an Liebknecht und
Luxemburg alljährlich alte, fast religiöse Rituale
abhalten, usw. usf.
Ach Spiegel! Muss man wirklich aus lauter
national-demokratischer Parteilichkeit selber verblöden?
Man muss anscheinend. Muss man wirklich, weil man alles
und auch nur das vermeintlich Kommunistische hasst, nur
mehr wirren Stuss und Gemeinheiten absondern, und nur
mehr Zynismen über den Lebensstandard von Rentnern? Bei
soviel westdeutscher Wut und Enttäuschung
, wie sie
offenbar in der Spiegel-Redaktion herrscht über die neuen
Landsleute von drüben, ist das offenbar
zwangsläufig
. Könnte man sich nicht wenigstens
eineinhalb Seiten lang merken, was man grade eben mal
selber an einfachem Sachverhalt zwischendurch bemerkt
hat, oder geht das nicht, wenn man so geifert wie der
Spiegel? Dass man es im Osten mit der Enttäuschung
eines ganzen Landes
zu tun hat, das auf Wohlstand
für alle hoffte, wie es Helmut Kohl versprach, und
stattdessen eine Massenarbeitslosigkeit bekam, wie sie
Karl Marx prophezeit hatte.
Ob Marx die
Arbeitslosigkeit in der Zone oder sonst irgendwas
prophezeit
hat kann man hier dahingestellt sein
lassen. Aber: Solches konstatierend gäbe es genug am
Verstand der Ossis und ihrer nationalistischen
Vertrauensseligkeit herumzunörgeln, wenn sie sich
ausgerechnet vom fertigen Westkapitalismus Wohlstand
für alle
versprochen haben; und das, ohne dass man
sie für Psychopathen halten müsste; eine Kritik ihres
mangelnden Klärungs- und Bildungswillen, betreffend die
Funktionsweisen und Zwecke des freiheitlichen wie des
realsozialistischen Wirtschaftens, wäre gewiss nicht
ungerecht. Aber derlei Kritik ist den kritischen
Kritikern vom Spiegel fremd. Die halten die Ossis für
bescheuert, weil sie denen anlasten, dass unser
schöner Kapitalismus sie nicht gebrauchen kann. Dass die,
weil ihnen Staat und Kapital keine rechte Gelegenheit zum
Funktionieren eröffnen, sich dann im Gegenzug als
wahlberechtigte Staatsbürger daneben benehmen, hält der
Spiegel für so unverzeihlich, dass er die personellen
Neuerwerbungen im Osten am liebsten mit der Höchststrafe
belegen würde: Die Blödmänner sollen bleiben wo sie sind,
die Transfers haben so weit wie möglich aufzuhören;
ansonsten sollte ab und an vielleicht ein psychiatrisches
Ärzteteam in der Steppe vorbeischauen. Könnte man ihnen
nicht vorübergehend wg. Wegfalls der Geschäftsfähigkeit
Wahlrecht und Staatsbürgerschaft entziehen?
Was das alles mit der auf dem Titel verkündeten neuen
Macht der Linken
zu tun hat? Warum uns Marx dort das
Victory-Zeichen macht? Dass eine gerade weg von
Marx und hin zur Sozialdemokratie alten Typs reformierte
frühere Staatspartei der Systemkonkurrenz
, die
selbst nach Erkenntnissen des Spiegel keine
kommunistische Organisation mehr ist
, heute knapp 10
Prozent im Bundestag zu holen droht: Reicht das, um die
Rückkehr des Marxismus zu proklamieren? Oder kommt es
einfach nicht so drauf an, wenn’s drum geht zu hetzen und
einen antiöstlichen Titel-Aufreißer zu produzieren? Oder
sind Spiegel-Redakteure einfach so blöd wie sie es den
Ostlern vorhalten? Von allem ein wenig wird’s schon sein:
Schließlich handelt es sich bei beiden um enttäuschte
Nationalisten. Die einen, weil ihnen das neue System die
materielle und moralische Integration in den erweiterten
Volkskörper schwer macht. Die anderen, weil sie
keinesfalls dem – für sie guten – alten System, sondern
viel eher den neuen Bürgern die Schuld daran zuweisen
wollen.
*
Der zweite Teil der Titelgeschichte über Marx’ angebliche
Wiederauferstehung
ist nicht der Befassung wert.
Der x-te Aufguss von ein bisschen Biographie, gemischt
aus bemerkenswerter Denker
und Denunziation
(Dienstmädchen geschwängert, rechthaberisch, Schnorrer,
bürgerliches Gehabe); ein bisschen Frühschriften und
Manifest wg. philosophischer Feuerkopf
,
Sprachgewalt
etc., und einem extrem lesbaren
Kompress der ökonomischen Theorie:
Die Wert- und Preistheorie, nach der eine Ware so viel
wert ist, wie Arbeit in ihr steckt: falsch, sinnlos,
überholt. Das Gesetz vom tendenziellen Fall der
Profitrate: ebenso. Die Verelendung der Arbeiterklasse:
nicht eingetroffen, ebenso wenig wie der Zusammenbruch
des Kapitalismus, der doch ursprünglich an seinen Krisen
und am drastischen Schwanken der Konjunkturzyklen
verenden sollte.
Ende der Vorlesung. Als Zeugen
werden aufgerufen: Gegen Marx ein Professor für
Dogmengeschichte, Vorsitzender der ‚Aktionsgemeinschaft
Soziale Marktwirtschaft‘, mit marktliberalen
Ansichten
, der für den Spiegel – nach dessen
Verständnis offenbar gegen Marx! – kurz klarstellt, was
wirklich sozial
ist: a) wenn weniger umverteilt
wird statt mehr
b) wenn man alles kaufen darf
und c) wenn der Markt herrscht, unbehindert,
überall
. Pro Marx spricht die Gräfin Marion von
Dönhoff von der „Zeit“. Die bescheinigt dem Marxismus
freundlicherweise Unvergänglichkeit
als Summe
uralter Menschheitsideale: soziale Gerechtigkeit,
Solidarität, Freiheit für die Unterdrückten, Hilfe für
die Schwachen.
Damit könnte sich vielleicht sogar der
Spiegel anfreunden, würden doch derlei Komplimente,
träfen sie zu, eher die Regression der marxistischen
Wissenschaft zum frommen Weltverbesserungsidealismus,
also den Hirntod des Marxismus bezeugen als seine
Wiederauferstehung
. Vorausgesetzt solch
freundliche Worte über die Leiche führen nicht zu
falschem Wahlverhalten in demokratischen Kreisen. Wenn
das zu befürchten ist, wie zur Zeit, dann lässt das
seriöse Hetzblatt aus Hamburg lieber nichts anbrennen.
*
Was sonst noch? Fischer wird auf Wahlkampftour begleitet. Spiegel berichtet spöttisch über die lächerlichen Dummheiten des Außenministers beim Stimmenfang. Dabei fließt viel Überlegenheit des Journalisten ein, der es offensichtlich genießt, brühwarm weiterzugeben, wie sich der Chefdiplomat einer imperialistischen Mittelmacht grade wieder in einen einfachen Joschka und Wahlverlierer zurückverwandelt, vor dem er keinen Respekt mehr haben muss; wie der sich anbiedert, damit er bleiben kann, was er so gerne ist.
*
Dagegen ein seriöseres Gespräch mit einem möglichen
Nachfolger: Wolfgang Gerhardt, FDP. Da bereden künftiger,
möglicher Amtsinhaber und kennerischer Spiegel-Mann ganz
ernsthaft die imperialistischen Optionen Deutschlands auf
der Welt: In UNO und EU, mit Bezug auf die Amis und den
Iran, den man nicht – wie Schröder – in den Wahlkampf
hineinziehen sollte
, den man aber, zusammen mit
Bush, kleinkriegen muss. Gibt’s Krieg?, fragt der Spiegel
ganz cool, bzw.: Sind militärische Reaktionen als
Ultima Ratio impliziert?
Und Gerhardt sagt: Wir
müssen nicht alle Fragen bis zum Ende beantworten, damit
andere Regierungen genau wissen, was sie sich alles
erlauben können.
Nächste Frage.
*
Merkels Kompetenzteam stellt Spiegel auch vor.
Umständlich, länglich. Weiß z.B., dass Saar-Müller einen
Quadratschädel
hat und eine schnarrende, stets
zu laute Stimme
. Hält das Kompetenzteam für einen
Befreiungsschlag
Merkels und sympathisiert offen.
Kirchhof kommt mit ein paar Beispiel-Rechnungen vor, die
künftige Sozialministerin mit der Kopfpauschale. Sie hat
sich Spiegels Respekt erworben als Eisenfuß
, weil
sie in Niedersachsen den Blinden das Blindengeld
gestrichen hat. Bild hat sie dafür nicht gelobt.
*
Der Vergewaltigungsprozess gegen den kleinen Fernsehfuzzy
kommt auch vor. Der Spiegelleser ist natürlich nicht so
geil wie der Bildleser. Aber wissen soll er schon auch
alles, in allen Einzelheiten. Aber wahrscheinlich mehr,
weil Spiegelleser über den Zeitgeist Bescheid wissen
will. Der Spiegel weiß sogar noch einen besseren
Gesichtspunkt: Braucht es denn solche Prozesse überhaupt?
Ist das der Sinn der Strafjustiz?
Sehr kritisch,
sehr Spiegel: Stets auf den funktionellen, erfolgreichen
und sparsamen Einsatz staatlicher Ressourcen bedacht, der
auch noch Sinn
machen soll.
*
Insgesamt muss man dem Spiegel bescheinigen, dass er seine Rolle in der Öffentlichkeit als „Meinungsführer“ einer gehobenen Leserschaft sehr ernst nimmt. Dass autoritäre Regierungen ihre Presse unter Kuratel stellen, um die Meinung ihrer Untertanen aufs korrekte staatstreue Gleis zu führen, ist für das Nachrichtenmagazin eines der schlimmsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Der Spiegel stellt umgekehrt die Regierung – und nicht nur die – unter seine Kuratel, um die Politik auf die einzig korrekte Erfolgsspur zu setzen. Allmontäglich nimmt er den Standpunkt des überparteilichen Super-Regierungsorgans ein, um von da aus die wirklichen Regierenden, wenn nötig einschließlich der mitregierenden Opposition, schlecht zu machen. Dabei hat er für die gewöhnlichen Bemühungen der Öffentlichkeit, den unzufriedenen Bürger mit parteilicher Information und objektivem Kommentar zum Parteigänger einer ordentlichen Herrschaft zu machen, eher Verachtung übrig. Er bedient den Standpunkt des fertigen Citoyen, der die praktische Politik kritisch daraufhin beäugt, wie weit sie mal wieder unter Niveau agiert. Woche für Woche ist er mit einem einschlägigen Skandal zu Diensten, nämlich mindestens mit der hemmungslos skandalisierenden Aufbereitung großer und kleiner Misserfolge der marktwirtschaftlich, politisch oder auch kulturell engagierten Sachwalter der deutschen Nation, von Fehlschlägen und Missgriffen, sich anbahnenden Katastrophen und von den Verantwortlichen verschlafenen Weltuntergängen, die ohne den investigativen Journalismus der Oberverantwortlichen aus Hamburg mal wieder keiner bemerkt hätte.
Manchmal muss das Magazin sich freilich beeilen, dass es
nicht irgendeinen Zug der Zeit verpasst, der dann ohne
Hamburger Initialzündung abfährt. Also z.B., dass es bei
der fälligen offenen Generalabrechnung der Nation mit
ihren teuren Ossis nicht zu spät kommt, wenn Stoiber und
Konsorten schon alles Nötige gesagt haben, und bei der
Hetze gegen die Überreste sozialdemokratischer
Arbeiterfreundlichkeit in Gestalt der ‚Linkspartei‘ nicht
unversehens ins Hintertreffen gerät, wenn schon jeder
Sozialdemokrat den eigenen Ex-Parteichef einen
verantwortungsflüchtigen Populisten schimpft. Sein
Copyright auf alles, was als nationaler Skandal will
gelten können, lässt der Spiegel sich auch dann nicht
nehmen. Bei Bedarf bringt er es noch allemal fertig, im
Gestus des unzufriedenen Sittenwächters letzter Instanz,
noch ein paar Etagen oberhalb von Bundespräsident und
Bundesverfassungsgericht, den zeitgeistigen Konsens der
Demokraten zu übertrumpfen: Vom Aufschwung
des Marxismus!
und der neuen Macht der Linken!
hat der Rest der Republik bis zum 22.8. mal wieder gar
nichts bemerkt. Nur der Spiegel ist auf Draht: wartet
nicht, bis es das antinational Böse, vor dem er
Deutschland bewahren muss, tatsächlich gibt und der
Großangriff der neuen Marxisten und der verwöhnten Greise
aus dem Osten aufs teure Vaterland wirklich ins Rollen
gekommen ist; rüttelt auf, wo der amtliche
Verfassungsschutz noch pennt; ist den Regierenden mal
wieder mindestens eine Runde voraus. Und als freiwillige
Gesinnungspolizei ganz in seinem Element.
Da ist die Meinungsfreiheit wirklich in den besten Händen.