Streiks bei Ryanair
Internationalisierte Arbeiterschaft kämpft für nationales Recht

Beim irischen Billigflieger Ryanair finden Ende 2017 zum ersten Mal in der Unternehmensgeschichte Ausstände der Piloten an deutschen Standorten statt. Ein Jahr später weiten sie sich zu koordinierten gewerkschaftlichen Streiks von Piloten und Kabinenpersonal in mehreren europäischen Ländern aus. Das Ziel des internationalen Kampfes: Tarifverträge nach dem Recht des Landes, in dem sich die jeweilige Heimatbasis der fliegenden Belegschaft befindet. Es soll nämlich damit Schluss gemacht werden, dass Ryanair sich bei der Ausnutzung seiner Mitarbeiter nicht auf die Sitten und Gebräuche des jeweiligen nationalen Niedriglohnsektors beschränkt.

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Streiks bei Ryanair
Internationalisierte Arbeiterschaft kämpft für nationales Recht

Beim irischen Billigflieger Ryanair finden Ende 2017 zum ersten Mal in der Unternehmensgeschichte Ausstände der Piloten an deutschen Standorten statt. Ein Jahr später weiten sie sich zu koordinierten gewerkschaftlichen Streiks von Piloten und Kabinenpersonal in mehreren europäischen Ländern aus. Das Ziel des internationalen Kampfes: Tarifverträge nach dem Recht des Landes, in dem sich die jeweilige Heimatbasis der fliegenden Belegschaft befindet. Es soll nämlich damit Schluss gemacht werden, dass Ryanair sich bei der Ausnutzung seiner Mitarbeiter nicht auf die Sitten und Gebräuche des jeweiligen nationalen Niedriglohnsektors beschränkt.

Ryanair „verschaffe sich durch ‚Lohndumping und Umgehung gesetzlicher Bestimmungen unfaire Wettbewerbsvorteile‘. Insofern seien auch die Beschäftigten der insolventen Air Berlin Opfer von ,Konkurrenten, die Arbeitnehmerrechte mit Füßen treten‘.“ (UFO-Tarifvorstand Baublies, FAZ, 24.10.17) „Es gibt bei Ryanair eine despotische Willkürherrschaft.“ (Verdi-Vertreterin Wesenick, 12.9.18)

Das sieht nicht nur das streikende Personal so. Auch der Großteil der deutschen Öffentlichkeit und sogar ein sozialdemokratischer Arbeitsminister zeigen sich ungewohnt einig darin, dass es bei Ryanair mit rechten Dingen nicht zugehen kann.

Von wegen.

Das Geschäftsmodell Ryanair: Von den Freiheiten des europäischen Rechtsrahmens und Arbeitsmarktes

Gegen den Befund spricht schon der Umstand, dass die Herren übers europäische Recht unter dem Titel ‚Liberalisierung‘ genau die Freiheiten geschaffen haben, die Ryanair so erfolgreich ausnutzt. Die Regeln des Transportgeschäfts über Ländergrenzen hinweg sind seit jeher ihre Verhandlungssache. Und seit über 25 Jahren erlauben sie so einiges: 1993 haben sie die Liberalisierung des europäischen Luftverkehrs in die Wege geleitet, sie seitdem durch ein ECAA-Abkommen (‚European Common Aviation Area‘) und ein Open-Skies-Abkommen um europäische Nachbarländer und die USA erweitert; und sie stellen auch weitere Öffnungen des Marktes für außereuropäische Airlines in Aussicht. Damit eröffnen die europäischen Staaten ihren Fluggesellschaften die Freiheit, ihre Stützpunkte sowie Start- und Zielflughäfen unabhängig von ihrer jeweiligen Heimat frei auszuwählen, sowie die Preise und Kapazitäten ihrer Flüge – vormals in einer Vielzahl bilateraler Abkommen festgelegt – gemäß ihren Konkurrenzinteressen selbst zu gestalten. Die Staaten tun das, weil sie ihre eigenen, konkurrierenden Interessen daran knüpfen – im Transportgeschäft wie überall sonst mit der Berechnung, das international freigesetzte Geschäft als Mittel ihres eigenen nationalen Erfolgs wirken zu lassen. Dazu verwenden sie auch ihre Hoheit über ihre nationale Rechtslage, insbesondere über ihren Arbeits- und Sozialrechtskatalog, um ihren Standort zu einem besonderen Angebot für das freigesetzte Geschäft herzurichten.

Die so geschaffenen internationalen Freiheiten und nationalen Standortangebote nutzt Ryanair nach bester unternehmerischer Manier aus, um – zusammen mit einigen anderen Konkurrenten – das Fliegen in Europa zu revolutionieren, nämlich das europäische Fluggeschäft um ein ganz dickes Billigsegment zu ergänzen. Mit viel juristischem Geschick und der demonstrativen Gnadenlosigkeit seines Chefs in Sachen Kostensenkung hat Ryanair an beiden Enden seiner Betriebskalkulation mit Kampfpreisen neue Standards für die Preise von Flugtickets und für die Entlohnung von Stewardessen und Piloten gesetzt – und damit beachtliche Konkurrenzerfolge eingefahren. Es führt damit eindringlich vor, was im europäischen Rechtsrahmen und in den dort befindlichen Arbeitsmarktbedingungen alles steckt – was dort also für ein tüchtiges Unternehmen alles herauszuholen ist.

Mit der Flexibilität seines fliegenden Kapitals vergleicht es seine Start- und Zielflughäfen rigoros nach niedrigen Kosten und kurzen Standzeiten der Maschinen – und trifft dabei auf willige Bewerber: Insbesondere für geografisch abgeschiedene, wirtschaftlich ‚abgehängte‘ Regionen, deren Flughäfen deshalb von der Konkurrenz gemieden werden, stellt Ryanair ein attraktives, weil oft alternativloses Angebot dar: eine einmalige Gelegenheit, am internationalen Touristen- und Logistikgeschäft vermehrt oder überhaupt erst beteiligt zu sein. Manche Provinz rückt so als Kapitalstandort – nicht nur dem Namen des Flughafens nach – näher an die Großstadt. Die Konkurrenz solcher europäischer Regionen um Aufnahme in Ryanairs Flugplan durch das Angebot günstigster Konditionen und auch durch Subventionen erlaubt dem Billigflieger nicht selten eine quasi gebührenfreie Nutzung der Flughäfen. Und sollten die Subventionen auslaufen – bzw. werden sie durch EU-Ermittlungen für illegal erklärt – ist für den Flughafenwechsel kaum mehr nötig als die Streichung dieses Ziels im halbjährlich neu angelegten Flugplan, mit entsprechend ruinösen Wirkungen für das lokale Geschäft, aber ohne nennenswerte Folgen für Ryanair.

Geschäftsdienliche Freiheiten bietet auch das europäische Recht auf Arbeitnehmerfreizügigkeit, das den Arbeitssuchenden aller Mitgliedsländer die Chance eröffnet, sich in ganz Europa anzubieten. So kann Ryanair auf einen kontinentweiten Personalpool zugreifen, zumal es von den Kandidaten außer rudimentären Englischkenntnissen kaum mehr als die Bereitschaft fordert, die Kosten ihrer Ausbildung selbst zu tragen. Dafür müssen sie nicht einmal eine Bank aufsuchen; sie können sich gleich bei Ryanair verschulden. Auch das ein Angebot, mit dem Ryanair sich zwar wenige Freunde macht, mit dem es aber auf viele willige Interessenten trifft – aus irgendeinem Grund insbesondere unter süd- und osteuropäischen Arbeitsmigranten.

Was die Form der Beschäftigung seiner europäisch zusammengewürfelten Belegschaft angeht, bastelt sich Ryanair eine günstige Kombination zurecht: Sein Kabinenpersonal entleiht es sich zum größten Teil – seine ranghöchsten Flugbegleiter, sogenannte ‚Purser‘, werden in der Regel fest angestellt – bei irischen Zeitarbeitsfirmen, mit entsprechend befristeten Arbeitsverträgen, ohne Basisgehalt und ohne garantierte Flugstunden. Seine Piloten bildet Ryanair nicht selbst aus, sondern schafft eine Geschäftsgelegenheit für private Ausbildungszentren, die jungen Menschen den teuren Traum, Pilot zu werden, erfüllen. Wenn sie ihre Ausbildung durchlaufen und sich neben ihrer Pilotenlizenz eine Schuldenlast im hohen fünf- bis sechsstelligen Bereich erworben haben, können sie bei Ryanair und anderen Billigairlines antreten, die sich die Investition in die Pilotenausbildung dadurch sparen können. Viele von ihnen allerdings nicht unmittelbar: Um am Ende bei Ryanair zu landen, müssen die Jungpiloten erst als selbständige Ich-AGs mit irischem Briefkasten starten, um sich dann von britischen Personalagenturen an Ryanairs verschiedene europäische Stützpunkte vermitteln zu lassen. Ryanair legt sehr viel Wert auf die Selbständigkeit seiner Piloten. Erstens in dem Sinne, dass sie die Sozialversicherungskosten alleine zu tragen haben; dafür müssen sie sich nicht um den komplizierten Papierkram kümmern: Das übernehmen die hauseigenen Steuerberater der Vermittlungsfirmen – und seit einem knappen Jahrzehnt auch die Staatsanwaltschaft Koblenz. [1] Zweitens in dem Sinne, dass Ryanair Strafen für den Fall vorsieht, dass die Piloten auf die Idee kommen, sich zu kollektivieren. [2]

Bei der Ausschöpfung aller Möglichkeiten, die der europäische Rechtsrahmen zur Ausgestaltung der Arbeitsverhältnisse bietet, hat das Unternehmen es zu einem besonderen und für sein Geschäftsmodell entscheidenden Kniff gebracht: Zwar ist auch in jedem Arbeitsvertrag mit Ryanair ein Dienstort angegeben – die ‚Heimatbasis‘, an der Flugzeuge und Crew morgens starten und nach möglichst effizienter Verkettung der Zielflughäfen quer durch Europa abends schließlich wieder landen, in dessen Nähe das Personal also auch wohnt und lebt. Aber die Frage, wo es arbeitet, beantwortet sich laut Ryanair ganz anders: Die Arbeit des fliegenden Personals beginnt und endet schließlich in sich bewegenden irischen Flugzeugen. Für Ryanair bedeutet das im Umkehrschluss, dass die gesamte Zeit vor und nach dem Start – Anreise, Wartezeiten, Verspätungen, Hilfe bei der Reinigung der Kabine etc. – nicht zur Arbeitszeit zählt, also auch nicht bezahlt wird. Diese Auffassung darüber, wo die Arbeit bei Ryanair stattfindet, hat für das Unternehmen noch einen weit wichtigeren Stellenwert: Weil ausschließlich in der Luft in irischen Flugzeugen gearbeitet wird, kann unabhängig davon, in welchem Land sich der Dienstort befindet, für das Arbeitsverhältnis irisches Arbeitsrecht zugrunde gelegt werden. Die Rom-I-Verordnung gestattet das; das Unternehmen muss sich bloß mit seinen Angestellten darauf einigen. Also besteht Ryanair darauf. Das irische Arbeitsrecht bietet nämlich einige Vorteile für ein Unternehmen, das wie jedes solide Unternehmen viel Wert auf die Willigkeit und Billigkeit seines Personals legt – insofern auch ein anschauliches Beispiel für die Mittel der Standortkonkurrenz, zu denen europäische Staaten greifen, auf die Ryanair also zurückgreifen kann: Das irische Recht gestattet z.B. eine zwölfmonatige Probezeit und auch danach kaum Kündigungsschutz, unbegrenzt unbezahlten Zwangsurlaub und Null-Stunden-Verträge. Solche Verträge erlauben es Ryanair, die abgerufene und bezahlte Arbeitszeit flexibel an den Konjunkturen des Geschäfts auszurichten und insbesondere in der alljährlich schwächeren Winterzeit – auch fest angestelltes – Personal unbezahlt am Boden zu lassen.

Den Umstand, dass das irische Recht auch den Wechsel des Dienstortes zur Verhandlungssache zwischen Unternehmen und Belegschaft erklärt, benutzt Ryanair als ständige Mahnung an unzufriedene Belegschaften, dass eine Verlegung der Heimatbasis eine äußerst leicht zu bewältigende logistische Frage ist. Den entsprechenden Flughafen braucht Ryanair dazu noch nicht einmal aus dem Flugplan zu streichen. Es genügt, ihn zu einem Zielflughafen zu machen, der zwar angeflogen wird, aber nicht länger ein Ryanair-Standort ist. Seine Leiharbeiter kann Ryanair dann ohnehin nach eigenem Gusto erneut anheuern oder auch nicht; falls die Festangestellten sich weigern, entsprechend umzuziehen, kann Ryanair ihnen nach irischem Recht fristlos kündigen.

Ob die Rechtsauffassung, die Ryanair mit seinen Arbeitsverträgen praktiziert, immer rechtens ist, darf bezweifelt werden. Aber das heißt eben auch nur das: Es darf bezweifelt werden. Recht und Gesetz sind das eine, die Klage gegen einen vermeintlichen Verstoß eine ganz andere Sache, die zudem mit einigen Kosten, Risiken und langen Fristen für den Kläger verbunden ist. Noch vor dem langen Verfahren hat er den langen Weg zu einem irischen Gericht anzutreten und eine zusätzliche Sprachbarriere zu überwinden. Ryanair versteht sich darauf, diese wunderbare demokratische Errungenschaft der Gewaltenteilung für sich auszunutzen, indem es gegenüber seinen abhängig Beschäftigten Tatsachen schafft und es darauf ankommen lässt, ob sie tatsächlich den Willen und die Fähigkeit aufbringen, diese gerichtlich prüfen zu lassen. Ansonsten gilt: No plaintiff, no judge.

So schafft Ryanair Vertragsverhältnisse, die sich seitens des Unternehmens ganz in das Moment der Freiheit, aufseiten der Belegschaft ganz in das der Verpflichtung gegenüber dem Unternehmen auflösen. Für Ryanair gibt es nichts zu verhandeln, also braucht es auch keinen Verhandlungspartner: Es diktiert ausgesuchten Vertretern der Beschäftigten, welche Arbeitsbedingungen zu gelten haben und weist Forderungen nach gewerkschaftlicher Vertretung und Betriebsräten konsequent und erfolgreich zurück. Seinen Hass auf die Gewerkschaften pflegt O’Leary geradezu demonstrativ: Eher friere die Hölle zu, als dass Ryanair mit solchen Mafiabanden verhandle. Entsprechend engagierte Individuen werden eingeschüchtert, wegen Verleumdung verklagt und/oder entlassen; und wo größere Teile der Belegschaft zu dem Schluss gelangen, dass sie um Abwehrversuche nicht herumkommen, da sieht Ryanair sich in der komfortablen Lage, sein unzufriedenes Flugpersonal mit Versetzungen, Entlassungen oder Standortschließungen so glaubwürdig abzuschrecken, dass die einzelnen Belegschaften an den Standorten – die zahlreichen Leiharbeiter erst recht – bis 2017 von der Idee, Arbeitskämpfe zu führen, Abstand genommen haben. Aus eigener Kraft haben sie in 25 Jahren Billigfliegen dem Unternehmen nichts entgegenzusetzen gehabt.

Ein unverhoffter Glücksfall für sie, dass es dabei nicht geblieben ist.

Der internationale gewerkschaftliche Kampf um nationale Tarifverträge

1. Zum Jahreswechsel 2017/2018 kehrt nach der Ära der despotischen Willkür so etwas wie sozial-marktwirtschaftliche Normalität ein: In Deutschland erringen zuerst die Pilotengewerkschaft Vereinigung Cockpit (VC) und dann die von Verdi vertretenen Flugbegleiter – neben zahlreichen anderen Piloten- und Flugbegleitergewerkschaften an anderen europäischen Standorten – die formelle Anerkennung als Tarifpartner. Sie können damit erstmals in ordentliche Tarifverhandlungen mit dem Unternehmen treten. Die Notwendigkeit eines periodischen Arbeitskampfs bleibt den fliegenden Mitarbeitern also erhalten, bekommt aber eine Perspektive – eine Aussicht auf Einigung mit der Gegenseite auf neue und bessere Bedingungen, unter denen die Arbeit dann weitergeht, bis neue Streiks und neue Verhandlungen nötig sind.

Wohlgemerkt: Diesen ersten historischen Schritt in Richtung gute Arbeitsbedingungen (Verdi-Bundesvorstandsmitglied Behle) bekommen die Gewerkschaften nicht geschenkt. Ihre Anerkennung als Verhandlungspartner mit einem Recht auf Kampf ist nicht der Ausgangspunkt für den periodischen Zweiklang aus Kampf und Verhandlung; sie muss selbst erst erkämpft werden. Diesem historischen Schritt, zu dem das Ryanair-Personal so lange nicht imstande war, gehen zwei Entwicklungen voraus, die dem Kampf um Anerkennung überhaupt eine Aussicht auf Erfolg verschaffen.

Erstens sorgt die Konkurrenz der Flugunternehmen für eine Änderung der Kräfteverhältnisse, die es Ryanair bisher so leicht gemacht haben, seine Piloten zu erpressen und gegeneinander auszuspielen: Das Wachstum der gesamten Flugbranche – durch billiges Kerosin befeuert – sowie Ryanairs eigener Aufstieg zu Europas größter Fluglinie machen Piloten zur begehrten Ware und eröffnen ihnen die Perspektive eines Wechsels zur besser zahlenden Konkurrenz, z.B. zu Norwegian Air. Den Piloten mehr zu zahlen, um sie zu behalten, kommt für Ryanair nicht infrage; sie ihren gesetzlich verordneten Urlaub nehmen zu lassen, auch nicht. Dafür bietet Ryanair ihnen an, sie weiter arbeiten zu lassen und ihnen ihre verbleibenden Urlaubstage abzukaufen. Nachdem die Piloten das Angebot ablehnen, kommt es im Herbst 2017 zu gewissen Planungsschwierigkeiten, also zu zahlreichen Flugausfällen. Der Vorfall führt den Piloten vor Augen, dass sich das gewohnte Kräfteverhältnis verändert hat.

Zweitens und nahezu zeitgleich fällt der Europäische Gerichtshof nach sechsjähriger Verhandlung ein Urteil, das es den europäischen Ryanair-Belegschaften ermöglicht, vor lokalen Gerichten für die Einhaltung nationaler Arbeitsrechts- und Schutzstandards zu klagen, und das diese lokalen Gerichte dazu befugt, selbst zu entscheiden, ob das jeweils nationale Arbeitsrecht einzuhalten ist.[3] Zwar beteuert die Geschäftsführung, dass das Urteil nicht gleich das Ende des Erfolgsmodells verkündet, sich an ihrer Geschäftspraxis also nichts ändern wird; auch weiterhin, so die Versicherung, wird an Ryanairs geschäftsdienlichen irischen Arbeitsverträgen nicht zu rütteln sein. Aber für zahlreiche Aktionäre ist das Urteil ein Menetekel, das sie zu ernsthaften Zweifeln an der rechtlichen Rosinenpickerei des Billigfliegers bewegt – nämlich schlicht daran, ob das bislang so großartige Geschäftsmodell überhaupt eine Zukunft hat.

2. Vor diesem Hintergrund sehen sich die Ryanair-Piloten Ende 2017 dazu ermuntert, nicht nur auf ein baldiges Ende dieser Geschäftspraxis zu hoffen, sondern es gewissermaßen vorwegzunehmen und den Kampf um tariflich vereinbarte nationale Arbeits- und Schutzstandards endlich anzugehen. Dabei ist den Gewerkschaften auch angesichts dieser Entwicklungen am Arbeitsmarkt und am Gerichtshof die Kampfeslust und auch die noch existente Fähigkeit ihres Gegners klar, die diversen europäischen Belegschaften wirksam gegeneinander auszuspielen. Daher wagen die einzelnen nationalen Gewerkschaften einen ziemlich historischen Schritt anderer Art: einen international koordinierten Arbeitskampf, für den sie ihre jeweils nationale Streikmacht gegen den billigfliegenden Multi in Anschlag bringen, oft in gemeinsamen Absprachen der Kabinen- und Cockpitcrews. Gegen diese Kampffront wehrt sich Ryanair, wie zu erwarten, mit allen Mitteln: Es versucht per Klage, die Beteiligung der niederländischen Piloten gerichtlich verbieten zu lassen; es geht mit Fotoapparaten und anschließenden Vergeltungsmaßnahmen gegen seine streikende Belegschaft vor. Es bekommt darüber zwar eine Rüge vom deutschen Arbeitsminister, aber für drohende Strafzahlungen, die jeden Rechtsbruch heilen, hat Ryanair seine Portokasse. So zwingt es nicht nur Verdi zur nochmaligen Rücksprache mit ihren Mitgliedern, ob sie sich angesichts der Risiken die Beteiligung an weiteren Streiks auch wirklich leisten wollen. Die jeweils nationale Streikmacht versucht Ryanair mittels Ausgleich durch sein internationalisiertes Personal unschädlich zu machen – schließlich wird nicht überall gleichzeitig gestreikt. Es droht, die Heimatbasen aufmüpfiger Belegschaften (womit es in Kopenhagen und Billund Ernst macht) zu schließen und Kapazitäten, welche durch Arbeitskämpfe unrentabel gemacht worden sind, in den streikenden Ländern ab- und in Polen wieder aufzubauen.

Schließlich versucht Ryanair, die Streikenden bei ihrem Widerspruch zwischen dem Mittel und dem Ziel ihres Kampfes zu packen – zwischen ihrem Auftritt als internationales Kampfkollektiv und ihrer Absicht, so nationale Tarifverträge und die jeweils nationale Verbesserung ihrer Arbeits- und Entlohnungsbedingungen zu erzielen: Im Vorfeld der Streiks bietet Ryanair einzelnen Gewerkschaften Tarifverträge, also die Erreichung ihres eigenen Kampfziels an, sodass die dann einsetzende Friedenspflicht die Streikmacht der übrigen Gewerkschaften schmälert. Das Angebot stellt die Fähigkeit der Gewerkschaften zur Einhaltung ihres Höchstwerts Solidarität auf eine ziemlich harte Probe. Es gelingt Ryanair dann auch tatsächlich, vor den Streiks mit einer Reihe italienischer und irischer Gewerkschaften Tarifverträge abzuschließen. So kann Ryanair bei zwei großen internationalen Streiks die Beteiligung der Gewerkschaften einiger Länder durch Einigungen vorweg abwehren, in anderen Ländern sie mit Leih-, Management-, Probe- und sonstigen Arbeitern ausgleichen.

Unterm Strich muss Ryanair allerdings mehr Flüge streichen als im Vorfeld geplant. Vor allen Dingen aber bekommen die Streikenden Schützenhilfe von maßgeblicheren Instanzen: Der Finanzmarkt ist alarmiert, weil zum steigenden Ölpreis und einem drohenden Brexit nun auch eine unzuverlässige Belegschaft dazukommt. Die Gewinnprognose muss mehrfach nach unten korrigiert werden und der Aktienkurs sackt ab. Gegen das schwindende Vertrauen der Anleger kann die Geschäftsleitung trotz markiger Dementis nichts ausrichten – zumal die nochmalige Bekräftigung des EuGH-Urteils durch die EU-Kommission das Ende der für das Geschäftsmodell so entscheidenden Anwendung des irischen Rechts umso wahrscheinlicher werden lässt. Vor diesem Hintergrund steht die Firma bei ihrem Abwehrkampf gegen die Anwendung nationalen Rechts in den Augen der Aktionäre ohnehin recht bald auf verlorenem Posten. Am Ende zieht Ryanair den Schluss, dass es sich die Streiks nicht länger leisten will, und stellt mehreren Gewerkschaften zur Beilegung der Arbeitskämpfe nationale Tarifverträge in Aussicht.

3. Im Herbst 2018 kann also zunächst Verdi, schließlich auch die VC einige Erfolge verbuchen: Nicht nur sollen demnächst nationales Arbeitsrecht angewandt und die Löhne zur Anpassung an die Angebote der Konkurrenz deutlich erhöht werden. Ryanair verspricht auch ein Ende der Leiharbeit – zumindest für deutsche Piloten. Die Ermittlungen der Koblenzer Staatsanwaltschaft wegen Steuerhinterziehung kommen angeblich auch voran. Schließlich sorgt die Aufhebung eines gesetzlichen Schlupflochs für Kabinenpersonal durch den sozialdemokratischen Arbeitsminister dafür, dass die deutschen Ryanair-Belegschaften auch ohne Tarifvertrag einen Betriebsrat wählen dürfen. Alles in allem, jedenfalls in den Augen von Herrn Heil, sind das große Sprünge auf dem Weg dazu, der Globalisierung zur Ausbeutung ein Ende zu setzen.

Die Erfolgsstory hat allerdings einige Haken: Schnell ist von einer polnischen Tochtergesellschaft namens ‚Ryanair Buzz‘ die Rede, von der es heißt, sie eigne sich prima zur Vermeidung von Tarifverträgen: Hier sollen Leihpiloten zu Konditionen angestellt werden, die in fast jedem Detail an die alten Verträge in Irland erinnern. Das Kabinenpersonal in Spanien muss feststellen, dass Ryanair nicht daran denkt, seine Zusage, alle dort stationierten Mitarbeiter nach spanischem Recht zu beschäftigen, auch wirklich einzuhalten. Und in Deutschland gilt: Nur weil Ryanair sich dazu herbeigelassen hat, mit Verdi und VC zu verhandeln, heißt das noch lange nicht, dass es nun für alle gewerkschaftlichen Interessenten ein offenes Ohr hätte: Die Forderung der Spartengewerkschaft UFO nach einem eigenen Tarifvertrag wird abgeschmettert; nur als Gegner vor Gericht wird diese Gewerkschaft ‚anerkannt‘: Wenn sie etwa per Pressemitteilung nahelegt, ihre eigenen schlechten Arbeitsbedingungen wären mit einer potentiellen Gefahr für die Fluggäste verbunden, dann wird sie mit einer Verleumdungsklage überzogen. Währenddessen müssen die deutschen Piloten zur Kenntnis nehmen, dass Ryanair es mit der Umsetzung der getroffenen Vereinbarungen nicht besonders eilig hat. Viel flotter ist es mit der Ankündigung, einige der besonders streitbaren und aufgrund der zu erwartenden höheren Personalkosten teurer gewordenen Standorte zu verkleinern oder ganz zu schließen. Nach dem Motto: ‚Wer dem Geschäft schadet, schadet nur sich selbst!‘ werden die Standorte in Bremen und Eindhoven geschlossen und die Flotte in Weeze drastisch verkleinert. Die deutschen Gewerkschaften sehen sich gefordert, solche Vergeltungsschläge (Verdi, 1.10.18) als Kollateralschaden ihrer Streiktätigkeit zu betreuen, indem sie einen Sozialplan für die rausgeflogenen Kollegen zur Bedingung der Tarifverhandlungen machen. Auch die Sache mit dem Betriebsrat für das deutsche Kabinenpersonal gestaltet sich schwierig (Verdi): Mal argumentiert Ryanair damit, keinen Betrieb in Deutschland zu haben; mal fordert es, dass Betriebsratsarbeit in der Freizeit zu erledigen sei.

Daran wird so viel kenntlich: Was die international streikenden Gewerkschaften erreicht haben, sind neue Bedingungen für den gleichbleibenden paneuropäischen Kostenvergleich, den Ryanair mit seinen europäischen Belegschaften natürlich nach wie vor anzustellen gedenkt – jedenfalls sofern Ryanair seine Zusagen überhaupt einhält. Sie haben einen neuen Ausgangspunkt für die fortgesetzte Kunst von Ryanair erstritten, neue und alte Einschränkungen seiner Kalkulationsfreiheit zu umgehen. Ob und wann auch immer deutsche Tarifverträge beim Billigflieger wirklich unterschrieben werden und wie viele Beschäftigte bis dahin ihrer irischen Zweitheimat den Rücken kehren müssen – fest steht jetzt schon, dass den siegreichen Gewerkschaften die Arbeit an der Ryanair-Front so bald nicht ausgehen wird. Auch das ist Teil der deutschen sozial-marktwirtschaftlichen Normalität, die man hierzulande den Ryanair-Belegschaften solidarisch an den Hals wünscht.

[1] Damit man sich ein Bild von den gewieften Winkelzügen von Ryanair und seinen internationalen Geschäftspartnern machen kann, hier eine kurze Darstellung des Gegenstandes der Koblenzer Ermittlungen: Nach der europäischen ‚Homebase‘-Regelung haben selbständige Piloten ihre Sozialabgaben im Land ihrer Heimatbasis zu entrichten. Damit sie im jeweiligen Land die Abgaben zahlen können, lässt Ryanair die in Irland selbständigen Piloten eine Betriebsstätte im Land ihrer Heimatbasis gründen. Bei dieser stellen sie sich dann selbst an und lassen sich von Brookfield Aviation oder McGinley an Ryanair vermitteln; das sind zwei konkurrierende britische Vermittlungsfirmen mit identischen Verträgen, Buchhaltungsfirmen, Steuerbüros etc., sodass viele Piloten selbst überhaupt nicht wissen, über welchen Dienstleister sie eigentlich vermittelt wurden. Die deutsche GKV nimmt den Piloten ihre behauptete Selbständigkeit nicht ab, ihren Status als Angestellte von sich selbst aber sehr wohl, und stellt ihnen dementsprechend den Arbeitnehmer- und Arbeitgeberanteil in Rechnung – zusätzlich zur Einkommenssteuer und zum ‚Universal Social Charge‘ ihrer Ich-AG in Irland, was sich auf gut 70 % des bei Ryanair ohnehin nicht gerade üppigen Bruttogehalts summiert. Die zuständigen Steuerberater der Vermittlungsfirmen schaffen professionell Abhilfe: Sie nutzen die Selbständigkeit der Piloten, um über den Abzug von ‚Dienstausgaben‘ die Abgaben möglichst weit nach unten zu drücken, damit überhaupt ein Gehalt übrigbleibt. Aus dem Verdacht der Scheinselbständigkeit der Piloten wird so der Verdacht auf ‚Betrug‘ und ‚Steuerhinterziehung‘ durch ihren Auftraggeber. Mit Razzien bei den Piloten und zunächst freundlicher Kooperation von Ryanair – das Unternehmen hat schließlich weder mit den Steuerbescheiden der Selbständigen noch mit den Beratern der Vermittlungsfirmen irgendetwas zu tun – werden nach den Piloten auch eine Reihe britischer Personaldienstleister und Steuerberater angeklagt. Daraufhin brechen mehrere Geschäftsführer ihr Schweigen, sodass die Ermittlungen schließlich bei Ryanair landen, das sich immer mehr als Drahtzieher des Ganzen herauskristallisiert, der sich auf die Art illegalerweise mehrere Millionen Euro spart – als irische Firma allerdings nicht nach deutschem Recht angeklagt werden kann.

[2] Das sieht in einem typischen Ryanair-Vertrag so aus: Falls Ryanair zur Anerkennung einer Pilotengewerkschaft genötigt wird, oder falls es irgendeine Art gewerkschaftlicher Aktivität geben sollte, ändert sich der Dienstplan umgehend, und zwar so, dass die Piloten mehr arbeiten müssen mit kürzeren Pausen. Außerdem entfällt die Jahresbonuszahlung. (Zitiert aus jacobinmag.com, 10.12.18)

[3] Zum Hintergrund des Urteils: 2011 klagen im belgischen Charleroi stationierte Ryanair-Beschäftigte gegen ihren unmittelbaren Arbeitgeber, die Personalvermittlungsagentur Crewlink, wegen ausstehender Gehaltszahlungen – Boni, die ihnen nach belgischem Arbeitsrecht zustehen –, und rufen dazu das örtliche belgische Arbeitsgericht an. Das Gericht weist die Klage ab, erklärt sich nämlich unzuständig für Verträge nach irischem Recht, die explizit Dublin als Gerichtsstand festlegen. Die Crewmitglieder rufen daraufhin die nächsthöhere Instanz an, den Arbeitsgerichtshof in Mons, der die Sache an den EuGH zur Klärung der Zuständigkeit weitergibt. Dabei geht es im Kern um die Frage, an welchem Ort der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet, in welche Gerichtshoheit also einschlägige Klagen fallen. Im September 2017 befindet der EuGH, dass es den lokalen Gerichten überlassen bleiben soll, im konkreten Einzelfall selbst zu entscheiden, ob sie zuständig sind oder nicht.